Die Nostalgie der SPD und ihrer verbliebenen Wähler

In den neuesten Umfragen rutscht die SPD immer weiteren Allzeit-Tiefstständen entgegen. Umso mehr müssen die Parteizentrale aber auch Anhänger die Frage umtreiben, wie die stetige Abwärtsspirale gestoppt werden kann. Doch die Phantasie sowohl der Profis im Willy-Brandt-Haus als auch der potentiellen linken Wähler scheint arg limitiert.

Rückblende: 1998 erreicht die Sozialdemokratie mit 41% ihr bestes Wahlergebnis während der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Der Pfälzer war damit abgewählt. Die Konservativen sanken auf 35%, ein Niveau, von dem sie sich erst 2013 wieder lösen konnten. Die Frage, wie es zu dem Erfolg (abseits von Sondereffekten) kommen konnte, gibt Antworten, warum die SPD von Ende des letzten Jahrhunderts bis 2009 fast 20%-Punkte in der Wählergunst verlieren konnte.

Die Partei selbst hat es seit dem mit einer eher hippeligen Strategie versucht. 1998 versprach das Wahlprogramm eine gewisse Modernität, dem Zeitgeist angepasst die Förderung junger Unternehmen, Steuersenkungen für breite Schichten und das Aufbrechen verkrusteter Strukturen am Arbeitsmarkt. Gleichzeitig sollten die von Blüm verärgerten Rentner eingefangen werden, die wegen des eingeführten demographischen Faktors um ihre Altersbezüge fürchteten. Das Versprechen, als notwendig erkannte Reformen durchzuführen ohne den Leuten ans Portemonnaie zu gehen, fiel auf fruchtbaren Boden. Danach starteten der Kurzzeitfinanzminister Lafontaine und der Gewerkschaftsführer Walter Riester eine Orgie an Verbürokratisierung des öffentlichen Lebens, was sehr zum desaströsen Erscheinungsbild der Schröder-Regierung in den ersten Jahren beitrug.

2002 wusste man schon nicht mehr so recht, was man wollte, zahlreiche Wähler hatten sich bereits abgewandt. Der Unions-Kandidat Stoiber und tagespolitische Ereignisse wie die Oder-Flut und der aufziehende Irakkrieg halfen, über die inhaltliche Leere hinwegzutäuschen. Die lange Phase wirtschaftlicher Depression nach dem Absturz der New Economy (2002-2005) bereiteten das Feld für einschneidende Reformen in Steuer- und Sozialrecht. Trotz der Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung gab es 2005 eine Frontstellung zwischen dem konservativ-liberalen Lager, das weiteren klaren Reformen das Wort redete und dem sozial-postmodernen Lager, das die bestehenden und gerade veränderten Strukturen beibehalten wollte. Das Ergebnis war ein klassisches Patt sowohl zwischen den Lagern als auch den beiden führenden Parteien.

In der folgenden Großen Koalition hegte die SPD zwar noch ihre Verantwortungsethik in den Regierungsgeschäften, gleichzeitig wurde jedoch bei der Kandidatenaufstellung für 2009 der Roll-back vorbereitet. Allein das desaströse Wahlergebnis von Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat verhinderte eine tief-links geprägte Bundestagsfraktion. In der Opposition arbeitete die Partei an ihrem linken Profil aus den 1980er und 1990er Jahren. Wie damals kamen Steuererhöhungsforderungen, Ausweitung des Staatsanteils und die Rückdrehung der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen auf den Tisch. Die Sozialdemokratie trat mit dem eher konservativen Kandidaten Steinbrück und dem Wahlprogramm an, in dem Mindestlöhne, Erhöhung der Steuersätze, Vermögensteuern, Bürgerversicherung, Mindestrenten, Rente mit 63, Frauenquote, Erhöhung der Erbschaftsteuer, umfangreiche Regulierungen von Unternehmen und Banken und ein umfangreiches Konjunkturprogramm gefordert wurden. Das ‚Ergebnis waren klägliche 2,7% Zugewinne bei sinkender Wahlbeteiligung.

Und so pendeln die Protagonisten heute weiter. Es ist jedoch kaum erklärlich, dass die SPD wegen der Arbeitsmarktreformen und dem Afghanistan-Einsatz so viele Stimmen bei ihren Stammwählern verloren haben soll. Bereits 2004 analysierte die Konrad-Adenauer-Stiftung sehr wohl zutreffend:

Viel gravierender ist (..) das Schrumpfen der Kernwählerschaften der beiden Volksparteien: Kirchengebundene Katholiken und Arbeiter mit Gewerkschaftsmitgliedschaft stellen nur noch einen marginalen Teil der Wählerschaft von CDU/CSU und SPD. Nur ihrer Anpassungsfähigkeit und der erfolgreichen Mobilisierung anderer Wählergruppen, so Wessels (2002), verdanken die beiden großen Parteien ihre weiterhin bestehende dominante Stellung im bundesdeutschen Parteiensystem. Müssten sie sich alleine auf ihre Stammwählerschaft verlassen, wären sie inzwischen zu Kleinparteien geschrumpft (vgl. auch Gabriel/ Brettschneider 1994, Jung/Roth 1998). „Von den sozialen und demographischen Wandlungsprozessen gehen die wohl gravierendsten Veränderungen für das Wahlverhalten und das Parteiensystem aus“ (Weßels 2000: 153).

Im letzten Artikel „Das Ende der SPD als Volkspartei“ habe ich angeregt querzudenken. Leider kamen ausschließlich die tradierten, lang eingeübten Antworten. Sie lassen weitgehend Historie wie die Analyse der Wählerschichten unbeachtet. So findet das heutige Potpourri an vulgär-populären Themen ihre Entsprechung in der Phase nach dem Machtverlust 1982. Bei der Schröder-Wahl hatte die Partei kurzzeitig aus der langen Phase des Misserfolgs gelernt, nur um eine Dekade später in die gleichen Fehler zurückzufallen.

So auch die verbliebenen Anhänger der Partei. Frei nach dem Motto „Früher war alles besser!“ ist die beliebteste Empfehlung, die Regierungszeiten mit ihren realpolitischen Zwängen einfach ungeschehen zu machen. Wenn die SPD nur die Arbeitslosenhilfe wieder einführen und Hartz-IV abschaffen, wenn sie eine Anbiederungspolitik an Russland wie anno damals 1989 Oskar Lafontaine an Honecker machen, wenn sie endlich wieder den Spitzensteuersatz von 53% und die Vermögensteuer einführen würde, ja dann würde der Bürger wieder seine Liebe zur Sozialdemokratie entdecken. Außer der nostalgischen Erinnerung finden sich jedoch keine Anhaltspunkte, dass dies eine realistische Perspektive wäre.

Wie soll es das auch? Viele Deutsche wissen längst nicht mehr, was Arbeitslosenhilfe ist. Deswegen gehen die Forderungen auch eher dahin, die Hartz-IV-Sätze großzügig zu erhöhen. Die meisten Menschen sind jedoch intelligent genug zu begreifen, dass mit der Ausweitung des Kreises Anspruchsberechtigter auch die relative Armut steigen würde. Mehr Menschen als heute könnten rein rechnerisch nicht von ihrer Arbeit leben. Genauso sieht die Mehrheit der Westdeutschen Russland als eine Diktatur, ein autokratisches Regime, das keine Werte mit dem Westen teilt. Und die alte Bundesrepublik ist weiterhin die wahlentscheidende Region. Höheren Steuern haben die Deutschen so oft in Wahlen Absagen erteilt, das jedem, der das in der Vergangenheit gefordert hat, noch heute die Ohren scheppern müssten. Einige dieser Ziele mögen populär sein, deswegen macht aber niemand sein Kreuz bei einer Wahl.

Eine weitere Empfehlung ging dahin, soweit auf Grüne und LINKE zuzugehen, dass diese überflüssig würden. Auch das ist eine abgedroschene These, die bereits beim sachten Anpieksen in sich zusammensackt. Dazu reicht ein Vergleich der Wählerschichten. Die Grünen werden vor allem von höhere Gebildeten (mindestens Abitur) und Gutverdienenden gewählt. Hier sind sie in einigen Kreisen die stärkste Partei. Die SPD ist jenen vorbehalten, die eher über eine mittelprächtige Bildung und durchschnittliches bis unterdurchschnittliches Einkommen verfügen. Die LINKE wiederum ist von der Wählerschaft die älteste Partei in Deutschen, Hort vieler Nostalgiker der DDR-Vergangenheit. Das ist der wesentliche Grund, weshalb die SED (rechtlich betrachtet ist sie das) bei dem Thema Unrechtsstaat DDR so herumeiert. Die meisten ihrer Wähler haben ein gutes Bild vom untergegangenen Sozialismus auf deutschem Boden. Leider passt das so gar nicht zur Mehrheitseinstellung der Deutschen: 2/3 insgesamt, im Westen sogar 3 von 4 stimmen der Aussage zu, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen.

Wie soll daraus also eine stimmige Politik folgen? Man verlangt höhere Spitzensteuersätze, die einen wichtigen Teil der eigenen Wählerschaft belastet, bindet diese jedoch an sich, in dem man ihnen einredet, ihr Einkommensverlust sei notwendig zur Erhaltung der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland. Die LINKE-Wähler fängt man dagegen mit dem Versprechen, mit höheren Sozialsätzen sie näher an den Facharbeiter bei OPEL heranzuführen, in dessen Familie dafür nun auch häufiger Anspruch auf aufstockende Sozialhilfe entsteht. Das wirkt irgendwie sehr widersprüchlich und würde spätestens dann offenbar, wenn regiert werden müsste. Allerdings hält man damit zumindest die Wählerschaft der Grünen für dümmer als man selber ist.

Denn tatsächlich folgt die Entwicklung der Grünen nur dem Zeitgeist, welchem sich Teile der SPD verweigern wollen. Die Kohlekumpels in Duisburg gibt es nicht mehr, wohl wahr. Dafür sind jedoch im Umfeld beispielsweise von SAP, neue, weit besser bezahlte Jobs entstanden. Diese Schichten sind neu und sie wählen in Walldorf und Umgebung zu jeweils gut 20% die Parteien der Besserverdiener, FDP und Grüne. Schon gedanklich ist es sehr schwer vorstellbar, eine konsistente Politik für Arbeitnehmer zu machen, die über 100.000 EUR verdienen, ein schmuckes Häuschen im Grünen haben, Porsche Cayenne als Erstwagen und BMW i3 als Zweitwagen fahren und den zu kurz Gekommenen in Berlin-Neukölln, die offiziell Hartz-IV beziehen und sich ihr Einkommen mit angemeldeten und nichtangemeldeten Nebenjobs aufbessern.

Eine weitere Schwäche ist das Fehlen einer klaren Botschaft. Der angebliche Markenkern „soziale Gerechtigkeit“ fällt in seiner Interpretation den Protagonisten vor allem auf die Füße. Mehrere Kommentatoren haben sich zuletzt an einem Maßstab versucht. Es musste beim Versuch bleiben. Der sogenannte Gini-Koeffizient (0 ist völlige Gleichverteilung) soll zur Ermittlung des Ausmaßes der sozialen Gerechtigkeit herhalten. Allerdings misst diese Kennzahl die Gleichmäßigkeit oder Ungleichmäßigkeit der Einkommensverteilung. Ist Einkommensgleichheit also gleich soziale Gerechtigkeit? Warum nennt man es dann nicht so? Abgesehen davon würde sich einer solchen Interpretation nur eine Minderheit anschließen. Nicht umsonst haben die Deutschen jahrzehntelang eine Einheitsrente abgelehnt, weil sie sehr wohl Leistungsunterschiede im Einkommen abgebildet sehen wollen.

