Besorgen Sie mir die Daten!

In den USA gibt es ein Programm namens „Scared Straight“, bei dem auffällige High-School-Schüler eine Tour ins Gefängnis bekommen und dort die Bedingungen sehen und mit Tätern reden können. Die Idee dahinter ist, dass die Erfahrung so abschreckend wirkt, dass sich die Schüler später zweimal überlegen, ob sie Verbrechen begehen. Der Haken: das Programm funktioniert nicht. Schüler, die an Scared Straight teilgenommen haben, begehen danach mit höherer Wahrscheinlichkeit Verbrechen als solche, die nicht daran teilgenommen haben. Tatsächlich ist der Effekt so stark, dass eine Schätzung davon ausgeht, dass pro Dollar, der in Scared Straight investiert wird, 200 Dollar gesellschaftlicher Schaden angerichtet werden. Bis die entsprechende Studie durchgeführt worden war, ist dieser Zusammenhang völlig unbekannt geblieben. Scared Straight ist dabei kein Einzelfall: in einem Versuch mit zehn aktuell laufenden Regierungsprogrammen konnten gerade einmal 15% der Teilnehmer korrekt prognostizieren, welche davon erfolgreich waren. Teilnehmer, die einfach zufällig auf Antworten klickten, hatten mehr Erfolg als die, die anhand der Beschreibungen darüber nachdachten. Wer das selbst ausprobieren will, kann es hier tun. In dem Wissen, dass die Intuition vermutlich oft falsch liegt, habe ich immerhin 50% der Antworten richtig hinbekommen. Wäre ich Kongressabgeordneter, wäre die Hälfte meiner Maßnahmen nutzlos bis schädlich. Da der Anschein so trügt drängt sich natürlich die Frage auf, was stattdessen getan werden kann. Die Antwort ist: mehr Daten. Und nicht die, die die NSA sammelt.

Noch immer wird ein verblüffend hoher Anteil von Regierungsaktivitäten ohne tiefgreifende Analyse durchgeführt (durch Kontrollgruppen, experimentelle Einführung oder Kosten-Nutzen-Analysen, nur um einige Beispiele zu nennen). Stattdessen stehen lediglich Annahmen dahinter (gerne auch ideologisch motiviert). Ein Beispiel dafür ist das Elterngeld, das seine Ziele völlig verfehlte. Unter der Annahme, dass mangelnde Einkommenskompensation die (ohnehin statistisch unzureichend belegte) Geburtenarmut bei Akademikerinnen auslöse, wurde das Elterngeld anhand des Netto-Einkommens geschaffen. Zwar eine vitale und aus der Familienpolitik nicht mehr wegzudenkende Maßnahme, änderte sie am Problem selbst gar nichts. Ob dies an der Unzulänglichkeit der Maßnahme selbst liegt oder daran, dass die Geburtenrate der Akademikerinnen niemals statistisch relevant niedriger war, ist immer noch unklar. Gerade diese Unklarheit belegt den Punkt.

Datenbasierte Politik (ebenso wie datenbasierter Journalismus) sind Trends der letzten halben Dekade. Einige Regierungen sind deutlich schneller darin, diesen Trend aufzugreifen als andere, vor allem die USA und Großbritannien. Die oberste Regulierungsbehörde OIRA, die direkt dem Weißen Haus untersteht, ist etwa ganz dem Prinzip der Kosten-Nutzen-Analyse und rigorosen Datenanalyse verpflichtet (und seit Cass Sunsteins Amtszeit 2009-2012 auch dem Nudging, aber das ist ein anderes Thema). Wie Scared Straight und andere Programme zeigen, sind wir allerdings immer noch am Anfang dieser – nicht unumstrittenen –  Entwicklung. Bevor wir allerdings darauf eingehen, warum jemand ernsthaft etwas gegen effiziente Regierungsprogramme haben kann, müssen wir zuerst noch kurz den Nutzen datenbasierter Politik beleuchten.

Zum einen sparen effiziente Programme Geld, ohne dass deswegen auf Leistungen des Staates verzichtet werden muss. Dies ist ganz besonders im Interesse der Steuerzahler, die auf diese Art deutlich mehr für ihr Geld bekommen. Zum anderen können auf diese Art schädliche Programme vermieden werden, denn viele haben lästige Nebeneffekte. So gehört es etwa zum Dauerthema von Liberalen aller Schattierungen, die fehlenden Anreize zur Arbeitssuche bei hohen Sozialleistungen zu bejammern. Auch wohlmeinende Programme wie eine Mietbremse können allerlei lästige bis schädliche Nebenwirkungen haben. Durch datenbasierte Ansätze lassen sich diese früher identizieren und entweder durch schlauere Regeln umgehen oder aber führen zum Abbruch des Programms. Und zuletzt reduziert ein solcher Ansatz den Anteil der politics (wie parteipolitische Grabenkämpfe) und erhöht den der policies (etwa die Frage, ob die Mietpreisbremse auf dem Land, in der Kleinstadt und in der Metropole unterschiedlich greift und welchen Einfluss die Lebenshaltungskosten haben). Und genau da rennen wir in Probleme.

