Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte: Geschlechtergerechte Sprache

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte: Geschlechtergerechte Sprache

Die Debatte um geschlechtergerechte Sprache ermüdet mich zunehmend. Ich würde davon ausgehen, damit nicht alleine zu sein. Alle Argumente sind hinreichend ausgetauscht, und mittlerweile ist ein Großteil dieser „Debatte“ in der Hölle des identitätspolitischen Geschreis angelangt, wo einstmals kontroverse Positionen bis zur Unkenntlichkeit auf das Niveau geschrieener Slogans heruntergedummt sind (ich habe im letzten Vermischten schon auf Ulf Poschardts beknackte Idee hingewiesen, dass die Verwendung geschlechtergerechter Sprache die Wehrfähigkeit Deutschlands beeinträchtige). Umso willkommener ist dieser unaufgeregte Band der Bundeszentrale für politische Bildung, der das Thema wieder auf eine argumentative Ebene hebt und sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen Raum für echte Argumentation bietet – und, das empfinde ich als entscheidend, den Sprachwissenschaftler*innen eine breite Bühne gibt, die wissenschaftliche Sicht der Dinge zu präsentieren, statt immer nur Aktivist*innen sich anschreien zu lassen.

Ein letztes Zugeständnis an diese Art der Debatte dürften die „Sechs Perspektiven“ sein, die zusammengenommen den ersten Beitrag bilden. Anne Wizorek plädiert für „Sprache als Spielraum“ und „Spaß an der Sprache“, zu einer Bereitschaft, Neues auszuprobieren und sich darauf einzulassen. Andreas und Silvana Rödder erklären, dass Sprache immer auch mit Macht zu tun hat und deswegen das Sichtbarmachen von Frauen und Minderheiten notwendig ist. Anatol Stefanowitsch stellt die „Diagnose Männersprache“ und erklärt noch einmal den Zusammenhang von genus und sexus. Helga Kotthoff warnt in „Zwischen berechtigtem Anliegen und Symbolpolitik“ vor Übertreibungen der Freunde geschlechtergerechter Sprache. Diese Kurz-Essays bieten keine neuen Thesen, packen sie aber auf nur vier Seiten für nicht so im Thema steckende Lesende gut zusammen.

Dagegen ließ mich Nele Pollatscheks „They: Gendern auf Englisch“ kopfkratzend zurück. Von ihrer nicht eben bahnbrechenden Erkenntnis, dass das Englische leichter geschlechtergerecht geschrieben und gesprochen werden kann und dass „singular they“ ein tolles Instrument ist geht das Essay dazu über, dass die meisten Berufsbezeichnungen im Englischen geschlechtsneutral sind. Nur – und jetzt? Der Tonfall des Essays impliziert ständig, dass die Angelsachsen irgendeine tolle Lösung gefunden hätten, die wir nur abschauen müssten, aber das geht ja offensichtlich nicht. Der überhebliche Ton lässt mich nur ratlos zurück.

Auffälliger ist Thomas Kronschläger in „Entgendern nach Phettberg“, wo er kurz einen Ansatz zu einer radikaleren Umstellung der deutschen Sprache, das Einführen einer neutralen Version mit -y (Lesy und Lesys für Leser, beispielsweise), erklärt. Während die Einführung neutraler Bezeichnungen (statt -y gibt es auch die Variante mit -x oder Abbrüche vor der Flektion) grundsätzlich die sauberste und beste Lösung wäre, was die grammatikalische Kohärenz angeht, sehe ich keinerlei Aussicht, einen so radikalen Sprachwandel in den nächsten Jahrzehnten durchsetzen zu können; für mich bleibt das eine intellektuelle Fingerübung.

Der erste ausführliche Beitrag des Bandes stammt von Horst J. Simon, der „Geschlechtergerechtigkeit und Sprachwandel aus Sicht der Historischen Soziolinguistik“ untersucht. Sein zentrales und wenig kontroverses Postulat ist, dass Sprache sich konstant wandelt. Was er unternimmt ist zu erklären, wie dies üblicherweise geschieht. Simon spricht von Normen, an denen wir unsere Sprache ausrichten. In Deutschland werden diese semi-verbindlich von Rechtschreibrat und Duden geregelt, haben aber wesentlich weniger Regelungskraft als dies etwa in Frankreich der Fall ist (aber mehr als etwa in den USA).