Vor allem die Wirklichkeit zeigt, dass sich mit Gini ganz gewiss nicht die soziale Gerechtigkeit messen lässt. In den letzten 10 Jahren stagnierte der Koeffizient und war zuletzt rückläufig. Das heißt nichts anderes als dass die Ungleichheit abgenommen hat. Das Empfinden der Deutschen steht dazu konträr, viele sehen die soziale Gerechtigkeit verletzt. Maßstab und Empfinden und damit die politische Verwertbarkeit passen nicht zusammen. Wachsende Bildungsunterschiede wie eine stark ausgeweitete Einwanderung vergrößern Einkommensunterschiede. Schon in 5-10 Jahren werden wir beklagen, dass die Ungleichheit gestiegen sei. Dabei wäre der Faktor nur das Ergebnis der Gesellschaftspolitik, die mehrheitlich gewünscht ist. Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

Mein Ziel habe ich also nicht erreicht, ein Brainstroming über die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie anzuregen. Anscheinend gibt es nur Strategien aus alten Zeiten, Arbeiter und Arbeitnehmer mit geringem Einkommen besser zu betreuen und den harten Kern der Linken enger zusammenzuführen. Enge erzeugt Reibung und damit Wärme. Mehrheiten jedoch, das wussten Politologen bereits 2004, sind damit nicht zu erreichen. Dazu müsste man sich der Kälte des Wählermarktes aussetzen, jener Bürger, die nach Nützlichkeit, Image und Lebenssituation wählen. Und nicht den Mief der alten Zeit atmen wollen.

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  • CitizenK 23. März 2016, 14:28

    von Pietsch kamen „Leider kamen ausschließlich die tradierten, lang eingeübten Antworten“, wie von ihm gewohnt.

    „Mief der alten Zeit“? In der größten deutschen Software-Schmiede wollten „miefige“ IG-Metaller (mit Unterstützung der SPD) einen Betriebsrat gründen, gegen den heftigen Widerstand der Geschäftsleitung natürlich, aber auch die meisten Beschäftigten waren dagegen.
    Nachdem eine geplante Umstrukturierung einigen einiges vor Augen geführt hatte, sah (und sieht) das ganz anders aus.

    Warten wir ab, wie es nach dem Platzen der exportgetriebenen Blase auf dem Arbeitsmarkt aussieht. Dann werden einige sicher froh sein über diese alten, miefigen Ideen.

    • In Dubio 23. März 2016, 17:47

      Die meisten Beschäftigten finden sich doch nicht in Großunternehmen. Das ist das alte SPD- und Gewerkschaftsdenken. Rund um SAP in Walldorf gibt es in der Region bis Heidelberg mittelständige Unternehmen als Software-Schmieden, die dem Riesen zuarbeiten bzw. stark spezialisierte Marktsegmente bearbeiten. Viele dieser Menschen verdienen gut bis sehr gut, sind in die Unternehmensführung mit eingebunden, kassieren Boni in Abhängigkeit vom Unternehmenserfolg. Die fängt man nicht mit alten Gewerkschaftsritualen, um sie dann an eine Partei heranzuführen. Und man bemerkt sie nicht, wenn sie verschwinden.

      Es gibt keine exportgetriebene Blase auf dem Arbeitsmarkt. Gerade im Dienstleistungsgewerbe, in der Gesundheitsindustrie und bei den Sozialdiensten sind viele Jobs entstanden. Die EZB ist jedoch dabei, die Blasenbildung auf dem Aktienmarkt und im Immobilienbereich weiter voranzutreiben.

  • Stefan Sasse 23. März 2016, 14:37

    „Danach starteten der Kurzzeitfinanzminister Lafontaine und der Gewerkschaftsführer Walter Riester eine Orgie an Verbürokratisierung des öffentlichen Lebens, was sehr zum desaströsen Erscheinungsbild der Schröder-Regierung in den ersten Jahren beitrug.“

    Kannst du da mal konkretisieren? Was meinst du?

    • In Dubio 23. März 2016, 16:34

      Oskar Lafontaine war 5 Monate Bundesfinanzminister. In dieser Zeit schob er als wesentliche Maßnahme das sogenannte „Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002“ an. Die Worthülse verbarg das Gegenteil. Die Ökosteuer wurde eingeführt und verbarg fortan die wahren Kosten der Rentenentwicklung. Mit einem Federstrich wurden die damals bestehenden 630-Mark-Jobs abgeschafft, welche von Studenten, Rentnern und Hausfrauen als Zuverdienstmöglichkeit genutzt wurden. Kurze Zeit später musste das Gesetz wegen der großen Widerstände in der Bevölkerung revidiert werden. Er ließ die Grundzüge einer Unternehmenssteuerreform konzipieren (sic!), welches eine deutliche Senkung der Sätze auf am Ende 35% vorsah (sic!). Das heutige Niveau ist nahe hieran – und wird von der LINKEN kritisiert. Da er jedoch nicht gleichlautend die Einkommensteuersätze senken wollte, hätte dies wegen dem damals noch geltenden „Anrechnungsverfahren“ zu einer weiteren Spreizung und damit „Lock-in-Effekt“ (Gewinne werden in Unternehmen eingeschlossen) geführt. Zudem hätte es den internationalen Kapitalverkehr und Unternehmensbeteiligungen enorm erschwert. Sein Steuerreformentwurf (sic!) sah als erstes die Absenkung des Eingangsteuersatzes und mit zeitlichem Versatz auch die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 48,5% (sic!) vor. Heute fordert übrigens der gleiche Lafontaine wieder ein Niveau von 53%.

      Lafontaine weitete die Spekulationsfrist bei Immobilien von 2 auf 10 Jahre aus, führte die Versteuerungspflicht von Abfindungen ein (nicht gerade arbeitnehmerfreundlich) und erweiterte die Besteuerungspflicht für Veräußerungsgewinne bei Kapitalanteilen. Das alles jedoch rückwirkend, so dass das Bundesverfassungsgericht sein Gesetz in dieser Hinsicht kassieren musste.

      Ein weiteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts löste er ebenfalls bürger- und sozialunfreundlich. Ende 1998 sprach Karlsruhe auch Verheirateten mit Kindern den sogenannten Haushaltsfreibetrag zu, der bis dato nur für Alleinerziehende (Ledige) galt. Als Konsequenz dehnte der Finanzminister nicht etwas den Berechtigtenkreis aus, sondern strich den Anspruch weitgehend.

      Berüchtigt sind noch die Verkomplizierungen auf Unternehmensebene. Heraus ragt hier die Streichung der Vereinfachungsregel bei sogenannten Geringwertigen Wirtschaftsgütern. Nur noch bis 100 Mark wollte Lafontaine die Absetzung der Abschreibung für Anlagengüter in einem Jahr zulassen. Alle anderen Investitionen (damals galt die 800 Mark-Grenze) wären die aktivieren und über die Nutzungsdauer – also durchaus 10 Jahre – abzuschreiben. Ein irrer Verwaltungsaufwand in der betrieblichen Praxis.

      Er führte in §35 EStG die Doppelbelastung von Einkünften mit Einkommensteuer und Erbschaftsteuer ein.

      Walter Riester arbeitete sich in der ersten Phase an der Bekämpfung der Scheinselbständigkeit ab. Das kumulierte in einem Gesetz, wonach ein Arbeitnehmer nachweisen musste, dass er für mehr als eine Unternehmensgruppe (also inklusive Tochtergesellschaften) tätig ist. Dies hätte dazu geführt, dass z.B. meine Schwester mit einem Jahreseinkommen weit jenseits der 100.000 EUR als Trainerin für ein HP-Produkt nicht mehr hätte selbständig arbeiten können, da sie nur für Gesellschaften von HP weltweit tätig war. Das nach ihm benannte Gesetz der Altersvorsorge war im ersten Entwurf ein totaler Krüppel voller Regulierungen, was alles nicht gemacht werden durfte. Von dieser Ursprungskonzeption hat sich das Gesetz nie erholt, weshalb später die Rürup-Rente nachgeschoben wurde.

      Ich glaube, das reicht für wenige Monate Regierungsarbeit. 🙂 Vielleicht verstehst Du damit, warum Rot-Grün schon nach wenigen Monaten deftig vom Wähler abgestraft wurde. Bis halt die CDU-Spendenaffäre kam.

      • Stefan Sasse 23. März 2016, 21:29

        Ich würde zwar nicht zustimmen, dass das ausschlaggebend für die Wahlniederlagen war, aber danke für die Info!

        • In Dubio 23. März 2016, 22:58

          Das war es. Die Stimmung war damals aufgeheizt und ziemlich gegen Rot-Grün eingestellt.

  • Tim 23. März 2016, 15:33

    In noch viel stärkerem Maße als vor 20 oder 30 Jahren haben heute die anderen Parteien sozialdemokratische Positionen eingenommen. Die SPD ist letztlich am Erfolg des sozialdemokratischen Geistes gescheitert und wird nie mehr an alte Stärke herankommen. Daraus folgt, daß die CDU auch nach Merkel ihre sozialdemokratische Strategie weiterführen wird und muß.

  • Kning 23. März 2016, 16:29

    Hier eine Übersicht von Punkten, in denen die SPD eine Position entwickeln könnte, mit denen Sie unterscheidbarer von den anderen Parteien wäre und aus meiner Sicht zum Kontext der SPD und ihrem allgemeinen Verständnis passen könnten:

    -Energiewende vorantreiben
    Deutschland befreit sich bis 2030 von fossilen Brennstoffen beim Individualverkehr, Ausbau des Schienennetzes, Weg von Großkraftwerken hin zu lokalen Energiegenossenschaften (Stichwort Blockkraftwerk)
    – Europäische Integration vorantreiben:
    z.B. gemeinsame europäische Justiz und Strafverfolgung;

    – Kommunen wieder Handlungsfähig machen
    Investitionsprogramm / Umschuldungsprogramm um Kommunen wieder Handlungsfähig zu machen, Gesetze schaffen, die Synergien in der Verwaltung ermöglichen

    – Chancengleichheit verbessern
    Bildungspolitik in allen Bundesländern gemeinsamen Zielen unterwerfen, Geld bereitstellen für Bildung / Integration von Flüchtlingen / gute Schulprojekte befördern / Universitätsausbau vorantreiben
    Höheren Dienst für Bachelor Absolventen / Langzeitberufserfahrene öffnen

    – Steuergerechtigkeit
    Ungleichheit der Kapitalbesteuerung gegenüber anderen Einkunftsarten bereinigen, Steuersubventionsüberprüfung (z.B. Ehegattensplitting durch Kindersplitting ersetzen)

    – Gesundheitssystem umbauen
    Priorisierung medizinischer Leistungen (nach Vorbild Schweden), Ärztemangel auf dem Land bekämpfen, Bürokratie abbauen, Überkapazitäten abbauen, Überführung der privaten Krankenversicherung in allgemeine Versicherung für alle

    – Rentensystem zukunftsfähig machen
    Abschaffung der Versorgungswerke, Integration in eine allgemeine Rentenversicherung, Überprüfung der staatlichen Förderung für private Vorsorge, Rücknahme der Rente mit 63 pauschal, Berücksichtigung von Erziehungszeiten in die Rente überprüfen, etc.

    • In Dubio 23. März 2016, 16:43

      Sie machen den üblichen Fehler, den ein Berater niemals begehen sollte. Sie beraten nach Ihren Interessen und Prioritäten. Die Frage ist aber nicht, welcher Köder IHNEN schmeckt, sondern so vielen Bürgern, dass sie die SPD aus dem 20%-Ghetto heben. Sie nennen schöne Themen, aber da ist nichts dabei, was entweder als überwölbende Agenda taugt. Und vor allem nicht, was sich als wahlentscheidend bewährt hätte.

      Ich nenne Ihnen Beispiele: Der Umbau der Energieversorgung ist umstritten. Eine Mehrheit befürwortet regenerative Energiequellen. Aber: niemand will Windmühlen vor der Haustür, die Subventionierung von Solar begünstigt Wohlhabende und Elektroautos sind bis heute ausgesprochene Ladenhüter.

