Martin Clauss – Ritter und Raufbolde. Vom Krieg im Mittelalter (Hörbuch)
Der Krieg im Mittelalter fasziniert ungemein. Eine lebendige Reenactment-Szene legt davon genauso beredtes Zeugnis ab wie die Mittelaltermärkte und allerlei LARP-Veranstaltungen. Der Autor dieser Zeilen ist kein Fremder des Nachstellens mittelalterlichen Waffengebrauchs. Umso umstrittener ist der tatsächliche historische Hintergrund. Über Kriegführung im Mittelalter gibt es zahlreiche verschiedene Sichtweisen und widerstreitende Positionen. Das liegt neben dem zeitlichen Abstand auch an der Art der Quellen. Die geringe Zahl von Schriftkundigen, die Schreibanlässe (üblicherweise zur Verherrlichung der Herrschenden) und die Kosten von Schreibunternehmungen wirkten alle daraufhin, dass der eigentliche Alltag praktisch nicht beschrieben wurde. Die mittelalterlichen Autoren setzten die Kenntnis über das Geschäft des Krieges üblicherweise voraus, was aus ihrer Perspektive verständlich, für die Geschichtswissenschaftler*innen heute aber ein entsprechendes Problem ist. Martin Clauss unternimmt es in diesem Band nun, einen Überblick über „Krieg im Mittelalter“ zu geben, was neben den angesprochenen Problemen auch wegen der geografischen Breite und natürlich der temporalen Ausdehnung über fast ein Jahrtausend ein sportliches Unterfangen ist. Wir müssen uns daher ein idealisiertes mitteleuropäische Hoch-Mittelalter denken.
Im ersten Kapitel, „Adel, Klerus und Bauern – Krieg in der Gesellschaft des Mittelalters“, fragt Clauss vor allem, wer eigentlich kämpfte und aus welchem Grund. Bereits hier gibt es zahllose Darstellungen, die sich alle widersprechen. Fand der Krieg im Mittelalter als Lehenaufgebot statt, in dem Bauern mit Sensen neben Rittern standen? Oder war es vor allem eine Angelegenheit von Berufsarmeen? Für Clauss ist es effektiv eine Mischung. Die Fürsten hoben sowohl „Wehrpflichtige“ aus als dass sie professionelle Söldner einstellten und einige kleine eigene Kontingente unter Waffen hielten.
Das hatte direkte Konsequenzen für das Training der Männer. Wir wissen wegen der dürren Quellenlage nicht viel, aber vermutlich gab es so gut wie keine dezidierten Trainingszeiten – sowohl aus logistischen als auch finanziellen Gründen. Die Heere des Mittelalters waren ohnehin sehr klein, verglichen mit dem was es vorher und nachher gab, weil die mittelalterlichen Strukturen keine größeren Truppenkontingente versorgen konnten. Zusätzliche Trainingszeiten waren ausgeschlossen, so dass Training vermutlich auf dem Marsch passierte und in den Schlachten sehr schlecht ausgebildete Gemeine auf hoch professionalisierte Adelige trafen.
Diese Asymmetrie erklärt auch die Bedeutung der Ritter. Die Adeligen wurden durch ihre Bevölkerung versorgt und konnten es sich leisten, nichts zu tun als auf den Krieg zu trainieren; vom Besitz der entsprechenden Ausrüstung einmal ganz abgesehen. Die hervorgehobene Stellung der Ritter hatte also auch mit dem schlechten Trainingsstand des Rests zu tun. Wo die Gemeinen eigene Waffen und Training vorweisen konnten, wie etwa im Fall der englischen Langbogenschützen, nivellierte sich die Bedeutung der Ritter sehr schnell. Diese waren daher mindestens genauso sehr ein gesellschaftliches wie militärisches Phänomen.
Der Klerus hatte keine offizielle Rolle im Gefecht und galt grundsätzlich als Nicht-Kombattant. Generell teilte das Mittelalter nicht wie wir heute in Soldaten und Zivilisten ein, sondern in bewaffnet und unbewaffnet. Wer eine Waffe trug, war legitimies Ziel; wer keine trug, nicht (zumindest in der Theorie). Griff ein Priester also zur Waffe, beschützte ihn sein Stand nicht; trug er keine, unterschied ihn wenig von einem Bauern, der keine Waffe besaß. Dass diese Unterscheidungen in der Praxis häufig nicht klar eingehalten wurden und Bewaffnete die Unbewaffneten unterdrückten, versteht sich schon fast von selbst. Es gehört zum hässlichen Antlitz praktisch jeden Krieges.
Wichtig ist außerdem Clauss‘ Betonung der Rolle des Krieges für die Legitimation des Adels, vor allem des Königs. Kriegführung galt als zentrale Aufgabe des Monarchen, durch die er Ruhm und Ehre sammelte. Einen Krieg zu führen brauchte daher keines speziellen Anlasses; erklärungsbedürftig war eher, keinen Krieg zu führen.