Relevant für den Sprachwandel ist daher mehr das Zusammenspiel von insgesamt vier Gruppen, die Sprachwandel betreiben. Erstens wären da Expert*innen, also Sprachwissenschaftler*innen wie er selbst, denen eine „hervorgehobene Rolle zukommen sollte“, wobei der Konjunktiv bereits verräterisch ist. In der Debatte spielen sie, glaube ich, die geringste Rolle. Die zweite Gruppe sind die Modellsprecher*innen, vor allem Prominente und Journalist*innen. Sie sind unsere größte Quelle gesprochener Sprache und haben daher Vorbildfunktion. Simon zeigt sich allerdings sehr skeptisch gegenüber ihrem Vermögen, die Sprache tatsächlich zu ändern; dafür lassen sich kaum Belege finden. Die Sorgen der Konservativen sind hier also unnötig.

Gleiches gilt für die Autoritäten, also Schulen und Universitäten. Wie wohl die meisten Lehrkräfte aus trauriger Erfahrung bestätigen können, sind die Möglichkeiten hier deutlich überschaubar; ihre Setzungskraft ist insgesamt gering, auch wenn sie durch die Autoritätsschnittstelle eine hervorgehobene Rolle im System haben. Sprachwandel, so Simon, passiert hauptsächlich in der mit Abstand größten, vierten Gruppe: den Sprachnutzer*innen. Kurz gesagt: wenn die Menschen anfangen, die Sprache zu ändern, ändert sich die Sprache. Es ist leider notwendig, dass darauf ausführlich hingewiesen wird, weil in der völlig unsachlichen Diskussion diese elementare Wahrheit gerne zugunsten Horrorszenarien von 1984-kompatibler Beeinflussung gerne vergessen wird.

Unter den Schlagworten „Zumutung, Herausforderung, Notwendigkeit“ diskutiert Carolin Müller-Spitzer den „Stand der Forschung zu geschlechtergerechter Sprache“ zentral die Thematik des so genannten „generischen Maskulinums“. Dieses von Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache gerne angeführte Element lässt sich sprachwissenschaftlich nicht belegen. Vielmehr beweist Studie um Studie, dass Frauen sich eben nicht mitgemeint fühlen – und Männer das auch so nicht meinen. Im Weiteren geht Müller-Spitz auch auf Alternativformen wie die Partizipialkonstruktion ein („Lehrende“ etc.), denen gerne vorgeworfen wird, sie seien missverständlich (weil etwa „tote Autofahrende“ nach einem Unfall unlogisch sei), was ebenfalls so nicht belegbar ist. Schon Mark Twain übrigens bemerkte die Merkwürdigkeiten von genus und sexus in der deutschen Sprache, sie sind wahrlich kein neues Phänomen.

Eine Generalkritik der geschlechtergerechten Sprache kommt von Peter Eisenberg („Weder geschlechtergerecht noch gendersensibel“). Er wirft bereits zu Beginn den Fehdehandschuh hin, indem er sich weigert, den Begriff „geschlechtergerecht“ zu verwenden und stattdessen den Kampfbegriff der anderen Seite nutzt („Gendern“). Er stellt Behauptungen auf, die sprachwissenschaftlich nicht haltbar sind – so präsentiert er mit generischem Maskulinum, Doppelnennung, der Kritik an Partizipformen und dem Genderstern genau die Argumente, die bereits vielfach widerlegt sind.

Miriam Linds und Damaris Lüblings „Sprache und Bewusstsein“ stellt die grundlegende Frage, inwieweit Sprache eigentlich das Bewusstsein mitbestimmt. Gäbe es hier keinen Zusammenhang, so wäre die ganze Diskussion über geschlechtergerechte Frage, unabhängig von Grammatik- und Sprachwandeldiskussionen, ohnehin müßig. Die Autorinnen konzentrieren sich dabei unerwartet auf den „Nexus von Genus und Sexus“. Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen beidem ausführlich.

Dabei weisen sie nach, dass es sich hier eben nicht nur um rein grammatikalische Vorgänge handelt, sondern dass zwischen dem grammatikalischen Geschlecht und seiner Wertung definitiv Zusammenhänge bestehen. Auch hier ist der Stand der Sprachwissenschaft einfach nicht, der von den Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache gerne behauptet wird.

