Julian Reichelt verbrennt Gas im ungarischen Rechnungshof und fordert einen Marshallplan für chinesische Bildung in der ARD – Vermischtes 01.09.2022

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die „Fundstücke“ werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die „Resterampe“, in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Rechtspopulistisches Comeback auf YouTube?

„Grüne lassen uns fürs Klima hungern!“, „Energiekrise: Darum sollen Deutsche jetzt im Müll wühlen“, oder „Faeser hetzt ARD gegen die eigenen Bürger auf!“ So lauten einige aktuelle Videotitel vom neuen YouTube-Kanal des ehemaligen „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelt: „Achtung, Reichelt!“. Nach seinem Rausschmiss bei der „Bild“-Zeitung hatte Reichelt angekündigt, mit einer neuen Plattform eine Marktlücke in der deutschen Medienlandschaft schließen zu wollen. Tatsächlich haben mittlerweile 119.000 Menschen den Kanal abonniert, seine Videos wurden insgesamt bereits mehr als fünf Millionen Mal aufgerufen. Kann Reichelt also mit seinem im Juli gestarteten Kanal die für sich auserkorene Lücke zwischen boulevardistischen oder konservativen Medien und den sogenannten Alternativen Medien schließen und erfolgreich bedienen? […] Wie Reichelt auf YouTube schreibt, will er „zu einer der klarsten und unüberhörbarsten Stimmen dieses Landes werden – zur Stimme der Mehrheit.“ So heißt es in der Kanalinfo: „Wir sind der schärfste Widersacher von Spin, erdrückenden Narrativen, Ideologien, Bigotterie und Scheinheiligkeit in der Politik. Wir wollen furchtlos und respektlos über das sprechen, was in unserem Land passiert.“ […] Im verschwörungsideologischen Milieu kommt Reichelts YouTube-Kanal gut an. Seine Videos werden von reichweitenstarken Telegram-Accounts aus der Szene geteilt, wie etwa den Kanälen von Eva Herman, Bodo Schiffmann oder Oliver Janich, der kürzlich auf den Philippinen festgenommen wurde. […] Von der Aufmachung als auch inhaltlich weisen die Sendungen von Reichelts YouTube-Kanal starke Parallelen zu der Show des Fox-News-Moderators Tucker Carlson auf. (Carla Reveland/Pascal Siggelkow, Tagesschau)

Kann irgendjemand überrascht davon sein, welchen Weg Reichelt einschlägt und in welcher Nachbarschaft er dabei herumsitzt? Kaum etwas dürfte vorhersagbarer gewesen sein als das. Auch die Inszenierung als Opfer gehört da natürlich mit dazu. Und während 119.000 Abos sicherlich nicht zu verachten ist, ist das glücklicherweise weit weg von der kritischen Masse, die er benötigen würde, um aus dem Milieu auszubrechen. Die Mitte hält in Deutschland, noch. Aber das ist, fürchte ich, genauso wie der Aufstieg der AfD nur eine Frage der Zeit. Noch haben wir die genau richtige Mischung aus Geld, Skrupellosigkeit und Charisma noch nicht beisammen. Reichelt eignet sich nicht wirklich als Galionsfigur eines neuen rechtsradikalen TV, das den Konsens der Mitte im deutschen Fernsehen bricht. Ich fürchte den Tag, an dem es soweit sein wird.

2) Im Gewirr der Klimapolitik

Am Klimawandel ist der Mensch schuld. Das schlechte Gewissen plagt viele, aber was kann man tun? Das Buch „Klima muss sich lohnen“ des Mannheimer Ökonomen Achim Wambach ist ein Plädoyer für mehr Klimaschutz, aber vor allem für mehr ökonomische Vernunft in dieser Angelegenheit. […] In seinem Buch analysiert Wambach, welche Maßnahmen wirken und welche nicht. Wenig hält er von der bürokratischen EU-Taxonomie, auch das Beziehen von Ökostrom und eine Pflicht zum Bau von Solardächern helfe wenig. Eine intelligente Straßenmaut, der Verzicht auf Flüge ins außereuropäische Ausland, der Bau von Radschnellwegen, ein geringerer Fleischkonsum und die Ausweitung des Emissionshandels dagegen helfe viel mehr. CO2 müsse genau dort eingespart werden, wo die Kosten der Einsparung am niedrigsten seien. […] Anders als viele, die den Kapitalismus für die Verschmutzung verantwortlich machen, argumentiert Wambach genau umgekehrt: Mit wettbewerblichen Märkten sei im Klimaschutz schon viel erreicht worden: „Im Vergleich zu 1990 sind die Emissionen in Europa bis 2019 um 24 Prozent gesunken, während die Wirtschaft um gut 60 Prozent gewachsen ist. (Tillmann Neuscheler, FAZ)

Grundsätzlich ist das eine gute Perspektive, aber ich habe ein zentrales Problem damit. Oder vielmehr: eine Ergänzung. Denn natürlich ist es super, wenn wir ökonomische Effizienz im Klimaschutz haben. Aber wir sind über den Punkt weit hinaus, an dem das irgendeine Priorität sein kann. Die Forderung, den Klimaschutz ökonomisch effizienz zu gestalten, gehört gefühlt in die 1990er Jahre, als wir noch Zeit hatten. Jetzt, 30 Jahre später, muss Effektivität, nicht Effizienz, der leutende Maßstab sein. Ich habe das in meinem Plädyoer für mehr Realismus im Klimaschutz bereits beschrieben. Wir brauchen einfach ALLE Maßnahmen. Überall, so viel wie möglich. Die Zeit, in der wir den Luxus hatten, einige Sektoren ausnehmen zu können und unsere Anstrengungen auf einige ausgewählte, möglichst angenehme Bereiche zu konzentrieren, ist vorbei.

3) Belastende Entlastung

Die Frage, an deren Beantwortung keine Regierung vorbeikommt, lautet: Wer kann sich das leisten? Die Ampel-Koalition ist momentan mit der Tatsache konfrontiert, dass sie mehrere große Probleme gleichzeitig lösen muss: Sie muss erhebliche finanzielle Anstrengungen für die äußere Sicherheit unternehmen (und das heißt auch, die Ukraine mit Waffen und Geld unterstützen); sie muss gewaltige Finanzmittel für die Anpassung an den Klimawandel bereitstellen (also für unsere tägliche Sicherheit); sie muss die ökologische Transformation der Wirtschaft anstoßen und mithilfe der Unternehmen vorantreiben; sie muss verhindern, dass die finanzielle Klemme von etwa einem Viertel der Gesellschaft nicht zu einer existentiellen Not anwächst; und sie muss eine Rezession verhindern und gleichzeitig die Schuldenbremse einhalten. Nicht jedes dieser Probleme ist neu und wäre jeweils wahrscheinlich auch nicht zu einem riesigen Problem angeschwollen, wenn die vergangenen 16 Jahre politisch nicht solch eine sträflich verschluderte Zeit gewesen wären. […] In diesen Zweikampf eingemischt haben sich nun Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz selbst. Es gibt da eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Regierungspartnern: Beide wollen retten, was nicht zu retten ist: unseren bisherigen Wohlstand. Der Kanzler selbst gibt da die Richtung mit einer von ihm immer wieder gern verwendeten Phrase vor: dass er der Kanzler aller Bürgerinnen und Bürger sei. Ja, was denn sonst? Aber zunächst einmal ist Scholz der Kanzler dieses Landes, dieses Staates, dieses Gemeinwesens – und das Wohlergehen dieses Landes muss nicht bedeuten, dass jedem ein Geschenk gemacht wird. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)

Ich hoffe, dass Rheinberg falsch liegt, und fürchte, dass er nicht falsch liegt. Die jetztige Gaskrise und die enormen Kosten, die sie verursacht – Kosten, die der Staat nicht übernehmen und voll abfedern KANN – wird wahrscheinlich nur das erste Mal sein, das wir solche Schocks erleben. Wie Rheinberg in jedem Fall völlig korrekt beschreibt, wurden die letzten 16 Jahre völlig vergeudet. Ich würde sogar noch viel härter formulieren: in den letzten 16 Jahren wurde aktiv verhindert, dass etwas passiert.

Deswegen sehe ich diese Belastungen auch aus dem Blickwinkel einer gewissen karmatischen Gerechtigkeit. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung, mich eingeschlossen, stand dieser Politik mit einer Mischung aus unfreundlichem oder freundlichen Desinteresse bis hin zu aktiver Unterstützung gegenüber. Wir bezahlen jetzt den Preis für unsere demokratischen Entscheidungen. So sieht es aus, wenn der Demos sich irrt.

4) Bundesrechnungshof sieht in der 630 Millionen Euro teuren Nationalen Bildungsplattform eine „drohende Förderruine“

Scharf geht der Bundesrechnungshof dabei mit der Rolle des Bundesbildungsministeriums ins Gericht: „Das BMBF hat ohne eigene Zuständigkeit versucht, strukturbildend und übergreifend die Digitalisierung an den Schulen zu fördern. Es hat dabei versäumt, mit den Ländern den Bedarf und die gemeinsamen Voraussetzungen für übergreifende IT-Infrastrukturen zu klären. Hierdurch ist es schon bei der Vorbereitung des ‚DigitalPakts Schule‘ nicht gelungen, technische Synergien, z. B. über gemeinsame Cloud Strukturen, zu realisieren. Da alle Länder im Rahmen ihrer Möglichkeit bemüht sind, ihren Aufgaben gerecht zu werden, geht der Bundesrechnungshof davon aus, dass sich keines der BMBF eigenen Projekte durchsetzen wird.“ […] In der Kritik steht dabei vor allem die „Nationale Bildungsplattform“, eine Weiterentwicklung der „Bundesschulcloud“, die das Bundesbildungsministerium vom Hasso-Plattner-Institut, hinter der die Hasso-Plattner-Foundation des SAP-Gründers steckt, entwickeln ließ – ein Flop aus Sicht des Bundesrechnungshofs: „Die vom BMBF angebotene ‚Bundes‘-Schulcloud nahmen die Länder mehrheitlich nicht an.“ (News4Teachers)

Das ist alles so ein unendlicher Clusterfuck. Die vorsintflutlichen Strukturen des Bildungsförderalismus auf der einen Seite und die mindestens genauso vorsintflutlichen Struturen der Bildungsbürokratien und entsprechenden Verantwortlichen andererseits produzieren Murks am laufenden Band, gegen den die Gasumlage geradezu als Musterbeispiel von good governance daherkommt. Diese fixe deutsche Idee von der Absolutsetzung einer maximalistischen Interpretation von „Datenschutz“ verhindert den flächendeckenden Einsatz absolut geeigneter, getesteter und weithin genutzter Tools wie Microsoft Teams, die nebenbei auch den Vorteil eines verlässlichen ständigen Supports haben. Stattdessen produziert jedes Bundesland seinen eigenen Dreck, der mehr schlecht als recht funktioniert, und dazu mischt auch noch der Bund ein bisschen mit und verbrennt Fördermillionen im Dutzend billiger. Das ist im Endeffekt die Bildungs-Version vom BAAINBw.

5) Germany needs its very own Marshall Plan

Internationally, German austerity risks worsening trade imbalances and straining transatlantic unity. Tensions between the west and China — a key export market for German products — had already put the brakes on Germany’s export-led economy. China’s push for self-sufficiency alongside global supply chain fragmentation will further challenge Germany’s business model. That’s why Germany must embrace the fact that trade with the EU is seven times larger than with China, and recognise that it needs to invest at home and in its key trading partners first. The EU is the world’s largest and most open trading bloc. But the full benefit of the union will remain unexploited unless Germany steps up to a leadership role. Instead of austerity, to actively offset the damage to supply and mitigate the impact of inflation from the war in Ukraine, German policymakers should engineer a positive shock. Instead, Germany could invest in public infrastructure, on a scale reminiscent of the Marshall Plan. In particular, investment in energy infrastructure, like the Next Generation EU plan that Germany supported during the pandemic, would enhance the country’s security, accelerate its green transition and generate positive innovation spillovers. More fiscal spending across Europe could also provide further impetus for common eurobonds. German public opinion would be less reluctant to embrace such an initiative because some of the funds would be spent at home. It would also be a step towards fiscal union in the euro area. […] Self-interest favours investment as well. Given Germany’s large economy, higher spending at home would boost the entire EU. In turn, the country’s deep integration with the EU economy would see those economic benefits flow back to Germany itself. (Katharine Neiss, Financial Times)

Ich bin ehrlich gesagt kein Fan von dieser inflationären Verwendung des Marshall-Plan-Vergleichs; gefühlt hat sich das totgelaufen. Aber inhaltlich bin ich voll bei Neiss. Die EU ist der für uns entscheidende Markt, und mit dem Durchschlagen der Klimakrise umso mehr, weil damit auch das Zeitalter eines billigen Transports um den Globus dank externalisierter Kosten enden wird. Dass wir uns wirtschaftspolitisch ständig einen Klotz ans Bein binden, nur um die moralische Überlegenheit des ständig erhobenen Zeigefingers bezüglich der Außenhandelsbilanz und Maastrichtkriterien zu wahren, ist einfach bescheuert.

6) Der Sender mit der höchsten Einfaltsquote

Machen wir es kurz: Das Debakel um den rbb und seine geschasste Intendantin Patricia Schlesinger ist ein GAU in der Geschichte von ARD und ZDF. Dabei geht es nicht nur um Dienstlimousinen, Beraterverträge und Massagesitze. Es geht um die Frage, inwieweit sich das gebührenfinanzierte Fernsehen von seinen ursprünglichen Werten und Ideen abgekoppelt hat. Anspruchsvolle Programminhalte hat man in die Spartenkanäle wie Arte oder 3sat abgeschoben. Dafür fließt viel Geld in den Einkauf von Sportrechten und grenzdebiles Unterhaltungs-Trallala. Ansonsten werden alte Filme abgespult, die rechtemäßig meist abgegolten sind. […] Vor etlichen Jahren hielt Apple-Chef Steve Jobs bei einer internationalen Konferenz der Fernseh-Gewaltigen eine Keynote-Rede: „Ich sehe tote Menschen“, begrüßte er die leicht irritierten Anwesenden – in Anlehnung an den Film „The Sixth Sense“. Ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Die meisten haben Steve Jobs überlebt. Aber der Count Down läuft – vor allem in Deutschland. ARD und ZDF haben nur dann eine Chance, wenn sie den Programmauftrag ernst nehmen und mit guten Sendungen punkten und nicht mit schlechter Presse. (Karl-Hermann Leukert, Salonkolumnisten)

Gleich zu Beginn möchte ich deutlich machen, dass ich die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen zur Verhinderung eines Senders wie FOX News (siehe auch Fundstück 1) für essentiell halte. Kaum etwas hilft so sehr bei der Reproduktion des deutschen Mitte-Konsens wie die Tagesschau. Auch das Podcast- und Radioprogramm der Öffentlich-Rechtlichen ist über jeden Zweifel erhaben. Aber damit bin ich auch am Ende des Positiven.

Denn tatsächlich ist das Programm dieser Sender überwiegend scheiße. Claudius Seidl sieht in der FAZ die „wahre Verschwendung im Programm„. Die im obigen Artikel genannten ständigen Wiederholungen sind ja nur das eine. Der qualitativ bestenfalls durchschnittliche Kram, den die Sender selbst produzieren – von den furchtbaren Polittalkshows zu Rosamunde Pilcher – ist unglaublich teuer, vor allem wenn man bedenkt, was man dafür bekommt.

Übrigens, als ein Nebenfundstück: Beim NDR lebt man in panischer Furcht vor der CDU. Vermutlich dürfte das beim WDR und der SPD zumindest zu deren Hochzeiten ähnlich ausgesehen haben. Aber die Kontrolle durch Parteiinstitutionen ist auch bestenfalls mittelprächtig. Ich sehe sie als sehr zweischneidiges Schwert: der Parteiproporz hilft zum einen, den Mitte-Konsens aufrechtzuerhalten, aber auf der anderen Seite können die Parteien ungebührlichen Einfluss nehmen. Einen guten Ausweg aus diesem Dilemma habe ich nicht.

7) Die Worst-Case-Szenarien der Militärs, die von Ampel-Politikern ausgeblendet werden

Die entscheidende Frage für Regierung und Parlament müsste also eigentlich lauten: Wie lässt sich die Produktion der Rüstungsgüter beschleunigen? Eine Steigerung der in den vergangenen Jahrzehnten reduzierten Kapazitäten erforderte Investitionen in Werkhallen, genügend Fachpersonal, Rohstoffe wie Panzerstahl und Chips. Doch die Lieferketten sind gestört, was jeder weiß, der nur ein Auto bestellen will. Und Rüstungsgüter sind um einiges komplexer. Nun fordern auch die Abgeordneten der Ampel, die Leistungsfähigkeit der Verteidigungsindustrie „signifikant zu steigern“ und zu diesem Zweck einen „nationalen Rüstungsgipfel“ einzuberufen. Letztlich ist das der Ruf nach einer Kriegswirtschaft. Das zuständige Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) aber teilte dazu mit, es gebe „in der Richtung derzeit keine Planungen“. Solange das so bleibt, werden Rufe nach weiteren Waffen aus den eigenen Beständen in der Armee als unredliches politisches Schauspiel wahrgenommen. „Wir sollen das letzte Unterhemd geben“, so sagt es ein Militär, „und darauf vertrauen, irgendwann eine Decke zu bekommen. So war es immer seit 1990. Aber es ist nie eine gekommen.“ (Thorsten Jungholt, Welt)

Wir sehen hier dieselbe Dynamik wie bei der Klimakrise: man müsste eigentlich richtig in die Vollen greifen, aber man zögert und hofft, die Angelegenheit werde sich irgendwie mit den bestehenden Mitteln, Institutionen und Prozessen erledigen lassen. Ein bisschen hier, ein bisschen da, vielleicht reicht es ja und/oder jemand anderes übernimmt die eigentliche Arbeit. Und genau wie bei der Klimakrise wird das nicht ausreichen.

