Sind wir schlechtere Eltern als unsere Eltern?

Barack Obama und seine Partei der Democrats haben ein neues Thema auf die Tagesordnung gesetzt: erste Priorität für die Betreuung und vorschulische Bildung von Kindern. Zumindest in Sonntagsreden ist dieses Thema auch hierzulande seit mehreren Jahren ein Dauertopos. Nur, woher kommt das eigentlich? Warum müssen Kinder inzwischen ganztags betreut werden? Reichen die Familien nicht mehr aus, handelt es sich hier um ein weiteres Ausgreifen eines wildgewordenen Wohlfahrtsstaats, der in die Familien hineinregiert? 

Nein. Den Staat musste man hier eher zum Jagen tragen. Der gewaltige Bedarf an vorkindlicher Betreuung und Bildung, der zweifellos existiert, kommt durch die Eltern. Es gibt ihn aber noch nicht wirklich lange. Woher also kommt das? Die Antwort darauf finden wir bei einem kurzen Blick in die Geschichte, der vielleicht auch hilft, einen Kontext für die aktuellen Diskussionen herzustellen.

Die Idee, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben und daher besondere Fürsorge benötigen – also nicht einfach nur „kleine Erwachsene “ oder „unfertig“ sind – ist noch nicht sehr alt und hat erst im 19. Jahrhundert begonnen, sich langsam durchzusetzen. Angesichts der sozialen Missstände jener Zeit – Stichwort Kinderarbeit – war die Frage vorkindlicher Betreuung ein reines Elitenproblem. Alle anderen mussten die Kinder so früh wie möglich für den Broterwerb einspannen und überließen sie vorher sich selbst, beziehungsweise häufig der Fürsorge einer Amme oder einer ähnlichen Einrichtung.

Tatsächlich ist überraschend, wie groß der Anteil der Eltern, die ihre kleinen Kinder in fremde Pflege gaben, früher tatsächlich war. Im Paris der Zeit vor der Französischen Revolution etwa waren über 90% der Kinder unter drei Jahren in Pflege, und zwar rund um die Uhr. Die Eltern gaben die Kinder häufig  direkt nach der Geburt weg und holten sie erst mit zwei bis vier Jahren wieder zu sich – mit oftmals traumatischen Folgen für die Kinder, die dabei ihre Bezugspersonen komplett verloren. Von den üblichen pädagogischen Maßnahmen jener Tage überhaupt nicht zu reden, die größtenteils aus Schlägen bestanden, oder von der Verfütterung von hochprozentigem Alkohol als Beruhigungsmittel selbst für Säuglinge.

Es dauerte bis ins 20. Jahrhundert hinein ehe sich die Idee durchgesetzt hatte, dass die Kindheit eine schützenswerte Phase im Leben der Kinder sei. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings etwas bemerkenswertes geschehen: der Kapitalismus, seiner übelsten Auswüchse durch progressive Gesetzgebung beraubt, hatte sich zu einer Wundermaschine für die Wohlstandsentwicklung entpuppt. Der Lebensstil des Bürgertums, früher nur einer schmalen Schicht vorbehalten, wurde nun von allen Schichten imitiert. Wir sehen dies in einem gewaltigen Rückgang der Frauenerwerbsquoten zugunsten des Ein-Ernährer-Modells selbst in den Arbeiterschichten.

Genau diese Entwicklung aber – die ökonomische Basis für das Ein-Ernährer-Modell – schaffte eine permanent verfügbare Bezugsperson, die sich zu 100% Haushalt und Kindeserziehung widmen konnte: die Ehefrau. Durch den größten Teil des 20. Jahrhunderts hindurch ermöglichte es dieser historische Ausnahmezustand, sowohl die Rechte der Kinder zu schützen und gewaltige Fortschritte in Fürsorge und Pädagogik zu machen, was zu den wohl gesündesten, gebildetsten und glücklichsten Kindergenerationen in der Geschichte der Menschheit führte. Doch durch die Entwicklung seit den 1980er Jahren, gerne landläufig unter „Neoliberalismus“ zusammengefasst, wurde die ökonomische Basis dieser Arbeitsteilung in Frage gestellt – flankiert von einem ideologischen Angriff auf das Rollenmodell der Hausfrau durch die beginnende Frauenbewegung, die darin zu Recht ein Unterdrückungsmodell erkannte.

