Dies ist der erste einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Je nachdem wie sich das einpflegt werde auch auch auf andere Medien und Formate eingehen, die ich als relevant empfinde. Vorerst ist das Verfahren experimentell, bitte gebt mir daher entsprechend Feedback! Diesen Monat: Ein Versuch, Polen zu verstehen, eine Tiefenuntersuchung der Transformation Osteuropas und eine Rückkehr zu Feuer und Blut.
Gerhard Gnauck – Polen verstehen
Nachdem ich letztes Jahr die Aufsatzsammlung „Polska First – Über die polnische Krise“ gelesen hatte. dachte ich, ich könnte mich dieses Jahr vielleicht analog zu „israel verstehen“ über Polen informieren und griff daher zu Gnaucks Buch mit dem einladenden Titel „Polen verstehen“. Um es gleich vorwegzunehmen, darf diese Lektüre als Missgriff gelten.
Gnauck weiß zwar, sich in weiser Selbstbeschränkung auf die Zeit nach Polens Wiedergründung 1918/19 einzugrenzen und nicht beim polnischen Königreich und den Teilungen anzufangen, die lediglich im Hintergrund als polnische Tragödie ihren Platz haben. So nimmt er den Leser auf eine Geschichte der polnischen Zwischenkriegszeit, in der das Land sich aggressiven Ouvertüren seiner Nachbarn in West wie Ost erwehren muss, die schließlich in der Stabilisierung des polnischen Staates unter Josef Pilsudksi endet.
Die Unklarheiten beginnen schon damit, ob man Pilsudski als einen Diktator sehen sollte, als Autokrat oder etwa Eigenes. Bis heute ist seine Rolle historisch durchaus umstritten, während er in Polen selbst größere Verehrung genießt – mit einer 40jährigen Unterbrechung durch das kommunistische Zwangsregime, in dem die Sowjetunion die Verehrung desjenigen, der ihr die Niederlage im „Wunder an der Weichsel“ beibrachte, nicht gestatten konnte.
Zur Klärung dieses Bildes trägt Gnauck selbst leider wenig bei. Die grundsätzliche Schwäche des Buches wird bereits in diesen Anfangskapiteln klar. Man erfährt im Verlauf der Lektüre zwar viel über die Namen und biographischen Fakten auftretender Personen und erfährt, was sie gesagt und getan haben. Sie bleiben aber trotzdem alle Chiffren. Die Mission des Buches, Polen verständlich zu machen, wird auf breiter Front nicht erreicht.
Gnaucks Ansatz ist der einer reinen Ereignisgeschichte, in der als Chronist auftritt und Fakten auflistet, ohne je in der Lage zu sein, den zum Verständnis nötigen Kontext zu schaffen. Wo der Leser den selbst mitbringt, wie es etwa für die Besatzungszeit durch die nationalsozialistische Mörderbande der Fall sein dürfte, funktioniert das leidlich. Wo dies nicht gegeben ist, fallen die Fakten letztlich auf unfruchtbaren Boden und tragen wenig zum Verständnis bei. So erfährt man, dass im polnischen Umbruch 1989/90 Solidarnosc-Politiker die Seiten wechseln und mal bei dieser, mal bei jener Bewegung andocken. Wie diese zu verorten sind, bleibt dagegen weitgehend unklar.
Ebenfalls sehr irritierend ist der Fokus auf der Geschichte generell. Ein Buch, das Polen verständlich machen will, sollte auch auf andere Bereiche eingehen und gerade den notwendigen Kontext schaffen. Das geschieht aber nicht; stattdessen wird ein gewaltiger Teil des letzten Viertels der Lektüre darauf verwandt, sich mit den Kaczinsky-Brüdern zu beschäftigen, wo allerlei Verschwörungstheorien (etwa um den Absturz 2010 in der Ukraine) erklärt und die beiden biographisch ins letzte Detail dargestellt werden. Aber auch hier bleibt das Verständnis des modernen Polens unterentwickelt.