Der Artikel eignet sich übrigens auch gut für eine kleine Metaanalyse. Es ist ja hinreichend bekannt, dass die Autor*innen eigentlich nie die Überschriften schreiben, sondern dass das irgendwelche deutlich weiter unten in der Verlagshierarchie angesiedelten Hilfskräfte machen. Und oft sind die Überschriften auf click bait angelegt und irreführend. So auch hier: es sind ja nicht „die“ Ampel-Politiker*innen, denn die Überschrift erweckt den Eindruck, die ganze Koalition blende aus. Dabei geht es nur um einige nicht einmal in der ersten oder gar zweiten Reihe stehenden Politiker*innen. Solche Sachen sind einfach ärgerlich, weil viele Leute (ich auch oft genug, Gruß an Wächter!) nur die Überschrift lesen.

8) Anywhere but here

When Alice Hughes downloaded a preprint from the server Research Square in September 2021, she could hardly believe her eyes. The study described a massive effort to survey bat viruses in China, in search of clues to the origins of the COVID-19 pandemic. A team of 21 researchers from the country’s leading academic institutions had trapped more than 17,000 bats, from the subtropical south to the frigid northeast, and tested them for relatives of SARS-CoV-2. The number they found: zero. […] But the paper meshed with a growing political reality in China. From the start of the pandemic, the Chinese government—like many foreign researchers—has vigorously rejected the idea that SARS-CoV-2 somehow originated in the Wuhan Institute of Virology (WIV) and escaped. But over the past 2 years, it has also started to push back against what many regard as the only plausible alternative scenario: The pandemic started in China with a virus that naturally jumped from bats to an “intermediate” species and then to humans—most likely at the Huanan Seafood Market in Wuhan. Beijing was open to the idea at first. But today it points to myriad ways SARS-CoV-2 could have arrived in Wuhan from abroad, borne by contaminated frozen food or infected foreigners—perhaps at the Military World Games in Wuhan, in October 2019—or released accidentally by a U.S. military lab located more than 12,000 kilometers from Wuhan. Its goal is to avoid being blamed for the pandemic in any way, says Filippa Lentzos, a sociologist at King’s College London who studies biological threats and health security. “China just doesn’t want to look bad,” she says. “They need to maintain an image of control and competence. And that is what goes through everything they do.” (John Cohen, Science)

Es ist wirklich völlig lächerlich, wie China hier Propaganda betreibt. Aber leider ist es relativ effektiv. Die KPCh sieht das Thema offenbar als so entscheidend an, dass sie bereit ist, große Priorität auf die Erhaltung dieser Lüge zu legen, und kein anderes Land wird, gerade in diesen Zeiten, seine wirtschaftlichen Beziehungen zu China riskieren, nur um das anzuzweifeln oder aufzuklären.

Generell aber ist bemerkenswert, wie irrelevant in den ganzen zwei Jahren der Pandemie die Frage des Ursprungs war. Trump versuchte kurz, rassistisches Politikheu zu dreschen, indem er Covid als China-Virus betitelte, aber seine Inkompetenz im Umgang mit der Pandemie war das stärkere Thema. Und hierzulande wurde auch über alles mögliche gestritten, von Masken über Impfungen zu Lockdowns, aber nie über die Schuldfrage. Schon allein das ist ein echter Erfolg Chinas: die Pandemie wird weltweit als Naturereignis betrachtet, das sich quasi jeder Prävention und Schuld entzieht. Kudos.

9) Kaminholz ist teuer – und begehrt bei Dieben

Brennholz ist das neue Klopapier. Viele wollen es haben, aus Angst vor einem Gasengpass. Doch immer weniger Interessenten kommen zum Zuge. Die Preise für kaminfertiges Brennholz steigen weiter. Händler klagen bereits über Nachschubprobleme. Sie kaufen derzeit alles, was noch auf dem Markt zu kriegen ist, um die hohe Nachfrage zu befriedigen. […] Hauseigentümer, die einen Kamin haben, wollen sich mit Brennholz gegen die hohen Gaspreise wappnen. […] Allerdings leiden auch die Holzproduzenten unter steigenden Energiepreisen. Diesel für Lkws und Erntemaschinen ist teurer. Auch das Trocknen von Frischholz mit Hilfe von Erdgas ist kostspieliger geworden. Denn die meisten Kunden wollen ihr Brennholz kaminfertig. Frisches Holz müsste erst mindestens sechs Monate lang trocknen, bevor es den richtigen Wassergehalt hätte. Das wäre zu spät für den Beginn des Winters. (Martin Gerth, Wirtschaftswoche)

Angesichts solcher Meldungen kann man nur den Kopf schütteln und sich fragen, ob wir nicht irgendwie die dümmste Gesellschaft sind, die je Gottes Erdboden besiedelt hat. Wir sind in einer Gaskrise und trocknen Kaminholz mit Gas, damit Leute die klimaschädlichste Methode, Wärme zu erzeugen, nutzen können, nachdem wir den ineffizientest möglichen Brennstoff über die ineffizientest möglichen Transportmethoden über die Republik verteilen. Jörg Kachelmann ist ja ein Dauerkämpfer gegen die deutsche Manie der Holzöfen; das gehört echt komplett verboten. Was für ein Bullshit.

10) Ungarns Rechnungshof beklagt hohen Frauenanteil an Unis

Die Behörde geht davon aus, dass das Bildungssystem des Landes derzeit »weibliche Eigenschaften« wie »emotionale und soziale Reife« begünstigt. Dadurch werde die Geschlechtergleichheit »erheblich geschwächt«. […] Der ungarische Rechnungshof fürchtet, Männer könnten im Bildungsbereich gegenüber Frauen ins Hintertreffen geraten – und warnt vor Konsequenzen für die Zukunft des Landes. In einem bereits im Juli veröffentlichten Bericht der Behörde, über den ungarische Medien nun berichteten, wird eine »rosa Bildung« kritisiert. Sorge bereitet dem Rechnungshof demnach etwa die starke Präsenz von Frauen an den Universitäten des Landes. Wie die Zeitung »Nepszava« unter Berufung auf die Analyse berichtete, sei der Anteil der Frauen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Inzwischen seien Frauen an den Hochschulen prozentual in der Überzahl. Sie erlangten zudem öfter höhere Schulabschlüsse. Die Behörde geht davon aus, dass das Bildungssystem des Landes derzeit »weibliche Eigenschaften« wie »emotionale und soziale Reife« begünstigt. Dadurch werde die Geschlechtergleichheit »erheblich geschwächt«. In dem Bericht des Rechnungshofes werden Jungen als von Natur aus risikofreudig und unternehmerisch interessiert beschrieben. Wenn sie diese Eigenschaften aufgrund von zu viel weiblichem Einfluss nicht entfalten könnten, könnten sie »psychische Probleme« bekommen, warnen die Rechnungsprüfer. Erwähnt wird in dem Zusammenhang auch, dass viele Frauen in Lehrberufen tätig sind, was Ursache der vermeintlich problematischen Schieflage sein könne. Der hohe Anteil an Akademikerinnen könne letztlich auch zu »demografischen Problemen« führen, heißt es in dem Bericht weiter. Die Argumentation der Rechnungsprüfer geht so: Gebildete Frauen könnten es schwer haben, einen ähnlich gebildeten Ehepartner zu finden. Es sinke die Heiratswahrscheinlichkeit und damit auch die Chance auf Kinder, zitierte »Nepszava« aus dem Bericht. Der Rechnungshof sehe es demnach als gerechtfertigt, das »Phänomen« weiter zu untersuchen, schrieb die Zeitung. (AFP, SpiegelOnline)

Man würde sich wünschen, dass die Vorgänge in Ungarn (oder auch Polen) dieselbe Aufmerksamkeit erhalten würden, die das Feuilleton hierzulande irgendwelchen Aktivist*innen an amerikanischen Unis angedeihen lässt. Mitten in Europa werden hier mit brachialer staatlicher Gewalt Geschlechterbilder durchgesetzt, die man eigentlich seit 50 Jahren überwunden glaubte. Das ist und bleibt die wesentlich gefährlichere Cancel Culture als der Protest irgendwelcher Demonstrierenden, weil hier der Staat selbst aktiv wird. Wenn es schon soweit ist, dass der Rechnungshof, eine der wohl langweiligst-möglichen Institutionen, aktiv Kulturkampf betreibt, dann ist das in allen Ebenen der Regierung verankert.

Und was für ein Kulturkampf! Ich finde das Männerbild, das in diesen Aussagen steckt, auf dunkle Art faszinierend. Der ungarische Rechnungshof sagt hier nichts anderes, als dass die Männer so fragil sind, dass sie eine kluge Frau nicht ertragen können und dass sie nicht in der Lage sind, ohne „psychische Probleme“ gleichberechtigte Frauen zu akzeptieren. Und das soll das starke Geschlecht sein? Masculinity, so fragile, sag ich da nur.

Resterampe

a) Das Ausmaß der Zerstörung der Erneuerbaren ab 2011 durch Schwarz-Gelb ist echt irre.

b) Vernünftige Parkgebühren in Freiburg sind endlich durch.

c) Absolut vernünftiger Vorschlag zur Finanzierung der Krankenkassen. Eigenverantwortung ftw.

d) In der Sache bin ich voll bei Wilk, aber dieses Interview ist wild. Seine Antworten passen meist gar nicht zu den Fragen, und er wirft allen möglichen Kram zusammen und rührt das in einen ungenießbaren Argumentationsbrei.

e) Ich liebe es einfach, wenn Lindner und die FDP sich endlich Dingen annehmen, die unter Merkel und der SPD ewig liegengeblieben sind. So hätte ich die Ampel gerne immer.

f) Sieht für Deutschland ähnlich aus, möchte ich meinen.

g) Der Lehrkräftemangel nimmt immer bedrohlichere Formen. Thüringen ist ein Extremfall.

h) Cancel Culture bei HBO, damit sie den Schöpfer*innen keine Tantiemen zahlen müssen.

i) Ein Republican ist total entsetzt, was die Folgen der Abtreibungsverbote sind, für die er gestimmt hat, und ich teile den Zorn Jeet Heers darüber völlig.

j) Sehr guter Thread von Marcel Schütz über die Natur der deutschen Politik.

k) Beim Verfassungsblog gibt es eine gute Übersicht über die rechtlichen Möglichkeiten einer Laufzeitverlängerung. Kurzversion: es ist kompliziert.

l) Volker Wissing weigert sich, seinen Auftrag zu erfüllen, für sein Ministerium Pläne für das Klimasofortprogramm zu entwerfen. Jonas Schaible vermutet dahinter den Versuch der FDP, die Sektorziele zu kippen. Zu den Hintergründen hat Jonas Schaible mehr.

m) Kretschmer ist stabil an Russlands Seite. Widerlich, dieser Typ.

n) Kalifornien verbietet, in Deutschland „völlig unmöglich“, die Neuzulassung von Verbrennern ab 2035.

o) Beispiel für völlig kranke Autofixierung.

p) Diese Umfrageergebnisse zur Beliebtheit Stalins in Russland und der Ukraine sind für Russland mit Vorsicht zu genießen, kommunizieren aber immerhin klar, wie Putin das Land gerne sehen und gesehen haben möchte.

q) Großartiger Thread, der erklärt, wie Ideologien bei Erfolg einer Bewegung heruntergedummt werden, was dann zu Inneren Säuberungen führt.

r) Japan hat seine Obdachlosigkeit seit 2002 radikal reduziert. Die Lösung? Wohnraum bauen.

s) Chris Hayes kann zurecht stolz auf eine Prognosefähigkeiten bezüglich des Streits zwischen Biden und Summers vor 13 Jahren sein.

t) Nachdem Olaf Scholz letzthin beim Tankrabatt die Unternehmen aufgerufen hatte, doch bitte das Geld, das die Regierung ihnen in den Rachen wirft, nicht anzunehmen, macht Habeck jetzt dasselbe mit der Energieumlage. Ich hätte eine total abwegige Idee. SCHREIBT VERNÜNFTIGTE GESETZE, IHR KNALLDACKEL!

u) Frankreich fördert steuerlich den Umstieg von Auto auf eBike.

v) Die Zahlen der Reallohnentwicklung sind katastrophal.

w) Großartiger Artikel darüber, warum das Römische Reich keine Industrielle Revolution hatte.

x) Der texanische Verfassungsgerichtshof hat ein Gesetz gekippt, dass automatische Waffen erst ab 21 statt ab 18 erlaubt. Die totale Radikalisierung der Judikative wird die USA so in den Po beißen, genauso wie bei der Abtreibung auch.

y) Die grundsätzliche Kritik teile ich, aber „the FOX News viewership“ ist mir viel zu pauschal für eine so große Gruppe. Das hat viel us vs. them.

{ 146 comments… add one }
  • CitizenK 1. September 2022, 09:34

    w)
    Wichtiger noch als die präzise beschriebene, aber bekannte Rolle von Dampfmaschine und Baumwolle: „Instead, the industrial revolution was about accessing entirely new sources of energy for broad use in the economy“. Das ist auch unsere Situation.

    • Thorsten Haupts 1. September 2022, 14:58

      Das ist auch unsere Situation.

      ???? Inwiefern? Die einzig neuartige Energiequelle (Kernenergie) haben wir – sehr erfolgreich – torpediert.

    • Stefan Sasse 2. September 2022, 08:59

      Good point!

      • Kning4711 3. September 2022, 10:51

        Torpediert ist in meinen Augen die falsche Bezeichnung: Wir haben ein Problem mit der Entsorgung des Mülls, sowie ein Restrisiko im Betrieb. Wenn ein Kohlekraftwerk kaputt geht, dann fällt der Strom aus. Ein AKW-Unfall kann Landstriche unbewohnbar machen.

        Wir haben den Stecker gezogen, gerade weil wir für beide Probleme keine zufriedenstellende Lösung gefunden haben.

        • Thorsten Haupts 4. September 2022, 10:36

          Wir müssen das nicht breit diskutieren, die Debatte haben Kernkraftbefürworter vor vielen Jahren und für Deutschland wohl endgültig verloren.

          Deshalb hier nur soviel:
          1) Moderne AKW (Gen 3 aufwärts) verfügen auch über eine Lösung für den GAU (Kernschmelze)
          2) Für das Restrisiko, dass ein menschlicher Körper den Kontakt mit einem Fahrzeug ab bestimmten Geschwindigkeiten nur schwer verletzt oder tot übersteht, wurde auch nie eine Lösung gefunden. Trotzdem werden Fahrzeuge bis heute ständig weiterentwickelt, auf einer Spur von (für die letzten 50 Jahre) Millionen von Toten und Verletzten weltweit. Die Kernkraft hat bis heute (WHO Zahlen) einige tausend Tote direkt zu verantworten, ebenso weltweit (im wesentlichen Tschernobyl – ein Versuchsreaktor der 0,1ten Generation).

          Gruss,
          Thorsten Haupts

  • Lemmy Caution 1. September 2022, 10:25

    5) bin definitiv für massive Investitionen aus Deutschland in Regenerative Energien.
    Mit den steigenden externen Kosten für Fernhandel wäre ich mir nicht so sicher.
    1. ist Seehandel viel billiger als sich viele Leute vorstellen
    2. gibt es auch da Ideen, die Schiffe nicht mehr mit fossilen Energieträgern anzutreiben -> https://www.baumueller.com/de/branchen/schiffbau/wasserstoff-schiffsantrieb

    Chiles Präsident Boric hat vorgestern in einem größeren Time Interview darauf hingewiesen, dass Chile den Export von Lithium davon abhängig machen könnte, dass die Importländer Klimaziele erreichen. Führte zu einem Proteststurm in Chile. Realistisch erscheints mir nicht.
    Folgendes Szenario:
    – Wartezeiten für Krebsoperationen betragen teilweise 12 und mehr Monate wegen fehlender finanzieller Mittel
    – Wenn nun auf Einnahmen wegen gutgemeinten Öko-Imperialismus verzichtet wird, läßt sich das intern nicht durchsetzen.

  • sol1 1. September 2022, 12:24

    1) „Und während 119.000 Abos sicherlich nicht zu verachten ist, ist das glücklicherweise weit weg von der kritischen Masse, die er benötigen würde, um aus dem Milieu auszubrechen.“

    Vor allem, da dieses Milieu vorwiegend aus Alten Weißen Männern (TM) besteht, was den Brückenschlag zwischen dem AfD-Lager und dem Union/FDP-Lager erschwert.

    Aus einem aktuellen Interview mit dem AfD-Fraktionschef in Sachsen-Anhalt:

    /// Ihr Landesvorsitzender Martin Reichardt sagte zuletzt wieder, dass er auf Bündnisse mit CDU und FDP hofft. Diese Fraktionen wollen mit Ihnen nichts zu tun haben. Auf wen genau hoffen Sie eigentlich?

    „Das ist nicht einfach. Bei der CDU gab es in der letzten Legislaturperiode viele ältere männliche Kollegen, die unserer Politik näher gestanden haben. Mit den jungen und weiblichen CDU-Kollegen wird es für uns schwieriger, Verhandlungsmasse zu finden.“ ///

    https://twitter.com/tvorreyer/status/1560334224917422080

  • Martin 1. September 2022, 13:57

    Interessant, wie die persönliche Ideologie die Welt interpretiert.