Natürlich resultiert aus diesen Erkenntnissen – ob von Linds/Lübling oder den anderen Autor*innen des Bandes – explizit nicht, dass geschlechtergerechte Sprache genutzt werden muss, oder dass der Genderstern eine besonders gute Lösung ist. Alle wissenschaftlichen Autor*innen weisen explizit darauf hin, dass das nicht der Fall ist und dass sich aus ihren Erkenntnissen eben keine konkreten politischen Forderungen zwangsläufig ergeben (das beansprucht bezeichnenderweise nur Eisenberg für sich).

Interessant für die Debatte mag am Ende noch der Beitrag von Kristina Bedjis, Bettina Kluge und Dinah Leschzyk sein, der sich mit der Diskussion zur geschlechtergerechten Sprache in Spanien, Brasilien und Frankreich beschäftigt. In all diesen Ländern gibt es dieselbe Debatte, mit sehr ähnlichen Argumenten. Spezifisch sind eher die Lösungsformen. So gibt es im Spanischen wie Portugiesischen ebenfalls Versuche, geschlechtsneutrale Formen zu bilden und gibt es einen großen Konflikt um Berufsbezeichnungen. Auffällig ist, dass gerade im Spanischen wegen der Franco-Diktatur nicht einmal weibliche Berufsbezeichnungen existiert hatten, die erst in den 1970er Jahren nach seinem Tod zugelassen wurden, weswegen die Entwicklung hier um Jahrzehnte „zurückhängt“. In Frankreich dagegen ist eine Besonderheit die starke Stellung des Staates in der Reglementierung der Sprache.

Kurz zusammengefasst: besonders die sprachwissenschaftlichen Beiträge lohnen die Lektüre, weil sie die Debatte versachlichen. Die Argumente für und wider sind ohnehin längst ausgetauscht und zu identitätspolitischen Konfliktlinien verkommen. Dieser Konflikt wird sich daran entscheiden, wie die Sprachanwender*innen sich am Ende entscheiden.

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  • Tim 5. April 2022, 11:23

    Die Diskussion krankt daran, dass albernerweise nur auf die Substantive geschaut wird und nicht auf die Artikel. Dabei sind sie es, die das Geschlecht indizieren. Hätten wir im Deutschen nur ein the/a (also etwa de/ne) statt der/die/das/eine/einer, gäbe es die Debatte nicht.

    • Stefan Sasse 5. April 2022, 13:06

      Jein. Die Debatte gibt es im angelsächsischen Raum ja auch, nur haben die dieses spezifische Problem nicht und haben es wesentlich leichter. Das Problem ist halt, dass die Artikel nicht einfach umgestellt werden können, das spreche ich im Artikel ja an.

      • Tim 5. April 2022, 16:10

        Hm, das Gegenargument überzeugt mich nicht. Man kann ja auch nicht einfach wildfremde Satzzeichen in die Substantive einbauen. Wird aber trotzdem gemacht.

        • Stefan Sasse 5. April 2022, 16:52

          Ist aber wesentlich niedrigschwelliger, das ist mein Punkt.

          • Tim 5. April 2022, 17:21

            Das soll niedrigschwelliger sein? Wir sehen doch gerade, was für ein Aufregerthemer der Doppelpunkt ist und wie sehr er die Gesellschaft spaltet.

            Für mich das die typisch deutsche Herangehensweise: Problem nicht gut analysieren und dann die komplexeste Lösung wählen. Von der im übrigen auch überhaupt nicht klar ist, ob es überhaupt eine Lösung ist. Niemand hat bislang ein Modell zur Erfolgsmessung vorgeschlagen.

            Ich frage mich, was das alles soll. Die ganze Debatte ist von vorn bis hinten Humbug, finde ich.

            • Stefan Sasse 5. April 2022, 18:29

              Das hat ja nix mit niedrigschwellig zu tun, die Aufregung ist identitätspolitischer Kulturkampf. Da geht es nicht um Inhalte.