Ich sehe Gnaucks Buch daher vor allem als Beispiel dafür, wie Geschichtsbücher nicht aufgebaut sein sollten und kann von der Lektüre leider nur abraten.
Philipp Ther – Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa
Ungleich gewinnbringender, wenngleich auch wesentlich anspruchsvoller in der Lektüre, ist Philipp Thers überraschend flüssiges Werk mit seinem etwas sperrigen Titel. Man sollte sich nicht vom Schlagwort „neoliberal“ abschrecken lassen. Ther unternimmt es, die Geschichte der gesamten Transformationszeit in Osteuropa zu schreiben, vom Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bis zum wohlgesetzten Endpunkt des Vorabends der Finanzkrise 2007/2008.
Die Lektüre beginnt zugegebenermaßen sehr trocken und abschreckend, weil Ther in bester akademischer Natur erst einmal die Rahmenparameter festlegt. Das geschieht in ungeheuer jargonreicher Sprache und hätte mich zweimal fast zum Abbruch bewegt. Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe, denn das Bild hellt sich sehr schnell auf.
Ther betrachtet ein gewaltiges Feld auf gerade einmal knapp 450 Seiten. Alle osteuropäischen Staaten, die Bundesrepublik in ihrem „Aufbau Ost“ und sogar die Krise Südeuropas spielen alle eine Rolle und werden in mehreren miteinander verwobenen Querschnittuntersuchungen analysiert.
Ther geht in mehreren konzentrischen Kreisen vor. Er etabliert zuerst die Basis, indem er die Modularitäten des Umbruchs 1989 untersucht, die sich in den osteuropäischen Staaten dramatisch voneinander unterscheiden und allzu oft einfach zusammengeklumpt werden. Danach befasst er sich mit der „von oben“ verordneten Reformpolitik des Neoliberalismus, wie sie damals (Stichwort Washington Consensus) überall mehrheitsfähig war. Er unterscheidet dabei in zwei „Wellen“ des Neoliberalismus.
Die erste dieser Wellen ist die Transformation, nachdem sich der Staub gelegt hatte, also die frühen 1990er Jahre. In Deutschland ist das die Epoche der Treuhand, während die osteuropäischen Staaten auf verschiedene Weisen (allerdings alle dem gleichen Konsens folgend) die abgewirtschaftete Misere des Realsozialismus zu überwinden versuchten. Überall war dies mit gewaltiger Rezession, Massenarbeitslosigkeit und Verelendung verbunden. Ther weist hier explizit auf die Ausnahmeerscheinung Deutschland hin, wo Massenarbeitslosigkeit ebenfalls zur allgemeinen Erfahrung gehörte, der großzügige Sozialstaat jedoch, anders als in Osteuropa, den Lebensstandard auf einem erträglichen Niveau hielt.
Die zahlreichen Transformationsschwierigkeiten führten im gesamten ehemaligen Ostblock jedoch bald zu einem Backlash; Neokommunistische Parteien reüssierten. Gleichzeitig setzte die EU den Osterweiterungsprozess in vollen Gang, mit dem große Hoffnungen verbunden wurden. In diese Zeit fällt die zweite Welle der Neoliberalisierung, in der einige Staaten unter dem Beifall der Weltöffentlichkeit radikale Ansätze ausprobierten. Die ohnehin schwachen osteuropäischen Sozialstaaten wurden noch weiter gekürzt, teilweise wurden Flat-Tax-Systeme eingeführt.
Ther untersucht beide Phasen nicht in einem Vakuum, sondern bettet sie stets in die weltweiten Entwicklungen und Diskussion ein. Dies ist eine der großen Stärken des Buches, denn Ther gelingt es so herauszuarbeiten, wie die Transformationsprozesse einerseits und die sie begleitenden Diskurse andererseits einem System kommunizierender Röhren gleichen. Die weitgehenden Reformen im Osten Europas zwingen auch die Mitte, den Westen und (vor allem im Rahmen der Finanzkrise) den Süden Europas zu Reformen.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Bundesrepublik. Nachdem der Versuch, eine Anpassung Ostdeutschlands nach oben – an den Standard Westdeutschlands – zu erreichen gescheitert ist, übernahm das Narrativ des Reformstaus und der Systemkrise. Diese Krise wurde dann durch eine Anpassung nach unten beigelegt: Hartz-IV. Gleichsam zwang die Anpassung nach unten in Osteuropa spätestens mit der Osterweiterung auch die übrigen EU-Staaten dazu, diesen Kurs wenigstens teilweise nachzuvollziehen.