    Den Text in 10) könnte man auch so interpretieren, dass der ungarische Rechnungshof meint, dass die ungarischen Frauen keinen Mann wollen, der sozial (Bildung, Einkommen) niedriger steht als sie selbst.

    Bei dieser Interpretation kann man aber natürlich nicht so schön seinen Männerhass fröhnen.

    Wohlgemerkt: Ich ziehe den obigen Schluss nicht, sondern zeige daran nur, wie deine Vorurteile ganze Argumentationslinien ausblenden.

    • Stefan Sasse 2. September 2022, 09:02

      Ich habe keinen Männerhass (Erwin, rette mich!). Und ja, sicher kann man den Schluss auch daraus ziehen. Das Problem ist ja nicht die Analyse. Das Phänomen ist ja unbestritten, wir haben das in Deutschland ja auch. Anders als früher sind Partnerschaften wesentlich homogener. Der Punkt ist doch aber der Schluss, den der ungarische Rechnungshof zieht: Frauen düren sozial nicht höher stehen als Männer. DAS ist das Problem, nicht die Analyse.

      Und das würde man, wenn man die persönliche Ideologie und Vorurteile ausblenden würde, auch sofort sehen, um das mal zurückzugeben. 😉

    • Erwin Gabriel 2. September 2022, 23:21

      @ Martin

      Männer“Hass“ ist wohl nicht das richtige Wort (selbst wenn Stefan Sasse diesen Begriff allzu oft allzu leichtfertig im Munde führt).

      Natürlich hat er seinen speziellen Blickwinkel, was man seinen Formulierungen auch hier (z.B. „brachiale Gewalt“) durchaus anmerkt.

      Doch selbst wenn Dein Sacheinwand in Richtung unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten richtig ist – ich denke, dass Stefan in der Analyse durchaus Recht hat. Kleines Indiz dafür: Als die Männer noch vorne lagen, hat sich das Rechnungsamt keinesfalls besorgt über die gefährdete weibliche Psyche geäußert.

      Selbst wenn ich Stefans Formulierungen auch hier etwas dick aufgetragen sehe, stimme ich ihm von der Richtung zu, bzw komme ich zur gleichen Interpretation.

      • Stefan Sasse 3. September 2022, 10:43

        Danke 🙂

      • Stefan Pietsch 3. September 2022, 11:07

        Nun ja. Stefan hat in den letzten Jahren in Artikeln und Kommentaren Beispiele gebracht, wo Frauen geeigneter wären und wo sie (angeblich) benachteiligt würden. Beispiele, wo Männer überlegen oder benachteiligt würden, fehlen dagegen gänzlich. Vor drei, vier Monaten plakatierte Stefan seine ideale Führungkraft. Der Zusatz „… und Frau“ durfte nicht fehlen.

        Man kann das verschiedentlich umschreiben, vor allem, wenn jemand in seinem eigenen Geschlecht keinen echten Vorteil erkennen mag. Stefans neudeutscher Begriff dafür ist jedoch – wenn ich mich richtig erinnere – Hass.

        • Stefan Sasse 3. September 2022, 12:55

          Ich propagiere nie und an keiner Stelle, dass Frauen grundsätzlich geeigneter für irgendetwas sind. Deswegen gibt es auch nichts, wo ich Männer als für grundsätzlich geeigneter gegenüberstellen könnte. Diesen ideologischen Blödsinn überlasse ich gerne dir.

          • Stefan Pietsch 3. September 2022, 18:03

            Oh doch! Frauen hätten weniger Kriege geführt. Ist klar. Frauen sind bessere Manager. Ist klar.

            Ich habe seit über 15 Jahren die Verantwortung für Finanzteams (davor für kleinere). Ohne Ausnahme hatte ich auf der Position des Chefbuchhalters Frauen – die ich nicht besetzt habe. In der Buchhaltung habe ich meist einen Frauenanteil von 70-90 Prozent. Im Controlling ist es genau umgekehrt. So sieht es aktuell auch wieder aus.

            Ich suche nicht nach Geschlecht. Ich suche nach Kompentenz. Und die Verhältnisse sind das Ergebnis von Wahrscheinlichkeiten. Für Buchhalterstellen bewerben sich deutlich mehr Frauen als Männer. Auf Controllingstellen bewerben sich weit mehr Männer als Frauen.

            Darüber hinaus arbeiten Frauen im Schnitt akurater, penibel bis pingeliger bei Buchungen. Den direkten Vergleich habe ich aktuell auch zwischen meiner Chefbuchhalterin und dem Chefbuchhalter am Münchner Standort (der nicht zu meinem Bereich gehört, aber Bereiche übergeben muss). Der Mann bucht nach dem Motto „Fünfe gerade sein lassen“, meine ist genau. Zum Anforderungsprofil des Chefbuchhalters gehört ziemlich weit oben Genauigkeit.

            Das ist kein Sexismus. Das sind zum einen statistische Werte, zum anderen sehr langjährige Erfahrungswerte. Kann natürlich sein, dass ausgerechnet jemand wie ich, der weit überdurchschnittlich viele Unternehmen gesehen hat, einfach sehr einseitige Verhältnisse erlebt hat, die die Realität völlig verzerren. Ich halte das allerdings nicht für wahrscheinlich.

            • Stefan Sasse 4. September 2022, 10:05

              Das ist Sexismus.

              • CitizenK 4. September 2022, 10:34

                Eine Beschreibung der Realität ist noch kein Ismus. Gilt auch für andere Ismen.

              • Thorsten Haupts 4. September 2022, 10:45

                Statistische Auswertungen zeigen im Mittel (also für den Median beider Geschlechter) erhebliche Unterschiede in Einstellungen und Verhalten von Frauen und Männern.

                Mir ist völlig wurscht, dass diese Erwähnung einer vielfach wissenschaftlich fundierten Tatsache heute als „sexistisch“ gebrandmarkt wird, die Gegner dieser Tatsache sind Wissenschaftsleugner.

                Gruss,
                Thorsten Haupts

              • Stefan Pietsch 4. September 2022, 13:05

                Wer die Anerkennung der Realität verweigert, ist nichts anderes als die Corona-Leugner. Mit anderen Worten: ein Trumpist. Denn es kommt nicht auf die politische Richtung an, sondern auf die Bereitschaft, wissenschaftliche und statistische Fakten zur Kenntnis zu nehmen.

                Da lohnt keine Debatte mit den Trumpisten.

            • Thorsten Haupts 4. September 2022, 10:46

              Aus vielen Jahren der beruflichen Zusammenarbeit mit hunderten von Leuten bestätige ich Stefan P´s Beobachtungen. Im Mittel – nicht individuell – ist das so.

          • Erwin Gabriel 7. September 2022, 14:50

            @ Stefan Sasse 3. September 2022, 12:55

            Ich propagiere nie und an keiner Stelle, dass Frauen grundsätzlich geeigneter für irgendetwas sind. Deswegen gibt es auch nichts, wo ich Männer als für grundsätzlich geeigneter gegenüberstellen könnte. Diesen ideologischen Blödsinn überlasse ich gerne dir.

            Die angemessene Antwort auf gleichem intellektuellen Niveau kann nur „Dummkopf“ lauten.

          • Erwin Gabriel 7. September 2022, 15:10

            @ Stefan Sasse 3. September 2022, 12:55

            Ich propagiere nie und an keiner Stelle, dass Frauen grundsätzlich geeigneter für irgendetwas sind. Deswegen gibt es auch nichts, wo ich Männer als für grundsätzlich geeigneter gegenüberstellen könnte. Diesen ideologischen Blödsinn überlasse ich gerne dir.

            PS: Du hast schon geschrieben, dass Männer für bestimmte Dinge weniger geeignet sind, was aufs gleiche hinausläuft. Du hast Di auch schon sehr häufig ziemlich abfällig über bestimmte Männer-Verhaltensweisen geäußert, keinesfalls vergleichbar über bestimmte Frauen-Verhaltensweisen, was irgendwann auch auf das Gleiche hinausläuft.

            Grundsätzlich gilt, dass es zwischen Frauen und Männern grundsätzliche genetische Unterschiede gibt, die sich messen und beziffern lassen. Die Unterschiede sind nicht so krass, dass Du klare Grenzen mit einem weiten Abstand ziehen kannst, aber auch kleine Unterschiede wirken sich aus.

            Ein Beispiel: Die Grundaggressivität von Männern und Frauen liegt dicht beieinander. Bei einer Gruppe von 50 Frauen und gleich vielen Männern liegt die Chance, dass das aggressivste Mitglied der Gruppe männlich ist, bei „nur“ etwa 60 Prozent. Schaust Du auf unsere Gesellschaft, führt das dazu, dass die 100 aggressivsten Exemplare alle männlich sind.

            Keiner sagt, dass jeder beliebige Mann aggressiver als jede beliebige Frau ist – Deine Argumentation läuft aber immer so, als würde das behauptet. Dennoch sind Männer grundsätzlich etwas aggressiver als Frauen.

            Wie gesagt: Nur ein Beispiel. Ein anderes ist, dass es etwa viermal so viele männliche wie weibliche Autisten gibt – dass eine entsprechende Ausprägung nicht sozialer, sondern genetischer Natur ist, wirst hoffentlich auch Du nicht leugnen.

            Wie auch immer: Wer genug Menschen in genug Situationen / Funktionen kennenlernt, wird irgendwann ein Schema erkennen. Und ich habe den von Stefan Pietsch beschriebenen Unterschied auch feststellen können (wenn auch nicht in der Finanzwelt).

            Mag sein, dass ich nur anekdotische Evidenz hier einbringen kann. Aber das ist letztendlich mehr, als Du einbringen kannst.

            • Stefan Sasse 7. September 2022, 15:48

              Nein, das habe ich nicht. Ich spreche von männdlich kodierten Verhaltensweisen. Also solchen, die gesellschaftlich Männern zugeschrieben werden. Wie oft muss ich das denn noch erklären?

              • Stefan Pietsch 7. September 2022, 23:56

                Du hattest auf eine spezielle Darstellung und Personalauswahl reagiert und die Beschreibung als sexistisch gebrandmarkt.

                Dass viel mehr Frauen als Männer Buchhalter werden – wozu es immerhin auch bestimmter persönlicher Charaktereigenschaften bedarf? Allein die Benennung ist sexistisch. Dass weit mehr Männer aus Frauen Controller werden, wozu es immerhin auch bestimmter persönlicher Charaktereigenschaften bedarf? Auch sexistisch. Das Spiel ließe sich mit dem Bereich Human Ressources fortsetzen.

                Du lieferst keine Beschreibungen, keine Analysen, keine Erklärungen – nur Kolbenschläge: Sexismus. Und eine Haltung, die auf einer sehr einseitigen und umstrittenen Theorie fusst. Nicht auf Erkenntnis, nicht auf Wissen, sondern Annahmen.

              • Stefan Pietsch 8. September 2022, 00:11

                Ergänzung: Warum ist die ideale Führungspersönlichkeit für Dich weiblich?

              • Thorsten Haupts 8. September 2022, 00:22

                Wenn besagte Verhaltensweisen über Jahrtausende konstant und in sehr unterschiedlichen Gesellschaften weltweit einem Geschlecht zugeschrieben werden, würde ich ja davon ausgehen, dass sie (statistisch) geschlechtsspezifisch sind.

                Aber man kann natürlich trotzdem annehmen, dass mit genug gutem Zureden alle bisher „männlich konnotierten“ Eigenschaften weiblich werden. Nur Belege dafür kannst Du nicht liefern – und Glaubensfragen diskutiere ich ungerne.

                Gruss,
                Thorsten Haupts

                • Stefan Sasse 8. September 2022, 09:49

                  Was für „Belege“ könnte ich denn dafür liefern, die du akzeptieren würdest? Was könnte ich hier sagen, das dich dazu bringt „Oh, da ändere ich meine Überzeugung“ zu sagen?

                  • Stefan Pietsch 8. September 2022, 12:22

                    Das ist schlicht Dein Problem. Etwas quakt, etwas schwimmt auf Seen, etwas sieht aus wie eine Ente. Der erste Ansatz wäre davon auszugehen, dass es sich um eine Ente handelt. Bist Du anderer Überzeugung, feel free das Objekt genauer zu untersuchen.

                    Du hast hier (wiederholt) die Tonverschärfung reingebracht. Wer behautet, Frauen würden weit häufiger als Männer Buchhalter (weil sie in Summe akurater arbeiten), argumentiert sexistisch. Und das ist typisch. Du hantierst mit Begriffen wie Sexismus, Rassismus, toxisch und Hass so freihändig, dass Dir anscheinend mal gesagt werden muss: in der realen Welt ist das nicht so. In der realen Welt, in der Deine Konservativ-Liberalen dieses Blogs leben, bekommst Du für solche Verhaltensweisen Abmahnungen. Rausschmisse. Nur in Deiner Kunstwelt gendert man wie wild darauf los und hält das für liberal und tolerant. Denn allein die Wahrscheinlichkeit, dass in der normalen Welt jemand gar auf eine „nicht-binäre“ Person trifft, tendiert gegen Null. So klein nämlich sind Deutschlands Unternehmen. So klein sind Deutschlands typische Ansiedlungen. Du hältst das für normal. Es ist nicht typisch.

                    Du bist Ende 30 und im Öffentlichen d.h. staatlichen Dienst angestellt. In der Form bist Du dem Gemeinwohl verpflichtet. Was das ist, bestimmst nicht Du. Das bestimmen Gesetze, Verordnungen, höchstrichterliche Sprüche. Du bist alt genug, das zu respektieren. Und als solches sprichst Du nicht permanent von Sexismus, Rassismus, toxisch und Hass, wenn Dir schlichtweg etwas nicht passt. Denn da ist die Toleranz einiger anderer definitiv zu Ende.

                    Du fragst auch nicht nach dem Gewinn. Der ist Dir nämlich egal. Selbst wenn Deine Theorie – alles ist anerzogen, wenn Jungs nur wie Mädchen erzogen würden, wären sie genauso akurat und Mädchen würden weit häufiger Controller – vollständig zuträfe und wir weltweit die von Dir empfohlenen Schlussfolgerungen ziehen würden: was wäre damit gewonnen? Wären Frauen glücklich, wenn sie nicht mehr so häufig Buchhalterinnen würden und ins HR wechseln würden? Wären junge Männer glücklicher, wenn sie Buchhaltung geiler fänden? Wären überhaupt junge Frauen glücklicher, wenn sie in luftigen Höhen Steine aufeinander hieven würden als alte Menschen zu pflegen?

                    Du bist der einzige, der nach dem Geschlecht schaut und sich damit als Sexist outet. Niemand sonst.

                    • Stefan Sasse 8. September 2022, 23:23

                      So viel Worte um zu sagen: „Nichts.“

                  • Thorsten Haupts 9. September 2022, 01:12

                    Echte wissenschaftliche Studien vorlegen (soziologische Essays zählen nicht), die Deine These belegen? Bis dahin bleibst DU belegpflichtig – und solltest grobe Beleidigungen („Sexismus“) einfach vermeiden. Wirkt bei mir eh nicht.

                    Gruss,
                    Thorsten Haupts

              • Erwin Gabriel 12. September 2022, 01:26

                @ Stefan Sasse 7. September 2022, 15:48

                Ich spreche von männlich kodierten Verhaltensweisen. Also solchen, die gesellschaftlich Männern zugeschrieben werden.

                Ja, gibt es durchaus. wird nicht geleugnet.

                Wie oft muss ich das denn noch erklären?

                Hab ich schon beim ersten Mal verstanden, und nie eine andere Meinung gehabt: Es gibt eine unterschiedliche Rollen-Sozialisierung zwischen Mann und Frau.

                Was immer wieder die Diskussion auslöst, ist, dass Du früher die Ansicht vertreten hast, dass ALLE Unterschiede zwischen Männern und Frauen durch Sozialisierung zustande kommen. Inzwischen akzeptierst Du zwar einen kleinen, geringen Einfluss durch Genetik; die Unterschiede sind aber deutlich größer.

                Knapp 6 % der deutschen Bevölkerung ordnen sich in die Gruppe LGBT ein. Ich kann mir beispielsweise nicht vorstellen, dass das auf Sozialisierung zurückzuführen ist.

                • Stefan Sasse 12. September 2022, 07:54

                  Es wird insofern geleugnet als dass mir immer wieder unterstellt wird, ich hielte Frauen für Männern überlegen. Und das ist einfach gelogen.

                  Die sexuelle Veranlagung ist genetisch bestimmt, das ist ja hinreichend bekannt…

                  • Stefan Pietsch 12. September 2022, 10:11

                    … dann würde sie aussterben. Das passiert aber nicht. Der Anteil homosexueller Menschen über die Gesamtheit ist in allen Gesellschaften annähernd gleich. Es wurde auch bisher kein „Schwulen-Gen“ gefunden.

                    Forscher sind einem Protein (Progeston) auf der Spur, das bei der Mutter eine Immunreaktion hervorruft. Streng genommen ist also die Mutter schuld, wenn der Sohn schwul wird. 😉
                    https://www.welt.de/gesundheit/article163416126/Hormon-koennte-sexuelle-Orientierung-beeinflussen.html

                    Es könnte ein Beleg sein, wie sehr wir immer noch den hormonellen Einfluss auf unser Sein und Verhalten unterschätzen.

                    P.S.: Bestreitest Du, vor kurzem die ideale Führungsperson mit weiblich assoziiert zu haben?

                  • Erwin Gabriel 13. September 2022, 15:31

                    @ Stefan Sasse 12. September 2022, 07:54

                    Es wird insofern geleugnet als dass mir immer wieder unterstellt wird, ich hielte Frauen für Männern überlegen. Und das ist einfach gelogen.