Wenn jedoch sowohl Männer als auch Frauen dem freiheitsspendenden Vollerwerb nachgehen, so wiederholt sich das Dilemma des 19. Jahrhunderts auf materiell überlegendem Niveau: wer versorgt die Kinder, wenn man diese nicht frühzeitig in das System des Broterwerbs einbinden will (was heutzutage auch keine praktische Alternative mehr darstellt, selbst wenn man alle ethischen Bedenken beiseite lässt)? Da sich gleichzeitig auch die traditionellen Großfamilien aufgelöst haben, stehen die Großeltern nicht mehr als kostenlose Arbeitskräfte zur Verfügung. Angesichts der gewaltigen, von der Bevölkerungsmehrheit nicht zu stemmenden Kosten professioneller Betreuung bleibt als einzige Alternative daher der Staat übrig.

Das direkte Resultat ist ein rasch steigender Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen, der auch in Zukunft kaum abebben dürfte. Er resultiert zwingend aus den Auflösungen traditioneller Familien- und Erwerbsstrukturen. In der bisherigen Debatte wurden diese Teile immer getrennt gedacht – das heißt, dass von konservativer Seite die Auflösung der Familie, von progressiver Seite häufig (und paradoxerweise) der Abschied vom Ein-Ernährer-Modell beklagt wurde. Beide hängen aber zwingend miteinander zusammen. Das Problem nur auf seine moralische oder nur seine ökonomische Komponente zu reduzieren hilft niemandem, am allerwenigsten den Kindern.

{ 9 comments… add one }
  • Derwaechter 5. Februar 2015, 13:44

    Sehr interessant! Wo kann man den mehr über den früheren Umgang mit Kindern lesen? Nicht nur in Paris sondern gerne auch woanders 😉

  • Stefan Sasse 5. Februar 2015, 18:33

    Gelesen gar nicht – das ist das Jahr 2015! 😛 Ich habe es gehört, in Dan Carlins brillantem Podcast Hardcore History:
    http://www.dancarlin.com/product/hardcore-history-31-blitz-suffer-the-children/
    Leider gibt es die Folge nur noch kostenpflichtig, aber ich habe sein gesamtes Archiv gekauft und keinen Euro bereut. Die Folge selbst ist auch absolut 2$ wert.

  • Maniac 6. Februar 2015, 08:23

    Nun, Stefan, die (selbstgestellte) Gretchenfrage aus der Überschrift beantwortest Du leider nicht: Macht uns die von Dir nachvollziehbar geschilderte Entwicklung nun zu schlechteren Eltern (zumindest gegenueber der unmittelbaren Vorgängergenerationen)?

    Persönliche Frage: Nutzen Du und Deine Frau das Angebot von Kitas?

    Gruß, M.

    • Stefan Sasse 6. Februar 2015, 12:28

      Nein, tut sie nicht.

      Ja. Mein Sohn ist 5 Tage die Woche von 7.00 Uhr morgens bis 16.30 mittags in der Kita.

  • Kning 6. Februar 2015, 12:38

    Ich tue mich schwer einen Vergleich zu ziehen zwischen unserer Generation und der unserer Eltern. Zum einen sind Belastungen für unsere Generation gestiegen – neben unseren Kindern müssen wir für uns selbst und unsere Großeltern in irgendeiner Form vorsorgen.
    Die Generation unserer Eltern hatte häufig das Vergnügen aufgrund von Betriebsrenten besser abgesichert zu sein, und eigene Eltern waren teilweise im Krieg geblieben, bzw. in Ihren späten 60ern bis frühen 70er verstorben. Insofern blieben hier mehr finanzielle Spielräume.
    Für unsere Generation ergeben sich eine Reihe neuer Probleme. Zunächst ist da ein deutlich gestiegenes Niveau der Wohnungskosten, aber nicht zuletzt auch des persönlichen Anspruchs. Folglich brauchen Eltern mehr Geld um nicht in ein „gefühltes“ Hintertreffen zu geraten. Gleichsam will man aber auch dem Nachwuchs gerecht werden und läuft in die Gefahr sich selber herunterzuziehen.
    Ich meine jedes Paar muss für sich selbst die Balance zwischen Selbstverwirklichung, Kind und wirtschaftlichen Zwängen finden. Da führen viele Wege zum Ziel. Jedoch sehe ich den Aufbau der Kinderbetreuung durch den Staat kritisch, denn vielerorts sind die sogenannten Ganztagsangebote doch eher ein sozialpolitisches Feigenblatt. Ein Ausbau der Kinderbetreuung macht nur Sinn, wenn sie qualifziert ist – noch werden Erzieher mit vergleichsweise geringen Gehältern abgespeist, entsprechend ist die Personalauswahl. Ein weites Feld für staatliche Betätigung und ein noch weiteres für das RIngen um die richtigen Konzepte.