      Das Ehegattensplitting ist enorm populär, selbst die Veränderung würde große Widerstände erzeugen, die nur mit echten Steuerentlastungen an anderer Stelle durchsetzbar wären. Die Entlastungen müssten spürbar über der Aufkommensneutralität liegen, sonst können Sie das politisch vergessen.

      • Stefan Sasse 23. März 2016, 21:31

        Zumindest was die EE angeht geben dir die Zahlen aber nicht Recht:
        https://www.unendlich-viel-energie.de/themen/akzeptanz-erneuerbarer/akzeptanz-umfrage/akzeptanzumfrage-erneuerbare-2015

        Ich denke, das ist tatsächlich ein Zukunftshtema. Denn wenn die Leute eines ganz unbedingt nicht vor ihrer Haustür wollen, dann sind das atomare Endlager und Atomkraftwerke.

        • Tim 24. März 2016, 07:54

          Die Umfragewerte der erneuerbaren Energie sind nur deshalb so gut, weil die Leute letztlich keine Ahnung davon haben. Um den gesamten deutschen Energiebedarf (also nicht bloß Strombedarf!) z.B. mit Photovoltaik abdecken zu können, bräuchten wir 25.000 bis 30.000 Quadratkilometer Photovoltaik-Fläche (einführende Zahlen dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Photovoltaik_in_Deutschland#Fl.C3.A4chenabsch.C3.A4tzungen). Und Photovoltaik hat schon eine deutlich höhere Flächeneffizienz als z.B. Windkraft oder Energie aus Biomasse. Wenn die Leute das wüßten, würden die Umfragen sicher sehr anders aussehen.

          Natürlich wäre es mehr als wünschenswert, wenn Energiepolitik ein ernsthaftes und bedeutsames Politikthema wäre. Momentan wird sie leider auf Kindergartenniveau betrieben.

    • Blechmann 23. März 2016, 22:17

      Du schreibst aber nicht, woher das Geld kommen soll für die ganzen Maßnahmen. Geschätzt 80 Mill. neue Elektroautos bis 2030 für sagen wir 50.000Euro das Stück sind 400 Mrd Euro. Woher nehmen? Cool wärs natürlich, so Science Fiction mäßig.

      • In Dubio 24. März 2016, 08:27

        Das ist doch arg überzogen. Im Schnitt werden aus dem Kopf glaube ich 13 Mio. Autos verkauft. Nehmen wir großzügig die Förderung einer Generation mit 5.000 EUR pro Fahrzeug, wovon 10% gefördert werden, dann sind das allerdings immer noch über 30 Milliarden EUR Kosten.

        Die wichtigeren Fragen: Warum soll man den Menschen Zucker für ein Produkt geben, was sie so von sich aus nicht kaufen wollen? Und warum soll man den Absatz einer Branche fördern, die ausreichend Geld verdient, um notwendige Änderungen selbst herbeizuführen?

        • Blechmann 24. März 2016, 14:19

          Stimmt. Dann nimmt man das Geld von den Kunden, die E-Autos kaufen müssen oder wollen.

          Für den Einzelnen ist ein E-Auto unattraktiv. Der Verkehr ist genauso laut und stinkt genauso und erzeugt genausoviel CO², ob ich nun ein E-Auto fahre oder nicht. Ist so als wenn ich sage: Warum Tempo 50 in Städten, es kann doch jeder selber langsam fahren, wenn er das für richtig hält.

  • Blechmann 23. März 2016, 18:23

    „Mein Ziel habe ich also nicht erreicht, ein Brainstroming über die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie anzuregen.“

    Naja, sie haben doch selbst auch keinen konstruktiven Vorschlag gemacht. Sie wollen eine funktionelle SPD, wenn ich das richtig verstanden habe, eine Kopie der CDU sozusagen. Wenn die SPD die CDU kopiert, kriegt sie auch so viele Stimmen wie die CDU. Tja. Vielleicht. Aber wenn wir schon eine CDU haben, wozu noch eine zweite? Dann hat eben die SPD 45% und macht CDU Politik. Warum nicht gleich so lassen wie es ist?

    Die Ausführungen zum Gini-Koeffizienten sind nicht überzeugend: http://www.iwkoeln.de/_storage/asset/27425/storage/iwm:image-zoom/file/185665/180311.jpg

    Zwischen 1998 und 2005 ist der Gini stark angestiegen, in der Regierungszeit der SPD. In der nächsten Wahl macht die SPD 23% und seitdem ist der Gini gleich geblieben.

    Ich habe nochmal „Vorwärts oder Abwärts?“ hervorgekramt von Frank Walter. Er sieht HartzIV auch als zentralen Punkt:
    >>Die Sozialdemokraten hatten in den elf Jahren ihrer Regierungszeit das Vertrauen gebrochen, das gerade die unteren Schichten ihnen 1998 noch entgegen gebracht hatten<<

    • In Dubio 23. März 2016, 23:10

      Zwischen 2002 und 2005 erlebte Deutschland die längste Rezession der Nachkriegsgeschichte. Für Ökonomen gilt als unzweifelhaft, das hohe Arbeitslosigkeit die Ungleichheit einer Gesellschaft vergrößert. Seit 2006 erleben wir eine längere Wachstumsphase, unterbrochen von der Finanzkrise, welche insbesondere die Einkommen und Vermögen der Einkommensoberschicht reduzierte.

      Wenn ein Unternehmen darniederliegt, helfen keine traditionellen Instrumente. Schließlich waren sie mitverantwortlich, dass es runterging. Brainstorming hat den Sinn, völlig Neues zu denken. Das entsteht aus Ideen, die auf Anhieb erstmal unsinnig erscheinen.

      Leider habe ich keinen annähernd neuen Gedanken gehört. Ich habe nicht für etwas plädiert, ich habe eine Erfahrung aus einem anderen Bereich aufgebracht. Das ist ungefähr der Grund, warum Teams heterogen gemischt werden und warum beispielsweise Unternehmensberatungen nicht allein Ökonomen, sondern junge Menschen aus höchst unterschiedlichen Disziplinen beschäftigen.

      Eins hätten Sie im obigen Artikel nicht überlesen dürfen:
      Nur ihrer Anpassungsfähigkeit und der erfolgreichen Mobilisierung anderer Wählergruppen, so Wessels (2002), verdanken die beiden großen Parteien ihre weiterhin bestehende dominante Stellung im bundesdeutschen Parteiensystem. Müssten sie sich alleine auf ihre Stammwählerschaft verlassen, wären sie inzwischen zu Kleinparteien geschrumpft.

      Wie die CDU wäre eine Möglichkeit für die SPD, zur Funktionspartei zu werden. Sie kann (und sollte) dabei für andere Ziele als die Konkurrenz eintreten. Diese können aber kaum im stärker linken Spektrum liegen. Wenn das zur Mehrheit führt, dann ist das Ziel doch erreicht, oder? Schließlich geht es in der Demokratie um Mehrheiten und nicht um die reine Lehre.

      • Blechmann 24. März 2016, 15:01

        „Wenn das zur Mehrheit führt, dann ist das Ziel doch erreicht, oder? Schließlich geht es in der Demokratie um Mehrheiten und nicht um die reine Lehre.“

        Autsch. 🙂

        Nein. In der Demokratie geht es nicht um Mehrheiten. Eine Partei ist kein Unternehmen, dessen Daseinszweck darin besteht, Profit in Form von Wählerstimmen zu generieren.

  • QuestionMark 23. März 2016, 22:45

    „Mein Ziel habe ich also nicht erreicht, ein Brainstroming über die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie anzuregen. “

    Ich denke niemand hier im Forum möchte dass diese SPD überlebt. Eine Partei die nur daran interessiert ist die Interessen der Oberschicht zu vertreten, hat genau so viel Wähleranteil dann eben auch verdient. Wir reden von einem einzigen Prozent.

    Kohl wurde abgewählt und die SPD kam damit an die Macht. So weit ist deine Analyse noch richtig. Der entscheidende Rest über Kohls-Wahlniederlage fehlt allerdings. Und damit kannst du dann auch die Schröder-Jahre nicht so recht verstehen. Kohl wurde abgewählt, da die Arbeitslosigkeit während seiner Regierungszeit kontinuierlich gestiegen ist. Und den Menschen hat das berechtigterweise Angst gemacht. Schröder hatte diesen „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ zu seinem wichtigsten politschen Thema gemacht. Die Sache endete dann desaströserweise in einem „Kampf gegen die Arbeitslosen“. ->Cont

  • QuestionMark 23. März 2016, 22:48

    Die Sache ist sehr schwerwiegend, da der typische Proletarier leider von diesem tollen Sklavenmarkt abhängig ist. Das Thema betrifft als nicht nur die verelendeten Unbeschäftigten, sondern auch und vor allem die Beschäftigten. Denn: Umso größer das Heer der Arbeitslosen, desto mehr wird auch der Angestellte/Arbeiter (der noch einen Job hat) entwertet. (Motto: Wir können dich jederzeit durch einen anderen ersetzen. Friß oder stirb!)

    Aufgabe der Parteien wäre es gewesen eben dieses Problem anzugehen. Weil man dazu nicht in der Lage war (und eben das delegitimiert die etablierten Parteien übrigens zusätzlich) hat man sich auf das Fälschen von Statistiken spezialisiert. Die Unfähigen sind also zu Betrügern mutiert.
    Die Aufklärung über die Einbindung der „journalistischen Elite“ in diesen Betrug steht bekanntlich noch aus. Aber man muß kein Genie sein, um die schwarzen Konten und die Millionenbeträge erahnen zu können, die hier an die Verlage und einzelne Journalisten (vermutlich aus Steuergeldern) geflossen sind.

  • QuestionMark 23. März 2016, 22:52

    Welcher Wandel wäre also notwendig? Wir (die Demokraten) müssen dafür sorgen, dass die Verräterparteien aus den Parlamenten entfernt werden. Wir brauchen die Unfähigen, die Lügner, Betrüger und Fälscher der supergroßen Koalition (CDU/CSU/SPD/FDP/Grün) nicht. Auf dieses Gesindel können wir getrost verzichten. Die Reformunfähigkeit dieser Parteien hat sich in den letzten Jahren doch überdeutlich herauskristallisiert. Was bitte soll man sich von solchem Lumpenpack noch erhoffen? Welche Hoffnung wäre denn eine begründete? Etwa die, dass der nächste Betrug, die nächste Statistikfälscherei, die nächste Lüge doch hoffentlich professioneller ins Publikum transportiert wird? Welche Erwartungshaltung soll man an das kriminelle Lumpenpack der etablierten Parteien richten?
    Fakt ist, dass jegliche Erwartungshaltung hierzu lediglich Selbstbetrug wäre. Die einzige Alternative ist der große „Cleanup“. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt.

  • Ralf 24. März 2016, 03:30

    @ In Dubio

    Das ‚Ergebnis waren klägliche 2,7% Zugewinne bei sinkender Wahlbeteiligung.

    Sie schreiben es zwar nicht ausdruecklich, aber ich lese zwischen den Zeilen, dass Sie dieses klaegliche Wahlergebnis der SPD 2013 nicht auf den (Zitat) „konservativen Kandidaten Steinbrueck“, sondern auf das (ebenfalls Zitat) „[linke] Profil [der SPD] aus den 1980er und 1990er Jahren“ schieben. Falls ich Sie da richtig interpretiere, moechte ich widersprechen. Die miserablen Ergebnisse haben aus meiner Sicht drei ganz andere Gruende:

    1.) Erstens nimmt der SPD kein Mensch mehr ab, dass sie ein genuin linkes Programm auch wirklich umsetzen wuerde. Der Waehler hat mittlerweile verstanden, dass diese Partei staendig nur links blinkt, um anschliessend rechts abzubiegen. Wer an linker Politik interessiert ist, hat folglich entweder die LINKE gewaehlt oder ist am Wahltag gleich frustriert zuhause geblieben.

