Vertragstreue versus Verantwortungsethik – eine Replik

Der VW-Skandal ist seit letzter Woche in aller Munde und jeder meint, etwas dazu sagen zu können. Stefan Sasse macht hier keine Ausnahme und kombiniert Verantwortungsbewusstsein mit dem Gehalt eines Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Unternehmens. Heraus kommt ein unappetitliches Gemenge, das Vorurteile bedient, mit der Sache aber wenig zu tun hat.

Weil Stefan Sasse die Sachebene verlässt und sich auf das moralische Parkett begibt, kommt er ins Rutschen. Was ist passiert? VW verkaufte nach seit Mitte des letzten Jahrzehnts wahrscheinlich über 11 Millionen Autos, bei denen die im Fahrzeugschein niedergelegten Produktbescheinigungen nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprachen. Nur die Falschangaben wurden zumindest in den USA die Zulassungen für die Produkte erschlichen. Die Täuschung und damit der Betrug wurde möglich, weil – wiederum vor allem in den USA – eine Software in den Autos verbaut wurde, welche den Abgasausstoß drosselt, wenn sich das Fahrzeug im Testmodus befindet. Ironie am Rande: gerade die stetig erhöhten Umweltstandards haben dazu geführt, dass die Menge der Stickoxide von Dieselkraftfahrzeugen angestiegen ist. Und wer jetzt wie Jens Berger beim Spiegelfechter die umweltbewussten Amerikaner lobt, übersieht, dass die drei beliebtesten Autos in den USA Pick-ups sind, also wahre Benzinschleuder.

Aber zurück zu Stefan Sasses Beitrag: Es ist noch ungeklärt, wer den Einbau der Software veranlasst und ob sie nachträglich bei der Motorsteuerung aufgespielt wurde. Volkswagen fertigt weltweit Autos und baut in Europa und China Motoren. Die Werke stehen im Besitz von Landesgesellschaften. Der Vertrieb in den USA erfolgt über die Volkswagen Group of America, die auch den in Rede stehenden Passat baut. Wie der Name bereits sagt ist dies ein Unterkonzern der VW AG. Alle Ansprüche der amerikanischen Kläger müssen sich also gegen die US-Gesellschaft richten. Nur soweit die Produkthaftung hier nicht greift, wird der VW Konzern als Ganzes ggf. in Mitleidenschaft gezogen. Dies alles unterliegt jedoch der höchst komplexen rechtlichen Klärung.

Allerdings scheint VW auch auf dem europäischen Markt manipuliert zu haben, weswegen die Staatsanwaltschaft Braunschweig nun ein Ermittlungsverfahren gegen die zuständigen Organe der Gesellschaft, somit Herrn Prof. Dr. Martin Winterkorn, eingeleitet hat. Nur Personen können nach deutschem Recht straffällig werden, nicht rechtlich selbständige Gesellschaften. Die Verurteilung nach Aktiengesetz bzw. Strafgesetz fällt leichter als bei gemeinen Kriminellen, da zur Erfüllung eines Straftatbestandes auch das schuldhafte Unterlassen von Kontrollen gehört, während sonst einem Angeklagten eine direkte Mitwirkung an einer Straftat nachgewiesen werden muss. So betrachtet ist Martin Winterkorn arg in der Bredouille. Wird der bisherige VW-Chef jedoch strafrechtlich verurteilt, greift seine D&O-Versicherung nicht, welche Organe einer Gesellschaft häufig gegen spätere Regresse schützt. Dem Schwaben droht im Falle der Verurteilung trotz Millionen-Salär die Verarmung.