                    Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an einen Beitrag von Dir zum Thema „toxische Männlichkeit“ …

                    Dass Du immer wieder mit Vehemenz auf „Fehlverhalten“ von Männern losgehst oder Dich negativ über männliche Verhaltensmuster auslässt, während das gleiche in die andere Richtung nicht annähernd zu finden war, ist also nur Zufall?

                    • Stefan Sasse 13. September 2022, 15:56

                      Dass ihr euch alle nie an den folgenden Beitrag „toxische Weiblichkeit“ erinnert, ist also auch nur Zufall?

                    • Stefan Pietsch 13. September 2022, 17:50

                      Doch! Zumindest ich erinnere mich. Meiner Erinnerung nach fügte er sich aber ein in das Bild weitgehend „männlicher“ Verhaltensweisen, die durch Frauen unterstützt oder gefördert werden.

  • Tim 1. September 2022, 13:59

    8) Anywhere but here

    Generell aber ist bemerkenswert, wie irrelevant in den ganzen zwei Jahren der Pandemie die Frage des Ursprungs war.

    Ist ja irgendwie auch klar: Sollte sich herausstellen, dass das Virus einem Labor entstammt, wäre das das Pearl Harbor oder Tschernobyl der Biochemie. Weltweit 7 Mio. Corona-Tote (offiziell; real wahrscheinlich eher 20 Mio.), das muss ein Unfall erst mal schaffen! Darum hat niemand gesteigertes Interesse an einer Aufklärung und darum geben wir uns offiziell mit der fadenscheinigen offiziellen Erklärung zufrieden, dass es nicht aus dem Wuhan-Labor stammen kann. Obwohl dort überhaupt NICHTS untersucht wurde und China massivst gemauert hat.

    Der Elefant im Raum.

    • Stefan Sasse 2. September 2022, 09:03

      Ich halte wenig von der Laborthese und glaube auch nicht, dass sich ein Schuldiger einfach bestimmen lässt. Aber dass der Ursprung in China war ist eigentlich sonnenklar.

  • derwaechter 1. September 2022, 18:31

    Hehe. Gruß zurück 🙂

  • Tim 1. September 2022, 18:51

    6) Der Sender mit der höchsten Einfaltsquote

    Kaum etwas hilft so sehr bei der Reproduktion des deutschen Mitte-Konsens wie die Tagesschau.

    Diesen Satz finde ich sehr erklärungsbedürftig. Die Tagesschau hat etwa 10 Mio. Zuschauer, seit Corona etwas mehr:

    https://de.statista.com/statistik/daten/studie/182978/umfrage/reichweite-der-tagesschau-seit-1992/

    Über die Zuschauerstruktur kann ich nichts sagen, sie dürfte aber älter als der Bevölkerungsdurchschnitt sein. Über die Tagesschau-Bubble hinaus dürfte die Sendung keine große Wirkung mehr haben. Ganze Millieus werden von der Tagesschau, oft sogar vom Fernsehen allgemein nicht mehr erreicht. Das öffentliche rechtliche Mediensystem hat keine gemeinschaftsstiftende Wirkung mehr, und zwar schon seit langer Zeit.

    Vielleicht meinst Du mit Deinem Satz, dass die Berliner Politikbubble sich darauf verlassen kann, dass man nur wenig anecken kann, wenn man sich auf die Themensetzung der Tagesschau verlässt. Das kann durchaus sein, ist aber sicher kein Qualitätskriterium. Von einem ähnlichen Wirkungsfaktor lebt übrigens auch die Bild: Ihre Reichweite ist drastisch gesunken und sinkt immer weiter, aber viele Politiker orientieren sich noch immer – völlig unnötig – an ihrer Themensetzung.

    Leider gibt es eine kleine, aber einflussreiche Runde von Leuten, die medientheoretisch im Jahr 1980 leben: die Richter des Bundesverfassungsgerichts. Solange diese Spaßvögel die Zeit nicht verstanden haben, werden wir auch kein öffentlich-rechtliches Mediensystem haben, das zu den Anforderungen der Zeit passt.

    Aber eine Idee kann man für alle Zeiten aus dem Bewusstsein verbannen: die halbe Nation vereint vor einer einzigen Fernsehsendung – wissend, dass die halbe Nation zuschaut. Das wird nie wieder kommen.

    • Stefan Sasse 2. September 2022, 09:05

      Nein, das ist sicher korrekt. Aber 10 Millionen ist eine ganze Menge, und es ist fair anzunehmen, dass diese zehn Millionen zu den interessierteren Teilen der Gesellschaft gehören und das, was sie gehört haben, in Gesprächen mit Bekannten und Verwandten reproduzieren. Es gibt kein anderes Medium, das auch nur ansatzweise diese Reichweite erzielt. Und es ist ja auch stilbildend und eine Referenz für viele andere Medienschaffende. Der Einfluss der Tagesschau ist nicht mehr so hoch wie ehedem, sicher, aber er bleibt enorm.

  • Tim 1. September 2022, 19:02

    2) Im Gewirr der Klimapolitik

    Die Forderung, den Klimaschutz ökonomisch effizienz zu gestalten, gehört gefühlt in die 1990er Jahre, als wir noch Zeit hatten. Jetzt, 30 Jahre später, muss Effektivität, nicht Effizienz, der leutende Maßstab sein.

    Dein Argument lautet im Grunde: Weil wir früher verschwenderische Klimapolitik gemacht haben, müssen wir jetzt noch verschwenderischer sein.

    Finde ich gelinde gesagt hanebüchen.

  • Johnson 1. September 2022, 20:24

    @ 5
    This article is behind a paywall so couldn’t read it in its entirety and will comment only on the excerpt here at the risk I am misinterpreting stuff that’s explained in the full version.

    “…German austerity risks worsening trade imbalances…”

    Not too long ago the rest of the EU was very worried and upset about German “trade imbalances” – especially its foreign trade surplus with the rets of the EU. So that’s a good thing now?

    “Tensions between the west and China — a key export market for German products — had already put the brakes on Germany’s export-led economy.”

    That’s simply not true. These “tensions” came AFTER German (and global) exports to China already started declining, mainly due to Covid, global supply strains and the wobbly state of the Chinese economy, especially its finance and real estate sectors.

    “That’s why Germany must embrace the fact that trade with the EU is seven times larger than with China,..”

    Not sure I understand this (and maybe there’s more detail in the full article). Trade with the EU is seven times larger than that with China – Germany’s trade with the rest of the EU or global trade with the EU? Probably the latter in which case this is a highly misleading statement as global trade with the EU of course includes trade with Germany which also happens to be the largest economy/market within the EU. Since Germany can’t very well trade with itself, its portion of global trade with the EU shouldn’t be included here. In any event though I find it hard to believe Germany is actively not maximizing trade within the EU as it’s the easiest and closest market and therefore a lot less risky than China, India, Brazil etc. Also, Germany increasing trade within the EU leads to those “trade imbalances” mentioned above, i.e., a massive German trade surplus which is/was bitterly resented by the smaller economies in the EU. And again, I am not even sure a significant increase is possible. If it were, however, the question of what Germany would be trading with say Ireland, Portugal, Greece, Estonia and Cyprus remains. German Porsche’s and BMW’s vs…what exactly?

    “But the full benefit of the union will remain unexploited unless Germany steps up to a leadership role.”

    I think the de facto Germany is already in a leadership role in the EU due its economic and political weight. I am not sure though how that leadership role would be more formally manifested without the majority of EU members resisting. I don’t see France acquiescing to Germany officially (in whatever form) leading the EU.

    “German policymakers should engineer a positive shock…”

    As in spend money on infrastructure and other government projects? And pump more money into an inflation that is certainly not under control any time soon? Money that no one currently has and will have to be borrowed or simply printed?

    “More fiscal spending across Europe could also provide further impetus for common Eurobonds”

    That’s just the confirmation of my statement above. Since most EU members don’t have this money they’ll have to borrow it. But they can’t borrow it themselves so the EU (meaning Germany and 4 or 5 other members) will have to do that for them. So Germany will borrow on behalf of those members and then trade with them while getting paid with the self same money they just borrowed for them?

    “German public opinion would be less reluctant to embrace such an initiative because some of the funds would be spent at home. “

    Heh. This getting more and more hilarious. I guess the above would depend very much on what exactly “some” is. 10%…20% or 50% will make a huge difference. Generally speaking though I would say that “German public opinion” is smart enough to recognize that “ok, you’ll spend $100 and you’ll get $20 back right away but I’ll keep the rest and promise I will buy some stuff from you sometime” is not a great deal.

    In summary, a nice puff piece for those Eurobonds and some Keynes style economics at the exactly the wrong time.

    • Stefan Sasse 2. September 2022, 09:08

      I hate this vanishing behind Paywalls of articles that were open only minutes ago 🙁 Sorry.

      Good points on the EU trade thing, I don’t know enough to comment. Maybe someone has more to add?

      Regarding the leadership role, you use the decisive word „de facto“. Germany is having a leadership role but does not fulfill it. It impacts other countries more or less by accident. There’s neither a strategy behind it nor any sense of responsibility attached. That’s the problem in my view.

      Money spending: Exactly, yes.

      • Johnson 2. September 2022, 21:45

        Nor your fault. Papers/magazines need to make money too I guess. 🙂

        Re leadership in/of the EU and Germany. Yes, but is that a feature or a bug? Seems to me the EU was purposely constructed in such a way to prevent any country from taking a leadership role. What would happen if Germany actively took on/fulfilled a leaderhsip role, as I thought the article was stipulating?

        Re spending money – so you think this is a good thing?

        • Stefan Sasse 3. September 2022, 10:42

          That’s a good question. And yes, the EU is constructed for consensus rule, but the hard facts of economic weight supercede that often enough. I have no clue what would happen. „Taking a leadership role“ doesn’t mean „strive for domination“. In my reading, this is more like „accept that you are the biggest and most influential country and act like it“, which means not to hide behind institutions on the one hand and to think of your actions influencing other countries as well.

          I don’t think of spending money as something that’s good or bad. Spending money is a means of achieving something. The question is whether or not what you want to achieve is a good thing and then if spending money is the right way to get there.

        • Lemmy Caution 4. September 2022, 23:20

          I don’t think leadership is that easy. We have to take national peculiarities into account. I like what Ronald Reagan said after a visit to Latin America: „Well, I learned a lot. That’s what I wanted to do. I didn’t go down there with any plan for the Americas, or anything. I went down to find out from them and learn their views. You’d be surprised. They’re all individual countries.“
          The same also applies to Europe.

          Of course we should take our military more seriously again. A lot of people don’t know, but we had a much stronger military in the 60ties and 70ties.

          • Stefan Sasse 5. September 2022, 11:38

            I don’t think it’s easy at all, just for the record. But I think we need to at least make an effort.

    • Lemmy Caution 4. September 2022, 23:09

      Here are nice diagrams about german trading partners:
      https://tradingeconomics.com/germany/imports-by-country
      https://tradingeconomics.com/germany/exports-by-country
      and here categories of traded goods:
      https://tradingeconomics.com/germany/exports-by-category

      In Europe we tend to have trade surpluses with richer countries. We import more than we export from many Eastern countries: Czech Republic, Poland, Slovakia, Bulgaria.
      For Romania and the Baltic States it is the other way around.
      Because of the cheaper wages, German industry outsources a lot of manufacturing to the East. There is also a lot of IT outsourcing.

      Luxury cars are an important sector of our export economy. China has been by far the most important market for them in recent years.

      • Lemmy Caution 4. September 2022, 23:31

        The strong trade with the Netherlands is mainly due to the importance of the port of Rotterdam. For example, I think there are pipelines from Rotterdam to refineries in the Netherlands that produce gasoline for Germany. The Netherlands is also a major producer of greenhouse agricultural products.
        Rotterdam is closer to the densely populated federal state of North Rhine-Westphalia than Hamburg.

  • cimourdain 2. September 2022, 10:30

    2) „Wir dürfen keinen Sektor ausnehmen“ und
    7) „Bei der Rüstung müssen wir in die Vollen gehen“
    ist – freundlich gesagt – widersprüchlich.

    3) Wo wir bei ‚widersprüchlich‘ sind: Über Jahre rede ich, wie wenig der ‚Demos‘ eigentlich in unserer Demokratie zu sagen hat im Vergleich zu den Parteieliten und du verteidigst diesen Zustand. Aber jetzt, wo mal ein Sündenbock für Fehlentwicklungen der letzten Jahre gesucht wird, kommt er gerade Recht. Denn, da brauchst du dir nichts vormachen, für das Klima ist bisher ‚LNG-Habeck‘ vergleichbar verheerend wie ‚Windblockade-Altmaier‘.

    6)
    i) „Kaum etwas hilft so sehr bei der Reproduktion des deutschen Mitte-Konsens wie die Tagesschau.“ Beschreibt genau das, was du in anderen Ländern zu Recht als Regierungspropaganda kritisierst.
    ii) Den Mangel an externen Kontrollen kombiniert mit einem System von Fehlanreizen hast du in Fundstück 5) vom 29.08.2022 richtigerweise als korrumpierende Faktoren diagnostiziert. Bei den ÖR-Finanzen sehe ich ähnliche Probleme – wenn auch in anderer Ausprägung.
    iii) Die Diskussionen (auch hier) zum Rundfunk laufen immer ritualhaft gleich ab ohne das etwas herauskommt. Vielleicht schreibe ich dazu etwas längeres.

    8) „ die Pandemie wird weltweit als Naturereignis betrachtet, das sich quasi jeder Prävention und Schuld entzieht.“ ist auch der Stand der Erkenntnis. In keinem wirtschaftliche vernetzten Land wäre ein Ausbruch in der Anfangsphase anders verlaufen. Da fällst du auf deinen eigenen Bias rein: Weil China ein in anderen Themen übel agierender Staat ist, muss dieser auch daran ‚Schuld‘ sein.

    10) Bei solchen Themen stille Post gespielt und jeder betreibt Rosinenpickerei. Ich habe versucht mir anhand des Nepszava-Artikels ein Bild gemacht, das immer noch widersprüchlich ist:
    o) Warum beschäftigt sich überhaupt der Rechnungshof mit dem Thema? Und wenn er schon Folgekosten einer Politik sieht, sollte er diese auch in Beträgen beziffern können. Ansonsten hat diese Untersuchungen drei Grundthemen:
    i) Die strukturelle Benachteiligung von Jungen im Bildungswesen. Gibt es nicht nur in Ungarn, wird aber von progressiven gerne ignoriert.
    ii) Die Unterrepräsentanz von MINT-Fächern in der Bildung am Beispiel von nur einem Abschluss-Pflichtfach (Mathematik) gegenüber drei aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich. Ist glaubhaft.
    iii) Dass dadurch die Balance gestört ist, weil Frauen eine Neigung zur Heirat nach ‚oben‘ haben. Bestätigt und für sich genommen nicht problematisch. Das Problem ist das (typisch rechte) Narrativ, dass es Aufgabe der Frauen ist, für ‚demographischen Nachschub‘ zu sorgen.

    c) Nein: Steuern sind nicht zweckgebunden. Alles geht in den Topf hinein und hinaus. Und sich auf nicht ‚erwünschtes‘ Verhalten zur Finanzierung zu verlassen, führt zu sowas:
    https://www.theguardian.com/world/2022/aug/17/japan-government-launches-competition-to-get-people-drinking-alcohol-drinks-tax-revenue

    e) Die Botschaft hör ich wohl, allein fehlt mir der Glaube. Ich vermute, er wird das ganze so verwässern wie die CDU das Lobbyregister.

    f) Natürlich gab es das auch schon in Deutschland vor allem im leicht bürokratischen Personalerdeutsch: ‚Fachkraft‘, ‚Reinigungspersonal‘, ‚Mitwirkende‘ Hat sich nur nicht sehr verbreitet.

    h) Bei Fundstück 7) kritisierst du Clickbait, und hier machst du es selber…

    j) Sorry, aber das ganze klingt wie ein AI-generierter Text: ‚progressive Progressivität‘ und ähnliches.

    p) ‚Mit Vorsicht zu genießen‘ ist gut: Quelle ‚Kiev Institut für Soziologie‘ aus August 2022 ist natürlich Propaganda. Daraus kannst du keine Schlüsse ziehen.

    w) Interessante These, auch wenn es nur einen Aspekt der unterschiedlichen technologischen Voraussetzungen behandelt. Du kannst prinzipiell jeden Zweig des Techtrees abklappern und du wirst überall Lücken finden, die die Römer noch hätten füllen müssen (Nimm allein die mathematischen und physikalischen Grundlagen). Aber die Grundthese einer grundsätzlich anderen Qualität der ‚fossilen‘ gegenüber der ‚organischen‘ Energiewirtschaft ignoriert eine vor allem in Mittelalter und Neuzeit bedeutende Zwischenform: Die Holzkohle, die für Metallindustrie, aber auch Glas, Keramik etc entscheidend war. [Ich meine mich zu erinnern, dass Erasmus über Papst Julius II geschrieben hat „Für seine Kriege mussten ganze Wälder verbrannt werden“, finde das Zitat aber nicht wieder.]

    • Stefan Sasse 3. September 2022, 10:37

      2/7) Nein, das Militär kann sicher auch CO2 einsparen.

      3) Erstens: Ich suche keinen Sündenbock. Die Verantwortung liegt immer noch weitgehend bei den Regierenden. Aber: diese Regierenden wurden gewählt. Viel mächtiger als die Möglichkeit, bei Wahlen für das Führungspersonal zu stimmen, wird es nicht. Und du kannst Merkels Zustimmungswerte und die Wahlanteile der CDU anschauen und kaum zu einem anderen Ergebnis kommen. Und nein, Habeck ist bei weitem nicht so schlimm wie Altmaier.

