Volker Ullrich – Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Hörbuch)
Das Jahr 1923 spielt für die Deutschen eine hervorgehobene Rolle. Nicht nur die große Hyperinflation, sondern zahlreiche andere Krisen erschütterten in diesem Jahr das Land. In der deutschen Wahrnehmung ist es vor allem die Hyperinflation die in Erinnerung geblieben ist. sie ist allerdings trotz der hervorgehobenen Rolle die sie in der deutschen Erinnerungskultur spielt kaum verstanden und wird selten in einen größeren Kontext eingebettet. Ein Buch das sich ausführlich mit dem kompletten Jahr und den Kontexten beschäftigt wäre daher sehr willkommen. ob der vorliegende Band von Volker Ullrich diesen Anspruch einlösen kann wollen wir im Folgenden untersuchen.
Ulrich beginnt seine Erzählung in Kapitel 1 Ende des Jahres 1922 kurz vor Beginn des Ruhrkampfs. Der Tagebucheintrag einer Deutschen die 1922 als Wahnsinnsjahr empfand und darauf hoffte dass 1923 mehr Normalität einkehren würde schafft den entsprechenden Rahmen. Das Chaos bezog sich nicht nur auf die galoppierende Inflation die bereits 1922 ein spürbares Problem war sondern auch auf das politische Chaos jener Jahre. So war bereits 1922 außenpolitisch von großen Konflikten mit Frankreich gekennzeichnet die wegen nicht bezahlter Reparationen unter dem Premierminister Poincaré immer wieder damit drohten sogenannte produktive Pfände einzutreiben indem sie das Ruhrgebiet besetzen und sich dort die Reparationen in Sachleistungen selbst holen würden.
Die Reaktion der Regierung war die Ausrufung des sogenannten passiven Widerstands. Die Idee war, dass eine Art Generalstreik im Ruhrgebiet den Widerstandswillen der Deutschen demonstrieren und die Kosten für die französischen Besatzer so in die Höhe treiben würde, dass diese sich zum Abbruch des Ruhrkampfes gezwungen fühlen würden. Es war offenkundig, dass militärischer Widerstand gegen die Besatzung völlig aussichtslos war. Nicht, dass dies die Rechtsradikalen davon abgehalten hätte, genau dies zu fordern und offensiv zu vertreten.
Zu Beginn war der passive Widerstand durchaus erfolgreich. Die Produktion im Ruhrgebiet kam fast völlig zum Erliegen und die Besatzer hatten große Schwierigkeiten, ohne Kollaborateure die Besatzungszone zu verwalten. Zudem rief der Ruhrkampf eine Welle von Einheitsgefühlen unter den stark polarisierten Deutschen hervor, wie sie seit den Kriegstagen nicht mehr gesehen worden war. Innenpolitisch konnte die Regierung Cuno daher im Januar mit der Ausrufung des passiven Widerstands einen Teilerfolg proklamieren.
Doch es zeigten sich sofort Bruchstellen. Die nationalen Aufwallungen, die die Regierung heraufbeschworen hatte, erwiesen sich als schwer kontrollierbar. Besonders auf der Seite der extremen Rechten führten sie zu einem Zulauf radikaler Terrororganisationen, die zwar für den Moment hauptsächlich gegen die Besatzer gerichtet waren, perspektivisch aber natürlich auch gegen die ungeliebte Republik selbst eingesetzt werden würden. Langfristig war die Beschwörung eines nationalen Widerstandskampfes gegen die Franzosen zudem in höchstem Maße kontraproduktiv: Sie nahm der deutschen Außenpolitik praktisch jeden Spielraum und verunmöglichte jegliche diplomatische Lösung des Konflikts, weil jederzeit das Szenario eines neuen „Dolchstoßes“ zu drohen schien.