              • derwaechter 5. April 2022, 20:42

                Es geht auch um Inhalte, es gibt schließlich ernst zunehmende Argumente für beide Seiten, die auch durchaus gebracht werden.
                Allerdings wird das überlagert von Kulturkämpfern auf beiden Seiten die die angeblichen Auswirkungen (negativer und positiver Natur) maßlos übertreiben.
                Und das Thema wirklich andauernd wieder bringen müssen. Wird aktuell allerdings von Canceln noch übertroffen, dass gefühlt in jeden dritten Tweet und Kommentar erwähnt werden muss 🙂

                Ich kann übrigens gut nachvollziehen, dass der eine Autor den Begriff geschlechtergerechte Sprache ablehnt. Der ist nämlich tatsächlich ein Kampfbegriff, der „Gegner“ implizit auch als Gegner der Geschlechtergerechtigkeit bezichtigt.
                Gender bzw. gegenderte Sprache ist hingegen im Ausgangspunkt eine neutrale Beschreibung.
                Wenn irgendwelche AfD-Nasen von Gender-Gaga u.ä. krakeelen, wird es zum inhaltsleeren Kampfbegriff. Aber diesen Leuten sollte man m.E. weder den politischen Diskurs noch die Deutungshoheit über die Sprache bzw. Begriffen überlassen.

    • Erwin Gabriel 5. April 2022, 18:37

      @ Tim 5. April 2022, 11:23

      Die Diskussion krankt daran, dass albernerweise nur auf die Substantive geschaut wird und nicht auf die Artikel.

      Das impliziert zumindest, dass Du das grundsätzliche Problem anerkennst, dass sich nicht alle mit der maskulinen Form mitgemeint fühlen. Dir schmeckt nur die Lösung nicht.

      Das kann ich grundsätzlich nachfühlen. Wie gesagt, ich tue mich schwer.

      • Tim 5. April 2022, 19:05

        Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir das „grundsätzliche Problem“ nicht gerade erst schaffen.

        Beispiel: In England denkt heute niemand (mehr) an ausschließlich männliche Personen, wenn das Wort „police officer“ fällt. In Deutschland denken Leute heute laut Studien aber durchaus (überwiegend) an männliche Personen, wenn über „Polizisten“ gesprochen wird. Wird dieser Effekt nicht gerade durch die Gender-Debatte im Sinne einer self-fulfilling prophecy gefördert? Meine Vorlesungen über Medienpsychologie und Medienwirkungen liegen weit zurück, aber wenn ich nicht komplett neben der Spur bin, müsste genau das passieren.

        Und warum sollte es ein gesellschaftliches Ziel sein, das zu ändern, woran Menschen bei bestimmten Wörtern denken? Das ist doch gefährlicher Irrsinn. Gesellschaftliches Ziel muss Gleichberechtigung sein. Inwiefern wird das durch z.B. den Gender-Doppelpunkt erreicht? Das muss doch der Kern der Debatte sein, aber darum scheint es niemandem zu gehen.

        Insgesamt kommt mir das alles vor wie das typische deutsche Politikgegacker. Alle zitieren ständig irgendwelche Studien, ohne dass es aber wirklich eine wissenschaftlich-strategische Zielsetzung gibt.

        • Erwin Gabriel 9. April 2022, 14:01

          @ Tim 5. April 2022, 19:05

          In England denkt heute niemand (mehr) an ausschließlich männliche Personen, wenn das Wort „police officer“ fällt. In Deutschland denken Leute heute laut Studien aber durchaus (überwiegend) an männliche Personen, wenn über „Polizisten“ gesprochen wird.

          Hat mit der Sprache zu tun:

          Polizist = Police Officer
          Polizistin = Police Officer

          In angelsächsischen Ländern verändert sich aus diesem Grund die Wahrnehmung durch die Veränderung der Situation. In Deutschland muss man Situation UND Sprache verändern, will man das gleiche Ergebnis zielen.

          Und warum sollte es ein gesellschaftliches Ziel sein, das zu ändern, woran Menschen bei bestimmten Wörtern denken?

          Ziel ist doch, dass die Menschen das Richtige (im Sinne von realitätsabbildend) denken. Wenn die Sprache „Männer“ sagt, und die Realität „Männer“ ist, passt alles. Wenn die Sprache „Männer“ sagt und die Realtität „m/f/d“ ist, passt die Sprache nicht.