Spannenderweise läuft es gleichzeitig, vor allem in den 2000er-Jahren, als der Westen diese Anpassung nach unten vollzog, auch wieder gegenläufig. Denn obgleich die Indikatoren jener Zeit für den Osten deutlich nach oben zeigten – die Arbeitslosigkeit sank, ausländische Direktinvestitionen nahmen massiv zu – geschah dies um den Preis einer massiven Ungleichheit, die die Gesellschaften vor eine Zerreißprobe stellte, die paradoxerweise zu einem Abschied von den neoliberalen Reformen und einer progressiven Stärkung der jeweiligen Sozialstaaten und Steuersysteme just in dem Moment führten, in dem diese im Westen in regressiver Weise nach unten korrigiert wurden. Für Ther ist das alles Teil desselben Prozesses, einer gewaltigen Angleichung innerhalb Europas.
Das klingt in meiner Zusammenfassung wesentlich platter, als es ist. Ther geht stets auf die verschiedenen Dimensionen ein; ein komplettes Kapitel ist etwa alleine den Unterschieden zwischen Stadt und Land einerseits und den Metropolen in den verschiedenen europäischen Staaten andererseits gewidmet. Der Autor schafft es auch stets, mit viel Nuance auf die Unterschiede zwischen den osteuropäischen Staaten einzugehen; so etwa wird immer wieder hervorgehoben, auf wie viel furchtbareren Boden die Reformen in Polen fallen, das eine wesentlich besser verankerte Tradition der Selbstständigkeit hat, als etwa in Ungarn oder der ehemaligen DDR.
Ich habe an dieser Stelle nur an der Oberfläche von Philipp Thers Buch gekratzt. Wie bereits ersichtlich geworden sein dürfte, kann ich das Werk uneingeschränkt empfehlen. Ther widersteht der Versuchung, sich in die politischen Kämpfe um die Reformpolitik und den Neoliberalismus-Begriff ziehen zu lassen; stattdessen analysiert er großartig strukturiert und mit scharfem Blick für lokale Nuancen UND das Große Ganze die Entwicklungen jener Epoche. Das Bild, das so entsteht, muss zwangsläufig ambivalent bleiben. Aber ich habe selten so viele Denkansätze aus der Lektüre eines einzigen Buches bekommen. Unbedingte Kaufempfehlung, egal, wie man selbst zur Thematik steht. Hier ist für jeden fruchtbares Gedankenfutter enthalten.
George R. R. Martin – Fire and Blood (Deutsch: George R. R. Martin – Feuer und Blut)
Nach meiner Erstlektüre vergangenes Jahr, die mich mit einem eher lauen Gesamteindruck der „fake history“ der fiktiven Targaryen-Dynastie Westeros‘, der Welt von „Game of Thrones“, zurückgelassen hat, habe ich mich erneut an den Wälzer gemacht und geschaut, ob eine zweite Lektüre meine Eindrücke ändern würde. Ich habe für meinen Patreon zum Podcast „Boiled Leather Audio Hour“ ein Essay über die Erfahrung geschrieben. Dieses steht bislang nur Patreons offen, aber weil ich euch alle so lieb habe und gleichzeitig ein wenig Werbung für Podcast und Patreon betreiben will, findet ihr meine Zweitrezension von „Fire and Blood“ nachfolgend.
As already mentioned in my latest podcast with „The Laws of Ice and Fire“, Clint, I used October to reread Fire and Blood for the first time since its arrival. I have been lukewarm on all the fake histories of Westeros, as our previous podcasts (Princess and the Queen, Aegon’s Conquest, Rogue Prince, Fire and Blood) indicate, and stayed largely away from the discussion in the fandom. Since it’s the only new material that came out these past years, that also meant staying away from a lot of the discussion, period. Now I wanted to see if my opinion changed.