    2.) Zweitens war Steinbrueck – unabhaengig von seinen politischen Ansichten – ein katastrophaler Kandidat. Im ARD-Deutschlandtrend kam Steinbrueck im April 2013 bei der Frage, ob die Deutschen mit seiner Arbeit zufrieden sind, gerade mal auf peinliche 32%. Im Juni 2013 konnte er sich auf magere 36% steigern. Im September 2013 immerhin auf 47%. Aber selbst bei diesem Hoechstwert, war immer noch die Mehrheit der Befragten mit ihm unzufrieden. Selbst Guido Westerwelle war uebrigens beliebter als Peer Steinbrueck. Was fuer eine tolle Ausgangsposition fuer eine Bundestagswahl! Merkels Werte zum Vergleich: (68% im April 2013, 70% im Juni 2013 und 70% im September).

    3.) Drittens passten Kandidat und Wahlprogramm kein Stueck zusammen. Einen ausgemachten Neoliberalen an der Spitze einer Partei zu platzieren, die linke Politik in das Parlament tragen soll, ist politisch eine Unmoeglichkeit. Entweder wird sich der Kandidat voellig verbiegen muessen oder das Programm muss nach der Wahl klammheimlich in der Schublade verschwinden. Oder beides. In jedem Fall naehrt eine solche Konstellation auch die Unglaubwuerdigkeit der SPD. Siehe Punkt 1.).

    Es ist jedoch kaum erklärlich, dass die SPD wegen der Arbeitsmarktreformen und dem Afghanistan-Einsatz so viele Stimmen bei ihren Stammwählern verloren haben soll. Bereits 2004 analysierte die Konrad-Adenauer-Stiftung sehr wohl zutreffend:
    Viel gravierender ist (..) das Schrumpfen der Kernwählerschaften der beiden Volksparteien: Kirchengebundene Katholiken und Arbeiter mit Gewerkschaftsmitgliedschaft stellen nur noch einen marginalen Teil der Wählerschaft von CDU/CSU und SPD.

    Also zunaechst mal sind „klassische Arbeiter“ mit Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht die einzigen treuen SPD-Stammwaehler gewesen. Bevor die Gruenen diese Waehlergruppe mitnahmen, hatte die SPD weit ins progressive Buergertum hinein Strahlkraft (gemeint sind diejenigen buergerlichen Schichten, denen die CDU zu hinterwaeldlerisch, national verklaert, verklemmt und spiessig war)

    Und zweitens ist die Zahl der Arbeiter mit Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht so schnell und so dramatisch gesunken, dass dies die Wahlfiaskos der SPD seit 2005 erklaeren koennte. Die folgende Grafik zeigt, dass die Zahl der Gewerksschaftsmitglieder seit Mitte der 80er Jahre stetig und einigermassen linear abfiel:

    http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/downloads/ausgaben/WD_2014/wd1402/adam-abb4.gif

    Die abrupten Verluste der SPD zeigen einen voellig anderen Verlauf. Zwischen 1961 und 2002 hatten die Sozialdemokraten stets Werte zwischen 36,2% (Tiefswert in 1961) und 45,8 (Hoechstwert in 1972) erreicht – den Sonderfall der Wiedervereinigungswahl 1990 nicht mit eingerechnet. Der Durchschnitt der SPD-Wahlergebnisse in diesen Jahren (wieder exklusive 1990) war 40.05%. Beginnend mit der Wahl 2005 stuerzte die SPD dramatisch ab. 1990 wieder aussen vor gelassen, fuhr die SPD das schlechteste Wahlergebnis seit 1957 ein. Vier Jahre spaeter verlor sie weitere mehr als 12% (!). Auf diesem mageren Niveau stabilisierte sie sich dann in 2013. Heute liegt sie in den meisten Umfragen nochmal deutlich unter dem peinlichen Wert von 2009. Einen dermassen brutalen Einbruch hat es weder bei der Zahl der Arbeiter noch bei der Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in diesem Zeitraum gegeben.

    Wenn die SPD nur die Arbeitslosenhilfe wieder einführen und Hartz-IV abschaffen, wenn sie eine Anbiederungspolitik an Russland wie anno damals 1989 Oskar Lafontaine an Honecker machen, wenn sie endlich wieder den Spitzensteuersatz von 53% und die Vermögensteuer einführen würde, ja dann würde der Bürger wieder seine Liebe zur Sozialdemokratie entdecken. Außer der nostalgischen Erinnerung finden sich jedoch keine Anhaltspunkte, dass dies eine realistische Perspektive wäre.

    Stimmt. Jede Idee hat ihre Zeit. Im Augenblick gibt es relativ wenig Lust auf linke Politik. Liegt wohl auch daran, dass es Deutschland mit der gegenwaertigen Politik im Augenblick ganz gut geht. Das kann sich allerdings auch schnell wieder aendern. Stimmungen sind volatil und haengen von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstaenden ab. Vor der Bankenkrise im vergangenen Jahrzehnt hatten die Neoliberalen ihre Zeit. Der wirtschaftliche Schwung schien ihnen Recht zu geben. Sozialdemokraten schienen wie voellig aus der Zeit gefallen. Und dann fiel 2008 mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers das ganze schoene Kartenhaus der Turbokapitalisten in sich zusammen. Ploetzlich sah es garnicht mehr so klug aus, mit seiner Rente auf dem Aktienmarkt zu zocken. Ploetzlich riefen alle nach dem starken Staat, der den gesellschaftlichen Fallout der Katastrophe mildern sollte. Und das hat der Staat ja dann auch gemacht. Sozialdemokratische Ideen sahen ploetzlich schon viel vernuenftiger aus als nur wenige Monate zuvor. Und wer weiss, vielleicht kommt ja auch wieder mal die Zeit fuer eine wirklich linke Politik. Ein gerechtes Gemeinwesen und soziale Solidaritaet sind Ziele, die ihre Bedeutung nicht verlieren. Und gerade in Krisenzeiten scharen sich die Menschen wieder um solche Werte. Es ist gut, wenn eine Partei das Angebot dafuer aufrecht erhaelt. Man muss ja nicht unbedingt in 2017 die Wahlen gewinnen. Oder in 2021. Obwohl das durchaus moeglich waere, wie ich Ihnen in Ihrem vorherigen Thread vorgerechnet hatte. Und selbst wenn man keine Wahlen gewinnt, ist fuer eine Demokratie auch eine starke Opposition wichtig. Eine SPD, die die CDU kopiert hingegen, braucht kein Mensch. Wer Merkel will, waehlt ohnehin nicht SPD sondern Merkel.

    Eine weitere Empfehlung ging dahin, soweit auf Grüne und LINKE zuzugehen, dass diese überflüssig würden.

    Falls Sie damit auf meine Kommentare zu Ihrem letzten Artikel anspielen, da haben Sie mich falsch verstanden. Der Zug, die SPD wieder mit Gruenen und LINKE zu vereinigen, ist abgefahren. Die Gruenen brechen jetzt ja bereits weg ins konservative Lager und werden bald unwiederbringlich fuer die SPD verloren sein, wenn diese nicht schleunigst Rot-Rot-Gruen moeglich macht und damit eine realistische Regierungsoption jenseits der CDU schafft.

    Denn tatsächlich folgt die Entwicklung der Grünen nur dem Zeitgeist, welchem sich Teile der SPD verweigern wollen. Die Kohlekumpels in Duisburg gibt es nicht mehr, wohl wahr. Dafür sind jedoch im Umfeld beispielsweise von SAP, neue, weit besser bezahlte Jobs entstanden. Diese Schichten sind neu und sie wählen in Walldorf und Umgebung zu jeweils gut 20% die Parteien der Besserverdiener, FDP und Grüne. Schon gedanklich ist es sehr schwer vorstellbar, eine konsistente Politik für Arbeitnehmer zu machen, die über 100.000 EUR verdienen, ein schmuckes Häuschen im Grünen haben, Porsche Cayenne als Erstwagen und BMW i3 als Zweitwagen fahren und den zu kurz Gekommenen in Berlin-Neukölln, die offiziell Hartz-IV beziehen und sich ihr Einkommen mit angemeldeten und nichtangemeldeten Nebenjobs aufbessern.

    Also soll die SPD dem Zeitgeist folgen und die „zu kurz Gekommenen“ zum Teufel schicken und stattdessen Politik fuer Erstwagen-Porschefahrer machen? Das passt dann wohl auch folgerichtig zu Ihrer Kritik an der „Busfahrermentalitaet (alle mitnehmen!)“, die sie bei den Sozialdemokraten vermuten. Das Gegenteil von „alle mitnehmen“ ist uebrigens Menschen eisam am Strassenrand stehen zu lassen.

    Mehrere Kommentatoren haben sich zuletzt an einem Maßstab versucht. Es musste beim Versuch bleiben. Der sogenannte Gini-Koeffizient (0 ist völlige Gleichverteilung) soll zur Ermittlung des Ausmaßes der sozialen Gerechtigkeit herhalten. Allerdings misst diese Kennzahl die Gleichmäßigkeit oder Ungleichmäßigkeit der Einkommensverteilung. Ist Einkommensgleichheit also gleich soziale Gerechtigkeit? Warum nennt man es dann nicht so?

    Niemand verlangt Einkommensgleichheit. Da ist schon wieder Ihr bekannter Argumentationstrick. Fuer Sie gibt es nur weiss oder schwarz. Grautoene sind in Ihrer Gedankenwelt scheinbar voellig abwesend. Es gibt aber nicht nur die Alternativen entweder eine groteske Ungleichheit in der Gesellschaft zu zuechten oder eine radikale Einkommensgleichheit herzustellen. Worum es geht, ist die Einkommensschere und auch die Vermoegensschere soweit zu schliessen, dass die Unterschiede zwischen den Reichsten und den Aermsten nicht mehr ihr heutiges perverses Ausmass haben. Dafuer braucht man nicht den Kommunismus einzufuehren. Dafuer braucht es keine Einheitsrente. Dafuer braucht es bei den Durchschnittsverdienern ueberhaupt keine Aenderungen oder lediglich einen moderaten Zuwachs. Nur ganz oben geht es darum den Reichtum einer immer maechtiger werdenden neuen Geldadelsschicht zu begrenzen, waehrend es ganz unten darum geht Menschen wo moeglich wenigstens in die untere Mittelklasse zu heben. Also mit anderen Worten exakt das, was die Politik des New Deals in den USA sehr erfolgreich bewirkt hat. Niemand wird behaupten, dass Amerika unter Roosevelt kommunistisch geworden waere. Ganz im Gegenteil. Die Wirtschaft hat gebrummt wie noch nie und es ist breiter Wohlstand geschaffen worden. Messen kann man den Erfolg einer solchen Politik mit dem Gini-Koeffizienten.

    Zurueck zu Ihrer Frage: Ist eine Welt, in der fast alle Menschen zumindest Teil der unteren Mittelklasse sind und niemand das 500-fache eines einfachen Arbeiters verdient, sozial gerecht? Meine Antwort ist „ja“.

    Dazu müsste man sich der Kälte des Wählermarktes aussetzen, jener Bürger, die nach Nützlichkeit, Image und Lebenssituation wählen. Und nicht den Mief der alten Zeit atmen wollen.

    Noch ein letztes Mal: Es gibt keinen „Waehlermarkt“. Politik ist ein Streit der Ideen und gesellschaftlichen Visionen. Eine Idee, die man fuer richtig haelt, gibt man nicht auf, um dem Waehler hinterherzurennen. Stattdessen versucht man den Waehler mit solider Argumentation zu ueberzeugen. Was passiert, wenn man dem Waehler einfach nach dem Munde redet, einzig mit dem Ziel Stimmen zu gewinnen, Wahlen zu gewinnen – koste es was es wolle – voellig wurscht, ob die Programmatik Sinn macht oder ob ueberhaupt eine halbwegs konsistente Programmatik vorhanden ist, kann man derzeit in den USA sehen. Das waehlen beachtliche Mehrheiten gerade Donald Trump zum republikanischen Praesidentschaftskandidaten.