          Wird dieser Effekt nicht gerade durch die Gender-Debatte im Sinne einer self-fulfilling prophecy gefördert?

          Ich verstehe den Punkt und würde es dahingehend umformulieren, dass durch die Diskussion um geschlechter-‚gerechte‘ Sprache einigen Menschen erst die Problematik bewusst wird, die sie vorher nicht erkannt haben; aber die Problematik war da. Wie wenn Du an einer Imbiss-Bude vorbeiläufst und auf einmal Hunger hast; kalorienmäßig unterversorgt warst Du schon vorher, aber der Geruch macht Dir das plötzlich bewusst.

          Gesellschaftliches Ziel muss Gleichberechtigung sein.

          Auch hier würde ich lieber den Begriff Chancengleichheit verwenden. Aber ich denke, dass wir das Gleiche meinen, und stimme Dir zu.

          Inwiefern wird das durch z.B. den Gender-Doppelpunkt erreicht? Das muss doch der Kern der Debatte sein, aber darum scheint es niemandem zu gehen.

          Insgesamt kommt mir das alles vor wie das typische deutsche Politikgegacker. Alle zitieren ständig irgendwelche Studien, ohne dass es aber wirklich eine wissenschaftlich-strategische Zielsetzung gibt.

          Hier bin ich definitiv bei Dir. Unabhängig davon, ob wir eine Veränderung der Sprache brauchen oder nicht (ich denke „ja“; wird unvermeidlich kommen, aber ich tue mich selbst mit der Umsetzung unendlich schwer), ist die Diskussion darüber weitgehend scheinheilig, aufgeregtes Gegacker, Symbolpolitik.

          Auf linker und auf rechter Seite echhauffiert man sich, in der großen Menge zuckt man mit den Schultern. Sollte Gendern festgeschrieben werden, beschreien die einen den Untergang des Abendlands, während von anderer Seite getan wird, als hätte man den Durchbruch zur Gleichberechtigung erreicht; beides Schwachsinn.

          Wenn man die Jugend machen lässt, wie sie will, ist das in ein paar Jahren durch, ob man darüber Geschrei anfängt oder nicht. Aber so zu tun, als löse man ein ernsthaftes Problem, ist albern.

          Stärkster Bruch in unserer Gesellschaft ist nicht der Unterschied zwischen Mann und Frau, sondern zwischen arm und reich, zwischen gebildet und ungebildet (daher benutze ich auch lieber den Begriff ‚Chancengleichheit‘ als das stark an den Mann-Frau-Konflikt gebundene Wort ‚Gleichberechtigung‘).

          Und Du hast Recht: An keiner Stelle trägt die aktuelle Form der Gender-Diskussion dazu bei, ein gravierendes Problem zu lösen.

          • Stefan Sasse 9. April 2022, 19:01

            Das ist ja wie du korrekt schreibst auch keine Debatte mehr. Ich hab das im Artikel ja auch gesagt, die Argumente sind ausgetauscht. Ich als Befürworter habe keine Lust mehr, zum x-ten Mal von vorne beim generischen Maskulinum anzufangen. Kritiker*innen müssen sicherlich auch nicht wieder damit anfangen, die Probleme der Partizipform zu erklären. Bei einigen ist es reine Identitätspolitik geworden. Wir werden in den kommenden Jahren sehen, was sich durchsetzt und wie.

            • Erwin Gabriel 9. April 2022, 21:32

              @ Stefan Sasse 9. April 2022, 19:01

              … Kritiker*innen …

              Ich finde das doof, dass Du mit Sternchen arbeitest; ich finde den Doppelpunkt besser, da er meiner Meinung den Lesefluss nicht ganz so stört. 🙂
              (ist ernst gemeint, finde ich trotzdem lustig)

              • Stefan Sasse 9. April 2022, 22:24

                Ich mag den Stern lieber als den Doppelpunkt, kann dir aber gar nicht sagen warum. Am Anfang hab ich ja mit Binnen-I gearbeitet, aber da wurde ich zurecht darauf hingewiesen, dass das die Binarität festschreibt. – Ich mag es glaube ich tatsächlich mittlerweile, DASS es mit dem Stern auffällt; das strukturiert Texte beim Lesen etwas mit. Aber ich habe da keine starke Präferenz; sollte sich der Doppelpunkt durchsetzen, wäre es mir auch egal. ^^

  • Erwin Gabriel 5. April 2022, 11:28

    Gendern stößt natürlich wie jedes andere Thema, das Veränderung erfordert, auf Widerstand. Ist im Einzelfall schwer zu trennen, an welcher Stelle die Ablehnung der grundsätzlichen Veränderung oder dem Thema gilt, da alles miteinander verwoben ist – erst Recht, da beide Seiten zumindest für einzelne Aspekte ihrer Sicht gute Argumente haben.