      6) Das ist überhaupt nicht dasselbe wie Regierungspropaganda. Ich finde diese Gleichstellung verheerend.

      8) Nein, das ist genau mein Punkt. Deswegen verstehe ich ja Chinas Lügen nicht.

      10) Oh, viele der Themen die du ansprichst sind durchaus relevant und werden auch nicht ignoriert. Nur schau halt man, was der ungarische rechnungshof dann verantwortlich macht…

      c) Korrekt. Aber Krankenkassenbeiträge sind ja keine Steuern.

      e) Was ist man ohne Hoffnung?

      f) Halte ich für eine Fehlwahrnehmung.

      h) Wieso?

  • Dennis 2. September 2022, 11:08

    9)
    Zitat Stefan Sasse:
    „Angesichts solcher Meldungen kann man nur den Kopf schütteln und sich fragen, ob wir nicht irgendwie die dümmste Gesellschaft sind, die je Gottes Erdboden besiedelt hat.“

    Ähm….und wenn das so ist ? Könnte doch sein. Daran ist allerdings auch Gott schuld, denn der hat ja nicht nur den Erdboden, sondern auch uns geschaffen (okay, da gehen die Meinungen auseinander).

    10)
    Zitat Stefan Sasse:
    „Ich finde das Männerbild, das in diesen Aussagen steckt, auf dunkle Art faszinierend. Der ungarische Rechnungshof sagt hier nichts anderes, als dass die Männer so fragil sind, dass sie eine kluge Frau nicht ertragen können und dass sie nicht in der Lage sind, ohne „psychische Probleme“ gleichberechtigte Frauen zu akzeptieren.“

    Auch das könnte zutreffen. Typischer Fall von narzisstischer Kränkung. Frauen gelten traditionell-maskulinistisch als doof und ungeeignet für Wissenschaft und all so was. Indes eines Tages stellt sich heraus, dass das gar nicht stimmt. Aufklärung wiederum verlangt, dass mann so tun muss, als ob mann die Gleichberechtigung befürwortet. Typisches Dilemma. Irgendwie bedarf es jetzt einer Organisation, die Frauen zwar nicht offiziell für doof erklärt, aber am Ende des Tages darauf hinausläuft. Es heißt dann, die hätten halt „andere Interessen“ (als z.B. so was Grantiges wie Politik), die natürlich genauso wertvoll seien, und so weiter. Un richtig lustig wird’s dann, wenn Frauen dem auch noch zustimmen.

    Man sollte sich viel mehr mit dunklen Sachen beschäftigen^, zumal die – wie du ganz richtig schreibst – faszinierend sind. Korrespondiert in gewisser Weise auch mit 6) . Mit Lug und Trug und „Massagesitzen“ aller Art muss IMMER gerechnet werden. Vertrauen lohnt nicht; wer vertraut, wird beschissen.

    Ach ja, p) ist ja auch eher dunkel.

    m) auch. Der Herr K. aus Sachsen will in seinem Beritt dran bleiben und Wahlen gewinnen (was ja nicht verboten ist) und ist deshalb lieb zum Putin. Das sagt ja nicht nur was über Herrn K. aus, sondern auch über andere Dunkelheiten „unten“.

    Momentan verdunkelt sich ja alles. Sogar Steini sitzt jetzt im Dustern (okay, vorläufig nur von außen)

    https://www.tagesspiegel.de/berlin/bundespraesident-spart-strom-berliner-schloss-bellevue-bleibt-nachts-dunkel/28546128.html

  • Ariane 2. September 2022, 12:54

    zu 3 (und 5/7)
    Ich hoffe, dass Rheinberg falsch liegt, und fürchte, dass er nicht falsch liegt. Die jetztige Gaskrise und die enormen Kosten, die sie verursacht – Kosten, die der Staat nicht übernehmen und voll abfedern KANN – wird wahrscheinlich nur das erste Mal sein, das wir solche Schocks erleben.

    Es erinnert mich ein bisschen an die Friedensdividende, so gesehen hatten die letzten 16 Jahre mehr oder weniger eine krisenfreie-Zeit-Dividende, die man für nix benutzt hat.
    Gut verschüttete Milch, nutzt ja nix. Was bedenklicher ist, das lässt sich mit ein bisschen Rumgemerkel nicht lösen. Das gilt psychologisch, weil gerne suggeriert wird, man müsste nach Corona jetzt halt Krieg und Klimakrise aussitzen und dann kehrt alles zum Alltag zurück und gut ist.
    Und im Handeln, da wird eine vermurkste Gasumlage gebastelt, die vielleicht mit einer vermurksten Mehrwertsteuersenkung wieder abgefedert wird und dann hat man ein Entlastungspaket aus Einmalzahlugen und kurzfristigen Maßnahmen für drei Monate und wundert sich, dass man dann eher mehr als weniger Probleme hat.

    Ich weiß ja, dass es politische Gesetzmäßigkeiten gibt, aber dieses Kleinklein macht mich teils echt fertig.

    6)
    Aber die Kontrolle durch Parteiinstitutionen ist auch bestenfalls mittelprächtig.

    Naja, ich sehe das pragmatisch. Dummerweise ist es ziemlich unmöglich, irgendwo wirklich unabhängige Kontrolleure zu finden, dann lieber Parteien, die sich vielleicht gegenseitig in Schach halten.

    Insgesamt finde ich den (recht freakigen) Senderföderalismus noch problematischer als generell. In kleinen, unabhängigen Königreichen geschieht schneller Schmu, sie sind leichter politisch zu beeinflussen und schwieriger zu kontrollieren als hätte man einen großen Block, auf den sich alle Aufmerksamkeit konzentriert. Da wird dann nämlich genauer hingesehen und schneller reagiert als wenn beim rbb was schief läuft.

    • Stefan Sasse 3. September 2022, 10:39

      3/5/7) Ja.

      6) True. Auf der anderen Seite waren diese Sender aber (historisch) auch zentral für die Etablierung der Länder, also für ihre Legitimität. Genau in der Absicht wurden sie ja auch geschaffen. Das haben sie auch super geschafft. Heute ist das halt ein bisschen stressig…

  • Kning4711 3. September 2022, 11:17

    Ich fürchte das Hauptproblem der Politik ist Angst – Angst auszusprechen das die Überwindung dieser Herausforderungen unseren Wohlstand schmälern , aber langfristig genau eben diesen sichern wird.

    Das ist Zeit für Führung und nicht für Beliebtheitspreise – Scholz wagt sich gar nicht aus der Ecke (wegen Warburg fehlt ihm auch die notwendige Integrität) sondern spielt auf Sicherheit und Zeit. Hinzu kommt eine für einen Politiker in dieser Position groteske Kommunikationsschwäche.
    Mit „playing it safe“ werden wir es aber nicht schaffen. Es fehlt der Mut den großen Wurf zu wagen. Leider denken zu viele in der Ampel an 2024 statt 2035.

    ich bin nicht naiv, natürlich muss ich auch gute „politics“ machen – aber diese Ampel mit dem Fokus auf gegenseitigem Ausgleich und Minimalkompromiss wird es nicht schaffen das Land voranzubringen.

  • Stefan Pietsch 3. September 2022, 11:21

    1) Rechtspopulistisches Comeback auf YouTube?

    Interessiert es wirklich jemanden, was ein ehemaliger BILD-Chefredakteur in seinem zweiten Berufsleben treibt? Auch der Markt der Medien ist ein Markt. Auf diesem Markt wird wie auf dem Kartoffelmarkt auch vermutete und geäußerter Wünsche bedient. Ist es ein Vergehen, die Meinungen von Menschen zu bedienen, zu bestätigen und zu verstärken, die nicht links-grün denken? Aus links-grüner Ecke schon. So wenig wie es sich über die Nachdenkseiten aufzuregen gilt, so wenig braucht man sich über Tichys Einblick oder sonstige Ergüsse aufzuregen. Was soll das eigentlich?! Wer es nicht lesen will, liest es nicht. Und wer es lesen will, sollte damit bedient werden.

    Viel zu viele Worte um nichts.

    2) Im Gewirr der Klimapolitik

    Hier äußert sich ein maximales Maß an Rücksichtslosigkeit.

    Denn natürlich ist es super, wenn wir ökonomische Effizienz im Klimaschutz haben. Aber wir sind über den Punkt weit hinaus, an dem das irgendeine Priorität sein kann.

    Schon die Mama ist früher ganz böse geworden, wenn man auf das frisch gewaschene und gebügelte Shirt Soße gekleckert hat. Niemand arbeitet gerne für den Papierkorb! Dinge selbst dann zu tun, wenn sie nichts bringen (oder sogar schaden), ist eine Dummheit, die sich wenige Menschen (auch nicht unintelligente) leisten. Aber es klingt halt bei der moralisch guten Sache so gut.

    Effizienz bedeutet, ich bekomme etwas für mein Geld. Ineffizienz bedeutet, ich schmeiße es zum Fenster raus. Es ist in der links-grünen Szene nicht durchgedrungen (und wird wahrscheinlich auch nie), aber jeder Mensch hat nur ein Leben. Manche hoffen zwar auf ein Leben im Paradies mit 72 Jungfrauen, andere jedoch glauben, irgendwann wird einfach das Licht ausgeknipst. Wie es auch sei, das Leben auf der Erde endet. Es mit Unnützlichkeiten zu verschwenden, die nicht mal für die Allgemeinheit nachhaltige Wirkung haben, bedeutet das eigene Leben wegzuwerfen.

    Dafür sind vielleicht Menschen in der link-grünen Szene zu gewinnen, sonst aber kaum jemand.

    • Stefan Sasse 3. September 2022, 12:56

      1) 119.000 Menschen aktuell abonnieren seinen Kanal. Dazu hat er offensichtlich eine Öffentlichkeit, die ihn rezipiert und reproduziert. Warum du hier versuchst, diese Entwicklungen zu relativieren, erschließt sich mit nicht.

      • Stefan Pietsch 3. September 2022, 17:52

        Ist das viel? Im Internet haben jene, die davon leben (oder auch nicht) weit mehr Follower. Also, hört sich für mich nicht beeindruckend an, schon gar nicht so, irgendetwas genauer darüber erfahren zu wollen. Über Gabor Steingart, der viel mehr zahlende Abonnementen hat, schreibst Du ja auch nie.

        Oder was willst Du sagen? Dass ungehörig ist, ein rechtspopulistisches Format zu betreiben? [Bitte entschuldige, wenn ich es nicht genauer bezeichne. Ich habe nichts darüber und nichts davon gelesen.]

        Einfache Frage: Was willst Du? Dass es kein Format wie Tichys Einblick und die Nachdenkseiten gibt, weil sie sich nicht genau im Spektrum CDU | SPD | Grüne | FDP bewegen? Und mit welchem Recht? Es ist doch eigentlich so interessant wie der berühmte Sack Reis.

        • Erwin Gabriel 15. September 2022, 23:24

          @ Stefan Pietsch 3. September 2022, 17:52

          Wohl wahr …

  • Stefan Pietsch 3. September 2022, 11:34

    5) Germany needs its very own Marshall Plan

    Die EU ist der für uns entscheidende Markt, und mit dem Durchschlagen der Klimakrise umso mehr, weil damit auch das Zeitalter eines billigen Transports um den Globus dank externalisierter Kosten enden wird.

    Ich frage mich, wie man auf so etwas kommen kann. Zu Anfang gesetzt: Länder wie Dänemark, Niederlande, Schweden hätten nicht ihren überragenden Wohlstand, würden sie ihn nicht im Außenhandelsgeschäft erwirtschaften. Der inländische Bedarf an Fischen und Tulpen ist überschaubar.

    Wenn Wohlstand dadurch entsteht, dass Bedarfe wachsen und neue durch junge und mittelalte Menschen entstehen, dann ist es eine Torheit, auf Märkte zu setzen, wo die Bevölkerungen schrumpfen und vergreisen. Da fehlt schlicht die Phantasie sich vorzustellen, woher Wachstum und Wohlstand kommen sollen. Unsere Wettbewerber außerhalb der EU haben das verstanden. Europa ist eins nicht: das Zentrum der globalen Finanzinvestitionen. Das zeigt sich im Rückzug US-amerikanischer wie ost-asiatischer Unternehmen aus Europa, das zeigt sich im Absturz der europäischen Finanzinstitute gegenüber ihren amerikanischen Wettbewerbern.

    Zwei der vier größten Ökonomien der EU haben gleichzeitig die ältesten Bevölkerungen der Welt. Investitionsneigung, Risikobereitschaft, Unternehmertum und Nachfrage nach neuen Produkten und Dienstleistungen nehmen jenseits der 40, spätestens der 60 rapide ab. In einer so sklerikosen Gesellschaft den Zukunftsmarkt zu sehen muss mit enorm viel Phantasie verbunden sein.

    • Lemmy Caution 6. September 2022, 09:35

      In etwa 10 Jahren wird China unser heutiges Durchschnittsalter von 44 Jahren erreicht haben.
      https://de.statista.com/statistik/daten/studie/200667/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-china/
      Südkorea entwickelt sich ziemlich parallel zu Deutschland.
      https://de.statista.com/statistik/daten/studie/203303/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-suedkorea/
      … und haben als Kultur viel mehr Erfahrung mit Einwanderung als diese Ost-Asiatischen Staaten. Einwanderung senkt das Durchschnittsalter.

      • Stefan Pietsch 6. September 2022, 11:40

        Wir haben Indien, wir haben Indonesien, wir haben Pakistan, wir haben die Philippinen. Allein die letzten drei sind zusammen bevölkerungsreicher als die gesamte EU. Europa erstarrt immer mehr. Wir haben vor allem Verteilungskämpfe, die mit immer mehr Sozialleistungen notdürftig befriedet werden. Bei den Begriffen unternehmerische Dynamik und Wachstumspotentiale fällt einem Europa nicht ein.

        Wie gesagt, der Rückzug des internationalen Kapitals ist ja spürbar und erlebbar.

        Einwanderung senkt das Durchschnittsalter kaum. Allein von 2010 bis 2020 ist die deutsche Bevölkerung weiter um ein Jahr gealtert, trotz massiver Zuwanderung gerade junger Menschen weit unter dem Durchschnittsalter von 45 Jahren. Die Gründe dafür liegen in dem statistischen Gewicht sowie der Tatsache, dass auch Zuwanderer altern. Dauerhaft lässt sich mit Migration nur dann das Durchschnittsalter senken, wenn die Zuwanderer in ihrem Fortpflanzungsverhalten nicht die Gewohnheiten der Einheimischen annehmen.

        Das tun sie aber, denn die Ursache für niedrige Geburtenraten sind meist gesetzliche und kulturelle Rahmenbedingungen.

        • Thorsten Haupts 6. September 2022, 12:07

          … denn die Ursache für niedrige Geburtenraten sind meist gesetzliche und kulturelle Rahmenbedingungen.

          Nein. Wohlstand und eine liberale Gesellschaft mit vielen Optionen zum eigenen Lebensentwurf.

          • Stefan Pietsch 6. September 2022, 12:37

            Wir sehen sehr große Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland bei der Geburtenrate, obwohl beide Länder ein vergleichbares Wohlstandsniveau besitzen. Auch die USA sind vornedran. Frankreich zeigt zudem, dass bei entsprechender Bevölkerungspolitik sich Geburtenraten signifikant steigern lassen. Das Gegenteil zeigt Deutschland.

            • Thorsten Haupts 7. September 2022, 00:18

              Wir sehen sehr große Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland bei der Geburtenrate, obwohl beide Länder ein vergleichbares Wohlstandsniveau besitzen.

              Korrekt und inkorrekt zugleich. Die bessere Geburtenrate verdankt Frankreich ausschliesslich den (meist nordafrikanischen) Zuwanderergruppen. Und die gleichen sich in der dritten Generation erfahrungsgemäss ihrer Aufnahmegesellschaft an.

              Die französischen Eingeborenen liegen im westeuropäischen Schnitt, irgendwo bei 1,etwas – und damit unterhalb des Bevölkerungserhaltes (der läge bei 2,1).

              Gruss,
              Thorsten Haupts

          • Stefan Sasse 6. September 2022, 15:54

            Völlig bei dir. Deswegen ist das ja auch ein modernes Phänomen: wir sind viel liberaler geworden. Ich hab schon vor vielen Jahren darüber geschrieben, dass sich die CDU effektiv selbst das Fundament entzogen hat: ihre Politik der ökonomischen Liberalisierung hat zahlreichen Menschen neue Lebensentwürfe und Chancen ermöglicht, und sie haben sie begierig ergriffen. Ein ungewolltes Opfer davon war das traditionelle Familienmodell, dessen Niedergang sie immer beklagen.

          • Erwin Gabriel 15. September 2022, 23:27

            @ Thorsten Haupts 6. September 2022, 12:07

            [… denn die Ursache für niedrige Geburtenraten sind meist gesetzliche und kulturelle Rahmenbedingungen.]

            Nein. Wohlstand und eine liberale Gesellschaft mit vielen Optionen zum eigenen Lebensentwurf.

            Zustimmung!