Doch das reicht Stefan Sasse alles nicht. Kopf-ab heißt die Methode, noch ehe die Rechtsorgane sich mit dem Fall befasst haben. Verantwortung in seiner Wahrnehmung bedeutet, sofort im Falle des Fehlverhaltens auf alle Rechte zu verzichten. In dem Sinne müsste auch ein normaler Angestellter für jeden Schaden, den er seinem Arbeitgeber zufügt, voll haften. Das geht natürlich gar nicht und so führt Stefan Sasse das moralische Kriterium ein: das Gehalt. Erreicht dies eine gewisse Höhe (welche auch immer), so hat der Delinquent sofort auf alle Rechte zu verzichten.

Die meisten werden es nicht wissen: Martin Winterkorn ist nicht nur Vorstandsvorsitzender der VW AG gewesen, sondern auch Mitarbeiter des Unternehmens. Formalrechtlich ist der Schwabe von der Organfunktion zurückgetreten, sein Arbeitnehmervertrag jedoch lebt weiter. Als abhängig Beschäftigter und nicht mehr leitender Angestellter wird er übrigens jetzt vom Betriebsrat vertreten. Beide Parteien haben sich erstmal darauf geeinigt, dass Herr Winterkorn seine weiter bestehende Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung nicht mehr erfüllen braucht. Dennoch bleibt sein Anspruch auf Entgelt bestehen, welches sich über den Arbeitsvertrag regelt. Erst wenn dieser Vertrag aufgehoben ist, scheidet Herr Winterkorn tatsächlich bei VW aus.

Viele Argumentationen bauen darauf auf, die Managergehälter mit Leistung gleich zu setzen. Da aber kein Mensch eine Leistung bringen kann, die Millionen auf dem Konto rechtfertige, seien die Gehälter generell absurd. Ausgerechnet da, wo es angebracht ist, wird die Verantwortung vernachlässigt. Es ist allgemein üblich, Angestellte höher zu entlohnen, wenn sie Mitarbeiter- oder Projektverantwortung tragen. Hier geht es nicht nach Leistung, sondern Verantwortung und die Entschädigung der Einschränkungen, die damit verbunden sind. Welche Verantwortung trägt wohl ein Mensch, dem ein Umsatz von 100 Milliarden EUR und über 600.000 Beschäftigte anvertraut sind?

Angesichts dessen, wieviel Mist ein einziger Mitarbeiter verzapfen kann, gilt unter Managern längst das Salär als Entgelt für entgangene Lebensfreude und Schmerzensgeld. Anders lässt es sich auch nicht bezeichnen, wenn man täglich dafür geradestehen muss, dass Mitarbeiter X leider am Projekt nicht weiterarbeiten kann, weil seine Oma Halsschmerzen hat oder Mitarbeiter Y die Deadline für die Abschlussbuchung verpennt hat. Die meisten Führungskräfte in Deutschland erhalten heruntergebrochen auf die Stundenleistung oft einen niedrigeren Lohn als nicht-leitende Angestellte und müssen als einzige persönliche Konsequenzen tragen, wenn falsche Entscheidungen getroffen werden.

An solche Einwände schließt sich immer das Totschlagargument an, ein normaler Angestellter wäre bei Schlechtleistung längst entlassen worden. Auch das ist bei genauerer Betrachtung völliger Humbug und an der rechtlichen Lebenswirklichkeit vorbei. Dem Arbeitgeber stehen zwar laut Gesetz zur Kündigung eines Mitarbeiters drei Möglichkeiten offen. Da aber weder die verhaltens- noch die personenbedingte Kündigung i.d.R. vor Gericht ziehen, bleibt fast immer nur die betriebsbedingte. Und hier greifen verwinkelten Auswahlkriterien der sozialen Kategorisierung, die jede Kündigung vor Gericht zu einem Vabanquespiel machen. Tatsächlich fließt bei (fast) jeder arbeitgeberseitigen Kündigung Geld, also eine Abfindung, an den Ex-Mitarbeiter. Dieses richtet sich nach Kriterien, die allen Beteiligten grundsätzlich bekannt sind. Warum also, Stefan, soll ein Martin Winterkorn viel schlechter behandelt werden als ein X-beliebiger Angestellter, der nicht bei jeder unternehmerischen Entscheidung regelmäßig mit einem Bein im Gefängnis steht?!