    Beim Gendern vermute ich, dass es für die gebildete Jugend entweder schon selbstverständlich ist oder in kürzester Zeit selbstverständlich sein wird, während die Älteren schwertun werden.

    Sprache geht einem irgendwann in Fleisch und Blut über, das Sprachempfingen hält sich an diesen erlernten Zustand. Für jemanden wie mich bedeutet Gendern, dass ich nach Jahrzehnten des Erlernens und Benutzens meiner Sprache neue Regeln lernen muss. Das ist schon arg gegen den Strich gebürstet, schubst den eigenen Geist aus der Bahn und kostet entsprechend Konzentration. Ist wie Vokabeln lernen für eine Sprache, die man nicht braucht.

    Für die Jugend (erst recht nicht für den Teil, der so gerne ‚woke‘ unterwegs ist) sollte das keine Schwierigkeit darstellen. Ist also nur eine Frage der Zeit, bis sich das durchsetzt.

    Sachbedingte Konflikte wie Gendern vs. Bundeswehraufrüstung oder Gendern vs. Klima retten sehe ich nicht. Was ich aber sehe, ist, dass Gendern von einer kleinen Gruppe zum Durchsetzen bestimmter Politik, zum Anschwärzen missliebiger Personen hergenommen wird, und so etwas ärgert mich.

    Erklärung zum Schluss: Ich stehe dem Thema, wenn es nicht mit religiösem Eifer verfochten wird, eher entspannt und neutral gegenüber (So „von mir aus“-mäßig), und versuche mich manchmal aus Neugier bewusst daran, entsprechend zu formulieren. Meine Frau regt sich darüber auf und ist TOTAL dagegen. Meine Töchter sind SEHR dafür. Wie es halt so in Familien zugeht.

  • Dennis 5. April 2022, 19:21

    Endlich mal wieder was vom Kulturkampf.

    Zitat:
    „….die Thematik des so genannten „generischen Maskulinums“. Dieses von Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache gerne angeführte Element lässt sich sprachwissenschaftlich nicht belegen. Vielmehr beweist Studie um Studie, dass Frauen sich eben nicht mitgemeint fühlen – und Männer das auch so nicht meinen.“

    Wieviele Frauen bleiben denn sitzen, wenn es heißt „Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen“ ?

    Auch hier kommt es ständig zu Anfragen verzweifelter Bewohnerinnen:

    https://www.fr.de/bilder/2018/08/24/10953510/1465499630-1133765-2Dea.jpg

    „Zutritt nur für Passagiere“ an der Boarding-Kante am Flughafen soll auch geändert worden sein. Manfrau sah ständig teils wütende, teils weinende Frauen mit dem Flugticket in der Hand.

    Nur mal so aus der Hölle des identitätspolitischen Geschreis^. Aber am besten finde ich immer noch „liebe Kollegen und Kollegen“ wenn die Leut nicht Frau ihrer Sprachwerkzeuge sind.

    Ansonsten finde ich experimentieren gut und wenn die Diversen auch noch irgendwie reingepackt werden sollen, gibt’s auch noch schöne Denksportaufgaben. Andererseits bin ich für die vielen Querstriche und Klammersetzungen bei Artikeln und ggf. mehreren Adjektiven zu faul, aber mit einer EXPLIZITEN und ehrlichen Generalaussage am Textanfang zu Gunsten der Mitgemeinten, also eine Art Antrag auf shorthand Erlaubnis, sind die Mitzumeinenden heutzutage wahrscheinlich nicht mehr zufrieden zu stellen 🙁

    Alles schwierig. Und das generische Femininum soll’s ja auch nicht sein, obwohl ich das ganz gut fände. Die Feministinnen zwingen uns zu Kaskaden von Strichelchen und Klammern und all so was, grrrr. Naja, schaun mer mal.