    • Stefan Sasse 6. Februar 2015, 16:17

      Keine Frage, aber das ist eher ein Problem kommunaler Finanzierung. Reiche Kommunen (wie ich in einer wohne) haben kein Problem mit dem Ausbau auf hohem Niveau und mit qualifizierten Kräften. Arme Kommunen dagegen sehr wohl. Das gilt übrigens für das Bildungssystem insgesamt. Was Kitas anbelangt braucht es schlicht das Bewusstsein dafür, dass das nicht ein Job ist für den man dadurch qualifiziert ist, dass „man gut mit Kindern kann“ oder sie vielleicht einfach nur nicht hasst. Die damalige Äußerung von der Umschulung der Schlecker-Mitarbeiter ist für dieses Problem symptomatisch. Der Job ist anspruchsvoll und braucht eine gewisse Qualifizierung (aktuell drei Jahre Ausbildung). Das lässt sich nicht mal eben so mit Leuten decken, die sonst nichts anderes haben oder einen kleinen Halbtagsjob nebenbei brauchen. In unseren Schulen würden wir das auch nicht tolerieren. Wenn wir den Kommunen also nicht erlauben, sich mit billigen Mülllösungen aus der Affäre zu ziehen, entsteht der politische Handlungsdruck bei den Kosten zu helfen – und der ist schlicht notwendig, auch bei Schulen, wo die Qualitätsunterschiede weniger bei der Qualifikation des Personals sondern der Güte der Ausstattung liegen.

  • Maniac 6. Februar 2015, 14:43

    Natürlich argumentiere ich auch interessengesteuert. Aber mein ganz persönlicher, nicht empirisch nachzuweisender Eindruck ist, dass sofern es sich um eine einigermaßen anständige Tagespflege (und damit meine ich nicht die private Luxuskindertagesstätte, eine gut geführte staatliche Einrichtung ist, bei allen Problemen, durchaus in der Lage, gute Arbeit zu leisten) handelt, diese sich für das Kind gegenüber der rein Eltern- (meist ja doch Mutter)-bezogenen Tagespflege vorteilhaft darstellt.

    Diese Menge an Erfahrungen und Eindrücken, dieses automatische Hereinwachsen in soziale und kommunikative Situationen, diesen Zugang zu ähnlich altrigen Menschen und die Freude, die das Kind darüber kommuniziert, für all diese Faktoren sehe ich, bei aller Akzeptanz der Bedeutung des Umgangs mit seinen Eltern als wichtigste Kontaktpersonen, nicht einmal Ansatzweise einen adäquaten Ersatz, wenn sich die Erziehung 24/7 allein im Elternhaus oder bei Oma und Opa abspielt (wobei letzteres auch schon eine Verbesserung zu nur Eltern darstellt).

    Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Kinder, auch kleine Kinder, davon profitieren, wenn sie sich in mehr als in einer Form der Alltagsbetreuung bewegen. Dass es bei der Qualität und Quantität der Betreuung in Tageseinrichtungen sowie bei der materiellen und immateriellen Entlohnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer noch zahlreiche Defizite gibt, bestreite ich natürlich keinesfalls. Da gibt es noch einiges zu tun!

    Gruß, M.

    • Stefan Sasse 6. Februar 2015, 16:12

      Ich bin sehr zufrieden mit der staatlichen Einrichtung, in der mein Kind ist, und war unzufrieden mit der privaten, in der es vorher war.

  • Derwaechter 6. Februar 2015, 23:42

    Danke. Die Seite sieht ja furchtbar aus aber ich höre es mir mal an.

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