Das zweite Kapitel, „Feldschlacht, Belagerung und Kriegszug – Formen des Krieges“, diskutiert die verschiedenen Formen, die der Krieg nehmen konnte. Die Feldschlacht ist in den Quellen das vorherrschende Element, doch wir wissen ziemlich genau, dass sie die absolute Ausnahme darstellte – wie übrigens auch durch große Teile der Neuzeit hindurch. Ein Merkmal von Feldschlachten sind ihre hohen Verlustzahlen, und auch wenn sich die Herrscher kaum um das Schicksal ihrer Untergebenen scherten, so waren Ausrüstung, Aushebung und Bewaffnung der Soldaten doch teuer. Das änderte sich eigentlich erst mit den Massenheeren des 19. Jahrhunderts, in denen Leben sehr billig wurde. Dazu kommt, dass Feldschlachten sehr risikoreich sind: man kann viel gewinnen, aber auch sehr viel verlieren. Entsprechend stellen sie die Ausnahme dar. Die Quellen betonen sie allerdings, weil sie den Herrschern gute Repräsentationsmöglichkeiten bieten und eine Art literarisches Genre darstellen.
Der Standardfall der Kriegführung war der Kriegszug: die Armee zog ins Feindgebiet, suchte Land zu besetzen und in einigen Fällen die feindliche Wirtschaft zu stören (besonders berühmt ist hier die Chevauchee des 100jährigen Krieges). Die geringe Größe der mittelalterlichen Armeen setzte all diesen Unternehmungen aber klare Grenzen. Eine Sonderform des Kriegszugs war die Belagerung, bei der versucht wurde, die Versorgung einer Festung oder Stadt abzuschneiden und diese so zur Aufgabe zu zwingen. Die Versorgung der Truppen war aber für die Belagerer selbst mindestens genauso schwer wie für die Eingeschlossenen. Die Belagerungen konnten gewaltige Ausmaße annehmenc, mit Grabensystemen, die den Befestigungen des Ersten Weltkriegs zur Ehre gereichten.
Das dritte Kapitel, „Gewalt trifft alle – Die Opfer des Kriegs“, zeigt die Auswirkungen dieser Kriegführung unter anderem auf Zivilisten. Denn diese waren zwar als Unbewaffnete keine legitimen Kriegsziele; wurde jedoch die Wirtschaft des Feindes attackiert, spielte das schnell keine Rolle mehr. Auch bei Belagerungen konnte kaum unterschieden werden und wurde das auch gar nicht erst versucht: das Aushungern gelang umso schneller, je mehr unbewaffnete Mäuler zu versorgen waren. Clauss erzählt eine erschütternde Episode, in der Zivilisten (in einem verbreiteten Manöver) aus einer belagerten Stadt getrieben, aber von den Belagerern nicht durchgelassen wurden. Sie verhungerten elendig zwischen den Linien. Die Belagerer machten nur ein humanitäres Zugeständnis: neugeborene Kinder wurden aus den Gräben geholt, getauft und dann wieder hinuntergelassen. Andere Gewaltmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerungen betraf etwa Deportationen, die auch keine Erfindung der Moderne sind.
Auch die Soldaten selbst waren natürlich Opfer des Krieges, denn die Gewalt betraf sie als Ausübende ja direkt auch selbst. Verletzungen, Traumata und alles andere betraf sie genauso wie Unbewaffnete. Wie viele Soldaten in den Schlachten tatsächlich fielen, ist sehr schwer zu rekonstruieren. Die Zahlenangaben aus den Quellen sind praktisch nutzlos, weil sie rein literarisch verwendet werden: die eigenen Verlustzahlen sind immer extrem niedrig, die der Gegner wahnsinnig hoch. Auch über Verwundungen und Gefangenschaft wissen wir wenig, weil sie in den Quellen praktisch nie thematisiert werden und wenn, dann um einen Punkt über die Gewalttätigkeit des Krieges generell zu machen. Die Quellen betonen zudem stets, dass die Gewalt vom Gegner ausgeht: die eigene Seite ist immer ehrenhaft, während der Gegner Massaker anrichtet.
Solche Massaker sind Legion. Das wohl berühmteste ist die Eroberung Jerusalems im Ersten Kreuzzug, bei der die christlichen Truppen ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichteten, recht unabhängig von deren jeweiligem Bekenntnis. Diese Gewalt hatte auch pekuniäre Motive: Plünderung war die Haupteinnahmequelle von Soldaten und Heerführern gleichermaßen.
Im vierten Kapitel, „Wer den Krieg entscheidet – Helden und Feiglinge“, wirft Clauss einen Blick auf das persönliche Verhalten im Kampf. Kann man den Quellen glauben – und es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, dass das emphatisch nicht der Fall ist – dann kämpften die Helden Duelle gegen feindliche Kämpfer. Vor allem die Könige erschlagen gerne im Alleingang ganze Hundertschaften, was mehr über den Stellenwert des persönlichen Tötens aussagt als über die Gestaltung eines realen Gefechts. Gegner zu töten jedenfalls galt als heldenhaft. Umgekehrt galt die Flucht vom Schlachtfeld als feige, weswegen die Quellen auch Heldentaten der eigenen Seite bei der Flucht betonen, wenn etwa ein flüchtender König geschickt Verfolgern entkommt und, natürlich, noch drei Dutzend von ihnen dabei erledigt. Umgekehrt betonen sie die Feigheit des Feindes.