  • Stefan Pietsch 3. September 2022, 11:48

    6) Der Sender mit der höchsten Einfaltsquote

    Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk ist kein FOX-Verhinderungsprogramm. Das wären fast 9 Milliarden öffentlicher Gelder auch nicht wert. Es ist vor allem ein Mittel der Verbeamtung weiterer Teile des öffentlichen Lebens. Medien, die aus Zwangsgeldern finanziert werden, brauchen sich um ihr Angebot keine Gedanken zu machen. Machen sie auch nicht. Die Neuerungen der letzten Jahrzehnte bestanden aus reinem Copy & worse paste von dem, was bei der privaten Konkurrenz probiert wurde. Das Programm, das bei ARD und ZDF am meisten kostet – Sportrechte und Unterhaltungssendungen wie die Helene-Fischer-Show – können private Anbieter besser. Und ein großes Korrespondentennetz ist unnütz, wenn die Journalisten nicht dorthin gehen, wo es brennt und erst von CNN informiert werden müssen, was passiert.

    10) Ungarns Rechnungshof beklagt hohen Frauenanteil an Unis

    Ich finde auch den hohen Frauenanteil bei der ARD entsetzlich. So saßen neulich beim Presseclub 4 Frauen inklusive Moderatorin und 1 Mann. Ein solches Geschlechterverhältnis umgekehrt wird schon seit Jahrzehnten nicht mehr geduldet.

    Was als altmodisch galt, ist halt jetzt in umgekehrter Folge modern. So ändern sich die Zeiten.

  • Stefan Pietsch 3. September 2022, 11:59

    a) Das Ausmaß der Zerstörung der Erneuerbaren ab 2011 durch Schwarz-Gelb ist echt irre.

    Schwarz-Gelb regierte von 2009 – 2013. Ein halbes Jahr davon muss wegen Wahlkampf abgezogen werden, bleiben 1 1/4 Jahre, wo eine konservativ-liberale Regierung die Energiepolitik von zwei Jahrzehnten zerstört haben soll. Wow, was für eine erfolgreiche Politik! Ich wähle da FDP, wer so effektiv arbeitet, muss gut sein!

    e) Ich liebe es einfach, wenn Lindner und die FDP sich endlich Dingen annehmen, die unter Merkel und der SPD ewig liegengeblieben sind. So hätte ich die Ampel gerne immer.

    Was Quatsch ist. Jeder Finanzminister – von Eichel über Steinbrück bis Schäuble und Scholz – tut das, was ein Finanzminister tun muss. Es ist einfach niedrträchtig, Gegenteiliges zu behaupten.

    t) Nachdem Olaf Scholz letzthin beim Tankrabatt die Unternehmen aufgerufen hatte, doch bitte das Geld, das die Regierung ihnen in den Rachen wirft, nicht anzunehmen, macht Habeck jetzt dasselbe mit der Energieumlage. Ich hätte eine total abwegige Idee. SCHREIBT VERNÜNFTIGTE GESETZE, IHR KNALLDACKEL!

    Da reagieren selbst Blogger halt auf Reizworte. Die Gasumlage, so bestätigen Experten, kommt im Verhältnis 9:1 tatsächlich Unternehmen zugute, die in die Klemme geraten sind. Die perfekte Regel, dass auch Nicht-Gemeinte von einer gesetzlichen Norm profitieren, gibt es nur in brutalen Diktaturen. Aber das ist halt zu kompliziert für dieses Land.

    Anscheinend hat die WELT die besseren Journalisten als der SPIEGEL.

  • Ralf 4. September 2022, 21:03

    w) keine industrielle Revolution im römischen Reich

    Ein faszinierender Artikel zu einer Frage, über die ich selber schon sehr lange gegrübelt habe. Die Argumenteführung klingt plausibel, wenngleich ich an manchen Stellen Zweifel hege. So wird z.B. behauptet, dass wegen horrender Transportkosten nur Kohle als Verbrennungsmittel für Dampfmaschinen in Frage kam und folglich nur dort ein sinnvoller Einsatzort für frühe Dampfmaschinen sein konnte, wo viel Kohle vorhanden war -> also in einem Kohlebergwerk. Holz sei hingegen nicht infrage gekommen, weil nahegelegene Wälder durch den Verbrauch viel zu schnell weggerodet worden wären, weswegen Brennmaterial dann von weit her hätte beschafft werden müssen, was – wie gesagt – durch die hohen Transportkosten nicht rentabel gewesen wäre. Ich frage mich, wie haltbar diese Aussage ist, angesichts des enormen Holzverbrauchs der riesigen Thermen in Rom. Alleine in den Caracalla-Thermen badeten täglich bis zu 2000 Menschen in beheizten Bädern. Wer die gigantischen unterirdischen Anlagen gesehen hat, in denen die Öfen betrieben wurden – Wikipedia spricht von 10 Tonnen Holz pro Tag für die 49 Öfen unter dem Caldarium alleine und das Tunnelsystem umfasst fasst 6 km Wege – fragt sich, wieso nicht ausreichend Holz für hypothetische Dampfmaschinen zur Verfügung gestanden haben sollen. Und die Caracalla-Thermen waren ja nur eines der vielen Bäder von Rom. Darüber hinaus gab es unzählige ähnliche Anlagen auch in kleineren Städten (man findet z.B. gleich mehrere in Pompeji oder Herculaneum). Und ich frage mich, ob es im Pumpen von Wasser nicht auch eine für Römer interessante Anwendung für eine hypothetische Dampfmaschine gegeben hätte – ein Zweck, der ja garnicht so unterschiedlich wäre, verglichen mit dem Zweck, für den die ersten tatsächlichen Dampfmaschinen dann in England eingesetzt wurden (i.e., das Abpumpen von Wasser aus Kohleschächten).

    Dass der Kanonenbau die Entwicklung stabiler Druckkessel beförderte, eine technische Neuerung, über die die Römer noch nicht verfügten, erscheint mir das überzeugendere Argument dafür zu sein, dass die industrielle Revolution bis zum 18. Jahrhundert warten musste. Erstaunlicherweise erwähnt der Autor das nur am Rande.

    Wie dem auch sei – ich frage mich, ob nicht irgendwo in einem Paralleluniversum, in dem die Römer die Dampfmaschine erfunden haben, gerade jemand einen Artikel darüber schreibt, dass es selbstverständlich nur die Römer sein konnten, die die Fähigkeit und Motivation hatten diese Technologie zu entwickeln, weil in der Retrospektive das Geschehene immer irgendwie alternativlos erscheint …

    • Stefan Sasse 5. September 2022, 10:43

      Die Thermen sind halt ein einziges Luxusding für die Oberschicht. Das läuft unter Luxuskonsum, wie so manches in Rom. Wenn du wirtschaftliche Auswertungen anschaust sieht du ja ein Stadt-Land-Gefälle und Zentrum-Peripherie-Gefälle im Römischen Reich, das sich gewaschen hat.

      Ansonsten wäre mein Rat: schreib ihn auf Twitter an und frag ihn! Bret ist sehr accesible und diskutiert solche Sachen gerne. Ich bin da kein Expert 🙁

    • Thorsten Haupts 6. September 2022, 12:12

      Dass der Kanonenbau die Entwicklung stabiler Druckkessel beförderte, eine technische Neuerung, über die die Römer noch nicht verfügten, erscheint mir das überzeugendere Argument dafür zu sein, dass die industrielle Revolution bis zum 18. Jahrhundert warten musste.

      Yup. Der Autor übergeht darüber hinaus die wirtschaftlich/gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – Rom war (im wesentlichen) eine landwirtschaftliche Subsistenz- plus Sklaven-Ökonomie. Und da spielt Effizienz eine sehr, sehr geringe Rolle. Ich halte das für DEN weiteren kritischen Faktor, der die technisch vielleicht mögliche Maschinenrevolution in der Antike verhinderte.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Stefan Sasse 6. September 2022, 15:54

        Erklärt dann aber nicht, warum im Mittelalter keine kam, oder?

        • Thorsten Haupts 7. September 2022, 00:26

          Das Mittelalter endet ganz grob im 15. Jahrhundert. Und bis dahin waren wir technisch gerade wieder da, wo das Römische Reich um 300 n.Chr. war. Und auch das Mittelalter war immer noch eine halbe Sklavenwirtschaft (Leibeigene/Vassallen).

          • Stefan Sasse 7. September 2022, 15:44

            Von mir aus. Warum keine Industrielle Revolution um 1600? Oder 1700?

            • Ralf 7. September 2022, 15:50

              Ich würde den Zufall nicht unterschätzen. Jemand muss die richtige Idee haben. Der jemand muss dazu die Möglichkeit haben seine Idee in die Tat umzusetzen (freie Zeit, Zugang zu Material, finanzielle Förderung). Der jemand muss auch einen Use-Case für die Idee haben und er muss wahrscheinlich einen direkten Bezug zum Use-Case haben. Das heißt die richtige Idee muss auch noch am richtigen Ort erfolgen. Und er darf nicht plötzlich krank werden und versterben, bevor er sein Wissen weitergegeben hat. Und so weiter …

              • Thorsten Haupts 8. September 2022, 00:17

                Sehe ich genauso. Selbst, wenn alle Voraussetzungen für radikal Neues am Platz sind, können Zufall/(Un)Glück den Durchbruch des neuen sofort veranlassen oder um hunderte von Jahren verzögern. Man sollte dabei nie aus den Augen verlieren, WIE zahlenmässig klein die Gruppe der Leute war, die systematisch neues zu denken und zu verwirklichen überhaupt imstande waren.

                Selbst heute ist die Gruppe der Menschen, die bereit und in der Lage sind, zäh, ausdauernd, an sich selber glaubend, radikal neuen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen, winzig klein. 99,99% der Menschheit passt sich unter ständigem Motzen an nicht allzu unerträgliche Zustände schlicht an.

                Gruss,
                Thorsten haupts

  • Ralf 4. September 2022, 21:31

    6) die öffentlich-rechtlichen Sender

    Kaum etwas hilft so sehr bei der Reproduktion des deutschen Mitte-Konsens wie die Tagesschau. Auch das Podcast- und Radioprogramm der Öffentlich-Rechtlichen ist über jeden Zweifel erhaben. Aber damit bin ich auch am Ende des Positiven. […] Denn tatsächlich ist das Programm dieser Sender überwiegend scheiße. […] Der qualitativ bestenfalls durchschnittliche Kram, den die Sender selbst produzieren – von den furchtbaren Polittalkshows zu Rosamunde Pilcher – ist unglaublich teuer, vor allem wenn man bedenkt, was man dafür bekommt.

    Mich würde interessieren, was Du denn besser machen würdest. Also nicht um ARD und ZDF für Dich attraktiver zu machen, sondern um die Sender für die Allgemeinheit attraktiver zu machen.

    Manchmal hört man, die Öffentlich-Rechtlichen sollten sich auf qualitativ hochwertige Information beschränken und die Unterhaltung den Privaten überlassen. Es ist nicht überraschend, dass diese Forderung fast immer aus der Ecke derer kommt, die die Öffentlich-Rechtlichen eigentlich abschaffen wollen. Und genau das würde auch passieren, wenn sich ARD und ZDF praktisch zu Tagesschau plus Phoenix und ARTE transformieren würden. Es wäre der Weg in die Irrelevanz. Wer die Sportschau gesehen hat, bleibt mit höherer Wahrscheinlichkeit noch beim Sender und schaut sich auch noch die Tagesschau an. Wer seine Unterhaltung woanders bezieht, bezieht dann wahrscheinlich auch seine Information woanders. Dieser Trend läuft alleine schon durch das Internet gegen die Öffentlich-Rechtlichen. Ich kenne immer mehr Menschen, die gar keinen Fernseher mehr besitzen. Ich persönlich hab seit 2006 keinen mehr. Wenn Dir also die Öffentlich-Rechtlichen am Herzen liegen, dann nimm ihnen nicht die Unterhaltung weg …

    Und klar – man kann dann das gegenteilige Argument aufmachen: Wenn schon Unterhaltung, dann wenigstens richtig und hohe Qualität. Und ja, ich würde mich auch freuen, wenn ARD und ZDF Serien produzieren würden mit der Qualität von Game of Thrones. Allerdings würden wir dann auch die Gebühren verdoppeln und verdreifachen müssen. Qualität kosten eben auch einen Haufen Geld. Wer ein kleines Budget hat, produziert hingegen Rosamunde Pilcher.

    Und bei den Polit-Talkshows ist mir auch nicht ganz klar, was Du Dir da wünschst. Also in Österreich sind die Formate und Qualität exakt dieselben wie in Deutschland. Und in den USA ist alles noch viel, viel schlimmer als in Deutschland. Nur noch gegenseitiges Anschreien und maximale Polarisierung. Wo ist es denn Deiner Meinung nach besser? Mir fallen möglicherweise kleinere Formate ein, wie die ursprüngliche Maischberger-Sendung bei NTV: Ein ruhiges One-On-One-Gespräch um Inhalte. Aber ein kleiner Nachrichtensender, der sich ausschließlich an ein extrem informationsdurstiges Nischenpublikum wendet, kann anders agieren als ein Marktführer, der das Mainstream-Publikum bedienen will. Es hat bestimmt einen Grund, dass so ein stilles, ruhiges Format bisher noch nicht ausreichend attraktiv war für den Samstagabend bei einem führenden Fernsehsender …

    • Lemmy Caution 4. September 2022, 22:42

      Seh das weitgehend wie Du.
      Ich finde Polit-Talkshows besser, in denen weniger Politiker und mehr Journalisten/Analysten auftreten wie Presseclub oder vieles was auf Phönix um 22:00 läuft.

    • Stefan Pietsch 5. September 2022, 09:47

      Das ist die Geschichte auf den Kopf gestellt. Den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern stehen weit mehr als 8 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung, damit sie eben nicht vom Zuschauergeschmack abhängig sind.

      Zwangsgelder werden für Dinge und Leistungen erhoben, für die die Menschen nicht bereitwillig zahlen, die aber dennoch im allgemeinen Interesse liegen. Daraus entwickelte sich der Grundversorgungsauftrag von ARD und ZDF – Medienangebote, die sonst nicht bereit gestellt würden. Mit der Fülle an Fernsehsendern hat sich das weitgehend erledigt. Auf jeden Fall gehört eine Helene-Fischer-Show nicht zum Grundversorgungsauftrag, für den Gebührengelder notwendig wären.

      Das was Sie meinen, dafür zahlen die Bürger freiwillig. Für Sky, für Netflix, für Amazon Prime, für Disney. Gute und bessere Nachrichten als bei ARD und ZDF findet man bei WELT, NTV, Bloomberg, CNN, vor allem Journalisten, die hautnah berichten und nicht aus dem Studio. Wenn die Bürger freiwillig für gute Angebote zahlen, braucht es keinen durch Gebührengelder finanzierten Öffentlich-Rechtlichen Sender. Das ist die Logik.

      Wir wissen auch, dass die Beifangquote, wie Sie sie schildern, gering ist. Endet ein Fußballspiel, sinkt die Quote rasant. Und selbst in den Halbzeitpausen schalten viele bei den Nachrichtensendungen weg (oder gehen auf Toilette). Es ist pure Geldverschwendung, aus solchen Gründen ein teures Fernsehprogramm unterhalten zu wollen.

      Und das sind ARD und ZDF heute: Geldverschwendungsmaschinen. In Zeiten des starken Bedeutungsverlusts des linearen Fernsehens sind 8 Milliarden Euro-Zahlungen an Sender, die ihren eigentlichen Auftrag nicht gerecht werden und das Wort „Ausgewogenheit“ zuletzt beim Windelwechseln hörten, unnötig.

    • Stefan Sasse 5. September 2022, 11:37

      Ja, das sind sehr gute Fragen. Du hast sicher Recht damit, dass eine Konzentration ausschließlich auf Nachrichten/Informationen die ÖRR effektiv killen würde.

      Grundsätzlich gibt es super ÖRR Programme im Internet, die ÖRR werden da vor allem durch diese unsägliche Depublizierungspolitik ausgebremst.

      Was das Qualitätsargument angeht: grundsätzlich agreed, aber das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt halt nicht. Für das Geld ginge Besseres.

      Politiktalkshows: mein Wunsch wäre weniger gegenseitiges Anschreien, sondern eher Gespräche zwischen neugierigen Moderator*innen und diskussionsbereiten Gästen. Wenigstens ein solches Format als Ergänzung für den bisherigen Mist.

  • Thorsten Haupts 5. September 2022, 01:05

    Zu 1) Die Mitte hält in Deutschland, noch.

    Die perfekte Verkörperung der deutschen Mitte war und bleibt Angela Merkel …

    • Stefan Sasse 5. September 2022, 11:40

      Korrekt.

      • Thorsten Haupts 5. September 2022, 14:10

        Das ist kein Kompliment :-).

        • Stefan Sasse 5. September 2022, 19:07

          Ich weiß. Ich bin kein Fan.

          • Thorsten Haupts 6. September 2022, 00:05

            Dann verstehe ich Deine Betonung der deutschen „Mitte“ nicht?

            • Stefan Sasse 6. September 2022, 09:13

              Wir haben die Bewegung der USA, Frankreichs oder Großbritanniens zu den Rändern bei weitem nicht in dem Ausmaß.

              • Thorsten Haupts 6. September 2022, 12:04

                Und kriegen trotzdem nichts geregelt …

          • Erwin Gabriel 15. September 2022, 23:36

            @ Stefan Sasse 5. September 2022, 19:07

            Ich weiß. Ich bin kein Fan.

            Warst einer … 🙂

            • Stefan Sasse 16. September 2022, 06:50

              Nein. Ich war nie, nie, nie ein Merkel-Fan. Ich fand den Entschluss 2015 richtig. Ich fand den Atomausstiegsausstiegausstieg 2011 richtig. Und ich fand die Kritik an ihr komplett überzogen. Das macht mich nicht zu einem Fan. Ich hätte Steinmeier, Steinbrück und Schulz jederzeit vorgezogen.