Nehmen wir also an, Martin Winterkorn sei ein normaler Angestellter gewesen. Eine Entlassung scheitert hier bereits, da es uns bisher unmöglich ist, den 68jährigen in irgendeiner Form mit der Fehlleistung in Verbindung zu bringen. Wäre dies jedoch möglich, könnten wir ihn jetzt nicht verhaltensbedingt kündigen. Erster Schritt wäre eine Abmahnung, sein Verhalten zu ändern. Erst nach einer angemessenen Frist, wenn Herr Winterkorn keine Maßnahmen ergreift um VWs so auszuliefern wie sie beschrieben sind, müssten wir sicherheitshalber nochmals abmahnen. Bei einem CEO geht das dann doch viel einfacher, man lässt den Vertrag auslaufen. Übrigens noch so eine Besonderheit: Gewerkschafter würden Sturm laufen gegen die Bedingungen, die für Executives gelten. Zeitverträge gelten bei den Arbeitnehmervertretern als No-Go und ständige Erreichbarkeit sind gerade bei VW seit Jahren ein Streitthema. Selbstverständlich gilt für Führungskräfte nicht das Arbeitszeitgesetz, welche zum Schutz von Arbeitnehmern die tägliche Arbeitszeit auf maximal 10 Stunden begrenzt. Wird dagegen verstoßen, muss nicht der Angestellte vor den Kadi, sondern die Leitung.

Kurz: es wäre unmöglich, den Angestellten Martin Winterkorn ordentlich zu kündigen. Sollen also CEOs wegen ihres Gehalts rechtlos sein? Das sind sie für viele Konzerne ohnehin, hier herrscht eine hire & fire-Mentalität. Im Schnitt hält sich ein Vorstand weniger als 2 Jahre, Tendenz weiter fallend. Für Schlechtleistungen wird der Vorstand zur Verantwortung gezogen und zunehmend auch verklagt. Die Fälle häufen sich, wo Manager aus freien Stücken verzichten. Als die Bush-Administration Anfang diesen Jahrtausends im Zuge der Bilanzskandale unter anderem bei Enron die Managerhaftung deutlich verschärfte, quittieren in den Folgejahren rund die Hälfte der Finanzchefs (CFO) der Fortune 500-Unternehmen den Dienst.

Volkswagen ist nie ein normales Unternehmen gewesen. In Wolfsburg wird niemand Vorstand, der nicht ein Standing bei der Arbeitnehmervertretung und gleichzeitig beim Staat in Vertretung des Landes Niedersachsen hat. Heute wird der Konzern de facto von den Gewerkschaftern Berthold Huber und Osterloh geleitet. Doch weder Staat noch Gewerkschafter haben in der Leitung eines Unternehmens etwas zu suchen, das ist nicht ihr Metier. Das Ergebnis ist, dass die VW-Angestellten die am höchsten entlohnten Beschäftigten der Branche sind, dagegen die Profitabilität des Werkes Wolfsburg traditionell schwach ist und der Konzerngewinn im Ausland erwirtschaftet werden muss. Gleichzeitig sind die Wolfsburger die Schlafmützen der Automobilindustrie, die noch jeden Trend zielgerichtet verschlafen haben. Und als Gipfel installiert diese Inzuchtgesellschaft ein paternalistisches System, wo Duckmäusertum gedeihen konnte.

Der Skandal um VW eignet sich sicher zu vielem, aber sicher nicht zur generellen Kritik am Kapitalismus. Sondern eher der Verletzung der Ordnungspolitik (Neoliberalismus) und dem zu starken Einfluss von Staat und Gewerkschaften. Deren Handeln hat befördert, was heute kritisiert wird.