Bereits jetzt wird allerorten bedauert, dass die zeitgenössische Parteienlandschaft stark dem Konsens verpflichtet ist und die Unterschiede etwa zwischen SPD und CDU nur gradueller Natur sind. Es ist dieser Boden, auf dem Merkels „assymetrische Demobilisierung“ gedeiht. Je mehr die Politik sich auf datenbasierte Ansätze verlässt, desto mehr verlagert sich die Regierungsarbeit weg vom Parlament in die Exekutive, und desto vorherrschender werden technokratische Ansätze und Problemlösungsmethoden. Für die Demokratie kann effizientere Regierung – der, wenn gefragt, jeder seine volle Unterstützung zusichern würde – tatsächlich Gift sein. Nicht umsonst sind es die großen, ideologisch motivierten Programme – etwa Herdprämie und Ausländermaut, nur um zwei zu nennen -, die weitgehend ohne vorherige Analyse oder belastbare Datengrundlage gestartet werden und hauptsächlich der Mobilisierung der eigenen Basis dienen. Das mag man bedauern, aber ohne solche Maßnahmen fehlt der Demokratie das Schmiermittel, und die Politik entfernt sich noch weiter vom Volk als ohnedem.

Zudem ist und bleibt Politik kein Geschäft, das komplett berechnbar wäre. Selbst die rigoroseste Analyse mag sich am Ende als falsch herausstellen. Betreibt man daher die analysebasierte Politik mit zuviel Eifer, kann es sein, dass effektiv mit den Methoden der Betriebswirtschaftslehre Politik gemacht wird und man sich der Versuchung hingibt, jeden Faktor in Zahlen zu gießen, und wo für diese keine empirische Basis besteht einfach attraktiv-komplizierte Formeln zu erfinden. Schnürt sich die Politik derart in ein Korsett, kommt das System zum Stillstand und kann nur noch winzige Reförmchen an bestehenden Regelungen produzieren, aber nicht mehr auf große Probleme reagieren, die sich vielleicht mittlerweile aufgetan haben.

Macht man sich aber bewusst, welche Grenzen bei datenbasierten Ansätzen bestehen und versteht sich auf das Bohren dicker Bretter, dann stellen diese Ansätze ein wertvolles Werkzeug dar, das politische Maßnahmen deutlich zielgerichteter, effizienter und gleichzeitig günstiger gestalten kann. Es wäre daher an die Zeit, dass der Bundestag sich diesen Ansätzen widmet.

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  • R.A. 25. August 2015, 14:52

    Ich sehe das Risiko bei den datenbasierten Prüfungen ja hauptsächlich darin, daß weder die Datenerhebung noch die Auswertung fehlerfrei und neutral erfolgen kann. Die Versuchung ist zu groß, mit den üblichen Mitteln der Auftragsstudien Erfolge nachzuweisen, wo sie eigentlich nicht existieren.

    Diese Gefahr ist in den USA geringer, weil dort eine echte Gewaltenteilung implementiert ist – das haben wir nur in Ansätzen. Da kann also eine beim Präsidenten angesiedelte Behörde durchaus mal feststellen, daß das Lieblingsprogramm des Kongreßabgeordneten X nichts taugt. Eine deutsche Behörde würde dies nur selten wagen.

    Etwas bedenklich finde ich dagegen die Argumentation, zu viel Datenbasierung (d.h. Realitätsnähe und Qualität) würde die politische Auseinandersetzung erschweren. Das hieße de facto: Die GroKo braucht für ihr Funktionieren milliardenschwere Fehlleistungen.

    Die beste Lösung wäre aber wohl deutlich, die Anzahl und den Umfang von politischen Maßnahmen deutlich zu reduzieren – angesichts der zitierten Zahlen würde eine solche Reduzierung ganz überwiegend Maßnahmen treffen, die ohnehin nur Schaden anrichten.

    • Stefan Sasse 25. August 2015, 20:00

      Du überbewertest die Gewaltenteilungssache. Da die OIRA dem Weißen Haus untersteht, ist sie natürlich genauso parteipolitisch eingebunden. Der Präsident wird seine Behörde kaum die eigene Partei abschießen lassen. Wenn die Behörde aber richtig designt ist ist diese Gefahr auch in Grenzen zu halten. Instutionen wie der Bundesrechnungshof oder das Bundesamt für Statistik funktionieren bei uns ja auch recht problemlos.