              • Stefan Pietsch 16. September 2022, 08:06

                Da fehlt was. Fandest Du die Offenhaltung der Grenzen über den September / Oktober 2015 hinaus richtig? Fandest Du die Aufnahme von über 2 Millionen Flüchtlingen (und anderen) zwischen 2015 und 2016 richtig (und warum)? Und warum später nicht mehr?

                Wie findest Du Dich im Kontext wieder, dass niemand diesen Ausstiegsbeschluss nachvollzogen hat? Und wie passt sich das in die Klimapolitik ein, was ja vor 10 Jahren kein unbekanntes Thema war?

                • Stefan Sasse 16. September 2022, 10:21

                  Ich habe vor eine größere Einordnung der Ära Merkel zu machen, da komme ich dann auf die ganzen Themen ausführlicher zurück. Nur so viel: Ich fand die Aufnahme richtig. Ich finde sie weiterhin richtig. Da hat sich für mich nichts geändert. Für mich bleibt auch der Atomausstieg richtig. Meine Probleme mit Merkel (die ich für die schlechteste Kanzlerin halte, die wir je hatten, auch abseits des dummen Gags mit dem Gender) sind ganz andere.

                  • Stefan Pietsch 16. September 2022, 11:01

                    Ich fand die Aufnahme richtig.

                    Das hast Du ungefähr 500 mal bereits geschrieben. Doch das war weder die Frage, noch hast Du Dich zu dem „Nachdem“ geäußert. So ist das eine Nullaussage, jeder von uns sagt das. Da können wir uns auch darauf einigen, dass Sonnenschein eine gute Sache ist.

                    Wer den Atomausstieg befürwortet, muss auch eine umsetzbare (politisch wie technisch) Idee haben, wie eine der größten Volkswirtschaften der Welt Klimaneutralität herstellen soll. Das ist nämlich noch keinem vergleichbaren Land gelungen noch hat es jemand vor.

                    Vor Jahren hätte ich Merkel noch nicht so schlecht eingeordnet. Inzwischen schon.

                    • Stefan Sasse 16. September 2022, 15:25

                      Dito.

                    • Erwin Gabriel 19. September 2022, 19:05

                      @ Stefan Pietsch 16. September 2022, 11:01

                      Vor Jahren hätte ich Merkel noch nicht so schlecht eingeordnet. Inzwischen schon.

                      Ich ich schon. Ich fand nach zwei Jahren Amtszeit schlecht, und ab da ging es rapide bergab.

                    • Stefan Pietsch 19. September 2022, 21:18

                      Ich fand Merkel immer schlecht. Ich fand sie nur lange nicht so schlecht.

                    • Ralf 19. September 2022, 22:58

                      Ich ich schon. Ich fand nach zwei Jahren Amtszeit schlecht, und ab da ging es rapide bergab.

                      Als jemand, der Merkel in sechzehn Jahren null mal gewählt hat, sage ich: Kriegt euch mal wieder ein.

                      Die gute Frau hat die Energiewende, Klimakrise und Digitalisierung verschlafen und uns in die Abhängigkeit von Putin geführt. Wobei es nun echt nicht gerade so ist, als wenn der Koalitionspartner da viel agiler und schlauer in den Startlöchern gesessen hätte und nur durch die CDU ausgebremst worden wäre. Und am Ende ist der deutsche Bürger schuld. Der hat diese Politik ja gewollt. Und aktiv gewählt. Vier mal hintereinander. Zumindest wäre mir neu, dass es in den letzten beiden Dekaden große Mehrheiten für Reformparteien wie die Grünen oder die FDP gegeben hätte …

                      Und übrigens es hätte deutlich schlimmer kommen können als Merkel. Die USA haben in der fraglichen Zeit einen Dilettanten mit der Reife eines Vierjährigen ins Weiße Haus gesetzt und beinahe mehr als zweihundert Jahre Demokratie verspielt. Die Briten haben sich einen Clown an die Spitze gewählt und mit dem Brexit einer gesamten Generation die Zukunft gestohlen. Die Italiener und Österreicher haben sich korrupte Regierungen unter der Beteiligung von Faschisten an die Macht gewählt, die den Staat zum Selbstbedienungsladen gemacht haben und die einen Tsunami aus Verbrechen und Betrug hinterlassen haben. Von der Türkei, Polen und Ungarn, deren Demokratie völlig kollabiert ist, mal ganz zu schweigen.

                      Mit Merkel ist lediglich das Land in der Zeit stehengeblieben. Und es hat sich die CDU ein bisschen erneuert. Klar war das bescheuert, erst den Ausstieg aus dem Atomausstieg zu beschließen, um dann den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg verkünden zu müssen. Aber hey, wenigstens hat sie am Ende das Richtige gemacht. Und klar war es peinlich die Homoehe zur Abstimmung zu bringen, um dann im Parlament dagegen zu stimmen. Aber hey, am Ende ist das Richtige aus dem Prozess herausgekommen. Dasselbe gilt für die Abschaffung der Wehrpflicht. Klar war es total panne sich als „Madame Non“ feiern zu lassen und Öl ins Feuer der Griechenlandkrise zu schütten. Aber hey, am Ende als es um alles ging, hat sie die europäischen Lösungen mitgetragen und die EU ist schließlich gestärkt aus der Phase hervorgegangen.

                      Und mit dem Öffnen der Grenzen für die syrischen Flüchtlinge, die verwahrlost und hungernd aus Ungarn zu uns marschierten, hat sie Größe bewiesen. In einer Partei, in der diese Aktion nicht populär war. Dafür dass sie unserem Land in dieser schweren Zeit ein menschliches Antlitz gegeben hat, bin ich ihr dankbar. Auch dafür, dass sie gesagt hat „wir schaffen das“. Auch wenn es offensichtlich war.

                      Und ein enorm großes Verdienst ist, dass Merkel uns einigermaßen sicher durch die Corona-Krise gebracht hat: Als eines der Länder, das die geringsten Opferzahlen in der Pandemie hatte. Auch hier hätte man mehr tun können, aber unter einem anderen Bundeskanzler hätten wir tausende, möglicherweise zehntausende Tote mehr zu beklagen gehabt. Die mahnenden Beispiele sind ja in Europa überall um uns herum zu betrachten.

                      Also wie gesagt: Kriegt euch mal wieder ein.

                    • Stefan Sasse 20. September 2022, 06:54

                      Genau das ist auch meine Haltung. Ich bin kein Merkel-Fan, aber die Schärfe dieser Kritik befremdet mich weiterhin und ist unangemessen.

                    • Stefan Pietsch 19. September 2022, 23:28

                      Mein Problem mit Merkel war von Anfang an zweierlei. Sehr früh hielt ich sie für eine Opportunistin. So hatte sie den Wahlkampf als Hardcore-Neoliberale geführt, Fortsetzung der Schröder’schen Reformpolitik mit konservativen Mitteln und wandelte sich binnen Monaten ins Gegenteil. Das war schon rasant. Beim Zusammenführen der gegensätzlichen Konzepte Bürgerversicherung und Kopfpauschale erwies sie sich als Chaotin ohne jede Managementfähigkeit. Damit zeigte sie innerhalb kurzer Zeit einen eklatanten Mangel an Fähigkeiten, die Helmut Schmidt mal als unabdingbar für einen guten Politiker charakterisierte.

                      Sie zählen Regierungspolitiker in der Endphase von Merkel auf. Als Trump Präsident wurde, war die Zeit, wo sich Merkel die Sache eher hätte anders überlegen sollen mit einer weiteren Amtszeit. Mit Obama erlebten die USA einen Präsidenten, der in der Ahnenreihe eher als naiv durchgehen musste. Generell hatte Deutschland meist die weniger aufregenden, dafür seriöseren Regierungschefs. Das war also kein besonderes Merkmal von Merkel. Auch Scholz wirkt für uns im Vergleich zu Liz Truss seriös und gegenüber Biden vital.

                      Und mit dem Öffnen der Grenzen für die syrischen Flüchtlinge, die verwahrlost und hungernd aus Ungarn zu uns marschierten, hat sie Größe bewiesen.

                      Ich kann diese Geschichtskittung langsam nicht mehr hören. Niemand, selbst die CSU nicht, hatte zu der Zeit etwas dagegen, für Tage die Grenzen zu öffnen. Eben in Tagen wäre und war das Problem auch gelöst. Doch dann kam bei Merkel wieder die Chaotin durch. Sie wusste nicht, wie sie die Lage wieder in den Griff bekam. Wie sollte sie die Grenzen wieder schließen, wo sie sie geöffnet hatte? Sie musste nach vielen Monaten und heftigen Wahlniederlagen für ihre Partei zu einem leichten Kurswechsel gezwungen werden – unter Androhung einer Klage der CSU in Karlsruhe. Das war am Ende erbärmlich und nicht heroisch. Die Frage, die hier kein Verteidiger der Merkel’schen Flüchtlingspolitik beantworten kann oder will: wann war’s genug? Wann hätte der Ausnahmezustand wieder beendet werden müssen?

                      Und ein enorm großes Verdienst ist, dass Merkel uns einigermaßen sicher durch die Corona-Krise gebracht hat

                      Welcher Regierungschef hat das nicht? Fakt ist: Unter Merkel leitete Deutschland so viele Alleingänge ein wie unter keiner Regierung davor. Und das gilt auch für die Corona-Politik. Nur Merkel konnte ohne jede Rücksicht auf Grundrechte (von Praktikabilität – Stichwort: Chaotin der Macht – ganz zu schweigen) so etwas wie die Osterruhe entwerfen. Sie nutzte ihre Popularität, um ihre Ängste zur Regierungsleitlinie zu machen.

                      Als eines der Länder, das die geringsten Opferzahlen in der Pandemie hatte.

                      … als das Land, dass Kinder am längsten vom Schulbesuch aussperrte. Als das Land, dass am längsten brauchte, mit einer Impfkampagne in die Pushen zu kommen. Als das Land, dass erst Masken als unnötig bezeichnete und später am längsten an der Maskenpflicht festhielt. Die Pannen während der Pandemie sind so unzählig, dass man damit Bücher füllen kann. Noch heute zieht als Folge der Gesundheitsminister um die Häuser und erzählt von über 100 Coronatoten pro Tag, wo selbst das RKI und das Gesundheitsministerium nicht wissen, wo die herkommen. Wie Merkel selbst jahrelang nicht wusste, wie die Lage wirklich war. Chaotin der Macht.

                      Nebenbei: Sie fand schon nach Wochen einen so netten Slogan wie „Wir schaffen das“, aber ein Jahr lang keine Worte der Trauer und des Bedauerns für die Toten vom Breitscheidplatz. Sie wusste, dass diese Toten mit ihrer unverantwortlichen Flüchtlingspolitik verbunden waren und wollte das nicht extra in Erinnerung rufen.

                    • Erwin Gabriel 21. September 2022, 09:39

                      @ Ralf 19. September 2022, 22:58

                      Die gute Frau hat die Energiewende, Klimakrise und Digitalisierung verschlafen und uns in die Abhängigkeit von Putin geführt.

                      Da hast Du aber ein paar Kleinigkeiten ausgelassen:
                      • Bildung, Bundeswehr, Infrastruktur, Pflege, Rente, Zuwanderung von Fachkräften …

                      Darüber hinaus hat sie durch die lange Zeit unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen die deutsche Gesellschaft gespalten, die EU gespalten, und war dadurch ein maßgeblicher Grund für den Brexit.

                      Und am Ende ist der deutsche Bürger schuld. Der hat diese Politik ja gewollt. Und aktiv gewählt. Vier mal hintereinander.

                      Ist leider etwas dran. Wobei ich durchaus der Meinung bin, dass Politiker ein bisschen mehr drauf haben sollten, als den Wählern nur nach dem Mund zu schauen und ihnen zu versprechen, was sie hören wollen.

                      Wenn Du mit schweren gesundheitlichen Problemen zum Arzt gehst, willst Du ja auch, dass Dir der vernünftig hilft. Gibt der Dir nur schöne Worte und ein Schmerzmittel, statt zu operieren, bist Du mit ein bisschen Pech ein paar Wochen später Tod.

                      Und übrigens es hätte deutlich schlimmer kommen können als Merkel.

                      Schlimmer geht immer – besser aber auch.

                      Wenn ich durch Nichtstun einem anderen Wagen hinten reinrausche, habe ich einen Unfall verursacht. Ist natürlich nicht so schlimm, als hätte ich vorher noch mal absichtsvoll ordentlich das Gaspedal durchgetreten, aber …

                      Ansonsten: Für den „Clown“ in der Downing Street hat Merkel durch ihr Verhalten Wahlkampf gemacht; die USA sind überhaupt nicht vergleichbar; und mit welchem Politiker aus CDU/CSU oder SPD hätten wir „italienische Verhältnisse“ bekommen?

                      Was dir „Errungenschaften“ von Merkel angeht:
                      • Wäre Merkel bei Schröders Atomausstieg geblieben, hätten wir inzwischen einen deutlich höheren Anteil an alternativ erzeugten Energien. Wäre sie bei der Atomkraft geblieben, hätten wir nun ein paar Energieprobleme weniger. Sie hat von drei Lösungen die schlimmste gewählt.

                      • Zur Abschaffung der Wehrpflicht kann man stehen, wie man will. Ich halte sie aus vielen Gründen für einen Fehler: Die Bundeswehr ist aus dem Fokus der Öffentlichkeit und der Politik gerückt, und ein wichtiges Korrektiv wurde entzogen. Könnte man seitenlang ausführen, aber diese Entscheidung (gefällt während des Afghanistan-Einsatzes) hat der Bundeswehr nicht gerade genutzt.

                      • Zu Griechenland (wie in allen anderen Bereichen): In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Wäre Merkel bei ihrer anfänglichen ablehnenden Haltung geblieben, wäre es Griechenland vermutlich schneller besser gegangen. Aber wenn es aus welchen Gründen auch immer ratsam gewesen ist, Griechenland zu helfen, haben diese Gründe von Anfang an bestanden. So hat Merkel nur die Kosten erhöht und den Prozess verzögert.

                      • Syrische Flüchtlinge: Die Krise war über mehrere Jahre absehbar und wurde ignoriert. Die meisten Flüchtlinge waren in Lagern des UN-Flüchtlingshilfswerks untergebracht. Eine Unterstützung des UNHCR hat Merkel (und alle anderen europäischen Länder) weitgehend verweigert, so dass Hunger die Fluchtbewegung auslöste. Eine europäische Lösung hat sie durch ihr Beharren auf Dublin mitverhindert. Durch die dann geöffneten und offengehaltenen Türen hat sie dem Flüchtlingsstrom und dem Schleppergeschäft mit all seinen auch schrecklichen Folgen nochmal richtig Schub gegeben. Da war nur Rat- und Hilflosigkeit, keine Größe. Die gestehe ich aber den vielen privaten Helfern zu, ohne die der Flüchtlingsstrom nicht hätte bewältigt werden können, und ohne die Menschen gestorben wären.

                      Aber „Wir schaffen das“ ist noch lange nicht durch. Es gibt Veränderungen in unserer Gesellschaft, die es sonst nicht gegeben hätte, und die ich auch nicht positiv einordne.

                      • Corona: Dass es hier halbwegs gut lief, liegt zu einem guten Teil an unserem zu anderen Ländern abweichenden Gesundheitssystem. Merkels Anteil war, vor Corona so offensichtlich Angst zu zeigen, dass viele andere die Krankheit ernster nahmen, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre – den Punkt gebe ich Dir. Aber die Regierungsarbeit, noch stärker die Regierungskommunikation, war weitgehend chaotisch.

                      Es ist mir kein Trost, dass Merkel in vielen Fällen nicht durch zielstrebiges, aktives Handeln (wie etwa Trump und Johnson) Schaden angerichtet hat, sondern durch Entscheidungsschwäche, Weggucken, Zulassen, Schulterzucken. Die Schäden ihrer Politik werden uns noch Jahrzehnte belasten (soweit sie überhaupt behebbar sind).

                      Und die Einstellung „nun lass doch mal die gute Frau in Ruhe, jetzt ist sie doch weg“ widert mich regelrecht an. Denn sie hat eine ganze Politiker-Generation geprägt, die weitgehend unfähig ist, Probleme durchzudenken und zu lösen, oder sich für eine wichtige Entscheidung auch mal aus dem Fenster zu lehnen. Ist für mich schon bemerkenswert, dass derzeit (mit Mühe!) nur drei Politiker (Baerbock, Habeck und Lindner) in der Lage sind, Politik zu machen, ohne den Wählern ständig Honig ums Maul zu schmieren.

                      Kriegt euch mal wieder ein.

                      Nein.

                    • Stefan Sasse 21. September 2022, 14:47

                      Ich glaube, die Merkel-Legacy beschäftigt uns noch eine Weile. Ich plane da auch noch Dinge dazu.

              • Erwin Gabriel 19. September 2022, 19:02

                @ Stefan Sasse 16. September 2022, 06:50

                Nein. Ich war nie, nie, nie ein Merkel-Fan. Ich fand den Entschluss 2015 richtig. Ich fand den Atomausstiegsausstiegausstieg 2011 richtig. Und ich fand die Kritik an ihr komplett überzogen. Das macht mich nicht zu einem Fan.

                Du bist also ein Fan von allen grundlegenden, schädlichen Entscheidungen von Frau Merkel, aber kein Fan? Das lasse ich mal so stehen. 🙂

                Ich hätte Steinmeier, Steinbrück und Schulz jederzeit vorgezogen.