And overall, it didn’t, not really. The start of the volume is engaging enough, with Aegon’s Conquest and the following reign of Aenys (which provides a real interesting might-have-been had his son come to rule) and then Maegor the Cruel. A lot of it is very self-referential to the Targaryen family, in a manner so contained that it feels encapsulated and isolated from the continent itself. That may be on purpose, but it limits my engagement with the text.
I can also never shake the feeling that the reigns of these three kings feel more fairy-tale-like than the following ones, and the fairy tales in question aren’t particularly interesting. It’s a slog for me, and I was glad to finally see Maegor bite it under the unknown circumstances that we have and to make way for Jaeherys‘ reign.
As a final verdict, I think it comes down to this. Martin’s superior skills as a writer elevate the material to readable levels, but on the whole, the faux-histories are a failed experiment for me. It simply doesn’t engage me on near the level that the novels proper do, and ultimately, it frustrates me as much as it entertains or enlightens me. I’ll return to the real history for history, and the real novels for fantasy, and keep the two separated.
Ich weiß, das gehört hier strenggenommen nicht hin und ich möchte auch nicht deinen kuratorischen Aufwand, Stefan, hinter dieser Liste mit einer sachfremden Frage schmälern, aber ich habe keinen besseren Ort gefunden.
Ich lese hier bei deliberation daily seit einiger Zeit immer mal wieder als passiver Beobachter mit, weil ich die von euch behandelten Themen und die diversen dazu geäußerten Gedanken von allen Seiten oft spannend finde. Mir fällt bei der Lektüre der einleitenden Artikel und der aus ihnen entspringenden Diskussionen in den Kommentaren immer wieder folgendes auf: Ihr beiden Hausherren, Stefan und Stefan, legt jeweils eine fast schon radikal linke bzw. konservative Haltung an den Tag, die mir oft bzw. eigentlich sogar immer ziemlich kompromisslos und dem (guten) Gegenargument gegenüber verschlossen zu sein scheint. Ich beobachte das sowohl bei der Formulierung eurer ursprünglichen Artikel als auch in den dann entbrennenden Diskussionen, an denen ihr euch dankenswerterweise rege beteiligt.
Ich möchte das gar nicht werten, das ist ja nicht per se richtig oder falsch oder lobenswert oder verwerflich. Ich bin einfach nur neugierig:
Ist diese von euch beiden Stefans hier im Forum plakativ zur Schau getragene und kompromisslos durchexerzierte politische Haltung auf beiden Seiten des Spektrums ein strategisch bewusst gewählter Schachzug, um Widerspruch bei der Leserschaft hervorzurufen, eine Diskussion in Gang zu setzen, und diese dann anschließend weiter zu befeuern (so nach dem Motto: „the unexamined opinion is not worth having.“ 😉 – oder entspricht alles, was ihr hier schreibt und äußert, tatsächlich aus vollem Herzen eurer persönlichen politischen Überzeugung?
Mir brennt diese Frage deshalb so unter den Nägeln, weil ich mir letzteres fast nicht vorstellen kann. Ihr seid offenkundig kommunikative Persönlichkeiten und an Austausch interessiert, politisch und am Zeitgeschehen interessiert und bewandert und werdet hier im Forum seit Jahren mit den unterschiedlichsten Sichtweisen und Argumenten zu den unterschiedlichsten Themen konfrontiert. Wie kommt es – falls Möglichkeit zwei zutreffen sollte – dass ihr trotzdem nach all den Jahren meiner Wahrnehmung nach noch immer noch so politisch einseitig und nahezu unversöhnlich seid und mit euren Äußerungen regelmäßig wie im Polit-Bingo völlig erwartbar alle jeweils linken und rechten Checkboxen abhakt? Gibt es denn nie, nimmer, nicht und gar kein Argument der Linken resp. der Rechten (in Ermangelung besserer Schlagwörter), das euch jeweils zu überzeugen vermag? In all den Jahren? In all den Diskussionen? Bei all den Themen?
