Wolf Biermann und das Smartphone

Bekanntlich hat Wolf Biermann im Bundestag eine Rede gehalten, in der er die LINKE angriff und als glücklicherweise überwundene Reste bezeichnete. Er erinnerte außerdem noch einmal an das Unrecht und die repressiven Maßnahmen in der DDR. Bekanntlich bespitzelte die Stasi zehntausenden von offiziellen und vor allem inoffiziellen Mitarbeitern ihre Bevölkerung. Dies führt einige dazu sich zu fragen, was Biermann eigentlich zur heutigen Überwachung zu sagen hat:

Sorry, Wolf #Biermann, aber Bedrohungen für die Freiheit müssen nicht immer so aussehen, wie Sie sie kennengelernt haben. #Prism #Tempora

— Jan Philipp Albrecht (@JanAlbrecht) 8. November 2014

Die Frage kann beantwortet werden – wenig:

Das berührt mich überhaupt gar nicht. Ich halte das für eine hysterische Propaganda-Idiotie. Es wundert mich, dass sich Leute darüber wundern, dass die Amerikaner so viel Informationen wie möglich sammeln wollen. Der Unterschied ist doch, ob ein totalitärer Staat die Menschen bespitzelt oder ob eine Demokratie sich über den Streit in der Welt informieren möchte.

Dabei wird die eigentlich interessante Frage von kaum jemandem gestellt: warum denkt die überwältigende Zahl der Menschen heute ähnlich wie Biermann und lässt sich nicht von der Tatsache beirren, dass sie permanent Mikrophone inklusive Peilsender und Videoüberwachung mit sich herumtragen (Smartphones), während in der DDR die Überwachung für eigentlich alle ein ständig präsenter und einschränkender Fakt war? Nicht umsonst gab es in der DDR den Flüsterwitz, nicht aber heute, und nicht umsonst war man damals vorsichtig, was man sagt, aber nicht heute. Woran liegt das?

Meine These ist, dass es vor allem im Quid-pro-Quo der Überwachungsinstrumente zu suchen ist. Niemand hätte in der DDR freiwillig ein Überwachungsinstrument mit sich herumgetragen (was natürlich nur hypothetisch ist, die Technik der Kommunisten hätte das auch zu einer eher unhandlichen Erfahrung gemacht). Heute tun es fast alle. Der Unterschied zur Überwachung durch NSA und MI6 ist nämlich nicht nur, wie Biermann meint, der des Täters – also dass wir den Amerikanern einfach vertrauen. Angesichts des virulenten Anti-Amerikanismus in der deutschen Gesellschaft scheint diese Erklärung wenig tragfähig, wenngleich natürlich keine sichtbare Repression für politisch nicht genehme Sprüche, Witze und Aktivitäten erfolgt. Nein, für mich ist der Grund ein anderer.

Tatsächlich erhalten wir nämlich im Gegenzug für die Nutzung der Spionagewerkzeuge etwas. Keiner hätte sich freiwillig eine Stasi-Kamera ins Wohnzimmer gehängt, aber niemand hat Probleme, das Internet zu nutzen oder Smartphone und Tablet während eines geselligen Abends eingeschaltet herumliegen zu lassen. Diese Geräte bieten dem Nutzer eine gewaltige Menge Informationen. Hätte die Stasi Geräte ausgeteilt, die zur Überwachung dienen, die Leute hätten sie weggeworfen. Die Vorschläge konservativer Intellektueller in der NSA-Debatte, doch auf das Smartphone zu verzichten und für Gespräche in den Wald zu gehen, erscheinen dagegen einfach nur wirklichkeitsfremd. Wer will auf das Smartphone und das Internet verzichten?

Wir haben uns an diese Technologien gewöhnt, so wir uns an andere gefährliche Technologien wie das Auto, das Flugzeug oder McDonalds gewöhnt haben. Auch deren Gefahren sind uns wohlbekannt, aber sie werden akzeptiert, weil wir uns an die positiven Begleiteffekte der jeweiligen Technologie gewöhnt haben und sie nicht missen wollen. Vermutlich würden wir selbst in einer sozialistischen Diktatur nicht auf Internet und Smartphone verzichten wollen. Angesichts der Innovations- und Wirtschaftskraft jener Diktaturen allerdings ist das wahrlich eine akademische Überlegung.