P.S.: Die Managergehälter sind erst so exorbitant gestiegen, als der Staat meinte, mit Transparenzregeln die Vergütung der Spitzenkräfte aufdecken zu müssen. Der Staat bediente damit ein Bedürfnis, kritisiert aber das Ergebnis. Denn tatsächlich traten die Topmanager in einen Konkurrenzwettlauf ein. Ausgerechnet beim vom Staat und Gewerkschaften unsäglich kontrollierten VW-Konzern reüssierte seit Josef Ackermanns Abgang (Deutsche Bank) der bestbezahlteste Unternehmenslenker in Deutschland. Ganz anders das Bild beim familiengeführten BMW-Konzern in München, wo traditionell niedrige Spitzengehälter gezahlt werden. Gelegenheit zum Nachdenken? I wo!

{ 6 comments… add one }
  • R.A. 30. September 2015, 11:09

    Sehr schöner Beitrag.
    Auch wenn Journalisten das gerne gleichsetzen: Bei Vorständen gibt es eben keinen „Rücktritt“ wie bei Politikern. Das wäre nämlich (als einseitige Erklärung) eine grobe Verletzung des Arbeitsvertrags.

    Etwas Skepsis habe ich hier:
    „Als abhängig Beschäftigter und nicht mehr leitender Angestellter wird er übrigens jetzt vom Betriebsrat vertreten.“
    Ich kenne hier die genaue Gesetzeslage nicht, habe das aber anders erlebt. M. E. bleibt Winterkorn auch ohne konkrete Funktion erst einmal leitender Angestellter, der Betriebsrat ist nicht einspruchsberechtigt.

    Und eine Anmerkung:
    „Die Managergehälter sind erst so exorbitant gestiegen, als der Staat meinte, mit Transparenzregeln die Vergütung der Spitzenkräfte aufdecken zu müssen.“
    Das ist richtig. Die Transparenz hat erst zum richtigen Wettlauf um immer höhere Gehälter geführt.

    Andererseits: Es wird oft übersehen, daß auch früher die Manager um Größenordnungen besser entlohnt wurden als einfache Arbeitnehmer. Nur erfolgte diese Entlohnung zu einem guten Teil nicht-monetär – der reine Gehaltsvergleich führt also in die Irre.

    In den 50ern war es z. B. noch völlig üblich, daß Vorstände von der Firma eine Direktorenvilla gestellt bekamen (mit Personal!) und nicht nur den Firmenwagen, sondern auch den Chauffeur. Und das alles im Prinzip auf Lebenszeit, vorzeitige Kündigungen waren völlig unüblich.

    Wenn man den echten Lebensstandard über die ganze Vorstandszeit und danach vergleicht, war die „Schere“ zwischen oben und unten früher stärker geöffnet als heute.

  • Tim 30. September 2015, 11:53

    Sehr schöner Beitrag, dem ich weitgehend zustimmen würde. Bei Volkswagen ist ja vieles von dem Realität, was sich viele Bürger grundsätzlich auch für andere Unternehmen wünschen – großer Staatseinfluß, geringe Gewinne für die Eigentümer, starke Beteiligung der Arbeitnehmer an (auch) strategischen Entscheidungen. Der Sumpf, der dabei beinahe zwangsläufig entsteht, scheint aber niemanden wirklich zu interessieren.

  • Stefan Sasse 30. September 2015, 15:04

    Vielen Dank für die vielen hilfreichen Hintergrundinformationen. Ich möchte für den Kontext auch betonen, dass ich den Artikel geschrieben habe, bevor die Informationen bezüglich der möglichen persönlichen Haftung Winterkorns in der Presse debattiert wurden. Das scheint ja wenigstens in dem Umfang eher ungewöhnlich zu sein.

  • Stefan Sasse 1. Oktober 2015, 14:06

    Mir scheint im Bankensektor sind direkte Feuerungsmöglichkeiten verbeiteter: http://www.theatlantic.com/notes/2015/09/how-to-fire-someone/408124/

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