    • In Dubio 24. März 2016, 09:38

      Ich habe hoffentlich mehrmals deutlich gemacht, dass ich die Konstellation konservativer Kandidat / linkes Programm für nicht glücklich hielt. Wenn Sie jedoch Steinbrücks Buch „Unterm Strich“ gelesen hätten, würden Sie ihn nicht als Neoliberalen bezeichnen. Das tun nur Leute, für die alles neoliberal ist, was anders ist als sie selber. Kommt bei Linken häufiger vor.

      Sie bleiben bei Ihrer Froschperspektive, von der Sie sich nicht lösen können. Ihr Abstraktionsvermögen ist zumindest sehr stark eingeschränkt. So bemängeln Sie zwar die Glaubwürdigkeit des linken SPD-Programms von 2013, können aber keine anderen Schlussfolgerungen als die eines Frosches ziehen.

      Nehmen wir an, der Parteivorsitzende Gabriel wollte damit jene Schichten ködern, bei denen der ehemalige Finanzminister ein hohes Ansehen besaß. Im Frühjahr 2012 war Steinbrück nach Angela Merkel der beliebteste Politiker, obwohl er kein Amt besaß. Erst mit seiner Tollpatschigkeit und der ungeschickt geführten Diskussion über seine Nebeneinkünfte sanken seine Zustimmungswerte rapide. Die Menschen, die sich einen Kanzler Steinbrück vorstellen konnten, nicht jedoch ein klassisch linkes Steuererhöhungsprogramm, werden auch abgewogen haben: wer ist durchsetzungsstärker? Es lag auf der Hand, dass das die Partei sein würde. Anders als Schröder war der Hamburger ein Kandidat von Gnaden der Parteifunktionäre. Und wenn sich der ehemalige Ministerpräsident von NRW ein Programm aufdrücken lässt, das diametral zu seinen Überzeugungen steht, wird er auch im Amt nicht das nötige Standvermögen besitzen, sich gegen die linken Übergriffe zu wehren. Deswegen funktionierte das Manöver nicht.

      Die LINKE verlor 2013 3,3%, die Grünen 2,3%. Was finden Sie da an linker Programmatik überzeugend?

      Nur: wenn aus Ihrer Sicht die SPD kein Stück Glaubwürdigkeit für ein linkes Programm besitzt – warum sollte sie dann damit werben? Und warum sollte sie sich um eine klar linke Koalition bemühen? Das ist ein ziemlicher Bruch in Ihrer Logik. Sie müssen das tun, wo Sie Glaubwürdigkeit besitzen, um akzeptiert zu werden.

      Noch so etwas: die Grünen triften zur Union ab, weil die SPD nicht R2G macht? Nach meiner Beobachtung der letzten 10 Jahre verhalten sich Grüne bei der Debatte stets zurückhaltend, nicht fordernd. Es ist auch schwer vorstellbar, dass der Flügel um Palmer und Kretschmann je einem solchen Bündnis den Segen gibt. Zudem übersehen Sie wie angemerkt die höchst unterschiedlichen Wählerschichten, Altersklassen und Wertvorstellungen. Die Grünen wurden erst in den 1990er Jahren populärer, nachdem sie sich von ihrem radikal linken Flügel um Jutta Dittfurth verabschiedet hatten. Linke Spinnereien wie die 5-Mark-Liter-Benzin-Debatte hätten 1998 fast die Regierung gekostet. Die Grünen sind dann stark, wenn sie sich im bürgerlichen Spektrum bewegen. Das haben die Analytiker der Partei auch aus dem Desaster 2013 geschlussfolgert.

      Die Grünen haben jene neuen Wähler genommen, welche die SPD nicht wollte. Das ist ja mein Argument. Der gutverdienende IT-Administrator ersetzte den Kohlekumpel in Duisburg. Nur begriffen die Parteistrategen das nicht. Sie weigern sich, Schlussfolgerungen aus gesellschaftlichen Entwicklungen zu ziehen. Wenn sich in einer Generation die Anzahl der Akademiker verdoppelt, die im Schnitt eine Bildungsrendite von 60% über dem Mittel einstreichen, dann werden sich auch deren politische Einstellungen ändern. Bildung vergrößert die Einkommensunterschiede in einer Gesellschaft, wenn Beruf, Karriere und Einkommen nicht mehr an handwerklichen Fähigkeiten und Erfahrung hängen. Man kann nicht gleichzeitig Politik für den langzeitarbeitslos gewordenen Kumpel in Marxloh betreiben und die Jungakademiker umgarnen. Das ist die materielle Kritik an Ihrem Rechenbeispiel, die ich erklärtermaßen ausgeblendet hatte. Aber Sie müssen sich mal damit auseinandersetzen, um ein konsistentes Argument hinzubekommen.

      Nochmal: würden sich die Volksparteien nur auf die Stammwähler beschränken, wären sie klein. Das wusste man schon vor über 10 Jahren. Sie nehmen es gar nicht auf.

      Menschen, die 1961 gewählt haben, sind in der Mehrzahl tot. Sinnvoll kann nur der Vergleich von Wahlergebnissen einer Generation sein, also 20-25 Jahre. Aber selbst wenn man das auf 1982 erweitert, so war Schröders Ergebnis 2005 immer noch eines der besten. Es ist richtig, die Erosion begann früher, allerdings schon vor den Arbeitsmarktreformen. Auch das wollen Sie nicht sehen. 1998 erreichte die SPD Wähler, die definitiv nicht zu ihrer Klientel gehören, in der Masse die Alten. Der Sprung von Mitte 30% auf 41% ist hierauf zurückzuführen. Dieser Effekt war einmalig, von der Blüm-Reform verschreckte Alte gaben der SPD ihre Stimme. Schauen Sie sich dazu die Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung an.

      Nach 2008 änderte sich die Anforderung an den Politikertypus. Waren vor der Finanzkrise junge Aufsteigertypen gefragt, reüssierten danach die älteren Semester. Die Popularität von Bernie Sanders, Corbyn, Kretschmann, Schäuble, Gauck sind hier symptomatisch, sie gewannen Glaubwürdigkeit gegenüber weit jüngeren Mitbewerbern.

      Und selbst wenn man keine Wahlen gewinnt, ist für eine Demokratie auch eine starke Opposition wichtig.

      Das Ziel eines jeden Lagers muss die Machterringung sein. Sonst macht Politik wenig Sinn. Zu warten bis der Wähler zu einem kommt, ist eine alberne oder herrische Annahme. Parteien, die sich so verhalten, warten ewig. Linke haben allerdings oft diese Einstellung, weswegen Konservative wie z.B. die Liberaldemokraten in Japan oder die Konservativen in Großbritannien, Frankreich und Italien Staatsparteien sind / waren, lediglich unterbrochen von kurzen Phasen linker Herrschaften. In UK und Italien zumindest haben sich Linke dann herabgelassen, konservative Kandidaten auf den Schild zu heben, nämlich dann, wenn sie der harten Opposition überdrüssig waren.

      Niemand verlangt Einkommensgleichheit. Da ist schon wieder Ihr bekannter Argumentationstrick. Für Sie gibt es nur weiß oder schwarz.

      Das Argument war, dass „soziale Gerechtigkeit“ als Markenkern der SPD messbar sei anhand des Gini-Koeffizienten. Folgen Sie ab und zu auch meinem Argumentationsstrang? Jedenfalls muss es doch das Ziel sein, diese „soziale Gerechtigkeit“ herzustellen. Die Union sagt ja auch nicht, wäre schön wenn wir etwas innere Sicherheit oder etwas finanzwirtschaftliche Solidität hätten. Das Ziel ist absolut.

      Gini misst dagegen die Einkommensgleichheit. Wer ein anderes Ziel an diesen Maßstab anlehnt, muss sagen, wann sein absolutes Ziel „soziale Gerechtigkeit“ erreicht sei. Ich sprach mitnichten von völliger Gleichheit, sondern nur, was der Maßstab beschreibt.

      Und wenn das so ist, dann ist es für die eigene Argumentation ein Knieschuss, wenn man schwindende soziale Gerechtigkeit beklagt, obwohl der Maßstab über eine Dekade stabil bleibt oder sich in Richtung Ziel bewegt. Zudem signalisiert der Maßstab, dass Deutschland genau eine mittelgerechte Gesellschaft ist. Hilft alles nicht sehr in der Argumentation, um Wucht und Überzeugungskraft zu verbreiten.

      Sehen Sie sich amerikanische Filme der 60er Jahre (ich empfehle „Leih mir Deinen Mann“ oder „Das Apartment“) oder Mad Men an und vergleichen Sie das mit heutigen Filmen. Ihnen sollte auffallen, dass die amerikanische Gesellschaft viel heterogener geworden ist. Und die Idylle ist verschwunden.

      Politik ist ein Streit der Ideen und gesellschaftlichen Visionen.

      Das ist Ihr Irrglaube. Solange Sie die Überzeugung pflegen, werden Sie Mehrheiten hinterherrennen. Ich kann mich an keine Wahl erinnern, wo „die besseren Ideen“ oder „Visionen“ gewonnen hätten. Da muss man allein schon fragen, woran das gemessen werden sollte. Sie sind doch das beste Beispiel: Sie würden sich nie von wirtschaftsliberalen Visionen überzeugen lassen. Ihre politische Einstellung ist geprägt von Ihren Kindheits- und Jugenderlebnissen, von Werten, die Ihnen in dieser Phase vermittelt wurden und Lebenserfahrungen, die Sie gesammelt haben. Nach Ihrer Prägung muss ein konservatives oder neoliberales (um einen Begriff zu verwenden, mit dem Sie etwas anfangen können) Weltbild falsch sein. Eine solch absolute Einstellung verträgt sich jedoch nicht mit demokratischen Überzeugungen, da liegt die Gefahr.

      • Blechmann 24. März 2016, 15:42

        „Die Union sagt ja auch nicht, wäre schön wenn wir etwas innere Sicherheit oder etwas finanzwirtschaftliche Solidität hätten. Das Ziel ist absolut.“

        Und wonach misst die Union innere Sicherheit? Der Kriminalitätsstatistik? Wir könnten ein paar Straftatbestände abschaffen, schon steigt die innere Sicherheit.

        Außerdem ist es ein Unterschied, ob die Union absolute innere Sicherheit verlangt oder als Ziel hat. Natürlich ist ein Gini von 0 das Ziel, das heißt aber nicht, dass eine soziale Partei auf Biegen und Brechen versucht, das herbeizuführen. Die Union stellt auch nicht an jede Ecke einen Polizisten, um die innere Sicherheit herbeizuführen.

      • Ralf 25. März 2016, 01:16

        So bemängeln Sie zwar die Glaubwürdigkeit des linken SPD-Programms von 2013, können aber keine anderen Schlussfolgerungen als die eines Frosches ziehen.

        Tip fuer die Zukunft: Das Ersetzen von Argumenten durch Tier-Metaphern ist keine zielfuehrende Strategie in einer Debatte.

        Die Menschen, die sich einen Kanzler Steinbrück vorstellen konnten, nicht jedoch ein klassisch linkes Steuererhöhungsprogramm, werden auch abgewogen haben: wer ist durchsetzungsstärker?

        Fuer Menschen, die gerne einen Kanzler haetten, der so ist wie Peer Steinbrueck, gibt es die CDU und die FDP.

        Die LINKE verlor 2013 3,3%, die Grünen 2,3%. Was finden Sie da an linker Programmatik überzeugend?

        Schwankungen um die 2-3% sind relativ moderat. Dazu kommt, dass zumindest bei den Gruenen der „Einbruch“ der Werte einzig und allein an der schmutzigen Paedophilie-Debatte lag und nicht am „Steuererhoehungsprogramm“. Das laesst sich sehr einfach dadurch zeigen, indem man schaut, zu welchem Zeitpunkt genau die Gruenen in den Umfragen an Stimmen verloren. Ich hatte Ihnen als Beleg in einer der frueheren Diskussionen ein annotiertes Schaubild dazu gepostet, das die Umfragewerte der Gruenen auf einer Zeitachse mit wesentlichen Ereignissen, wie z.B. dem Beschluss des Wahlprogramms oder der Veroeffentlichung von Franz Walters Zwischenbericht korreliert.