An dieser Stelle diskutiert Clauss auch die Rolle der verschiedenen Waffengattungen. Hervorgehobene Stellung haben die Ritter, die entgegen landläufiger Vorstellungen gar nicht immer zu Pferd kämpften, denn: wer auf einem Pferd sitzt, kann schnell fliehen. Vertraute ein Feldherr der Standhaftigkeit seiner Truppen nicht, so war es oft vorteilhaft, diese abgesessen kämpfen zu lassnem damit sie nicht in Versuchung gerieten. Auch andere taktische Erwägungen machten es oft sinnvoll, nicht auf dem Pferd zu kämpfen, sondern zu Fuß.
Die Herausbildung einer dedizierten Infanterie, die diszipliniert im taktischen Verbund mit Spießwaffen kämpfte, war umgekehrt das langsame Ende der Ritter. Die Pferde waren ungemein teuer und ungemein verletzlich, und der Status der adeligen Reiterkämpfer hing direkt von ihrem Einfluss auf das Schlachtfeld ab. Als ihre einzigartig asymmetrische Stellung fiel, fiel auch der soziale Stand mit ihnen.
Das fünfte Kapitel, „Unser Bild vom Krieg im Mittelalter“, besteht nur noch aus einem kurzen Schlusswort. Clauss warnt davor, die Kriege des Mittelalters zu verherrlichen und als Gegenpunkt zu unserer eigenen Zeit zu begreifen. Sie waren genauso blutig, schmutzig und komplex wie unsere eigenen und eignen sich nicht zur Glorifzierung.
Diesem Schlusswort kann ich mehr zustimmen. Gleichwohl hat mich die Lektüre des Buchs unbefriedigt zurückgelassen. Denn die bereits eingangs erwähnten Schwierigkeiten, „das Mittelalter“ genauer bestimmen zu wollen, ziehen sich durch das komplette Werk. Clauss kommt nie wirklich zu einer genaueren Definition des Mittelalters, das sich zwar meist im Hochmittelalter findet, aber gelegentlich auch Ausflüge ins Spät- und Frühmittelalter unternimmt. Zudem bezieht er sich auf das Mittelalter der gemäßigten Breiten, irgendwo zwischen Pyrenäen und der Elbe, zwischen Alpenrand und Ostsee. Eine solche Eingrenzung ist kein Nachteil, aber man sollte sie schon deutlich machen.
Dieselbe Schwammigkeit betrifft die Schilderung von Mechaniken. Meist spricht Clauss von „Königen“, womit praktisch ausschließlich die deutschen Könige gemeint sind, ohne je klarzumachen, wie repräsentativ diese einerseits für Herrschaft und andererseits für die Kriegführung der Epoche sind. Die Fehden etwa spielen praktisch gar keine Rolle, die Kreuzzüge kommen nur am Rand vor. Die italienischen Stadtstaaten bleiben ebenso außen vor wie die skandinavischen oder slawischen Gegebenenheiten. Kurz: Clauss‘ Mittelalter ist eine kurze und geografisch sehr eingegrenzte Epoche.
Das Problem zieht sich dann über die Beschreibungen des Kriegsgeräts vom Dolch bis zur Hellebarde, vom Holzschild zur Gestechrüstung, die Clauss über das komplette Buch verteilt. Natürlich ist es hilfreich, diese Erklärungen zu bekommen, aber die Idee, dass sich der Kram über rund 1000 Jahre kaum verändert hat und keine Unterschiede nach Geografie und Einsatzzweck kennt ist, höflich ausgedrückt, nicht eben auf dem höchsten Stand der Forschung. Natürlich ist im Rahmen dieses kleinen Buchs nicht viel mehr zu machen, aber das wirft immer eher die Frage auf, ob der gesetzte Rahmen dann so sinnvoll ist, leistet Clauss doch letztlich genau jenen populären Irrtümern Vorschub, gegen die er eigentlich anschreiben wollte.
Danke für den Artikel. Sehr interessant in diesem Kontext ist auch das Buch „Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike“ von Beatrice Heuser.
Interessant weil gut?
Ja, interessant im Sinne von gut. Vor allem die extremen Veränderungen, die mit der Levée en masse einhergingen.
Danke!
Mir ist aufgefallen, dass dieses Buch die gleiche Einbandgestaltung hat wie das „Napoleons Soldaten“ Buch, das du zuletzt besprochen hast. Ist das eine Reihe „Soldatenalltag in der Geschichte“ oder so? Und wenn ja, dann habe ich den leisen Verdacht, dass sich die Bücher eher an Schüler richten.
An Clauss liegt es dann womöglich dann gar nicht, dass dieses Buch grob vereinfacht. Bei den Amazon Empfehlungen habe ich von ihm auch eine „Militärgeschichte des Mittelalters“ vom C.H.Beck Wissenschaftsverlag gesehen.
Das mag durchaus sein. Die gehören zu einer Serie, aber nicht Soldatenalltag. Die haben alles Mögliche. Und ich hab nen Stapel von denen, den ich gerade abarbeite. 🙂