In würde mich über eine Antwort sehr freuen! Danke schon einmal.
Ich glaube das basiert auf einer Fehlwahrnehmung. Die „Dauerkommentatoren“ wie Stefan und ich kennen uns schon so lange und führen diese Debatten schon so lange, dass wir nicht immer bei Adam und Eva anfangen; deswegen kommt einem das glaube ich teilweise verbohrt vor, obwohl es das nicht ist. Dazu kommt bei mir, dass ich nicht gerne lange Kommentare schreibe, was da auch mit reinspielen mag. Ich halte die Zuschreibung mit dem radikal aber in unseren beiden Fällen Quatsch. Ich tue mich ja schon mit dem Label „links“ schwer; „radikal links“ ist sicherlich falsch. Und Stefan Pietsch ist bestenfalls Liberalkonservativ, aber sicher nicht „radikal konservativ“.
Danke für deine Antwort! Das Wort „radikal“ ziehe ich gerne zurück. Ich meinte das tatsächlich in seinem ursprünglichen, lateinischen Sinne als tief im linken oder konservativen Meinungsspektrum verwurzelt (radix = Wurzel, Basis) und nicht primär im Sinne von ‚extrem‘ oder ‚überbordend‘, was bei diesem Wort im heutigen Sprachgebrauch ja immer ein wenig mitschwingt (notabene: x-radikal ≠ x-extrem). Aber egal. An diesem Wort hängt mein Herz nicht.
Mir ging es um die Sache selber. Und diesbezüglich ist deine Antwort ja ganz interessant: Erstens nehme ich euch schon als relativ robust in der Diskussion war, ihr schenkt euch nichts, no quarter asked, no quarter given. Und ihr seid in meiner(!) Wahrnehmung auch relativ unverrückbar in euren Positionen. Vielleicht ist das eine Fehlwahrnehmung, aber ich habe sie nun einmal.
Wenn dem so sein sollte, stellt sich mir, zweitens, die Frage: Wenn man mit einem Partner über Jahre und Jahre hinweg verschiedenste Sachfragen diskutiert, dann könnte man sich ja vorstellen, dass sich die Sichtweisen beider Diskutanten im Laufe der Zeit annähern, einfach weil sie sich in ihrer je eigenen Wahrnehmung der Realität auch gegenseitig beeinflussen.
Es ist aber genausogut vorstellbar, dass sich beide Diskutanten über die Jahre in ihren jeweiligen Haltungen und Meinungen verhärten und sich inhaltlich und argumentativ quasi diametral voneinander weg entwickeln, hin in immer fundamentalere und extremere Sphären.
Letzteres scheint mir viel häufiger der Fall zu sein als ersteres, gerade bei über das Internet vermittelten Diskursen. So vielleicht auch bei euch? Woran liegt das? Welche Rolle spielt es, dass man in Online-Diskussionen, an denen ja theoretisch jeder mit Internetzugang partizipieren kann, mit jedem Argument nicht nur einen konkreten Gegenpart anspricht, sondern auch eine anonyme Masse von Beobachtern, die man vielleicht beeindrucken oder inhaltlich auf seine Seite ziehen möchte?
Wie dem auch sei, auch wenn ich immer wieder lächelnd den Kopf schütteln muss ob der m. E. manchmal offensichtlich stärker ideologisch als sachlich-rational motivierten Qualität eurer beider Argumente, ist es mir immer häufig genug ein Genuss. Ich muss ja nicht jeden Diskussionsfaden, der mir abzugleiten scheint, bis zu Ende lesen. 😉
Na, der Stefan hat meine Meinung schon bei einigen Themen geändert. Umgekehrt glaube ich eher nicht. Nur ist natürlich generell unwahrscheinlich, dass er in einem Kommentar etwas schreibt, das meine Grundsatzüberzeugungen erschüttert. Das wäre auch echt merkwürdig.