{ 23 comments… add one }
  • Ralf 8. November 2014, 18:35

    Naja, einen Unterschied zu Auto, Flugzeug und McDonalds sehe ich schon. Deren Gefahren sind erstens nicht voellig vermeidbar (es gibt z.B. kein absolut absturzsicheres Flugzeug). Und zweitens versucht die Gesellschaft deren Gefahren aktiv zu mindern (Anschnallgurte, Schwimmwesten im Flugzeug, selbst McDonalds informiert ueber Kalorienmengen). Drittens wird hier sogar der Gesetzgeber aktiv, um die Buerger zu schuetzen (z.B. Anschnallpflicht).

    Fuer den Abhoerskandal gilt all das nicht. Ein funktionierendes Internet waere auch ohne Ueberwachung denkbar. Google waere moeglicherweise ein bisschen weniger effizient. Keine wirkliche Katastrophe! Und der Gesetzgeber hilft nicht die Gefahren der Ueberwachung zu mindern, sondern betreibt selbst aktiv Ueberwachung. Und mehrt damit die Gefahren.

    • Stefan Sasse 8. November 2014, 18:48

      Klar ginge es ohne – meine Argumentation ist, dass wir es deshalb akzeptieren, nicht, es damit zu rechtfertigen.

  • Ralf 8. November 2014, 19:06

    Ich glaube eher dass das Problem ist, dass wir die Gefahren der Ueberwachung nicht verstehen. Die Gefahren von Flugzeug und Auto sind uns aus den Nachrichten oder gar aus der eigenen Erfahrung bewusst. Die Gefahren der Ueberwachung durch die Stasi sind ebenfalls bekannt. Schnell konnte man im Gefaengnis enden. Die Ueberwachung durch Geheimdienste oder Privatunternehmen wie Facebook oder Google produziert hingegen keine greifbaren Nachteile fuer den Grossteil der Betroffenen. Den meisten wird auch der tatsaechliche Umfang der Ueberwachung garnicht bewusst sein bzw. was man mit diesen Daten alles machen kann. An der Oberflaeche wirken diese Gefahren also als voellig harmlos. Ich bin nicht ueberrascht, dass sich so wenig Widerstand regt.

  • Ariane 8. November 2014, 19:10

    Ich glaube es ist beides. Auf der einen Seite der riesige Nutzen von Internet und Smartphone. Es gab neulich irgendwo eine Umfrage mit der Schlagzeile „Trotz Überwachungsskandal verzichtet niemand auf Internet“
    Da musste ich wirklich lachen, weil mal ehrlich. Hat wirklich jemand überlegt, das alles aufzugeben? Selbst die größten Überwachungskritiker nutzen ja das Internet und es ist gleichzeitig ihr Werkzeug, um ihre Überwachungskritik an die Öffentlichkeit zu bringen.

    Und das zweite ist natürlich die fehlende Repression. Wer früher von der Stasi überwacht wurde, musste mit negativen Konsequenzen rechnen, ob nun Einsperren oder was „kleineres“. Das hat meiner Meinung nach auch nichts mit „Vertrauen in die Amis“ zu tun. Nur ich brauche keinen Flüsterwitz, ich kann im Internet etwas Antiamerikanisches schreiben (und das tun ja tausende), ohne dass etwas passiert. Ob ich das auf Twitter herausposaune oder heimlich im Wald erzähle, macht also keinen Unterschied.
    Zumindest für die Masse der „Normaluser“, wenn ich Freunde im Irak hab und mit denen rede und die vielleicht mal besuchen möchte, sieht es eventuell anders aus.
    Es würde vielleicht anders aussehen, wenn jeder, der zb etwas antiamerikanisches schreibt, nächsten Tag Besuch von zwei FBI-Beamten erhalten würde.

    • Stefan Sasse 8. November 2014, 19:14

      Exactly my point – wir kriegen positive Sachen ohne die Repression. Warum also sich Sorgen machen? Daher ist die Mobilisierung so schwer.

  • MrGrudenko 8. November 2014, 19:21

    Eine andere Erklärung wäre natürlich, daß es qualitativ was anderes ist, heutzutage von NSA, GCHQ (die, wenn man von der PR ihrer Chefs ausgeht, den ganzen Charme und Einschüchterungspotential eines Vizeabteilungsleiters haben) oder BND (die Stellvertreter der Vizeabteilungsleiter) bespitzelt zu werden als im Kalten Krieg (in dem, wie in jedem Krieg, es nur zwei Seiten gab – die falsche und die der Regierung) von KGB oder MfS (die ja, trotzt überbordender Bürokratie, immer von ihrem Frontschweinimage – ganz zu schweigen von den dazugehörigen Methoden – zehren konnten).

  • Wolf-Dieter 9. November 2014, 21:10

    Es gibt primären Zweck und nebenläufiges Potential: der Primärzweck des Brotmessers ist, Brot schneiden. Ein nebenherlaufendes Potential ist, Familien unglücklich zu machen. Sollte ich deswegen darauf verzichten, meine Stulle abzuschneiden?