      Und ja, Politik braucht für das Funktionieren milliardenschwere Fehlleistungen. Das ist bedauerlich, aber kaum zu ändern und findet sich bei allen Parteien, sei es als aufgeblasene Sozialleistung, völlig miserable Steuersenkung oder als populistische Strafmaßnahme.

  • Ralf 25. August 2015, 18:35

    Hmmm … also ich hab bei dem Test 50% richtig gelegen und selbst da wo ich falsch lag, war es nie so, dass ich einen postiven Effekt bei einer Massnahme vermutete, die tatsaechlich einen negativen Effekt erzeugte oder andersrum. Die die so komplett daneben liegen, sind wohl die Anhaenger der „Zero Tolerance-Harte Strafen-Mehr Gefaengnis-Bootcamp Drill-Einschuechterung-Abschreckung“-Fraktion.

    Dazu kommt, dass der Readout bei manchen Massnahmen zumindest bedingt zweifelhaft ist. So lag ich beispielsweise falsch mit der Annahme, regelmaessige Besuche von Schwestern/Aerzten/Sozialarbeitern bei aelteren Menschen wuerden einen signifikanten Effekt auf deren Lebenserwartung haben. Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, heisst es trotzdem nicht, dass ein entsprechendes Programm sinnlos ist. Als ehemaliger Zivildienstleistender weiss ich, wie sehr sich alte Menschen ueber Besuch und etwas Kommunikation freuen. Viele, gerade wenn sie keine Verwandten haben, die sich um sie kuemmern, lebten nur fuer den einen Tag in der Woche, in der der Zivi zu Besuch kam.

    Auch ist es moeglich, dass sich der Gesundheitszustand und damit die Lebensqualitaet der aelteren Menschen deutlich bessert, wenn sie betreut werden. Das ist auch ohne einen messbaren Effekt auf die Lebenserwartung moeglich. Das Programm nur ueber letzteren Parameter zu beurteilen, greift deshalb aus meiner Sicht zu kurz.

    • Stefan Sasse 25. August 2015, 20:08

      Dieser Befürchtung habe ich ja im Artikel Ausdruck verliehen. Aber dein Krankenschwester-Besuch-Beispiel illustriert gut den Punkt: das Programm tut nicht, was es soll, hat aber einen netten Seiteneffekt. Die Frage wäre nur, ob es nicht sinnvoller wäre, dieses Programm anders zu gestalten und Sozialarbeiter statt Krankenpfleger einzusetzen (oder zumindest ergänzend zu nutzen). Sinnvoller wäre dies sicher, als die Zeit des medizinischen Personals auf reine Sozialarbeit zu verwenden.

      • Ralf 26. August 2015, 00:33

        Stimmt das denn? Ist es das erklaerte einzige Ziel dieses Programms die Lebenserwartung der Betreuten zu erhoehen? Oder war das von Anfang an nur einer der Faktoren, um die es ging?

        Was das Ersetzen medizinischen Personals durch Sozialarbeiter angeht, das waere in diesem konkreten Programm moeglicherweise fuer einen Teil der Betreuten in der Tat sinnvoll. Moeglicherweise aber auch nicht. Moeglicherweise ist es fuer manche der Kunden eben doch nicht verkehrt, wenn da regelmaessig jemand mit medizinischem Fachverstand vorbeischaut. Moeglicherweise wuerde dann rechtzeitig erkannt, wenn bei jemandem z.B. Alterdemenz einsetzt. Durch fruehzeitiges Gegensteuern koennte bei dem Betroffenen eventuell der Verlauf der Krankheit verzoegert werden. Das wuerde zu einem Gewinn der Lebensqualitaet fuehren, auch wenn es das Leben insgesamt nicht verlaengert. Aehnliches gilt fuer die Betreuung von Verletzungen oder Entzuendungen, wenn jemand z.B. lange auf der selben Seite liegt. Sowas im Fruehstadium zu entdecken, hilft moeglicherweise Schaden und Schmerzen zu lindern.

        • Stefan Sasse 26. August 2015, 09:27

          Klar! Genau darum geht es mir ja – dass du die Programme feintunest. Du musst schauen, was die Leute brauchen (empirisch) und dann anpassen. Irgendwann kommt man dann auf eine brauchbare Formel, à la „jeder dritte Besuch ist von Medizinern“ oder so was. Das weiß ich aber eben nur, wenn ich Daten erhebe.