Stefan und ich schätzen uns sehr, auch wenn wir aus verschiedenen Generationen stammen. Es ist ja nicht so, dass ich das Denken und Fühlen im linken Lager nicht kenne, schließlich bin ich als Liberal-Sozialer gestartet. Nur bin ich wie so viele Menschen von links kommend irgendwann rechts gelandet, weil ich mehr auf Pragmatismus als die reine Lehre stehe.
Die Frontstellung ist aber für die Blogdiskussion von Vorteil. Als wir vor einigen Monaten einen lockeren Austausch über links und rechts produzierten, wurde das als wenig diskutables Kamingespräch angesehen.
Betrachten Sie unsere Anlage unter zwei Aspekten: Debattenduelle leben vom Aufeinanderprallen des Gegensätzlichen. Solange das Duell läuft, wird sich nichts geschenkt. Das Zugeständnis, dass der andere den Punkt gemacht hat, beendet das Duell. Natürlich gestehe ich so etwas auch zu, klar doch, wenn ich kein Gegenargument mehr habe.
Ich habe manchmal mit Gerichtsverfahren zu tun. Anfangs habe ich es nicht verstanden, warum im den Schriftsätzen Kläger und Beklagter keine Zugeständnisse machen und einen Sachverhalt absolut einseitig darstellen. Doch die Regel ergibt Sinn. Jeder hat nur das vorzutragen, was für ihn spricht. Das erleichtert dem Richter die Zuordnung und Abwägung der Argumente, um zu einem richtigen Urteil zu kommen. Würde die eine Seite zugestehen, dass an der Argumentation des anderen etwas dran sei, würde das die Klarheit verwischen.
Am Ende steht eine Entscheidung oder ein Kompromiss. Und so sollte es in einer zivilen Gesellschaft sein.
Vielen Dank für eure Rückmeldungen! (Ich bleibe mal beim „du“ ohne Einschränkung der Höflichkeit.)
@Stefan S.: Na, das wäre doch schade, wenn kein Argument dazu in der Lage wäre, dass du dich in deinen Grundsatzüberzeugungen zumindest hinterfragst. Die sind ja nicht gottgegeben oder dir bereits in die Wiege gelegt worden, sondern haben sich im Laufe deines Lebens entwickelt und weiterentwickelt – unter anderem (nehme ich mal an) in mannigfachen Diskussionen als Teil deiner politischen Sozialisation. Und warum sollte dieser Prozess gerade hier und heute haltmachen?
Ob jetzt allerdings, wie du sagst, gerade _Stefans_ Argumente dazu geeignet sind, dass du noch einmal in dich gehst, möchte ich mal dahingestellt sein lassen. (umgekehrt übrigens auch!)
@Stefan P: Deinen „pragmatic turn“ kann ich gut nachvollziehen. Schließlich sind heutige Gesellschaften in so vielen Beziehungen so komplex und divers, dass es mir schlicht und ergreifend oft eine Bedingung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit überhaupt zu sein scheint, dass man Konsens sucht, Kompromisse schließt, und macht, was hilft, und nicht, was ideal wäre. Außerdem: des einen Ideal ist des anderen Horror, je nach Grundüberzeugung. Auf der Basis von Idealen wird man wohl nie eine verträgliche Gesellschaft aufbauen können.
Bzgl. des Weiterdiskutierens bis du kein Gegenargument mehr hast: Das ist ja das Problem. Du könntest dich auch schon vorher von einem besseren Argument der Gegenseite überzeugen lassen. Man muss ja nicht weiter mit Pfeil und Bogen schießen, nur weil im Köcher noch nicht leer ist, wenn der andere einem ein Gewehr zeigt. Aber leider scheint diese Fähigkeit zum Zugeständnis gerade in Online-Diskussionen immer stärker verloren zu gehen. Meist sind die Argumente ein Resultat der Überzeugungen, und nicht die Überzeugungen ein Resultat der Argumente.
Und das führt dann häufig leider dazu, dass am Ende eben kein Kompromiss oder wenigstens eine Entscheidung steht (wie du es zurecht für eine zivilisierte Gesellschaft einforderst), sondern Unversöhnlichkeit auf allen Seiten herrscht und die Leute anfangen, sich aus ihren Gräben wie Kinder mit Schmutz zu bewerfen.