        Nur: wenn aus Ihrer Sicht die SPD kein Stück Glaubwürdigkeit für ein linkes Programm besitzt – warum sollte sie dann damit werben?

        Moeglicherweise spekuliert die SPD auf das schlechte Erinnerungsvermoegen mancher ehemaliger Anhaenger.

        Noch so etwas: die Grünen triften zur Union ab, weil die SPD nicht R2G macht?

        Genau. Die Gruenen trennte noch vor 10 Jahren ein gewaltiger Graben von der Union. CDU und Gruene waren Erzfeinde – voellig unvereinbar miteinander.

        Aber dann gingen den Gruenen die Regierungsperspektiven aus. Im Bund, und mittlerweile auch in mehreren Laendern ist Rot-Gruen rechnerisch in weite Ferne gerueckt. Im Endeffekt blieb dann nur die Ampel oder Rot-Rot-Gruen. Der Abschied der FDP aus zahlreichen Parlamenten, aber auch der knallhart neoliberale Kurs der FDP, machten Ampel-Koalitionen praktisch unmoeglich bzw. der eigenen Klientel unvermittelbar. Und die Weigerung der SPD mit der LINKEN zu koalieren, raubte auch diese letzte Chance auf eine Regierungsoption. Wollen die Gruenen ihr Programm umsetzen, bleibt nur noch ein Wechsel ins gegnerische Lager.

        Und genau zu dem Zeitpunkt, als die Gruenen das langsam zu realisieren begannen, rutschte die CDU immer weiter von rechts in die Mitte und begann Positionen zu vertreten, die fuer die Gruenen sehr attraktiv wirken (Ausstieg aus der Atomenergie, Abschaffung der Wehrpflicht, offene Fluechtlingspolitik etc.). Den Rest kann man sich denken.

        Die Grünen haben jene neuen Wähler genommen, welche die SPD nicht wollte. Das ist ja mein Argument. Der gutverdienende IT-Administrator ersetzte den Kohlekumpel in Duisburg. Nur begriffen die Parteistrategen das nicht. Sie weigern sich, Schlussfolgerungen aus gesellschaftlichen Entwicklungen zu ziehen.

        Vielleicht haben die Parteistrategen das ja begriffen und wollen aber trotzdem keine Politik machen, die nur dem gutverdienenden IT-Administrator und dem von Ihnen zuvor erwaehnten Erstwagen-Porschefahrer zugute kommt.

        Man kann nicht gleichzeitig Politik für den langzeitarbeitslos gewordenen Kumpel in Marxloh betreiben und die Jungakademiker umgarnen.

        Moeglicherweise ist es den SPD-Mitgliedern aber wichtig Politik zu machen, die dem langzeitarbeitslos gewordenen Kumpel in Marxloh wieder auf die Beine hilft. Ausserdem hat auch der Jungakademiker ein Interesse an einer gerechten solidarischen Gesellschaft. Nehmen Sie mal mich als Beispiel. Ich bin doch auch „Jungakademiker“. (Naja, vielleicht nicht mehr ganz so jung, aber zumindest Akademiker … 😉 )

        Auch das wollen Sie nicht sehen. 1998 erreichte die SPD Wähler, die definitiv nicht zu ihrer Klientel gehören, in der Masse die Alten. Der Sprung von Mitte 30% auf 41% ist hierauf zurückzuführen. Dieser Effekt war einmalig, von der Blüm-Reform verschreckte Alte gaben der SPD ihre Stimme.

        Soll das ein Beispiel fuer gute SPD-Politik sein, an der sich die Partei heute ein Beispiel nehmen sollte? Zur Erinnerung: Die SPD schaffte den demographischen Faktor 1998 ab, nur um ihn dann 2004 reuevoll unter neuem Namen wieder einzufuehren. Fuer mich sieht das eher nach Huehnerhaufen aus anstatt nach solider Politik.

        Nach 2008 änderte sich die Anforderung an den Politikertypus. Waren vor der Finanzkrise junge Aufsteigertypen gefragt, reüssierten danach die älteren Semester. Die Popularität von Bernie Sanders, Corbyn, Kretschmann, Schäuble, Gauck sind hier symptomatisch, sie gewannen Glaubwürdigkeit gegenüber weit jüngeren Mitbewerbern.

        Na, da picken Sie aber arg selektiv. Was ist mit Matteo Renzi (41), Alexis Tsipras (41), David Cameron (49), Mark Rutte (49), Charles Michel (40), Bohuslav Sobotka (44) usw. …

        Das Ziel eines jeden Lagers muss die Machterringung sein. Sonst macht Politik wenig Sinn. Zu warten bis der Wähler zu einem kommt, ist eine alberne oder herrische Annahme.

        Herrisch??? Was soll denn daran herrisch sein? Parteien sollten ueber kurze Zeitraeume programmatisch eigentlich einigermassen statisch sein. Eine Partei steht dabei fuer eine gewisse Vision, fuer ein gewisses Staatsverstaendnis, fuer einen gewissen Typ von Gesellschaft. Der Waehler waehlt sich aus diesem Angebot das heraus, was ihm gerade zum jeweiligen Zeitpunkt passt. Manche Werte, manche Ideen kommen mit der Zeit aus der Mode und ein paar Jahre spaeter sind sie moeglicherweise wieder „in“. Noch in den 80ern galt die Institution der Ehe in der jugendlichen Generation z.B. als voellig altmodisch und aus der Zeit gefallen. Heutzutage, legen Umfragen nahe, ist fuer die gegenwaertige junge Generation die Ehe oft wieder das „Ideal“.

        Das Argument war, dass „soziale Gerechtigkeit“ als Markenkern der SPD messbar sei anhand des Gini-Koeffizienten. […]
        Und wenn das so ist, dann ist es für die eigene Argumentation ein Knieschuss, wenn man schwindende soziale Gerechtigkeit beklagt, obwohl der Maßstab über eine Dekade stabil bleibt oder sich in Richtung Ziel bewegt.

        Der Gini-Koeffizient verharrt seit Jahren mehr oder minder auf hohem Niveau. Wo genau soll dabei der Knieschuss sein? Und ueberhaupt, wenn Sie ueber den Gini-Koeffizienten reden, meinen Sie Einkommen oder Vermoegen?

        Ihre politische Einstellung ist geprägt von Ihren Kindheits- und Jugenderlebnissen, von Werten, die Ihnen in dieser Phase vermittelt wurden und Lebenserfahrungen, die Sie gesammelt haben. Nach Ihrer Prägung muss ein konservatives oder neoliberales […] Weltbild falsch sein. Eine solch absolute Einstellung verträgt sich jedoch nicht mit demokratischen Überzeugungen

        Wow! Es ist also undemokratisch ein auf Lebenserfahrungen basiertes Weltbild zu haben? Darauf muss man erst mal kommen …

        • In Dubio 25. März 2016, 10:48

          Die Froschperspektive ist eine Metapher aus der Fotographie, nicht der Tierwelt. Sie beschreiben das politische und gesellschaftliche Geschehen meist aus dieser Haltung und selten aus der Totalen (auch ein Begriff aus der Filmografie). So haben Sie das Problem des Kandidaten Steinbrück eben nur aus einer Sicht beleuchtet, die Totale jedoch ausgeblendet.

          Wie erklären Sie sich den Erfolg der Kanzler Schmidt und Schröder sowie deren Popularität? Ganz offensichtlich wollten die Bürger keinen Strauß und keinen Stoiber im Berliner Kanzleramt. Sie haben ein sehr monopolartiges Denken. Die Massen der Menschen wollen auswählen können, und zwar aus Angeboten, die ähnlich sind. Deswegen gibt es so viele Massenprodukte (wie das Wort bereits durchschimmern lässt). Wer dagegen etwas Besonderes, Spezielles will, findet dafür stets nur wenige Anbieter.

          Auf die Politik übertragen: die wahlentscheidende Mehrheit der Wähler will wählen können. Wem Merkel nicht passt, der will dennoch nicht eine völlig andere Politik, der will nicht automatisch höhere Steuern für Besserverdienende und Vermögende, der will vielleicht dennoch das Ehegattensplitting behalten und vorrangig sich mit dem Auto bewegen. Sie dagegen meinen, eine solche Wahlmöglichkeit sei nicht nötig. Eben, monopolistisches Denken.

          Möglicherweise spekuliert die SPD auf das schlechte Erinnerungsvermögen mancher ehemaliger Anhänger.

          Sie winden sich raus. Sie sind es, der die SPD auffordert, eine dezidiert linke Politik zu machen. Nur um ihr vorzuhalten, dass sie dafür keine Glaubwürdigkeit besäße. Das passt nicht zusammen und diesen Widerspruch sollten Sie erläutern.

          Die Gruenen trennte noch vor 10 Jahren ein gewaltiger Graben von der Union. CDU und Grüne waren Erzfeinde – völlig unvereinbar miteinander.

          Falsch. Schon vor 10 Jahren wurde eine schwarz-rote Koalition in Baden-Württemberg ernsthaft erwogen, koalierten Konservative und Ökos beispielsweise in Frankfurt, der fünftgrößten Stadt des Landes, miteinander. Was Sie beschreiben, war vor 15-20 Jahren. Das waren Zeiten, wo Rot-Grün noch Mehrheiten errang. Wenn die Grünen Stimmen gewinnen, dann sind diese Zuwächse i.d.R. unvereinbar mit R2G. Damit verkehrt sich Ihr Argument allerdings ins Gegenteil: erst die Abstinenz der Grünen von einem solch verfemten Bündnis macht sie stark.

          Und genau zu dem Zeitpunkt, als die Grünen das langsam zu realisieren begannen, rutschte die CDU immer weiter von rechts in die Mitte und begann Positionen zu vertreten, die für die Grünen sehr attraktiv wirken.

          Und Sie empfehlen der SPD ernsthaft, als Strategie noch weiter nach links zu rutschen, um der Verdrängung zu entgehen?

          Vielleicht haben die Parteistrategen das ja begriffen und wollen aber trotzdem keine Politik machen, die nur dem gutverdienenden IT-Administrator und dem von Ihnen zuvor erwähnten Erstwagen-Porschefahrer zugute kommt.

          Das ist ja in Ordnung. Nur sollte ich mich dann nicht über Wahlergebnisse im 20%-Ghetto beklagen. Die Masse der Wähler pflegt nämlich nicht Ihren Idealismus. Das mögen Sie bedauern, aber das war immer die Realität.

          Sie sind da, wo ich als Student war. Ohne zu nah mit der Wirklichkeit des Arbeitslebens und den Konsequenzen staatlicher Eingriff in Kontakt zu kommen, lässt sich wunderbar philosophieren, wie die beste aller Welten aussehen könnte. Als ich dann das erstemal den harten Zugriff des Staates auf meine Überstunden (also für besonderen Einsatz) zu spüren bekam, war das schon ein frustrierendes Erlebnis. Und das erleben viele Arbeitnehmer jährlich, wenn sie eine Gehaltserhöhung bekommen und am Ende sehen, was davon wirklich übrig bleibt. Aus dieser Perspektive springt Ihnen jeder ins Gesicht, wenn Sie höhere Steuern fordern.

          Soll das ein Beispiel für gute SPD-Politik sein, an der sich die Partei heute ein Beispiel nehmen sollte? Zur Erinnerung: Die SPD schaffte den demographischen Faktor 1998 ab, nur um ihn dann 2004 reuevoll unter neuem Namen wieder einzuführen.