    Und hier noch was für konservative Gemüterinnen:

    „dass kein bürger oder bürgerin, gast oder gästin in dieser stadt Nürnberg weder tags noch nachts betteln soll“

    stammt von 1478.

    • Erwin Gabriel 9. April 2022, 14:09

      @ Dennis 5. April 2022, 19:21

      Endlich mal wieder was vom Kulturkampf.

      🙂 🙂 🙂

      Ja. Endlich gibt es wieder viel zu heiß gekochte Suppe auf dem Mittagstisch.

      …„dass kein bürger oder bürgerin, gast oder gästin in dieser stadt Nürnberg weder tags noch nachts betteln soll“

      stammt von 1478.

      Früher war halt doch alles irgendwie besser …

      In jedem Falle herzlichen Dank für Deine überaus witzigen Ausführungen; seeeehr unterhaltend, ich habe wirklich Spaß gehabt beim Lesen.

      viele Grüße
      E.G.

  • cimourdain 6. April 2022, 08:31

    Ich habe mir die Werkzeuge von Linds und Nübling mal zu eigen gemacht und möchte eine andere These aufstellen: Wir müssen das generische Femininum bei abstrakten Begriffen auf den Prüfstand stellen. Um zu sehen, wie gravierend das Problem ist, habe ich mir deinen ersten Absatz vorgenommen: Er enthält 4 männliche, 4 ‚gegenderte‘, 7 neutrale und 14 (!) weibliche Nomen. Jede Wortbildung auf -ung, -heit, -schaft, -logie, etc… ist automatisch (Genus)-weiblich und damit entsprechend (Sexus)-weiblich konnotiert. Natürlich kann sich eine (Sexus) männliche Person nicht durch Regierung, Öffentlichkeit, Politik, Gesellschaft oder auch nur Sprache – alles (Genus)weiblich vertreten fühlen, wen er damit nur ‚mitgemeint‘ ist. Also zukünftig bitte: das RegierX, Öffi-X, PolitX, Gesell-gschaftln, SprechX.

    • Stefan Sasse 6. April 2022, 09:13

      Nein, nicht automatisch. Wenn ich die richtig verstanden habe, gibt es diesen Zusammenhang nicht bei allen Substantiven. Der Apfel etwa ist nicht gegendert.

      • Tim 6. April 2022, 14:52

        Wenn ich die richtig verstanden habe, gibt es diesen Zusammenhang nicht bei allen Substantiven.

        Noch nicht. Wenn immer mehr Menschen Cimourdains Theorie diskutieren, werden automatisch immer mehr „die Regierung“ weiblich finden.

        Cimourdain hat sehr schön pointiert dargestellt, wie dieser Teil der Debatte funktioniert.

        • Stefan Sasse 6. April 2022, 18:56

          Ok klar, das ist Sprachwandel. Aber das ist ja gerade nicht auch nur ansatzweise der Fall, im Gegensatz zum Genderstern.

      • cimourdain 7. April 2022, 10:32

        Der Apfel und der Pfirsich sind große Ausnahmen [quasi grammatikalisch transgender]. Alle anderen Früchte sind grammatikalisch weiblich. Da ist die Assoziation mit (weiblicher) Fruchtbarkeit nicht so fern liegend. Denk an die Schöpfungsgeschichte – Eva. Dieser Zusammenhang ist nur komplett in Vergessenheit geraten und deshalb nicht relevant.
        Etwas ähnliches kann man auch bei abstrakten Ideen beobachten: Mittelalterliche und neuzeitliche Malerei ist voll von allegorischen Darstellungen der freien Künste, der Tugenden, der Wissenschaften, derMusen etc… – allesamt weiblich. Auch diese Assoziation ist komplett in Vergessenheit geraten und selbst da, wo noch rudimentäre Bildassoziationen vorhanden sind (Justitia, weibliche Nationalsymbole, Lady Liberty), nicht mehr relevant. Wie Tim schreibt, das Problem existiert nur, weil es beobachtet wird.

    • cimourdain 6. April 2022, 11:26

      Nachbemerkung:
      Der „Nexus von Genus und Sexus“ klingt nach einem tollen Ortsnamen in einem SF/Fantasy Setting.