    Der Primärzweck des Handys, telefonieren, ist ein wichtiges Lebenselement, z. B. wenn der Alleinerziehende Papa auf der A5 im Stau steht und den halbwüchsigen Filius informieren will. Das Überwachungspotential (stille SMS) wird als ärgerlich empfunden. Aber die konkrete Hauptfunktion ist wichtiger als die potentielle Gefahr des Überwacht-Werdens.

    Das ist der Kern-Unterschied bei Akzeptanz von Stasi-Kameras und Akkzeptanz von Handys.

  • Wolf-Dieter 9. November 2014, 21:39

    Ohne Biermann unangebracht in Schutz zu nehmen – ein weiterer Unterschied zwischen Stasi und NSA ist der:

    NSA späht Nachbarn aus. Stasi späht eigenes Volk aus. Unterschied: Stasi-Beobachtungen stehen in unmittelbarem Widerspruch zu freier Entfaltung, während NSA nicht in Behördenunion mit unserer geliebten Bundesregierung steht. Allenfalls könnte er BND mit Erkenntnis beliefern.

    (Ob er dies tut, darüber unterhalten wir uns ein andermal.)

    • MrGrudenko 10. November 2014, 07:32

      Wieso soll Ausspähen im Widerspruch zu freien Entfaltung stehen? Es sind doch erst die Schlüsse und Represionsmaßnahmen, die vom Staat ergriffen werden, die im Widerspruch mit der freien Entfaltung stehen. Die Aufklärung, die von Teilen der Stasi im eigenen Land getrieben wurden, lassen sich ohne weiteres unter „Gegenspionage“ und „Gefahrenabwehr“ (also was heute unter „internationaler Terrorismus“, „Gefährder“, „Unterstützer“ oder „Hassprediger“ läuft) verbuchen. Das vollkommen überzogene Maß, sowie die Leben zerstörende Repression, die solche Aufklärung nach sich zug, war ja voll und ganz der Diktatur einer abgehobenen Nomenklatur, die sich selbst als alternativlos und den Feind als vollkommen ruchlos sah, geschuldet.
      Nebenbei, beim Stichwort „Nachbarn“ kommt mir gerade die Sache mit den Schrebergärtner, der seinen Nachbarn erschossen hat, weil der mittags Rasen gemäht hat, in den Sinn.

      • Wolf-Dieter 10. November 2014, 08:57

        @ MrGrudenko – „Wieso soll Ausspähen im Widerspruch zu freien Entfaltung stehen?“ – das BVerfG sagt im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung sinngemäß: der sich überwacht wissende Bürger verhält sich nicht mehr unbefangen. Reicht dir das?

        „Nachbarn“ war ein Sinnbild ohne geografischen Bezug.

        • MrGrudenko 10. November 2014, 10:26

          @ Wolf-Dieter: Ok, das macht Sinn.

          Und „Nachbar“ meinte ich auch nicht geographisch, sondern eher, wie das damals die Fernsehserie ‚Millenium‘ formulierte: „Fear your neighbor as yourself“

          • Stefan Sasse 10. November 2014, 11:31

            Die NSA späht auch die eigene Bevölkerung aus, und der Umgang mit kritischen Journalisten ist besorgniserregend. Im Grundsatz allerdings hast du sicher Recht.

  • Wolf-Dieter 12. November 2014, 07:57

    @Stefan Sasse – ich habe nicht NSA verteidigt, sondern mein spezifisch deutsches Verhältnis zu NSA herausgearbeitet.

    Die Motivation des Datenschutzes rührt aus der dem Staat verfügbaren Bevölkerungsstatistik und Spitzelsystem, mit deren Hilfe Nazis missliebige Leute gezielt abfischten. Nach meinem Wissen auch in den Niederlanden. Die resultierende Forderung nach Datenschutz bezieht sich konkret auf den Staat.

    Die Ausweitung der Datenschutzforderung auf private Institute (Marketing) lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit vom Kernmotiv ab. In meinen Augen sind das Nebelkerzen.

    Meine eigene bescheidene Meinung? Ob Google meine Vorlieben kennt, ist mir von Herzen Wurscht! Kritisch wirds nur dort, wo der Staat sie kennt. Denn es gibt keine wirksame Kontrollinstanz gegen illegale Aktivität des Staats. (Nicht mal die Presse.)