          Es passierte das, wovor Politologen und Ökonomen gewarnt hatten: bei einer schrumpfenden Gesellschaft muss die Entwicklung in einem Umlageverfahren abgebildet werden. Alles andere sprengt das System. Das wurde den verantwortlich Handelnden dann von den Fachleuten in den Ministerien auch unmissverständlich klar gemacht. Schröder hat die Abschaffung 1998/1999 als einen seiner größten Fehler bezeichnet.

          So ist das mit populistischen Forderungen: sie zerschellen an der Realität. Jedenfalls hatte sich die SPD damals um typische Unionswähler bemüht, die von ihrer präferierten Partei enttäuscht waren. Doch erfahrungsgemäß sind solche Gewinne, die auf einer Maßnahme fußen, nur temporärer Art.

          Parteien sollten über kurze Zeiträume programmatisch eigentlich einigermaßen statisch sein.

          Wo steht das? Im Handbuch für gute Demokratie? Bitte setzen Sie doch nicht immer Ihre eigene Meinung so absolut.

          Der Gini-Koeffizient verharrt seit Jahren mehr oder minder auf hohem Niveau.

          Was genau ist das hohe Niveau? Im Vergleich zu vor 20 Jahren? Ja. Im Vergleich der OECD? Nein. Im Vergleich zur Entwicklung anderer, „besser“ positionierter Staaten? Auch nein. Also, welches hohe Niveau genau meinen Sie und warum sollte das so problematisch sein?

          Noch 2009 und 2013 beklagten Linke die sich öffnende Schere der Einkommen. Bis sich langsam nicht mehr verschleiern ließ, dass wegen der hohen Erwerbsquote die Einkommen eben nicht mehr weiter auseinandergehen. Erst so seit 2, 3 Jahren rücken Linke deshalb die Vermögensverteilung ins Zentrum ihrer Argumentation. Frei nach dem Motto, stimmt das Eine nicht mehr, dann suche ich mir halt eine neue angebliche Ungerechtigkeit. Doch gerade mit der Ungleichheit bei Vermögen lässt sich noch weniger argumentieren, insbesondere im Hinblick auf den Markenkern Linker: Soziale Gerechtigkeit. Doch das ist einen eigenen Beitrag wert. 😉

          Es ist also undemokratisch ein auf Lebenserfahrungen basiertes Weltbild zu haben?

          Nein, nur haben Sie die Meinungsbildung ganz anders beschrieben: objektiv, kritische Abwägung von Alternativen etc. Wissen Sie manchmal nicht mehr, wie Sie im Satz zuvor argumentiert haben?

  • Hias 24. März 2016, 10:19

    Gut, ich versuch mal neu zu denken, alles erstmal aus dem Bauch heraus.

    Hm, ich denke der grundlegende Fehler der SPD ist, dass sie glaubt, dass sie gewählt wird, weil sie kleine Wohltaten verspricht und/oder wieder ein bisschen zurückrudert. Die Rente ab 63 bringt ihr nicht die Menschen zurück, die wegen der Rente mit 67 sauer sind, das ist zumindest mein Eindruck. Genauso wenig wird sie Erfolg haben, wenn sie das ALG II rückabwickelt.

    Wenn man sich die Wahlerfolge der SPD zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der 60er/ 70er Jahre und 1998 anschaut, dann denke ich eher, dass ihre Erfolge darin liegen, wenn sie gesellschaftliche Entwicklungen aufgreift und verspricht diese zu gestalten und auszutarieren. Dafür wird sie gewählt. In der Regierung muss sie dann beweisen, dass sie das kann. Gelingt ihr das, kann sie sich halten. Gelingt ihr das nicht, wird sie bitter bestraft.

    Basierend auf dieser Grundannahme würde ich der SPD eher empfehlen zu schauen, was die großen Herausforderungen der nächsten 10-20 Jahre sind und dass sie ihre Kräfte darauf verwendet, sich zu überlegen, was geschehen wird und wie man damit als Gesellschaft umgehen will. Und zwar so, dass nicht Teile der Gesellschaft völlig abgekoppelt werden. Als Beispiel: In den nächsten Jahren werden Roboter und die Vernetzung von Produktionsanlagen bzw. das Internet der Dinge schrittweise Einzug halten. Dieser Trend wird sich durch die demographische Entwicklung verstärken. Wichtig wird dabei sein, dass die unqualifizierten und die älteren Mitarbeiter nicht komplett abgehängt werden. Für die Unterstützung der Firmen bei dieser Entwicklung brauch ich die SPD nicht. Das kann auch die Union über Förderprogramme und erleichterte Abschreibungen. Aber eine Vision zu entwickeln, wie man in der kommenden neuen Arbeitswelt die Interessen von Arbeitnehmern, Unternehmen und auch Selbstständigen unter einen Hut bringt und dies in konkrete politische Maßnahmen umsetzt, das trau ich der Union (und auch keiner anderen Partei zu). Weitere Herausforderungen werden wohl die zunehmende Vernetzung (Internetdienstleistungen und Internet der Dinge) allgemein und deren Auswirkung auf unser tägliches Leben, die demographische Entwicklung, immer schnellere technologische Entwicklungen, die sich massiv auf viele Bereiche auswirkt, etc, sein.

    Wichtig dabei ist, dass man zwar das Kernklientel im Auge hat, aber dabei nicht vergisst, wichtige gesellschaftliche Teile, die diese Entwicklung vorantreiben, einzubinden. Das gelang zu Beginn des letzten Jahrhunderts (daraus wurde dann die Weimarer Koalition), das gelang Ende der 1960er Jahre mit der FDP und das gelang in den 1990er Jahren mit den Grünen. Man sollte sich also nicht zu sehr auf einen traditionellen Koalitionspartner verlassen.

    Konkreter:
    Beim Thema Rente / demographische Entwicklung weniger darauf setzen, die Menschen länger in ihrem aktuelle Job zu halten. Viele, die in den nächsten Jahren in Rente gehen haben in den 1970er und 1980er Jahren richtig harte körperliche Arbeit machen müssen. Diese zu zwingen noch länger in ihrem aktuellen Job zu bleiben, ist sowohl für diese Menschen als auch für die Unternehmen eher kontraproduktiv. Gleichzeitig können und wollen aber viele auch nebenbei noch ein bisschen was arbeiten. Warum nicht mehr Flexibilisierung, in der Art, dass man kein festes Rentenalter hat, sondern eher auf die Zeit in der Beiträge gezahlt wurden abstellt und dass man ab einer gewissen Zeit (bspw. nach 40 Jahren) eben nicht mehr einzahlen muss. Gleichzeitig muss Flexibilität aber auch bedeuten, dass man auch schon früher gehen kann.

    Beim Thema Bildung / Ausbildung / Weiterbildung: Das duale System weiterhin als Grundlage, aber aufgrund der schnelleren technologischen Entwicklung in vielen Bereichen zusätzliche Möglichkeiten für Auszeiten und Weiterbildungen schaffen. Bspw. einen großzügigen Bafög für einjährige Weiterbildung, die es auch einem 45-jährigen erlaubt, seine berufliche Kompetenz in ein angrenzendes Berufsfeld auszudehnen.

    Beim Thema soziale Absicherung:
    Die Arbeitswelt wird sich wohl immer mehr dahin entwickeln, dass bei vielen Menschen sich die Zeiten von Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit und Arbeitnehmer sein abwechseln. Wichtig sollte dann sein, dass man dafür sorgt, dass man die Gefahr minimiert, dass jemand in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutscht. Also kurze Phasen von Arbeitslosigkeit und Anlaufphasen von Selbstständigkeit eher gut absichert, und bei längerer Arbeitslosigkeit dann eher auf Praktika oder ähnliches drängt. Vielleicht auch in Zukunft 40-jährigen eine komplette Berufsausbildung zu finanzieren.

    Beim Thema Steuern / Beiträge für Sozialversicherungen:
    Weniger auf die immer gleichen direkten und indirekten Steuern bzw. auf den Faktor Arbeit setzen, sondern sich überlegen, wie man das System umbaut, wenn immer mehr Wertschöpfung von immer weniger Menschen erfolgt. Weniger über die Steuervermeidungsstrategien von IKEA und Apple jammern, sondern hier grundlegende Änderungen herbeiführen. Immerhin sind diese Schlupflöcher auch alle von Politikern gemacht worden.
    Gleichzeitig auch darüber nachdenken, ob Unternehmen für Roboter bspw. nicht auch Steuern und Sozialabgaben abdrücken sollten.

    Das alles soll nicht der Weisheit letzter Schluss sein, ganz im Gegenteil. Es ist eher der Versuch(!) zu überlegen, welche Herausforderungen kommen und wie man denen als SPD begegnen kann.

    • In Dubio 24. März 2016, 14:32

      Wow! Das ist das Beeindruckenste und Intelligenteste, was ich zu dem Thema zuletzt gelesen habe. So hatte ich mir das vorgestellt: Problemfelder der Gegenwart und näheren Zukunft sammeln, Entwicklungen intensiv analysieren und Interessen abgleichen. Gesellschaftliche Probleme suchen sich ihre Mehrheiten, nicht Möchtegern-Koalitionen suchen Probleme.

      Es ist die dominierende Annahme: die Arbeit wird sich aufspalten, viele Tätigkeiten werden überflüssig. Der Prozess ist bereits in vollem Gange und wird eruptiv verlaufen. Wenn auf mittlere Sicht bis zu 50% aller heutigen Jobs bedroht ist, was bleibt und wie sieht dann die Zukunft unseres Einkommenserwerbs und gesellschaftlichen Lebens aus? Der britische Economist hat das in die schöne Formel gepackt: der eine Teil wird Computern und Maschinen sagen, was sie zu tun haben. Der andere Teil wird von Computern und Maschinen gesagt bekommen, was sie zu tun haben. Die erste Gruppe wird sehr gut verdienen und zweite sehr wenig.

      Da Bildung und individuelles Können noch mehr als heute über Einkommen und Karriere entscheiden werden, muss der Staat überlegen, wie er das gesellschaftlich zusammenhält. Zur Lösung taugen keine tradierten Muster, sondern innovative Politikansätze.

      Wie bereits erwähnt halte ich die Sozialdemokratie für prädestiniert, hier den Menschen Ängste zu nehmen. Das Soziale und das Liberale müssen austariert werden, damit wir einerseits eine humane Gesellschaft bleiben, andererseits den Anschluss an die Dynamik der Weltwirtschaft und den Hunger der Aufsteiger nicht verlieren. Es bedarf einer neu zu definierenden Balance, die aus meiner Sicht nicht das Konservative leisten kann.

      Die Unterscheidung Arbeitnehmer, Unternehmer, Selbständiger wird sich weiter auflösen und genauso die zwischen Rentner und Erwerbstätiger. Auch hierzu müssen wir unser Denken und dann unsere Systeme umstellen, damit sie überleben können. Ängstliches Verharren, das Einfrieren des Status quo hatte politisch nie den entscheidenden Erfolg noch konnten solche Parteien überleben. Genau deshalb muss sich die Sozialdemokratie von ihrem rückwärts gewandten Denken lösen und Neues probieren. Es geht darum aus den Themen der Zukunft den Markenkern neu zu definieren, nicht um rechts oder links.

      • Blechmann 25. März 2016, 23:26

        „Wie bereits erwähnt halte ich die Sozialdemokratie für prädestiniert, hier den Menschen Ängste zu nehmen.“

        So wie sie den Menschen die Ängste vor HartzIV genommen hat?

        Ich glaube der Zug ist abgefahren. Eine SPD, die ihr Programm immer flexibel funktionell an der Mehrheitsfähigkeit ausrichtet, mag viele Stimmen bekommen, besonders vertrauenswürdig ist sie bestimmt nicht. So wie sie die Unterschicht-Wähler, die ihr vertraut haben, fallen gelassen hat, wird sie auch jede andere Wähler-Gruppe fallen lassen, sobald sie eine neue Mehrheits-Chance erspäht. Wem soll sie denn Ängste nehmen und wie? Mit PR-Gesülze?