Was du zur Diskursnatur von Gerichtsprozessen sagst, teile ich nicht ganz. Für Zivilprozesse magst Du Recht haben, aber zumindest bei Strafprozessen ist die Staatsanwaltschaft (der Klageführer) verpflichtet, offen zu ermitteln und auch den Angeklagten entlastende Punkte ins Feld zu führen (also zumindest in Deutschland, bei den Amis ist das natürlich anders). Ich kann auch nicht ganz erkennen, wie ein möglichst einseitiger Clash der Positionen dem Richter bei der Entscheidungsfindung prinzipiell helfen soll. Das verschiebt die Komplexität des Austarierens der Argumente doch nur auf eine spätere Stufe im Prozess, reduziert sie aber nicht. Die Informationsbasis, auf die der Richter seine Entscheidung aufbaut, ist in jedem Fall dieselbe, ebenso die intellektuelle Herausforderung.
Ich schließe das nicht aus, aber ich glaube halt nicht, dass du EIN einziges Argument findest, das mich in meinen Grundüberzeugungen erschüttert. Das glaube ich bei keinem. Widerspricht allem, was Forschung und Erfahrung zeigen.
Nein, natürlich nicht das EINE Argument. Solche „Epiphanien“ wird es nur in den seltensten Momenten geben. So funktioniert die menschliche Psyche auch nicht.
Aber über den Lauf vieler Jahre und unzähliger Diskussionen hätte ich einen gewissen Angleichungseffekt, zumindest auf Ebene von Details oder dem großen Ganzen (dazwischen eher nicht) schon erwartet.
Aber so bleibt es ja bei euch beiden wenigstens immer popcornverdächtig.
Wie gesagt, ich habe meine Meinung über die letzten Jahre bei diversen Themen ziemlich grundlegend geändert…
Nenn mir doch mal spontan ein oder zwei, wenn du so nett wärst. Im Prinzip egal was, aber vielleicht fällt dir ja irgendwas bedeutendes ein.
Ich warte gespannt!
– Ich war früher radikal-pazifistisch gegen alles Militär und Auslandseinsätze.
– Ich war früher Maskulist.
Nur als zwei Beispiele.
„@Stefan S.: Na, das wäre doch schade, wenn kein Argument dazu in der Lage wäre, dass du dich in deinen Grundsatzüberzeugungen zumindest hinterfragst. Die sind ja nicht gottgegeben oder dir bereits in die Wiege gelegt worden, sondern haben sich im Laufe deines Lebens entwickelt und weiterentwickelt – unter anderem (nehme ich mal an) in mannigfachen Diskussionen als Teil deiner politischen Sozialisation. Und warum sollte dieser Prozess gerade hier und heute haltmachen?“
Ich habe das vor ein paar Monaten mal versucht (sehr ausführlich) darzustellen. Das Problem ist m.E., dass wir unterschiedliche in-/out-groups haben. Wenn die Argumente nur zwischen uns selbst wären / nur uns selbst betreffen würden, käme man glaube ich leichter zur Einigung. Aber ich für meinen Teil habe tatsächlich oft Angst, Angst um meine muslimischen Freunde, Angst um Freunde mit Migrationshintergrund, Angst um LGBTQ-Bekannte, jüdische Freunde und kopftuchtragende Frauen. Und ich will umgekehrt nicht ausschliessen, dass meine Argumentationslinie (und einem Argument zuzustimmen, heisst ja immer im Zweifel hinzunehmen oder sogar dazu beizutragen, dass es sich auf breiter Front als gesellschaftlicher Konsens durchsetzt, denn wieso sollte man befürworten oder sich gar dafür einsetzen, dass die Gesellschaft „falsch“ handelt?) Millionären/Milliardären Angst macht. Die Lösung hier sind natürlich Kompromisse, nur geht man halt selbst wesentlich leichter Kompromisse ein, als dies für andere (so sie einem etwas bedeuten) zu tun. Und aus