Der eine Fall ist kriminell, der andere wohl „nur“ üble Ausbeutung im Rahmen der Gesetze. Und doch haben diese Woche zwei aufsehenerregende Geschichten aus der Wirtschaft viel gemeinsam: Pferde in der Lasagne und Leiharbeiter bei Amazon. Für beide soll, meinen viele Kommentatoren, letztlich der Konsument mit seinem Geiz und seiner Bequemlichkeit verantwortlich sein. Doch wer das glaubt, ist auf geschickten Spin der Wirtschaft reingefallen.
Ein undurchsichtiges Geflecht aus Zulieferern, Schlachthöfen und Produzenten verkauft in Europa Tiefkühllasagnen mit Pferdefleisch, ohne es zu kennzeichnen. Eine ARD-Doku deckt in mühevoller Recherchearbeit miserable Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern in Amazons Vorweihnachtsgeschäft auf. Zwei weitere Fälle in einer endlosen Reihe von Wirtschaftsskandalen der letzten Jahre. Wall-Street-Meltdown, BSE, zweifelhafte Apple-Zulieferer. You name it. Letztlich sieht so Kapitalismus aus, wenn er zu wenig kontrolliert und reguliert wird: Gewinnmaximierung um jeden Preis, bis an die Grenze der Legalität und oft genug darüber hinaus. Auch, was ganz legal etwa in Schlachthäusern geschieht, geht nicht klar – die Pferdelasagnen sind hier nur Anlass.
„Weil wir essen, wie wir essen“
Doch halt! Profitieren nicht die Konsumenten von den günstigen Preisen und wollen es gar nicht anderes? Werden nicht deshalb die aktuellen Fälle wohl schnell wieder vergessen werden, nachdem kleinere Shitstürmchen über Amazon und die Fleischindustrie hinweggefegt sind? Dies oder Ähnliches liest man zu solchen Anlässen immer wieder in den Leitartikeln. Durch ihren Geiz und die vorherrschende Billigkultur seien es letztlich die Konsumenten, die Dumpinglöhne und Ekelfleisch erst verursachten. Was so billig in den Handel komme, könne eben auch nicht ethisch korrekt hergestellt werden. „Dass der nächste Lebensmittelskandal früher oder später kommt, kann als sicher gelten. Weil wir essen, wie wir essen. Und kaufen, wie wir kaufen“, schreibt Charlotte Frank in der SZ. Und auch zum Fall Amazon erzählt uns die Süddeutsche eine solche Geschichte:
„Der Paketbote ist schuld. Er hat die Lieferung von Amazon nicht bei den Nachbarn abgegeben, sondern in der Buchhandlung im Nebenhaus. Damit bringt er einen in eine unangenehme Situation. Jetzt steht man verlegen vor dem Ladenbesitzer und sagt: „Ich glaube Sie haben etwas für mich, von Amazon.“ Er straft einen mit dem verachtungsvollen Blick des Verratenen, als er den braunen Karton mit dem Logo übergibt. „Sie wissen, dass Sie jedes Buch auch bei mir bestellen können.“ Ja, kann man. Aber man tut es nicht. Amazon hat den Buchhändler zum Briefkasten degradiert.“
Auch hier also: Der Konsument, der sich moralisch verhalten und damit gutes in der Gesellschaft bewirken kann und soll. Noch einen Schritt weiter geht Tobias Fuentes, wenn er linken Bloggern vorwirft, „alle, von NDS, Jens Berger über R. Lapuente bis Lutz Hausstein … verkaufen ihre Bücher trotz beklagter Zustände (wieder) auf Amazon … hier kommt Geltungsanspruch und Heuchelei vor Moral.“ Die Blogger machen sich, folgt man Tobias Fuentes, schuldig durch Nicht-Boykott bei gleichzeitiger Kritik an einem sich unkorrekt verhaltenden Konzern. Nicht Amazon solle sich demnach ändern, sondern die Kunden (unter Inkaufnahme wahrscheinlich hoher Verluste) mit dem Entzug ihres Geschäftsverhältnisses Druck ausüben, auf dass sich der Konzern vielleicht in der Folge bessern möge.
Bio und Manufactum: nette Hobbies
All diese Äußerungen deuten darauf hin, wie selbstverständlich heute die Annahme einer Verantwortung des Konsumenten für die Produktionsverhältnisse ist. Und tatsächlich, könnte man einwenden, besteht ja die Auswahl zwischen Bio und billig, lokalem Händler und Amazon. Der Umsatz mit Bio-Produkten stieg in Deutschland im letzten Jahr um sechs Prozent auf 7,04 Milliarden Euro an. Und wer sich für das ethische Produkt entscheidet, erhöht damit schließlich auch dessen Marktanteil.
Nun möchte ich niemanden davon abhalten, beim Einkaufen auch auf Umwelt und Soziales zu schauen. Im Gegenteil. Aber seien wir mal ehrlich: Bio und Manufactum Kaufen sind nette Hobbies der oberen Mittelschicht, die es ihnen erlauben, sich kulturell zu distinguieren. Die Auswirkungen auf die realen Produktionsverhältnisse sind höchstens punktuell.