        Um den Leuten Ängste zu nehmen, brauche ich ihr Vertrauen. Vertrauen, dass ich zu meinen Wählern und meinen Werten stehe. Dazu gehört auch, dass ich lieber in die Opposition gehe, als meine Werte zu verraten.

        Eine Immer-der-Mehrheit-nach-SPD wird niemandem Ängste nehmen.

    • Ralf 25. März 2016, 03:58

      In vieler Hinsicht kommt es mir vor, als wenn die hier gemachten Vorschlaege doch wieder auf die alten Konflikte zurueckkommen – manchmal in einem neuen Gewande. So wird z.B. eine staerkere Flexibilisierung bei der Rente gefordert, damit gerade die, die ihr Leben lang koerperlich hart gearbeitet haben frueher in Rente gehen koennen. Das klingt zunaechst mal gut. Allerdings sind diejenigen, die koerperlich hart arbeiten, in der Regel auch diejenigen, die nur recht kuemmerlich verdienen. Folglich sind es auch diejenigen, die sich eine Kuerzung der Rente durch frueheres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben am wenigsten leisten koennen. Wir muessen uns also entscheiden, diesen Menschen entweder Altersarmut zuzumuten oder die Gesellschaft kommt ueber hoehere Steuern oder Abgaben fuer die Differenz auf. Und schon sind wir wieder beim alten Verteilungskonflikt.

      Zweites Beispiel: Die Besteuerung von Robotern. Klingt auch erstmal gut, obwohl ich arge Probleme habe mir das in der Realitaet vorzustellen. Wir muessten definieren, was genau ueberhaupt ein Roboter ist. Ist z.B. eine Amazon-Drohne ein Roboter? Garnicht so einfach zu beantworten. Und wenn ein Roboter die Faehigkeit besitzt, drei unabhaengige Taetigkeiten durchzufuehren, wird der dann dreifach oder doch nur einfach besteuert? Und wenn zwei Maschinen gemeinsam an einem Problem arbeiten, zaehlen die als ein Roboter oder als zwei Roboter? Sinnvoller erschiene mir deshalb anstatt Roboter zu besteuern, die Steuerlast nach „Umsatz pro menschliche Angestellte“ zu berechnen. Branchen mit wenigen menschlichen Angestellten wuerden dann hoehere Steuern zahlen als Branchen, die viele Menschen beschaeftigen – bei gleichem Umsatz.

      Aber selbst wenn wir tatsaechlich eine Roboter-Besteuerung einfuehren wuerden, kaemen wir bald wieder bei einem altbekannten Problem heraus. Wenn das Betreiben von Robotern in Deutschland teuer wird, wuerden die Betriebe eben nach China oder sonstwohin auswandern. Und mit ihnen wuerden auch die wenigen (menschlichen) Arbeitsplaetze verschwinden, die trotz der Roboter ja auch noch zumindest in geringer Zahl gebraucht werden. Dem koennen wir natuerlich entgegenwirken, indem wir anschliessend Strafzoelle auf Waren aus China erheben. Allerdings wird China in dem Fall sofort Vergeltungszoelle auf unsere Exporte einfuehren. Letztlich stellt sich die Frage, ob wir zu einer solchen de facto Begrenzung des internationalen Handels, zur Begrenzung der Globalisierung bereit sind. Exakt das gleiche Problem stellt sich ja schon heute, etwa beim Umweltschutz. Wir belasten unsere Unternehmen mit Umweltauflagen, damit Luft und Wasser sauber bleiben. Die Unternehmen wandern anschliessend nach China aus, wo es (auflagentechnisch) wurscht ist, ob die Erde zerstoert wird. Wir verlieren Arbeitsplaetze, die Umwelt geht kaputt und wir trauen uns nicht die Produkte, die nicht nach unseren Standards produziert wurden, extra zu besteuern. Fuer uns also eine Lose-Lose-Situation.

      • In Dubio 25. März 2016, 10:09

        Sorgen Sie sich nicht: Dem Staat fiel zu jeder Zeit die geeignete Besteuerung ein. Warum denken Sie bei Zukunftskonzepten sofort an Steuern? Drei Absätze lang?

        Es geht doch um etwas ganz anderes: Was muss der Staat, was kann der Staat beim gesellschaftlichen Wandel tun, wo unterstützen? Wie begleitet er die Veränderungen in der Arbeitswelt, worauf muss er sich einrichten? Das sind Ansätze auch für eine sozialdemokratische Politik.

        Menschen, die auf Verschleiß arbeiten, sind heutzutage mit Anfang, spätestens Mitte 40 verschlissen. Da ist bereits die Debatte um leichtere Übergänge ins Altersgeld obsolet. Dieser Teil wird bereits in einer Frühphase aus dem Erwerbsleben herausroutiert. Für Unternehmen ist das wiederum eine Notwendigkeit und die hohe Anzahl geringqualifizierter Arbeitnehmer macht dies auch möglich.

        Ist ein Kranführer beispielsweise ein hart arbeitender Malocher? Eher nicht, die Arbeit besteht seit langem aus einer stundenlang sitzenden Tätigkeit und Stress durch die luftigen Höhen. Verschlissen sind diese Menschen seltener, oft jedoch aufgrund ihrer für den Körper komaartigen Tätigkeit überfettet.

        Die OECD markt es seit vielen Jahren an: die Sozialstaaten in den meisten Industrieländern leisten nicht das, was sie leisten sollten. Dabei mangelt es nie an Geld, sondern dem Willen zur zweckmäßigen Verteilung. Griechenland (hier hatten wir die gemeinsame Diskussion) sticht nur besonders negativ hervor. Aber das Thema ist virulent in der gesamten OECD. Wenn Sie Ihren Gerechtigkeitstrieb austoben wollten, hätten Sie damit ein breites Feld.

  • CitizenK 25. März 2016, 17:28

    Warum nur „Roboter“ besteuern? CNC-Maschinen waren noch keine Roboter und haben doch schon viele Arbeitskräfte ersetzt. Auch die PC-Revolution im Büro fand schon vor 30 Jahren statt.

    Damals wurde über eine Maschinen-Steuer (Wertschöpfungs-Abgabe) diskutiert. Eine Idee der alten SPD, die dann von rechts sofort als innovationsfeindlich verteufelt wurde. Im Hinblick auf die kommenden Veränderungen der Arbeitswelt (wie oben mehrfach beschrieben) sollte darüber neu nachgedacht werden. Dann müsste man auch Überstunden nicht mehr so hoch besteuern.

    Es gerät aus dem Blick, dass schon heute die Umsatzsteuer mehr einbringt als
    die Einkommens- und Lohnsteuer, ich zahle auch schon heute mehr Mehrwert- als Einkommensteuer. Die steht allerdings nicht auf dem Gehaltszettel und fällt deshalb nicht so auf.

    Auch das ein schwerer Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der SPD: Vor der Wahl als „Merkel-Steuer“ bekämpft, nach der Wahl dann erhöht. Dazu der zynische Kommentar von Müntefering zur Gültigkeit von Wahlversprechen vor und nach der Wahl .

    Ich bleibe dabei: Den entscheidenden Schlag hat der SPD die Schröder-Gang versetzt. Wahl-Erfolg hatten die, als die New-Labour-Ideen noch als fortschrittlich galten.

    • Blechmann 25. März 2016, 23:06

      „Damals wurde über eine Maschinen-Steuer (Wertschöpfungs-Abgabe) diskutiert. Eine Idee der alten SPD, die dann von rechts sofort als innovationsfeindlich verteufelt wurde.“

      Ist rationalisierungs-feindlich. Eine absurde Idee. In etwa so sinnig wie Autos zu besteuern, um Arbeitsstellen als Lastenträger zu schaffen. „Sozial ist was Arbeit schafft“, wohl der dümmste Spruch, den eine PR-Agentur je erfunden hat.

      Speziell, da wir angeblich in ein paar Jahrzehnten Arbeitskräfte-Mangel haben werden, brauchen wir Maschinen. Als Busfahrer drei Rentner mit zu ernähren wird schwierig, also brauchen wir Busse die alleine fahren.

  • Ralf 28. März 2016, 04:53

    Ich las gerade diesen Artikel aus der Huffington Post:

    http://m.huffpost.com/us/entry/9554852

    Er beschreibt die amerikanische Perspektive, ist aber in weiten Teilen auch fuer Deutschland gueltig. Eigentlich sollte sich hier genug Arbeit fuer Sozialdemokraten ergeben. Nur dass ironischerweise ja gerade die Sozialdemokraten verantwortlich sind, fuer das Entstehen all dieser minderwertigen Jobs. Und auch dass Bildung einen vor dem Absturz rettet, ist in Deutschland nicht mehr richtig. Viele Privatdozenten koennen von dem Taschengeld, das sie fuer ihre Lehre erhalten – nicht selten weniger als Hartz IV – nicht leben und mein ehemaliger Doktorvater berichtete mir sogar von Selbsthilfegruppen fuer habilitierte ALG2-Empfaenger. In all dem erscheint dann auch Stefan Sasses Spruch davon, dass wir in Deutschland einen Obama brauchen, nicht einen Sanders, etwas fahl. Unter Obama ist die Ungleichheit in den USA gewachsen. Unter Bill Clinton ebenfalls. Unter den Bushs sowieso. Wir brauchen auf beiden Seiten des Atlantiks endlich jemanden, der die Gesellschaft wieder zusammenfuehrt. Und das ist eben kein Obama. Das ist ein Bernie Sanders. Leider haben wir keinen.

  • CitizenK 28. März 2016, 11:39

    @ Ralf
    Gebührenfreies Studium und Krankenversicherung gibt es hier schon. Die Prekären oben (Dr. Hartz4 habil.) fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht, die unten wählten bisher nicht und ab jetzt wohl AfD.

    Ein deutscher Sanders käme zu spät, fürchte ich.

    • Ralf 28. März 2016, 15:04

      @ CitizenK

      Bernie Sanders war das letzte womit man in den USA gerechnet hatte. Und auch einen Jeremy Corbyn hatte niemand in Grossbritannien vorhergesehen. Die Indignados-Bewegung in Spanien ist von den deutschen Medien voellig totgeschwiegen worden (ich erfuhr durch die New York Times was in Europa passiert) und hat sich dennoch zu einer maechtigen Partei entwickelt. Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie eine enorme Leidenschaft und Motivation bei den Anhaengern bewirkt hat. Und die wird es auch brauchen. Dafuer eine verfehlte Politik rueckgaengig zu machen, ist es nie zu spaet. Und es ist immer noch besser, als einen falschen Weg bis zum bitteren Ende zu beschreiten, weil man nicht mehr die Hoffnung hat das Ruder herumzureissen.

      Noch zum Abschluss: Dass das PhD-Prekariat oben zahlenmaessig nicht ins Gewicht faellt, ist ein Geruecht. Akademische Stellen fuer Jungwissenschaftler etwa an Max-Planck Instituten oder am EMBL sind mittlerweile praktisch fast ausschliesslich Zeitstellen. Nach ein paar Jahren sitzen Sie wieder auf der Strasse – unabhaengig davon, ob Sie erfolgreich gearbeitet haben. Bei Juniorprofessuren ist es genau so. Doktoranden und Postdocs hingegen bekommen bestenfalls „Ein-Jahres-Vertraege“, manchmal muessen sie sich alle paar Wochen um einen Anschlussvertrag bemuehen. So weiss man nicht mehr, ob man im naechsten Monat noch die Miete bezahlen koennen wird. Mir ist persoenlich ein Beispiel bekannt, in dem eine Institutsleiterstelle (!) als „Postdoc-Stelle“ ausgeschrieben worden ist. Auf ein Jahr befristet und mit dem Gehalt, das normalerweise ein voellig unerfahrener Jungwissenschaftler unmittelbar nach dem Doktorat erhalten wuerde. Gegenwaertig scheint nichts so absurd zu sein, dass es nicht in unserer akademischen Welt stattfinden wuerde.

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