  • Heiko 12. November 2014, 08:46

    @Wolf-Dieter:
    „Meine eigene bescheidene Meinung? Ob Google meine Vorlieben kennt, ist mir von Herzen Wurscht! Kritisch wirds nur dort, wo der Staat sie kennt.“

    Ich halte es für gefährlich, den Datenschutz alleine als Schutzrecht gegenüber dem Staat zu begreifen. Marketing ist doch noch das Harmloseste, für das die privaten Unternehmen unsere Daten verwenden – es kann sich wohl kaum einer wirklich vorstellen, was für Potential in den Daten steckt. Eines Tages wirst du vielleicht einen Kredit nicht bekommen und die Bank erklärt dir nichtmal warum. Oder deine Versicherung kündigt dir, weil die Auswertung deiner Daten dich als Risikofaktor sieht. Oder ein potentieller Arbeitgeber stellt dich nicht ein, weil ihm irgendein Dienstleister ein negatives Profil von dir erstellt hat. Alles hinter deinem Rücken, ohne dein Wissen und vor allem ohne die Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Mir gruselt es jedenfalls, dass es Firmen gibt, die komplette Bewegungsprofile sowohl im realen Leben als auch
    im Netz erfassen.

  • Wolf-Dieter 12. November 2014, 20:25

    @Heiko – dass die Bank den Kredit verweigert, ohne dass der Tippgeber (Schufa) die Regeln offen legt: den Fall hast du schon heute. (Ich verstehe die von dir genannte Gefahr durchaus, trenne sie aber bewusst von faschistischer politischer Praxis.)

    • Wolf-Dieter 12. November 2014, 20:55

      @Heiko – wenn die Bank einen Kredit verweigert, darfst du von Bonitätsproblemen ausgehen, denn die Bank will Geld mit deinem Zins verdienen. Wenn die Versicherung den Vertrag kündigt, darfst du von einem statistischen Ausreißer deines Risikos ausgehen, denn der Versicherer will mit deinen Beiträgen Geld verdienen.

      In solchen Fällen kann der Dienstleister dir verborgene daten auswerten, und er darf das, sonst würde er pleite gehen. Die dabei zugrunde liegenden Daten sind allesamt aus dem öffentlich zugänglichen Wirtschaftsverkehr gesammelt. Und das muss erlaubt bleiben, damit der Dienstleister im Geschäft bleibt. Lebe damit.

      Anders ist es bei geheimen „Bösewichter“-Listen, bei denen du evtl. drauf stehst, und aufgrund derer du keinen Flug buchen kannst. Siehe USA. Diese Daten sind unter staatlicher Verfügungsgewalt, ihre Verwendung (Flugverbot) staatliche Anordnung. Das geht gegen das natürliche Interesse der Fluggesellschaft, dir ein Ticket zu verkaufen, ist also sachfremd, weil nicht wirtschaftlich, sondern politisch motiviert. Das nenne ich faschistische Praxis.

  • Wolf-Dieter 12. November 2014, 22:34

    @Stefan Sasse – Historiker – wenn du Probleme mit meiner Begriffsverwendung faschistisch hast, bitte Laut geben. Habe kein Interesse an Aufweichung des Begriffs.

  • Stefan Sasse 14. November 2014, 15:29

    Mir ist nicht ganz klar wo die Schufa faschistisch ist, von daher würde ich vom Gebrauch eher absehen 😉 „oppressiv“ oder so vielleicht?

    • Wolf-Dieter 14. November 2014, 18:47

      Ausgerechnet Schufa habe ich nicht so genannt, weil privatwirtschaftlich motiviert.

      • Wolf-Dieter 14. November 2014, 22:57

        Nachtrag, falls du dich auf meinen Kommentar vom 12. November 2014, 20:25 beziehst, ich habe die Schufa als Konkretisierung des „Tippgebers“ genommen. „Tippgeber“ bedeutet nicht „böse“. Das Geschäftsmodell der Schufa ist transparent und reell. Sie bewertet nicht moralisch, sondern bepunktet das finanzielle Risiko. Bis zur Darlegung des Gegenteils ist das zunächstmal ehrenhaft. Insbesondere ist es nicht politisch, sondern strikt wirtschaftlich motiviert. Also ist weitab von meinem Verständnis von faschistischer Praxis.

  • Stefan Sasse 16. November 2014, 20:02

    Dann hab ich das falsch verstanden. Ist aber letztlich egal. Ich würde „Faschismus“ tatsächlich nur für den historischen „Faschismus“ benutzen, also die Diktaturform. Spanien, Italien etc. Da fallen für mich nicht mal die Nazis drunter.

    • Wolf-Dieter 17. November 2014, 09:41

      Das ist interessant. Wo siehst du den Unterschied zwischen Nazis und Spanien/Italien?

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