Die Franzosen reagierten zudem schnell auf die neue Situation, indem sie Streikbrecher vor allem aus dem Elsass rekrutierten und so die Maßnahmen der Reichsregierung höchst erfolgreich unterliefen. Spätestens im März 1923 war absehbar, dass der passive Widerstand gescheitert war. Die Kosten waren für die deutsche Seite wesentlich höher als für die französische und von Letzterer zudem bedeutend einfacher zu tragen. Eine Solidarisierung des Auslands mit der Weimarer Republik fand nicht statt.
In dieser Situation hielt der Vorsitzende der DVP, Gustav Stresemann, eine vielbeachtete Rede. Stresemann, der bisher vor allem als beinharter Annexionist während des Krieges und überzeugter Monarchist aufgefallen war, äußerte sich höchst moderat, vernünftig und seriös. Die Zeitgenossen interpretierten diese Rede nicht ohne Grund als eine Art Bewerbung um das Kanzleramt. Stresemann hatte viel Grund zur Kritik. Die Regierung Cuno hatte eine völlig unzureichende Note an die französische Regierung geschickt, die nicht eben dazu geeignet war, Sympathien im Ausland zu gewinnen oder die Franzosen umzustimmen. Diese hatten ja schließlich auch durchaus einen Punkt: Die Strategie der Regierung Wirth, mit der sogenannten Erfüllungspolitik die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands zu beweisen und hierzu die Inflation zu instrumentalisieren, war ein Fakt, gegen den die Regierung zwar nicht anerkannte, der ihnen aber bereits von den Franzosen vorgeworfen wurde und der die unangenehme Eigenschaft hatte, wahr zu sein.
Eine unrühmliche Rolle in diesem Drama wurde von Hugo Stinnes und den anderen Großindustriellen eingenommen. Sie bildeten eine Art Schattenregierung, die vernünftige Kompromisse praktisch unmöglich machte und Maximalforderungen vertrat. Der gewaltige Einfluss der Großindustriellen auf die Politik, der auch Stresemanns Regierung dominieren sollte, wirkte sich sehr nachteilig für die deutsche Diplomatie aus. Das Land hatte damals allerdings das Glück, mit Friedrich Ebert einen demokratischen Reichspräsidenten zur Verfügung zu haben, der einerseits weitgehend unparteiisch und andererseits unzweifelhaft patriotisch und demokratisch gesinnt an einer Lösung der Krise interessiert war, ohne sich zu sehr um das Schicksal seiner eigenen Partei zu kümmern. Ein ähnliches Glück würde Deutschland in seiner nächsten großen Bewährungsprobe ab 1929 fehlen.
An dieser Stelle erhielt die deutsche Politik eine Art Atempause: Die unnachgiebige Politik der Franzosen und die wirtschaftlichen Folgeeffekte des Ruhrkampfes hatten die Briten, wie von der Regierung Cuno ursprünglich beabsichtigt, verärgert und dazu gebracht, unter dem Spitzendiplomaten Curzon eine diplomatische Initiative zu starten. Die schlechte deutsche Diplomatie sorgte allerdings dafür, dass diese Chance verschwendet wurde: Erneut sandte man nur eine völlig unzureichende Antwortnote.
Das zeigt sich in jenen Tagen, dass die starke Rücksichtnahme auf die radikale und extreme Rechte die deutsche Politik stark belastete. Auch diese Leitlinie der deutschen Innenpolitik, die sich auf die Außenpolitik durchschlug, würde sich in der Regierung Stresemann und im weiteren Verlauf der Weimarer Republik noch öfter zeigen. Sie kontrastiert auch äußerst unvorteilhaft mit der wesentlich schärferen Betrachtung und Ausgrenzung der radikalen Linken. Spätestens ab März jedenfalls war die Regierung Cuno eine Regierung auf Abruf, ohne dass es offensichtliche Erben gegeben hätte, da die verfahrene Situation eine Regierungsübernahme sehr unattraktiv machte. Obwohl offensichtlich war, dass der Ruhrkampf gescheitert war, traute sich niemand, ihn aus Furcht vor einer neuen Dolchstoßlegende abzublasen.
Weiter geht es in Teil 2.