                Da vermute ich mal, dass sich das „Vorziehen“ auf die Partei bezieht und nicht auf die Person; wäre Steinbrück bei gleicher politischer Einstellung der Kandidat der Union gewesen und Frau Merkel bei gleicher politischer Einstellung die Kandidatin der SPD, hättest Du Dich wohl kaum für Steinbrück entschieden.

                • Stefan Sasse 19. September 2022, 22:17

                  Ich fand sie halt lange nicht total unterirdisch. Mein Problem sind diese Entscheidungen weiterhin nicht. Das größte Problem sind die Nicht-Entscheidungen.

                  Doch schon, Steinbrück ist immer noch sozialdemokratischer als Merkel. Aber die Präferenz war nicht stark; ich hab 2013 Piraten gewählt (rückblickend auch nicht die beste Entscheidung ever…).

                  • Erwin Gabriel 21. September 2022, 09:44

                    @ Stefan Sasse 19. September 2022, 22:17

                    Ich fand sie halt lange nicht total unterirdisch.

                    Du bist vielleicht nicht an einer Stelle, wo Du die Auswirkungen ihrer Politik aus nächste Nähe mitbekommen hast. Vielleicht fehlen Dir auch Eindrücke aus anderen Ländern, wo es besser läuft.

  • Thorsten Haupts 7. September 2022, 14:41

    Deswegen bin ich kein so ganz grosser Fan der Mitte. Natürlich brauchen Demokratien einen Minimalkonsens, z.B. über Spielregeln. Dass Trump die in den USA aufgekündigt hat, ist im Wortsinne unverzeihlich.

    Und gleichzeitig braucht es überall klar erkennbare, grosse, Unterschiede in den Angeboten an die Wähler. Die hatten wir in Deutschland das letzte Mal in den siebzigern und frühen achtzigern, seitdem haben sich alle (mit Ausnahme der ehemaligen SED) auf so viele Grundpolitiken (Stichworte EU, NATO, soziale Marktwirtschaft, Staatspaternalismus, Umgang mit Minderheiten, liberale Gesellschaft, Individualismus etc.) geeinigt, dass die Politik der letzten 30 Jahre mich an einen Tiefschlaf erinnert. Und das scheint mir für menschliche Gesellschaften auch nicht gut zu sein.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 7. September 2022, 15:45

      Weiß nicht. Die Zeitgenoss*innen empfanden die Konflikte damals ja auch nicht als gesund und heilsam, sondern als sehr trennend und schmerzhaft.

      • Thorsten Haupts 8. September 2022, 07:55

        Nein! Wir trennten damals noch zwischen Politik und Person.

    • bevanite 9. September 2022, 15:02

      Wenn Sie wirklich die letzten 30 Jahren meinten, dann haben wir scheinbar in einem anderen Land gelebt. Nur mal ein paar Erinnerungen: Anfang der Neunziger gab es die Asyldebatte, in der extrem unterschiedliche Positionen auch seitens der Bundestagsparteien aufeinanderprallten. Dazu kam die Frage, wie die Folgen der Wiedervereinigung wirtschaftliche und politisch verwaltet werden sollten. Wenn heute bezüglich Covid von so großen Spaltungen gesprochen wird, sollten wir mal daran erinnern, dass das damals Themen waren, die wirklich Familien entzweit haben (z.B. durch die Enthüllungen über Stasi-Mitgliedschaften) und auch in den Parteien (Stichwort: Soli) für viel Zwist sorgten. In den späten Neunzigern kamen dann noch die Themen Arbeitslosigkeit, Energiewende und Reform der Staatsbürgerschaft dazu und ich erinnere mich, dass der Wahlkampf Schröder vs. Stoiber 2002 ebenfalls sehr polarisiert hat.

      Durch die vielen großen Koalitionen haben sich SPD und CDU/CSU sicherlich angenähert und es ist heute sicherlich nicht mehr so, dass ein ehemaliges NSDAP-Mitglied gegen einen früheren Widerstandskämpfer um die Kanzlerschaft antritt. Aber wenn man meint, dass z.B. Scholz und Merz (von einigen CDU-Ministerpräsidenten will ich gar nicht erst anfangen) keine Unterschiede in ihren Ansichten zu Wirtschaft, Außenpolitik, Zuwanderung, Rente oder Energie vertreten, dann sollte man vielleicht doch mal genauer hinschauen.

      • Thorsten Haupts 9. September 2022, 17:36

        Unbestreitbar. Nur – mit freundlichem Verlaub – geht es da seit langer Zeit um Politikdetails, nicht um Politikfundamente. Und ich erinnere daran, dass die letzten riesigen politischen Demonstrationen Deutschlands zur Zeit des ersten Golfkrieges stattfanden (ich war 1991 als Gegendemonstrant Bestandteil der Abschlusskundgebung der Friedensbewegung zum Golfkrieg im Bonner Hofgarten), was auch ein Zeichen für eine Ent-Polarisierung (oder Ent-Politisierung) ist.

        Ein giftiger Streit um Details ist trotzdem noch immer ein Streit um Details – die letzte in Deutschland öffentlich wirksam geführte Grundsatzdebatte wurde 1992 mit der Änderung des Grundrechtes auf Asyl beendet.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 9. September 2022, 17:59

          Das soll wohl ein Scherz sein. Was ist mit der Reformdebatte? Hartz-IV, Agenda2010?

          • Stefan Pietsch 10. September 2022, 08:51

            Da sind Doppelzählungen. Alle damals im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien befürworteten die Arbeitsmarktreformen. Auch in den Medien Gabe es kaum Dissens. Die Gründe waren zweifach: Das Land war mürbe von der längsten Rezession der Nachkriegsgeschichte und in Sorge, dass am Ende wie in den Jahrzehnten zuvor eine noch höhere Sockelarbeitslosigkeit stände. Und die Politik hatte ein Jahrzehnt lang intensiv Maßnahmen zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit diskutiert. Viele Abgeordnete waren dazu nach Dänemark, in die Niederlande, ja sogar nach Neuseeland gereist.

            Die ablehnende Debatte kochte noch bei der SPD-Linken und den betroffenen Milieus, aber sonst nicht. Das zeigt ja auch, dass die damals neoliberal sortierte Union nach ihrem Leipziger Parteitag bei unfassbaren 50 Prozent notierte.

            Heute zu behaupten, die Reformen seien im Prinzip hoch umstritten gewesen ist so wie zu behaupten, um die Coronavirus-Maßnahmen sei in der Pandemie ein Grundsatzstreit entbrannt. Das würde nicht mal ich behaupten, den die große Mehrheit stand immer.

            • Stefan Sasse 10. September 2022, 11:56

              Doppelzählungen? Haertz-IV und Agenda2010, falls du dich drauf beziehst, waren nur Erklärungen was ich mit Reformdebatte meine, keine eigenne Debatten.

              Mir ist jetzt nicht klar, was für euch eine Grundsatzdebatte konstituiert. Grundsätzlicher als die Reformdebatte wird’s doch nicht, die zog sich ja gut 15 Jahre durch die deutsche Politik – und wurde, wie du ja selbst sagst, genauso entschieden geklärt wie der Asylkompromiss 1992.

              • Stefan Pietsch 10. September 2022, 13:33

                Nochmal: der Konsens zu den Arbeitsmarktreformen war verhältnismäßig groß. Und zur Auswahl standen nur die Alternativen Keep it as it is or change it like other countries. 10 Jahre immerhin haben Bundespolitiker Forschung betrieben, warum andere Länder nicht so Langzeitarbeitslosigkeit aufbauen bzw. wie sie sie wieder losgeworden sind. Und es bestand absoluter Konsens in der Politik, dass die damals sogenannte „Sockelarbeitslosigkeit“ eine Geißel des Landes sei.

                Auch bei der Asylrechtsreform bestand ein großer gesellschaftlicher Konsens. So wie später beim Atomausstieg, den Corona-Maßnahmen usw. Dieses Land ist nicht tief zerstritten, das war es vielleicht noch beim NATO-Doppelbeschluss, aber nicht mehr in den Neunzigern. Entsprechend haben sich die Parteien gewandelt und es kamen neue Gattungen von Politikern – deren Krönung der Schöpfung Angela Merkel war.

                • Stefan Sasse 10. September 2022, 15:16

                  Ja eben. Mir ist unklar, warum der Asylkompromiss zählt, Agenda2010 aber nicht. Das ist alles.

                  • Stefan Pietsch 10. September 2022, 15:57

                    Dann habe ich Dich falsch verstanden. Der Asylkompromiss war 1992 nicht mehr wirklich umstritten. Die Bundestagsdebatte hatte ich damals verfolgt. Dort argumentierten die oppositionellen Sozialdemokraten, sie müssten das jetzt machen aus Notwendigkeit (in die sie die Union getrieben habe). Danach beruhigte sich die Situation sehr schnell angesichts stark rückläufiger Asylbewerberzahlen.

                    Eigentlich hätte das für die SPD auch bei den Arbeitsmarktreformen so sein können, denn die Erfolge stellten sich sofort ein. Doch die Partei labte sich lieber an ihren Phantomschmerzen. Sie beherzigten eine Grundregel des Lebens nicht: Unangenehmes einfach erledigen und dann abhaken.

                    • Stefan Sasse 11. September 2022, 12:34

                      Ich erinnere dich dran, wenn wir das nächste Mal über Merkels Flüchtlingspolitik 2015 reden 😀 Das sagt sich von außen, wenn man eine Politik eh unterstützt, immer leicht.

                      Zählt der Kosovo-Krieg und Afghanistan-Einsatz vielleicht auch dazu, wo wir gerade drüber nachdenken? Also zu den großen Grundsatzentscheidungen.

                    • Stefan Pietsch 11. September 2022, 13:06

                      Selbst Konservative bestreiten keinen Moment, dass es im September / Oktober 2015 einen großen Konsens gab, Flüchtlinge – auch in großer Zahl – aufzunehmen. Dieser Konsens endete danach, als klar wurde, dass Merkel deutlich machte, den Ausnahmezustand in einen Dauerzustand zu überführen. Wahlergebnisse von 20% und mehr für eine rechtspopulistische Partei zeigen, überdeutlich, dass es über die Frage keinen Konsens gab. Zum Vergleich: Die Linkspartei erreichte im Westen nicht einmal in ihrer Hochzeit zweistellige Ergebnisse (Ausnahme der Ministaat Saarland).

                      Das Kosovo-Mandat bettet sich ein in eine langfristige Entwicklung. Nach der Wiedervereinigung beteiligte sich die Bundeswehr an einigen Out-of-Area-Einsätzen ohne Kampfmandat. Besondere aufgeheizte Debatten rief das nicht hervor und Karlsruhe urteilte mehrmals kühl, das müsse die Politik entscheiden. Eine Emotionalisierung fand damals nicht statt und auch nicht beim ersten Kampfeinsatz nach dem Krieg.

                      Auch das Afghanistan-Mandat erfolgte in eine zeitgeschichtliche Einbettung. Nicht nur die westliche Welt stand im November 2001 unter dem Schock von 9/11. Die Meinung war weit verbreitet, das müsse (auch militärische) Konsequenzen haben. Zum Zeitpunkt des ersten Bundestagsmandats waren laut Umfragen eine zweidrittel Mehrheit der Deutschen für den Kriegseinsatz. Das drehte sich erst in späteren Jahren und langsam.

                      Und um noch einen Moment auf Deine Spitze einzugehen: in Deutschland besteht Konsens über den Atomausstieg. Der politische Streit geht nur um Nuancen, ob sofort, Streckbetrieb für einige Monate oder Laufzeitverlängerung von 2-5 Jahren. Ich finde mich in keinem dieser Optionen wieder, wie Du weißt. Aber ich bezweifle nicht den Konsens. Manchmal gehört man mit seinen Ansichten zur Minderheit, manchmal auch nur zu einer kleinen Minderheit. So ist das in einer Demokratie. Der Rechtsstaat sorgt dafür, dass man sich trotzdem wohlfühlen kann.

                    • Stefan Sasse 11. September 2022, 18:43

                      Das ist aber gleichzeitig ein Argument gegen die These, dass der Asylkompromiss 1993 eine Beilegung war. Schließlich ist der ja gerade 2015ff. massiv infragestellt worden.

                      Kosovo rief schon aufgeheizte Debatten hervor, inklusive Farbbeutelwurf auf Joschka Fischer. Und ich würde sagen, dass insgesamt mittlerweile durchaus ein Konsens besteht, dass die Bundeswehr auf Auslandseinsätze geht – das war 1999 noch eine hoch kontroverse Position. Inzwischen kräht kein Hahn mehr danach. Ich sag nur Mali.

                      Dann verstehe ich deine Gender-Hysterie nicht 😀

                    • Stefan Pietsch 11. September 2022, 21:32

                      Wieso ist der Asylkompromiss fast ein Viertel Jahrhundert nach seinem Beschluss in Frage gestellt worden? Die Regierung Merkel setzte sich über die nationalen wie den europäischen Regeln hinweg. Das galt für Wochen als akzeptabel. Nicht jedoch für Monate oder gar Jahre. Und diese Sicht galt über alle Wählerschichten hinweg – mit Ausnahme der Grünen.

                      Wo war ich, als angeblich der Aufstand gegen den Kosovo-Einsatz tobte? Der Göttinger Parteitag war eine innere Angelegenheit der Grünen Partei – nicht der deutschen Gesellschaft. Da war die Sache ziemlich klar. Das ist absolut vergleichbar zu der heutigen Debatte über die Laufzeitverlängerungen. Eine breite Mehrheit ist dafür – nur die Grünen führen schwere innerparteiliche Debatten.

                      Ich glaube 1992 begann die Kohl-Regierung Out-of-Area-Einsätze, weitgehend in der Adria. Die SPD klagte gegen die verschiedenen Einsätze mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht – ohne Erfolg. Da war aber weder eine laute innergesellschaftliche Debatte noch große Demonstrationen. Wenn Du die großen Nachrüstungsdebatten und die Kämpfe der Antiatomkraftbewegungen erlebt hättest, würdest Du auch sagen: Pillepalle.

                      Die Gendersache ist anders: Eine kleine, radikale Minderheit mag den großen gesellschaftlichen Konsens – übrigens über beide Geschlechter hinweg – nicht akzeptieren und versucht ihn von „oben“ aufzubrechen. Diese Minderheit konzentriert sich in den Öffentlich-Rechtlichen, Teilen der sonstigen Medienlandschaft und an den Hochschulen. Darüber hinaus spielt es keine Rolle.

                      Ich habe es bis heute nicht erlebt, dass in Unternehmen der Betriebsrat an die Geschäftsführung herangetreten wäre und um bessere förmliche Ansprache gebeten hätte. Ich hatte nie das Erlebnis, dass mich jemand mit Pausenzeichen angesprochen oder angeschrieben hätte. Nicht im Privaten, nicht auf Partys, nicht auf Messen, irgendwelchen kulturellen Verantstaltungen. Selbst Unicef spricht mich selbstverständlich als „Herr Pietsch“ an. Erstaunlich. 🙂

                    • Stefan Sasse 11. September 2022, 22:24

                      Die Gendersache ist anders:

                      Weil du, anders als bei den anderen beiden Themen, auf der Gegenseite stehst.

                    • Stefan Pietsch 11. September 2022, 22:43

                      Das ist Blödsinn, schließlich stehe ich bei einigen Themen bei der Minderheit, manchmal sogar einer kleinen Minderheit.

                      Das Wesen der Demokratie ist: die Minderheit muss die Mehrheitsverhältnisse anerkennen. Das ist das große Problem der Genderbefürworter. Oft bestreiten sie sogar die Mehrheitsverhältnisse.

                    • Thorsten Haupts 12. September 2022, 16:51

                      Stefan, Du verwechselst Medien – und Hochschulseminardebatten mit gesamtgesellschaftlichen Diskussionen. Die aufgeheizte Nachrüstungsdebatte der achtziger war eine gesamtgesellschaftliche, die von Dir aufgeführten Beispiele waren davon so weit entfernt, wie die Kuh vom Klavierspielen. Das Missverständnis entsteht, weil Teile der Debatten in „Qualitätsmedien“ wie SPIEGEL oder ZEIT in Wirklichkeit inner-grüne Debatten sind, was bei der Zusammensetzung von deren Redakteurskorps nicht wirklich erstaunt.

                      Gruss,
                      Thorsten Haupts

                    • Stefan Sasse 12. September 2022, 18:10

                      Die Hartz-IV-Debatte war nicht gesamtgesellschaftlich?

                    • Thorsten Haupts 13. September 2022, 17:16

                      Völlig irrelevant. Es war eine Debatte über die konkrete Augestaltung eines Systems von Sozialleistungen, aber an keiner Stelle und niemals eine Grundsatzdebatte über Sozialleistungen an sich. Die waren ein 95% Konsens.

                    • Erwin Gabriel 15. September 2022, 23:45

                      @ Stefan Sasse 11. September 2022, 18:43

                      Das ist aber gleichzeitig ein Argument gegen die These, dass der Asylkompromiss 1993 eine Beilegung war. Schließlich ist der ja gerade 2015ff. massiv infragestellt worden.

                      Das, war Merkel 2015 durchgezogen ha, hat nun nicht mit dem Asylkompromiss von 1003 zu tun. Unser Asylrecht zielte immer auf eine individuelle Betrachtung, nicht wie Merkels Entscheidungen auf die Aufnahme ganzer Völker.

                      Kosovo rief schon aufgeheizte Debatten hervor, inklusive Farbbeutelwurf auf Joschka Fischer.

                      Das war bestenfalls ein Grünen-internes Ding, keine kontroverse Diskussion, die Deutschland spaltete.

                    • Stefan Sasse 16. September 2022, 06:50

                      ok

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