beider Lager Sicht scheint man selbst (die Diskutanten) in jedem Kompromiss relativ privilegiert zu sein. Weder bekomme ich Mord-Drohungen, noch müssten andere Diskutanten hier die Höhe an Steuern und Abgaben zahlen wie Familienangehörige oder gute Bekannte die zur in-group gezählt werden. In der Realität muss einer / zumindest gefühlt oft beide in den sauren Apfel beissen – einfacher macht es das aber nicht. Und eine „moralische“ Diskussion wird ja prinzipiell abgelehnt, der theoretisch-mögliche einzige andere Ausweg – ein Diskutant überzeugt den anderen, dass dessen saurer Apfel objektiv weniger sauer ist – bleibt damit versperrt und ist ja auch statistisch noch weit weniger erfolgreich. Dazu braucht es neben Argumenten oft einfach andere Lebenserfahrungen – ist dies gegeben, findet schon mal ein Umdenken statt – aber das wird halt nicht in (diesem) blog(s) geklärt…
Lustig, unsere Haltungen zu Fire&Blood sind genau entgegengesetzt zu Game of Thrones 🙂
Ich bekomme soviel daraus (wie schon aus World of Ice and Fire, wobei ich Gyldayn gegenüber Yandel definitiv bevorzuge ), dass ich auch gerne noch ein paar Jahre auf Winds warte… Wobei ein bisschen Dunk&Egg zur Abwechslung nicht schlecht wäre…
Zum einen sehe ich Jahaerys mehr als „mixed bag“ denn als „awful human being“, insbesondere a) im Kontext der Zeit und b) weil man durch seine Kindheit, den Konflikt zwischen Aenys und Maeghor und den Einfluss seiner Mutter ja schon sehen kann „woher was kommt“. Zu a) gehört bspw. auch, dass Alysanne selbst ja zwar auf Probleme von Frauen in Westeros aufmerksam macht, aber „es liebt“ Heiraten zu schmieden, einige davon ganz sicher nicht unproblematisch bzw. wohl doch weit entfernt von Trämen bspw einer Sansa Stark…
Aber vor allem die Geschichten der vermeintlichen Neben-Akteure wie bspw Rhaena, Rhaenys, Elissa Farman, the Sea Snake sowie die Tragödien um Aerea, Danaerys, Daella und ja, auch Saera – oh und der kleinen Jaehaera und das Auftreten der Velaryon Prinzessinnen, das Spiel um/mit Daenaera und die Verschwörung der regency und mit all dem verknüpft die Beschreibungen von Land und Leuten in Essos und Sothoryos bringen es für mich!
Die Einseitigkeit der Blackwoods/Brackens oder auch Peakes mag ich zwar auch nicht, aber angelegt war das ja auch schon in ASOIAF und insbesondere vlt D&E… Und sowohl Riverlands als auch Blackwoods beinhalten ja hier auch magische Komponenten … die durchaus noch relevant werden könnten (#Euron)…
Die Parallelen und „Ergänzungen“ / ( for-) shadowing sind ja übrigens zahlreich 😉
Anyway, lange Rede, kurzer Sinn: I like the damn‘ thing!
Ich glaube, das liegt auch daran, dass ich Historiker bin. Mich überzeugen diese faux-histories einfach nicht so.
Zu Jahaerys: Oh, selbstverständlich, aber das Darstellen komplexer Personen im Kontext ihrer Zeit gelingt Martin in der eigentlichen Serie einfach viel besser. Eine Rohanne Webber hat deutlich mehr Tiefe und Facetten als Alysanne. Das ist eben auch das Problem des Formats; Alysannes Maßnahmen und Eintreten für Frauen passieren bei so lächerlich niedrig hängenden Früchten, wie Jahaerys ganze Regierungszeit, dass ich sie nicht wirklich ernstnehmen kann.
Die Nebengeschichten sind tatsächlich wesentlich spannender. Aber sie sind halt das, Nebengeschichten, und der Hauptteil bleibt häufig sehr dröge…
Vielleicht sollten wir die Diskussion eh im Patreon machen 🙂