  • Ariane 26. August 2015, 22:20

    Hm, ich sehe das auch etwas zwiespältig. Rückwirkend halte ich es für eine gute Sache, wenn überprüft wird, ob eine Maßnahme positive oder negative Effekte hat. Genau wie ich es gut finden würde, wenn Gesetzesänderungen flexibler angegangen werden würden, so dass man einfacher gegensteuern kann, wenn das ganze irgendwie aus dem Ruder läuft.
    Was anderes ist es, wenn man versucht, anhand von Daten die Zukunft vorherzusagen. Dass das nicht so wirklich funzt, sieht man ja meistens schon an den „super“ Vorschlägen, mit denen Amazon oder Netflix ständig um die Ecke kommen. ^^
    Selbst mit den besten Daten der Welt geht das meiner Meinung nach nicht. Das mag gut sein, um eine Behörde effektiver zu gestalten und Kleinigkeiten zu verändern. Aber Politik ist (und sollte es auch sein) eben mehr als effiziente Bürokratie und die großen gesellschaftlichen Fragen lassen sich so nicht lösen, da gehts eben auch um Psychologie, Symbolik und Ideologie. Imo hat Symbolpolitik eh einen unerhört schlechten Ruf.
    Gerade Merkel hat ja so eine Vorliebe für Technokratengedöns und Verfahrensfragen, dass man ja manchmal verzweifeln möchte, da hätte ich lieber ein paar vernünftige Instinktpolitiker. Die können ja für die Feinarbeit und rückblickende Dinge gerne darauf zurückgreifen.
    Populistische Gesetze ohne Sinn und Verstand halte ich aber für genauso falsch wie datenbasiertes Technobubble, die sich nur noch auf Effizienz konzentriert.

  • Am_Rande 31. August 2015, 09:59

    Einmal eine Frage eines „Liberalen ziemlich deutlicher Schattierung“:

    Kennen Sie, Herr Sasse, die Aufsatzsammlung „Ce qu’on voit et ce qu’on ne voit pas“ von Frédéric Bastiat aus dem Jahre 1850?

    Ich frage, weil ihre Anmerkung: „Auch wohlmeinende Programme wie eine Mietbremse können allerlei lästige bis schädliche Nebenwirkungen haben“ dort schon behandelt wird.

    Eine „Nebenwirkung“, die auftreten muss – nicht „kann – ist, dass bei gedeckelten Mieteinnahmen, auch der Anreiz gemindert wird, neue Mietwohnungen zu erstellen.

    Aber wer zählt die Wohnungen, die also nie gebaut werden?

    • Stefan Sasse 31. August 2015, 14:25

      Nein, kenne ich nicht. Ich gehe auch davon aus, dass das Problem mit den Mieten eher bei zu strikten Bauregulierungen liegt als bei den Mietpreisen per se, aber darauf wollen Sie ja glaube ich gar nicht hinaus. Auch eine Mietpreisbremse kann ihren Sinn haben – wenn etwa Wohnungen nicht vermietet werden, weil der Vermieter davon ausgeht, bald noch höhere Preise bekommen zu können oder so Unfug, aber erneut, auch hier sollte man am besten mit Versuchsgebieten arbeiten. Dann sieht man ja, wie sich der Markt entwickelt. Da der Mietmarkt nicht sonderlich flexibel ist – Leute ziehen nicht von Stuttgart nach Leipzig, weil da die Miete 100 Euro günstiger ist – sollte das möglich sein.

      • Am_Rande 31. August 2015, 17:30

        Schade, dass sie die Aufsatzsammlung nicht kennen.

        Denn sie zeigt generell auf, was das Problem beim Regierungshandeln ist – die positiven Effekte werden schnell sichtbar; (im Beispiel: die finanzschwächere Familie kann in die mietgebremste Wohnung einziehen); die negativen Effekte, die langfristig auftreten, werden eben nicht sichtbar; (im Beispiel: die nächste finanzschwächere Familie kann in die mietgebremste Wohnung zwei Jahre später nicht einziehen, weil es die Wohnung gar nicht gibt.)

        Aber bei einer Evaluierung des Regierungshandelns ist eben nur das eine messbar, das andere eben nicht.

        Dass Regierungshandeln oft aber auch gar keine positiven Ergebnisse erzielt – wie das Beispiel „Scared Straight“ – überrascht den Liberalen insofern nicht, weil Regierungshandeln ja keinen höheren Zielen folgt, sondern stets der „politician’s logic“:

        We must do something
        This is something
        Therefore, we must do this.

        Wenn dabei kein Schaden angerichtet wird, so ist es reiner Zufall.

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