Moralischer Konsum ist unwahrscheinlich
Das Ideal des moralischen Konsums ist ziemlich anspruchsvoll: Es setzt nicht nur einen gut verdienenden, sondern auch einen informierten und gutwilligen Käufer voraus. Mit der sozialen Realität in vielen deutschen Haushalten (und global ohnehin) hat das aber relativ wenig zu tun. Nicht verwunderlich, dass z.B. immer noch nur ein Prozent des verkauften Fleischs in Deutschland aus Biozucht kommt. Ist es (hypothetisch/empirisch) nicht viel wahrscheinlicher, dass beim Kauf einer der folgenden Faktoren zutrifft?
- Der Käufer kann sich Bio oder Fairtrade nicht leisten
- Den Käufer interessiert die Thematik gar nicht
- Der Käufer tätigt einen Lust-/Spontankauf
- Der Käufer hat zwar gute Absichten, fällt aber auf irreführendes Marketing rein
- Der Käufer entscheidet sich zwar für ein scheinbar biologisches oder faires Produkt, dieses ist aber falsch etikettiert.
- Der Käufer möchte sich gerne über die Produktionsstandards einer Ware informieren, kann diese aber trotz intensiver Recherche nirgends finden.
- usw.
Moralischer Konsum ist also unwahrscheinlich, aber möglich. Und das ist genau der sweet spot für die Industrie. Mit dieser divide and conquer-Marketingstrategie erreicht sie nicht nur eine optimale Marktabdeckung. Viel wichtiger für die Wirtschaft: Die Dominanz über den Konsumdiskurs. Solange ein Teil die Konsumenten die Verantwortung für die Verhinderung von Ausbeutung an Mensch und Natur potenziell bei sich selbst sucht und der andere Teil der Problematik indifferent gegenübersteht, fordern nur wenige mehr Transparenz, strengeren Regulierungen oder höheren Mindeststandards von der Wirtschaft. Die Unterscheidung zwischen moralischem und billigem Produkt wird zu einem nützlichen, ideologischen Konstrukt, das politische Energie verhindert. Denn, nicht vergessen: Verantwortlich sind immer die Konsumenten. Sie könnten sich ja theoretisch anders entscheiden.
Leitdifferenz zahlen/nicht zahlen
Das Ergebnis: Eine inaktive Politik, weiterhin relativ schwache Standards für die Massenprodukte und nur wenige Transparenzvorgaben. Also genau das, was sich die Industrie wünscht. Erinnern wir uns daran, wie sich die Automobilbranche gegen den Katalysator gewehrt hat, die Finanzindustrie gegen eine Einschränkung des High-Frequency-Tradings zetert oder Apple sich bemüht, Informationen über Zulieferbetriebe zu limitieren – die Industrie mag keine Regulierungen, und seien sie noch so gesellschaftlich gewinnbringend.
Das schreibe ich übrigens nicht als Vorwurf, sondern als bloße Feststellung. Moral oder Uneigennützigkeit sind systemfremde Kategorien für die Wirtschaft, um mal mit Luhmann zu argumentieren. Gewinnmaximierung und Abwehr von Regulierungen dienen dem Systemerhalt. Das Kommunikationsmedium ist Geld, die Leitdifferenz zahlen/nicht zahlen. Das mag man kritisieren oder nicht, ändern können wird man es nie. Von Unternehmen moralisches Verhalten zu verlangen, ist wie einen Hai aufzufordern, Vegetarier zu werden.
Der Konsument: Scheinriese aus Jim Knopf
Aber daraus folgt eben auch: Eine Verbesserung der Produktionsverhältnisse insgesamt erreichen wir nicht mit der Geldbörse an der Kasse, sondern mit dem Stimmzettel in der Wahlkabine. Dafür sind höhere Standards und mehr Kontrollen nötig. Denn der Konsument, er ist überbewertet. Er ist wie der Scheinriese aus Jim Knopf: Je näher man ihm kommt, je genauer man sein Verhalten untersucht, desto kleiner und schmächtiger erscheint er. Sein Einfluss auf eine immer undurchsichtigere globale Wirtschaft ist im Grunde minimal. Die „Privatisierung der Nachhaltigkeit“, wie Armin Grundwald die Verantwortungstransfer zum Konsumenten nennt, ist ein Irrweg.
Letztlich müssen wir uns fragen: Interessiert uns nur die (moralische) Qualität derjenigen Produkte, die auf unserem eigenen Teller landen? Dann können wir mit dem jetzigen Zustand vielleicht noch ganz zufrieden sein – falls wir es uns leisten können. Oder wollen wir die Verhältnisse etwa bei der Fleischproduktion oder in den Warenlagern dieses Landes und dieses Kontinents grundsätzlich und allgemeinverbindlich verbessern? Dann führt kein Weg an einer anderen Politik vorbei.
Augstein und Blome haben das Thema in gewohnt clownesker Weise ebenfalls diskutiert: