Wie könnte eine europäische Identität aussehen?

Im letzten Beitrag haben wir die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit einer europäischen Identität diskutiert. Wie könnte so eine Identität aber aussehen? Europa fehlt ja schon ein ordentlicher Gründungsmythos. Statt Valley Forge und Independence Day – die Montanunion. Keine Gründungsväter, keine Federalist Papers. Selbst die Flagge gilt erst seit 1986. Dazu kommt die Frage, was man überhaupt ins Zentrum Europas stellen will. Demokratie? Frieden? Rechtsstaat? Freiheit? Den gemeinsamen Markt? Die Agrarpolitik? Die Einfuhrbestimmung für Karamellbonbons?

Befassen wir uns zuerst mit den historischen Gegebenheiten. Der Zweite Weltkrieg lässt sich aus der Entstehungsgeschichte der EU nicht wegdenken, die als Montanunion und später EWG ursprünglich der Kontrolle der deutschen Rüstungsindustrie diente. Aus diesem geschichtlichen Ansatz lässt sich der Friedensaspekt ableiten: die EU dient danach vorrangig dazu, kriegerische Konflikte in Europa zu verhindern. Tatsächlich gab es zwischen Mitgliedern der EU seit ihrer Gründung keinerlei bewaffneten Konflikte (sehr wohl allerdings in Europa). Da die Schrecken des europäischen Krieges aber für die aktuellen Generationen bereits sehr weit weg sind (bereits Schröder war, im Gegensatz noch zu Helmut Kohl, nicht mehr von den Geschehnissen geprägt), ist dies ein reichlich theoretischer und kaum hinreichender Aspekt.

Die EU hat sich allerdings auch von früher sechs auf heute 28 Mitgliedsstaaten erweitert. Um aufgenommen werden zu können, müssen Staaten für die EU gewisse Mindestbedingungen erfüllen (der so genannte acquis communitaire), die wir sowohl unter dem Freiheitsaspekt als auch unter dem Rechtsstaatsaspekt fassen können. Ein Land, das in die EU aufgenommen werden will, muss rechtsstaatliche Eigenschaften aufweisen und seinen Bürgern demokratische Freiheitsrechte einräumen. Gleichzeitig sieht sich die als Garant dieser Freiheitsrechte. Diese Vorstellung war treibend hinter den Süd- und Osterweiterungen, als die ehemaligen Militärdiktaturen Spaniens, Griechenlands und Portugals und die früheren Sowjetdiktaturen in Osteuropa aufgenommen wurden. Die Hoffnung war, dass die EU sich als stabilisierender Faktor in deren freiheitlicher Entwicklung erweisen würde. Trotz einer insgesamt positiven Leistungsbilanz fallen hier jüngste Fehlleistungen wie in Ungarn deutlich ins Auge.

Der Freiheitsaspekt lässt sich seit Schengen auch als Mobilitätsaspekt lesen. Die EU ist seit 1995 ein Raum ohne echte Grenzen. Die Einhegung europäischer Staaten mit den Grenzpunkten ist mittlerweile Geschichte. Grundsätzlich können EU-Bürger innerhalb der EU Freizügigkeit genießen. In diesem Zusammenhang ist auch die EU-Staatsbürgerschaft wichtig, die dem reisenden Bürger in jedem EU-Land dieselben Rechte gewährt und damit Sicherheit gibt.

Zuletzt wäre da der Wirtschaftsaspekt: In der Realität ist er das Kernstück der EU; als Identitätsmerkmal ist er allerdings mit Vorsicht zu genießen. Gerade der Wirtschaftsaspekt dient den nationalen Regierungen wie kein anderer als Sündenbock für unpopuläre Politiken und wird von den Bürgern als Bedrohung empfunden. Gleichzeitig kann man mit dem gemeinsamen Markt kaum Emotionen und Begeisterung wecken, weswegen dieses Element trotz seiner in der Realität hohen Bedeutung vermutlich eher eine zweite Geige spielen dürfte.

Eine europäische Zivilreligion würde sich daher vermutlich auf die EU als einer Garantin von Frieden, Freiheit und Recht stützen müsen. Das Problem (für die EU) ist es, dass dies ja bereits von den Nationalstaaten garantiert wird (andernfalls hätten sie ja nicht Mitglied werden können), weswegen sich die EU gegen die Nationalstaaten profilieren müsste. Wir sehen Ansätze bereits in einigen EUGH-Entscheidungen. Gleichzeitig wäre eine Umgestaltung des politischen Systems sinnvoll, die gar nicht schwerwiegend sein müsste. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wahlrechts mit echten europäischen Parteien und Spitzenkandidaten dürfte die Perzeption bereits deutlich beeinflussen. Wenn ich erst einmal ein Kreuz für den spanischen Spitzenkandidaten meiner bevorzugten konservativen Partei mache, ist bereits viel getan. Der Versuch, die Wahl 2014 als Richtungswahl zwischen dem Deutschen Martin Schulz und dem Luxemburger Jean-Claude Juncker zu interpretieren, geht bereits in diese Richtung.

Gleichzeitig bräuchte es wohl eine penetrantere Zurschaustellung europäischer Symbolik, also vor allem der Flagge. Diese weht zwar schon mehr oder minder gleichberechtigt vor vielen Behörden, könnte aber noch weit größere Verbreitung finden. Auch ein europäischer Feiertag, der entsprechend zelebriert wird (ähnlich dem früheren französischen Nationalfeiertag fête de la fédération) dürfte hilfreich sein.

Im besten Fall verstärkten sich diese Maßnahmen gegenseitig und schaffen einen progressiven Handlungsdruck innerhalb der EU, der zu einer Öffnung in demokratischer Hinsicht und einem Wettrennen mit den Nationalstaaten um die freiheitlichere Ausrichtung führt. Im schlechtesten Falle verschaffen sie ohnehin fragwürdigen Politiken – der Missachtung nationalstaatlicher Souveräntität im Gewand der Rettungspolitik oder der menschenrechtsverachtenden Abwehr von Flüchtlingen – zusätzliche Legitimität.

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  • Ariane 21. April 2014, 00:32

    Mit dem größten Teil des Artikels gehe ich durchaus konform, meiner Meinung nach müsste die politische Umgestaltung aber weitreichender sein. Mein Wunsch wäre ein Zwei-Kammern-System. Ähnlich wie Repräsentantenhaus – Senat. Das Parlament könnte nach Bevölkerungsgröße besetzt sein und die Kommission könnte einen oder zwei Abgeordnete pro Land schicken. Beide Kammern müssten sowohl Initiativ- als auch Vetorecht haben. Vielleicht bräuchte man dann noch einen Kompromiss für dringliche Angelegenheiten, so wie in den USA mit dem Präsidenten. Das müsste dann aber gesamteuropäisch gewählt werden können und dürfte nur eingeschränkte Vollmachten haben.
    Ich finde, heute ist ein riesiges Problem, dass bei wichtigen Fragen (Eurokrise zb) nur die Kommission vorkommt, während das Parlament nur in die Schlagzeilen kommt, wenn die Roaming-Gebühren abgeschafft oder Warmhaltezeiten der Kaffeemaschinen geregelt werden. Was hilft es mir, dass ich den Luxemburger Juncker ins Parlament wählen kann, wenn ich denke, die Leute sind nur für unbedeutende (und nervige) Probleme zuständig? Kann jemand wirklich spontan 5 oder mehr EU-Parlamentsabgeordnete nennen? Mir fallen spontan nur drei ein und ich sehe mich schon als politisch überdurchschnittlich interessiert. Und dann (darüber könnte ich mich ewig und drei Tage aufregen) ist der Hauptpreis der Spitzenkandidaten auch gar nicht im Parlament, sondern Kommissionspräsident (vielleicht). Ich soll nun also losgehen und ein Parlament wählen, von dem ich nicht weiß, ob es auch mal etwas bedeutendes tut oder doch nur Gurken vermisst und einen Spitzenkandidaten wählen: der Sieger taucht dann aber in einer ganz anderen Institution auf, auf die ich nur ganz geringen, indirekten Einfluss habe. Äh? Ich wähle hier doch auch nicht eine neue deutsche Regierung und plötzlich ist Merkel nicht Kanzlerin, sondern Bundespräsidentin und im Bundestag regiert jemand ganz anderes, den vermutlich niemand kennt.
    Zur Symbolik und „Bürgermitnahme“ gebe ich dir recht, ich hatte neulich auf Twitter eine spontane Idee zu einer Art Reiseparlament. Das habe ich hier mal genauer aufgekritzelt: http://tagundnachtgleiche.blogspot.de/2014/04/das-reiseparlament-ein.html

    • Stefan Sasse 21. April 2014, 19:51

      Ja, idealerweise wäre das natürlich so wie du das beschreibst, aber realistisch ist es nicht.

  • In Dubio 21. April 2014, 09:04

    Rhetorisch fragt Stefan Sasse, was eine europäische Identität ausmachen könne, um dann wie der Ehemann in Strickjacke zu enden: Man müsste mal. Doch bis dahin hat ihn längst seine gefrustete Gattin verlassen. Wir müssen gar nichts mal. Menschen schließen sich zu etwas zusammen, weil es entweder ihrem inneren Antrieb entspringt oder sie eine (zeitweise) Notwendigkeit darin erkennen. Mit ein bisschen Fähnchen hissen, kommt man nicht wirklich weiter. Man müsste mal…

    Wo ist der geschichtliche Ansatz des Historikers? Ein geschichtlich Interessierter könnte z.B. fragen, wie die Nationalstaaten entstanden sind, denn auch das war kein naturgegebener Prozess. Warum haben die Menschen die Fürstentümer aufgegeben, warum gab es nationale Bestrebungen in Deutschland? Im 18. / 19. Jahrhundert hatten sich eben diese regionalen Fürsten überlebt, die Menschen waren der Gängelung, der Enge und der Handelsbeschränkungen überdrüssig. Richtig, ein wichtiger Gedanke des aufsteigenden Nationalbestrebens waren Freiheit und offene Märkte, Arbeitnehmer dagegen gab es kaum.

    Ein Historiker würde auch fragen, was ein so großes Imperium wie das Römische Reich hat so lange überleben lassen, warum der Vielvölkerstaat UdSSR zerfallen und das Vielvölkerland USA hat blühen lassen. Bekanntlich genossen die von den Römern eroberten Gebiete weitgehende Autonomie, selbst so etwas Elementares wie die Religion wurde nicht oktroyiert. Moskau dagegen wollte bis in die kleinste Kolchose bestimmen. Und die Vereinigten Staaten gründen überhaupt auf dem Freiheitsgedanken, viel sonstiges Verbindendes ist da nicht.

    Warum ist die Champions League ein so erfolgreiches Produkt? Weil sie den wöchentlichen Kampf der Nationen – Bundesliga, Premiera Division, Premiere Division – inszeniert als Kampf der Titanen. Bis dagegen Bayern-Fans von Madrid nach München zum einem Spiel des heimischen FCB gegen Spartak Moskau tingeln, wird noch geraume Zeit vergehen.

    Mag sein, dass sich der Nationengedanke überlebt hat, Anzeichen sprechen dafür. An ihre Stelle könnte ein großer europäischer Staat mit starken Regionen treten. Dieser muss aber mehr bieten als ein Mehr an Bürokratie mit blauer Fahne. Es ist absurd anzunehmen, wir könnten die sozialpolitischen Vorstellungen von Spaniern und Italienern mit dem der Deutschen, Balten und Skandinavier zusammenbinden. Ein Staat beginnt nicht mit Schutzrechten, sondern der Garantie von Freiheit. Wenn kleine Start-up-Unternehmer in Sevilla neue Kapitalgeber als Crowdfunder in Frankfurt finden können, so stärkt das den europäischen Einigungsgedanken weit mehr als eine EU-Richtlinie zum Kündigungsschutz.

    Europa war zu lange eine Kopfgeburt.

    • Stefan Sasse 21. April 2014, 19:53

      Da musst du dir jetzt aber den Vorwurf gefallen lassen zu gackern ohne zu legen. Wie soll denn das mit der Freiheit genau aussehen? Das ist mir aus deinen Worten noch nicht klar.

      • In Dubio 22. April 2014, 08:41

        Genau. Ich weiß es nicht. Nichts anderes habe ich behauptet. Die EU sollte sich weiter für Handelsfreiheit positionieren, ein Scheitern von TTIP hielte ich für katastrophal. Ja, ich weiß, Kritik allerorten. Ich frage mich nur, wann in Westeuropa zuletzt eine Technologie oder ein universal geltender Vertrag sofort ein positives öffentliches und mediales Echo fand. Mir fiel tatsächlich nur das Farbfernsehen ein.

        Nur ist das nicht allein Freiheit. Wichtige Freiheitsrechte wurden im Verfassungsvertrag so verbuddelt, dass sie kaum noch jemand findet. Wir sind eine Gemeinschaft von 500 Millionen Bürgern und schaffen es nicht, uns als gleichberechtigter Partner gegenüber den USA zu positionieren, wenn es um Rechte der Reisefreiheit und Datenschutzbestimmungen geht. Die EU wird zahnlos, wenn eines ihrer Mitgliedsländer Grenzbäume errichtet oder gegen die Aufnahmebedingungen verstößt.

        Weniger ist manchmal mehr. Leider denkt nur eine Minderheit tatsächlich so.

        • Stefan Sasse 22. April 2014, 11:47

          Aber brauche ich zur Durchsetzung dieser Freiheitsrechte nach außen nicht gerade mehr Integration für mehr Durchschlagskraft?

        • In Dubio 22. April 2014, 13:11

          Klar. Aber Du scheinst in Bezug auf mich einem Missverständnis zu unterliegen: Ich bin sehr wohl für ein Mehr an Integration (unter Einbezug der Briten!), aber ich bin nur einer von 500 Millionen. Und ich frage auch: was ist realistisch? Das, was ich wünsche, ist nicht unbedingt das, was machbar ist. Faule Kompromisse hatten wir früher zur Genüge.

  • Ralf Leonhardt 22. April 2014, 00:32

    Eine europäische Zivilreligion würde sich daher vermutlich auf die EU als einer Garantin von Frieden, Freiheit und Recht stützen müsen.

    Naja, wie Du ja selbst schreibst, haben wir Frieden, Freiheit und Recht bereits. Dafuer brauchen wir die EU also nicht. Die EU koennte sich in diesen Feldern erst dann wirklich den Nationalstaaten gegenueber profilieren, wenn in letzteren Unfreiheit und Unrecht herrscht. Und mein Eindruck, gerade mit Blick auf etwa Ungarn ist, dass sich die EU da lieber nicht die Finger schmutzig machen will anstatt sich zu engagieren.

    Ein Feld, dass Du hingegen garnicht nennst und in dem sich die EU tatsaechlich im Sinne der Buerger profilieren koennte, ist der Sozialstaat. Den gibt es sonst naemlich praktisch nirgendwo. In den USA ist das „soziale Netz“ kaum der Rede wert. In China hoert man auch nicht viel von Sozialstaat. Und auch sonst kann ich in der Welt wenig Engagement fuer soziale Sicherheit entdecken. Der Sozialstaat ist aber eine europaeische Erfindung und zwar eine hervorragende: Jeder Buerger hat das Recht auf ein Dach ueber dem Kopf, das Recht auf ausreichend Essen und Trinken, das Recht auf ein Minimum an Teilhabe an der Gesellschaft, das Recht auf eine angemessene Behandlung im Krankheitsfall, auch wenn sie teuer ist, das Recht auf ein Stueck soziale Sicherheit. All dies ist in den vergangenen Jahren neoliberaler Ideologie zunehmend ausgehoehlt worden. Dennoch ist soziale Sicherheit unheimlich populaer bei den Buergern und zwar in Ost und West, sowie in Sued und Nord. Hier koennte sich die EU also tatsaechlich im Sinne der Buerger profilieren und dem amerikanischen und chinesischen Gesellschaftsmodell ein klares europaeisches Gesellschaftsmodell entgegensetzen.

    Der Freiheitsaspekt lässt sich seit Schengen auch als Mobilitätsaspekt lesen. Die EU ist seit 1995 ein Raum ohne echte Grenzen. Die Einhegung europäischer Staaten mit den Grenzpunkten ist mittlerweile Geschichte. Grundsätzlich können EU-Bürger innerhalb der EU Freizügigkeit genießen. In diesem Zusammenhang ist auch die EU-Staatsbürgerschaft wichtig, die dem reisenden Bürger in jedem EU-Land dieselben Rechte gewährt und damit Sicherheit gibt.

    Klingt alles super, aber ich hab das Gefuehl, die Nationalstaaten sind in all diesen Aspekten eher wieder dabei die Freizuegigkeit zurueckzunehmen. Ich kriege zwar nicht mehr alle News aus Europa mit, aber ich erinnere mich an immer wieder neue Diskussionen doch wieder Grenzekontrollen einzufuehren, meist unter dem Hinweis auf Terrorismus. Auch die Diskussionen in Deutschland und Grossbritannien ueber die „Abwehr“ rumaenischer und bulgarischer Einwanderer will irgendwie garnicht passen zum Freizuegigkeitsideal, das aus Deinen Zeilen spricht …

    Gleichzeitig wäre eine Umgestaltung des politischen Systems sinnvoll, die gar nicht schwerwiegend sein müsste. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wahlrechts mit echten europäischen Parteien und Spitzenkandidaten dürfte die Perzeption bereits deutlich beeinflussen. Wenn ich erst einmal ein Kreuz für den spanischen Spitzenkandidaten meiner bevorzugten konservativen Partei mache, ist bereits viel getan. Der Versuch, die Wahl 2014 als Richtungswahl zwischen dem Deutschen Martin Schulz und dem Luxemburger Jean-Claude Juncker zu interpretieren, geht bereits in diese Richtung.

    Dass eine Umgestaltung des politischen Systems sinnvoll waere, da bin ich ganz bei Dir. Eigentlich ist das noch viel zu harmlos ausgedrueckt. Eine Umgestaltung des politischen Systems, insbesondere eine Aufwertung des europaeischen Parlaments, ist absolut essentiell, wenn man irgendwann mal erreichen will, dass sich die Buerger mit der EU politisch identifizieren. Wie Ariane ja auch schon sagte, wenn der Waehler nur entscheiden darf, wer auf dem Abstellgleis zuschaut wie die Regierungen alle wichtigen Entscheidungen in Hinterzimmern auskungeln, dann darf man sich nicht wundern, wenn sich der Buerger enttaeuscht wegdreht. Das europaeische Parlament nimmt deshalb ja auch kein Mensch ernst. Dass sieht man schon an der Entwicklung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen in Deutschland in den letzten Jahren (56.8% (1994) –> 49.8% (1999) –> 45.6% (2004) –> 43.0% (2009)). Man darf auf 2014 gespannt sein. Das Bundesverfassungsgericht nimmt das europaeische Parlament ebenfalls nicht ernst. Siehe etwa hier:

    http://www.sueddeutsche.de/politik/urteil-zur-drei-prozent-huerde-das-europaparlament-ein-rummelplatz-1.1898773

    Ich kann mich auch nicht erinnern, dass der Name Martin Schulz mal irgendwo in der New York Times oder der Washington Post aufgetaucht waere. In den USA kennt den kein Mensch. Auch nicht gerade ein Zeichen, dass das europaeische Parlament als besonders wichtig erachtet wird …

    Und auf die „echten europaeischen Parteien“ und darauf, dass die Buerger ihr Kreuz beim „spanischen Spitzenkandidaten“ machen, koennen wir noch lange warten. Eben wegen des von mir schon zuvor angesprochenen Problems der Sprachbarrieren. Der Durchschnittsbuerger identifiziert sich nicht mit Politikern, die er nicht versteht. Und der Durchschnittsbuerger wird den spanischen Spitzenkandidaten nicht verstehen, wenn der auf spanisch eine rauschende Rede haelt, auch wenn sie noch so mitreissend ist. Fuer den deutschen Betrachter wird nach „Buenos dias“ das Licht ausgehen. Einem gelangweilt dahinplaudernden Simultandolmetscher, der sicher keine grosse Begeisterung ausstrahlen wird oder einem stimmungsneutral eingeblendeten Untertitel-Text wird kein Mensch grosse Beachtung schenken. Ich persoenlich konnte mir bei meinem letzten Deutschlandbesuch ehrlich gesagt noch nicht einmal die katastrophalen Uebersetzungen der Big Bang Theory im deutschen Fernsehen antun, ohne wuetend die Fernbedienung auf den Schirm zu werfen. Wenn wir gesamteuropaeische Parteien wollen, brauchen wir eine gemeinsame Sprache, die alle nicht nur „irgendwie so ein bisschen verstehen“, sondern die die Waehler ausreichend gut sprechen, dass ein Politiker damit ihr Herz ansprechen kann, sie mitreissen kann, Emotionen ausloesen kann, Publikum bewegen kann. Solange die Bedingungen dafuer nicht gegeben sind, bezweifele ich stark, dass wir ein vernuenftiges politisches System in der EU etablieren koennen. (Und ja, mir ist klar, dass es Jahrzehnte dauern wird, bis diese Bedingungen auch nur ansatzweise erfuellt sein werden).

    • In Dubio 22. April 2014, 09:07

      Sie müssen sich mal ansehen, wie die Europäer jeweils Sozialstaat interpretieren. Ein paar Beispiele:

      In Spanien bekommen Lehrer ein Pension, die ihrem letzten Gehalt entspricht. Soweit sie in den letzten beiden Jahren nur 2 Stunden die Woche gearbeitet haben, gilt der Anspruch des letzten Vollzeitgehalts.

      Wird in Italien ein Unternehmen auf ein anderes verschmolzen, so erhalten die Beschäftigten mit dem Zeitpunkt der Verschmelzung eine Abfindung von mehreren Monatsgehältern ausbezahlt. Das Arbeitsverhältnis muss vom aufnehmenden Unternehmen natürlich mit übernommen werden.

      In Lettland kann wie in Deutschland ein Mitarbeiter aus drei Gründen – betriebsbedingt, personenbedingt, verhaltensbedingt – gekündigt werden. Im Gegensatz zu Deutschland es bei der verhaltensbedingten Kündigung jedoch nicht notwendig, dass der Arbeitgeber eine Verschlechterung der Arbeitsleistung über einen längeren Zeitraum nachweist.

      Während in Deutschland Privatversicherte von der Rückkehr in das solidarische Versicherungssystem ausgeschlossen sind, ist die gesetzliche Versicherung in Norwegen oder Spanien grundsätzlich möglich.

      Der Mindestlohn in den osteuropäischen und angelsächsischen Ländern orientiert sich am Median der Erwerbseinkommen. In Deutschland und Frankreich dagegen wird hierzu das sozial Wünschenswerte herangezogen, Staaten wie Schweden oder Italien verzichten gänzlich auf einen Mindestlohn.

      Welchen Sozialstaat also meinen Sie? Jedes Unternehmen, das in einem EU-Staat investieren will, muss nicht besonders die Steuergesetze studieren, sondern muss mehrere 100.000 EUR in arbeitsrechtliche Beratung investieren, wenn es Mitarbeiter beschäftigen will. Während die Bestimmungen im Ertragssteuer- und Umsatzsteuerrecht schon zu einem guten Schritt harmonisiert sind, ist ein Konsens in sozialpolitischen Fragen ferner denn je.

      • Stefan Sasse 22. April 2014, 11:48

        Korrekt. Aber auch hier: spricht das nicht für mehr Harmonsierung?

        • In Dubio 22. April 2014, 13:19

          Siehe oben. Gerade in diesem Bereich sehe ich eine Harmonisierung als weitgehend illusorisch an. Dafür liegt unser Verständnis, was sozial ausmacht, zu weit auseinander. Die Spanier finden diese Form der Frühverrentung und üppigen Pensionsentlohnung als gerecht und erstrebenswert an. Sie lassen sich auch nicht mit dem Argument davon abbringen, dass eine solche Interpretation schlicht nicht finanzierbar ist. Nun fragen Sie mal, warum Spanien dasteht wo es steht.

          Beim AGG, das immerhin auf 4 EU-Richtlinien gründet, war es umgekehrt: Deutschland hat mehr gemacht, als die Vereinbarungen vorsahen, Lettland dagegen hat 1:1 umgesetzt. Drehen wir nun in Deutschland zurück oder verlangen von den Letten und den meisten anderen Mitgliedern, dass sie sich nach uns anpassen? Und zum Mindestlohn hatten wir die Debatte: eine Orientierung an ökonomischen Relationen ist hier schlicht nicht vermittelbar, andere wiederum weigern sich strikt, uns auf dem Pfad der Tugend zu folgen. Was gilt?

      • Ralf Leonhardt 22. April 2014, 23:44

        @ In Dubio

        Welchen Sozialstaat also meinen Sie?

        Den Sozialstaat, der sicherstellt, dass jeder ein Dach ueber dem Kopf hat, genug zu essen und trinken hat, im Krankheitsfall eine angemessene Behandlung angeboten bekommt. Der sicherstellt, dass jeder Buerger von Behoerden mit Respekt, Verstaendnis und Einfuehlungsvermoegen behandelt wird und ein lebenswertes Leben leben kann. Der ein Mindestmass an Teilhabe garantiert und dafuer sorgt, dass der Arbeitnehmer kein Freiwild auf dem Arbeitsmarkt ist. Einen Sozialstaat, der Renten zahlt und Loehne fordert, von denen man leben kann.

        Wenn Italien darueber hinaus jedem Arbeitslosen eine Rolex schenken moechte, finde ich das auch klasse. Aber das sollen die dann auch selbst bezahlen.

        • In Dubio 24. April 2014, 09:35

          Ich hatte, bezogen auf die 20 Sozialstaatsversionen in Europa, eine Frage formuliert und Sie antworten mit einem Wunschkatalog, in dem Sie noch Sozial- mit Arbeitsrecht vermengen.

          Ihre erste Forderung gilt so heute in jedem OECD-Staat, also Haken dran. Genauso sind in jedem OECD-Staat Behörden eher bequem und etwas von oben herab, schließlich reden wir von Beamten. Das hindert jedoch Linke nicht, genau diesen unfreundlichen Beamten mehr Macht und Einfluss über das eigene Leben zuzugestehen zu wollen. Also, nett formuliert, aber Ihr Anspruch auf Einfühlungsvermögen ist nur bedingt erfüllbar.

          Was ist ein lebenswertes Leben? Christen jedenfalls knüpfen das nicht an Geld, von daher sind Sie auf der falschen Schiene. Wie garantiert man Teilhabe? Es gibt Menschen in jedem entwickelten Land, die trotz der Möglichkeit einer sozial finanzierten Wohnung lieber auf der Straße leben. Es gibt Leute, die lieber betteln als beim Sozialamt anzufragen. Und es gibt Menschen, die sich lieber den ganzen Tag mit Reality-Script-Dokus wegbeamen, als an den vielfältigen kulturellen, sportiven und vereinsbezogenen Möglichkeiten teilzunehmen. Was soll da eine „Garantie auf Teilhabe“? So unbestimmt, dass sich jeder das für ihn Wünschenswerte darunter vorstellen kann.

          Sie wissen vielleicht, dass es auf dem Arbeitsmarkt immer mehrere Teilnehmer gibt? Wie stehen Sie zu Arbeitnehmern, die aus Ärger über eine Kündigung ihren Rechner löschen, doch weder arbeits- noch zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können? Wie stehen Sie zu Beschäftigten, die sich montags einen blauen Schein besorgen, weil sie sich zweimal die Nase geputzt haben und daraus beim Arzt eine zweiwöchige Grippe machen? Wie stehen Sie zu Leuten, die ihrem Arbeitgeber kündigen, obwohl er einen mehr als auskömmlichen Lohn gezahlt hat, weil er sich einfach über seinen Vorgesetzten geärgert hat? Fällt das auch unter Ihren Begriff vom Freiwild auf dem Arbeitsmarkt? Zumindest in Deutschland ist niemand Freiwild, dafür sind unsere Schutz-, Klage- und Vertragsrechte nun wirklich sehr umfänglich.

          Was ist eigentlich ein auskömmlicher Lohn? Ich kenne Menschen, die beziehen etwas mehr als einen Durchschnittslohn, finden das jedoch bei weitem nicht auskömmlich. Schon Marx lehnte es ab, den Lohn am Bedarf des Arbeiter zu orientieren, denn der sei höchst unterschiedlich. Linke haben das vergessen, Liberale nicht.

          Wer zahlt eigentlich Renten? Sie argumentieren wie mit dem Strom aus der Steckdose. Renten, Einkommen und Steuern sind nicht einfach da, selbst Vermögen sind es nicht. Sie müssen es erwirtschaften. Und wenn Sie trotz schrumpfender Bevölkerung in einem Umlageverfahren stabile oder sogar steigende Renten zahlen wollen, müssen sie jenen, die arbeiten, mehr wegnehmen. Sonst funktioniert das nicht. Kann ich Ihre Forderung also so interpretieren, dass Sie verlangen, der Sozialstaat möge den Erwerbstätigen möglichst viel wegnehmen? Finden Sie das sozial?

          Finden Sie es auch sozial, dass wegen der Sozialgesetzgebung in Italien junge Menschen bis in ihre 30er hinein keine stabile Beschäftigung finden? Fällt das für Sie unter Sozialstaat?

          Zum Schluss ein kleiner Exkurs zum Sozialstaat: Ein Sozialstaat kümmert sich um die 15-20 Prozent Bedürftigsten einer Gesellschaft, ein Wohlfahrtsstaat verteilt seine Leistungen auf breite Schichten der Gesellschaft. Linke haben das längst vermischt, nur deshalb können wir von Sozialabbau reden, wenn der Wohlfahrtsstaat eingeschränkt wird.

    • Ariane 22. April 2014, 14:41

      Es tut mir leid, aber ich sehe das Sprachenproblem einfach nicht so gravierend. Obama und Putin sprechen doch auch kein Deutsch (Putin schon, aber nicht öffentlich) und trotzdem gibt es in Deutschland Fans, Unterstützer oder Versteher, natürlich auch Gegner. Das gilt und galt doch auch für viele andere politische Persönlichkeiten. Gandhi, Che Guevara, Nelson Mandela, Kennedy usw. Niemand von denen hat deutsche Reden gehalten und alle waren auch in Deutschland bekannt und haben Unterstützer gefunden. Wie traurig wäre das Leben, wenn wir nur begeistert von Leuten wären, die unsere Sprache sprechen?

      • Ariane 22. April 2014, 14:44

        Sorry, die Antwort war eigentlich für Ralf Leonhardt gedacht.

        zur Sozialproblematik: Das wäre imo wieder ein Punkt, wo man die USA zum Vorbild nehmen könnte. Da gibt der Bund auch bestimmte Mindestwerte vor (zb Mindestlohn) und die Bundesstaaten sind frei, zu machen, was sie wollen und dürfen nur nicht darunter gehen. Das ist doch eine gute Regelung.

      • Ralf Leonhardt 22. April 2014, 23:34

        Obama und Putin sprechen doch auch kein Deutsch (Putin schon, aber nicht öffentlich) und trotzdem gibt es in Deutschland Fans, Unterstützer oder Versteher, natürlich auch Gegner. Das gilt und galt doch auch für viele andere politische Persönlichkeiten. Gandhi, Che Guevara, Nelson Mandela, Kennedy usw.

        Hmmm … aber worauf basiert eigentlich die (positive oder negative) Einschaetzung all dieser politischen Persoenlichkeiten in Deutschland? Etwa auf den realen politischen Inhalten, die diese Politiker verkoerpern? Lassen wir Gandhi und Mandela mal weg. Die beiden sind Giganten, die sich wirklich nicht mit unserem europapolitischen Personal vergleichen lassen. Wir haben es hier eher mit der Sorte Martin Schulz, Hertha Daeubler-Gmelin und Edelgard Bulmahn zu tun.

        Che Guevara ist vollkommen verklaert und in seiner historischen Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und ueberschaetzt worden. Kennedy hingegen war ein Star, der durch seinen fruehen Tod weder vergluehen noch entzaubert werden konnte. Der Kurt Cobain der Politik sozusagen. Darauf beruht seine Popularitaet in Deutschland. Und darauf dass er „Ich bin ein Berliner“ gesagt hat. Ansonsten wissen die Deutschen ueber Kennedys Politik praktisch garnichts. Und viel hat JFK auch nicht erreicht, denn er hatte ja nur zwei Jahre Amtszeit. Putin ist eigentlich ein gutes Beispiel fuer die schwerwiegenden Konsequenzen von Sprachbarrieren in der politischen Auseinandersetzung. Wundert mich deshalb, dass Du ausgerechnet ihn als Beispiel bringst. Der deutsche Durchschnittsbuerger hat naemlich nie eine komplette Rede oder auch nur Ausschnitte von Reden von Putin gehoert. Seine einzige Quelle zur Person sind gegenwaertig die Propagandaabteilungen der Mainstreampresse und die Hetze, die sie absondern. Das fuehrt bei den einen zu einer intuitiven Abwehrhaltung und Verklaerung und bei den anderen zu Verachtung und Verurteilung. Beides ohne objektive Grundlage. Eine gelungene politische Auseinandersetzung im Europawahlkampf stelle ich mir anders vor! Und Obama? Naja. Der war erst hyperbeliebt. Aber nicht wegen seiner Politik (man haette etwa sein Abstimmungsverhalten waehrend seiner Zeit als Senator von Illinois zur Bewertungsgrundlage nehmen koennen)! Sondern weil er „Nicht Bush“ und der erste schwarze Praesident war. Beides nicht gerade politische Leistungen. Auf dieser Basis bekam er auch den Friedensnobelpreis. Seit der NSA-Affaire hat sich dann alles 180 Grad gedreht. Wirkliches Wissen ueber Obamas Politik ueber den NSA-Skandal hinaus hat in Deutschland praktisch niemand. Ich befuerchte sogar, dem deutschen Durchschnittsbuerger wuerde noch nicht einmal zu Gandhi und Mandela wirklich viel einfallen. Das ist eben das Problem, wenn man die Politiker nie im O-Ton hoert. Wenn man bestenfalls Uebersetzungen liest und dann meist auch nur Zusammenfassungen von Uebersetzungen, die mehrheitlich auch noch mit den Voreingenommenheiten und Meinungen der Uebersetzer, Journalisten, Redakteure, Zeitungseigner etc. ueberfrachtet sind. Dann kann man sich eben kein eigenes Bild machen und plappert nur noch Medienmeinungen nach. Meine Hoffnung ist, dass das nicht die Zukunft der europaeischen Demokratie ist.

        • Stefan Sasse 23. April 2014, 11:56

          Ich denke die Kubakrise dürfte vielen ein Begriff Kennedys sein, oder? Nelson Mandela und Ghandi werden beide mit gewaltlosem Widerstand verbunden. Obama…Obamacare würde ich mal nennen.

          • Ralf Leonhardt 23. April 2014, 18:36

            Nelson Mandela und Ghandi werden beide mit gewaltlosem Widerstand verbunden.

            Ja. Und was weiss der Deutsche darueber wie Mandela zu Steuerfragen steht? Fuer welche Gesundheitspolitik steht er? Verteidigungspolitik? Familienpolitik?

            Genau.

            Obama…Obamacare würde ich mal nennen.

            Ja, was weiss der Durchschnittsdeutsche ausser dem Schlagwort „Obamacare“? Wofuer steht der Begriff? Sind davon alle Amerikaner betroffen? Wenn nicht, dann an wen wendet sich das Programm? Wer profitiert von Obamacare? Wer sind die Verlierer? Und warum? Wie sind Amerikaner betroffen, die bereits vor Obamacare eine Krankenversicherung hatten? Und betrifft Obamacare die USA pauschal ueberall gleich oder gibt es Unterschiede zwischen meinetwegen Vermont und Mississipi? Fragen ueber Fragen. Ich wette der Durchschnittsdeutsche hat davon keinen Plan.

            In Deutschland hingegen kennt man sogar die Ansichten der dritten und vierten Reihe von Politikern, Philipp Missfelder etwa oder Nils Annen. Das kommt daher, dass die durch die Talkshows tingeln. Nicht nur direkt politische, sondern haeufig auch reine Unterhaltungstalks. Der deutsche Zuschauer versteht deren Aussagen (sprachlich) und kann sich ein eigenes Bild machen. Das gilt auch dafuer, wenn etwa in der Tagesschau oder sonstwo ein direktes Interview gefuehrt wird. Der deutsche Waehler ist nicht auf indirekte Quellen angewiesen. Er wird diese zwar sicher auch nutzen, aber nicht ausschliesslich. Im Wahlkampf kommen Politiker im uebrigen auch in die Wahlkreise und erklaeren ihre Politik dort. Aehnlich ist das in Amerika mit den Town Hall Meetings. Aber bei solchen Veranstaltungen werden Franzosen, Spanier, Briten, Italiener oder Griechen eben nicht verstanden. Oder es springt kein Funke ueber. Es waere noch nicht einmal ein leidenschaftliches TV-Duell zwischen Spitzenkandidaten moeglich. Oder will der Zuschauer tatsaechlich staendig auf den mit gleichfoermiger Stimme sprechenden Simultandolmetscher warten, wie bei Wetten Dass? So kann ein lebendiger Wahlkampf, der die Buerger wirklich begeistert, nicht funktionieren.

        • Ariane 23. April 2014, 12:53

          Jetzt drehen wir uns aber etwas im Kreis. Natürlich bilden die meisten sich ihre Meinung durch mediale Einschätzung, Image und politische Taten, das hat dann aber wiederum nichts mit Sprache zu tun. Egal ob auf deutsch oder in einer anderen Sprache, die meisten hören höchst selten ganze politische Reden und man kann es ihnen wohl kaum verdenken. Merkel hat noch nie eine begeisternde Rede gehalten, trotzdem ist sie in Deutschland unheimlich beliebt. Wer Begeisterung oder Ablehnung für Putin oder Obama empfindet, gründet dies wohl auch kaum auf deren politische Reden. Damit wird es dann wieder universell und wir könnten vielleicht irgendwann Begeisterung für einen spanischen EU-Menschen empfinden, auch wenn wir seine Reden nicht im Original verstehen 😉

  • Am_Rande 22. April 2014, 12:57

    Ich schrieb ja bereits, dass es eine europäische Identität gibt, man aber keine EU dafür braucht.

    So ist es auch mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gemeinsamer Währung, Freihandel und Freizügigkeit.

    Auch dafür bedarf es keiner EU.

    Interessant ist doch, dass Europa schon auf dem richtigen Weg war, auf dem Weg der Aufklärung, des Klassischen Liberalismus, bevor der altböse Feind des Feudalismus, des Etatismus sich ab August 1914 wieder der Herzen und Hirne der meisten Menschen in Europa bemächtigt hat.

    „Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit.
    Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.

    Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt.

    Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit.

    Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. […] Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft. […] An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.

    Wir vermochten kosmopolitischer zu leben, die ganze Welt stand uns offen. Wir konnten reisen ohne Paß und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion.

    Wir hatten tatsächlich – ich leugne es keineswegs – unermeßlich mehr individuelle Freiheit und haben sie nicht nur geliebt, sondern auch genutzt. Aber wie Friedrich Hebbel einmal schön sagt: »Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.« Selten ist ein und derselben Generation beides gegeben; läßt die Sitte dem Menschen Freiheit, so zwängt ihn der Staat ein. Läßt ihm der Staat seine Freiheit, so versucht die Sitte ihn zu kneten. […]

    Die Russen, die Deutschen, die Spanier, sie alle, sie alle wissen nicht mehr, wieviel an Freiheit und Freude der herzlos gefräßige Popanz des ›Staates‹ ihnen aus dem Mark der innersten Seele gesogen. Alle Völker fühlen nur, daß ein fremder Schatten breit und schwer über ihrem Leben hängt.

    Wir aber, die wir noch die Welt der individuellen Freiheit gekannt, wir wissen und können es bezeugen, daß Europa sich einstmals sorglos freute seines kaleidoskopischen Farbenspiels. Und wir erschauern, wie verschattet, verdunkelt, versklavt und verkerkert unsere Welt dank ihrer selbstmörderischen Wut geworden ist. […] “

    (Stefan Zweig, „Die Welt von Gestern“ , erschienen 1942)

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