  • Martin 7. April 2022, 08:51

    Ich bin vergleichsweise progressiv und emanzipiert aufgewachsen. Aus diesem Grund spreche ich schon immer eine geschlechtergerechte Sprache.

    Ich habe gelernt, dass alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht Ärzte, Lehrer, Erzieher und Ingenieure sein können. Ich bin bis zu meinem 18 Lebensjahr nur von weiblichen Ärzten behandelt wurden, in der Schule hatte ich überwiegend weibliche Lehrer und da ich auf keine reine Jungenschule ging, sind mir auch weibliche Mitschüler vertraut. Alle Frauen, die ich kannte (bis ich mit Mitte 20 in den Westen gezogen bin – in die geschlechtspolitische Vergangheit), haben einen Beruf ausgeübt.

    Entsprechend denke ich eben bei den Worten Ärzte, Lehrer, Schüler usw. an Frauen (Mädchen) und Männer (Jungen) (und oft eben auch nur an Frauen), da meine Erfahrungen mich so geprägt haben.

    Aber ich verstehe natürlich, dass Menschen, die in einer weniger progressiven und weniger emanzipierten Umgebung aufgewachsen sind; die z.B. immer nur männliche Ärzte, nur männliche Lehrer und überhaupt in allen Berufen immer nur Männer erlebt haben; dass diese Menschen bei solchen Worten dann nur an Männer denken können.

    Solche Menschen brauchen dann natürlich Eselsbrücken, um sich immer daran zu erinnern, dass es auch weibliche Menschen (oder überhaupt andere Menschen als Männer) gibt. Und solche eher konservativ geprägten Menschen müssen sich dann natürlich eine eigene Sprachevariante ausdenken. Nur um ja nicht lernen zu müssen, dass mit all den Begriffen, die man doch so gerne nur den Männern vorbehalten würde, nun auch Frauen bezeichnet werden.

    Aber macht mal. So weiß man immer gleich, wie jemand erzogen wurde.

    • Stefan Sasse 7. April 2022, 09:46

      Wenn du sagst, du hast das schon immer verwendet, was genau meinst du dann? Dass du sie im Kopf mitmeinst…?

      • Martin 7. April 2022, 11:44

        Was ich unter einen Begriff verstehe, hängt davon ab, was ich gelernt habe unter diesen Begriff zu verstehen.

        Dass ich bei dem Begriff „Mensch“ nicht nur an Weiße denke, bei dem Begriff „Baum“ nicht nur an Tannen und bei dem Begriff „Lehrer“ nicht nur an Männer, hängt eben von meiner Erziehung bzw. allgemeiner von meinen Erfahrungen ab.

        Natürlich kann es Menschen geben, denen eine engere Begriffsdefinition gelehrt wurde. Diese formulieren dann vielleicht Sätze wie „die anwesenden Menschen und Schwarzen…“, „die Tannen und Bäume im Wald…“, „die Lehrerinnen und Lehrer der Schule…“.

        Aber soll ich nun mein weiteres Begriffsverständniss zugunsten des eher engeren Verständnisses aufgeben?

        Soll ich mir jetzt ständig das Mantra aufsagen: „Frauen können keine Lehrer sein! Frauen können keine Lehrer sein!“, nur damit ich mein inklusives Verständnis vergesse und Frauen (und Diverse) endlich aus dem Begriff Lehrer auschließe?

        Und das nur, weil es einige Ewiggestrige gibt, denen beigebracht wurde, dass nur Männer Lehrer, Ärzte, Verkäufer, Kollegen… sein können und die einfach nicht bereit sind, ihr Begriffsverständnis zu weiten?

        Ich habe einige Jahre verwundert auf die Behauptungen geschaut, dass Frauen immer nur „mitgemeint“ wären. Vor einiger Zeit habe ich nun endlich verstanden, dass der Grund für dieses gegenseitige Unverständnis eben verschiede Mindsets sind.

        Wer ein progressives und inklusives Begriffsverständnis hat, der kommt eben gar nicht erst auf die Idee, dass Menschen, aufgrund ihres Geschlechts nur „mitgemeint“ wären. Das ist für diese Menschen so unverständlich, wie die Behauptung, dass Nichtweiße bei dem Begriff „Mensch“ nur „mitgemeint“ wären.

        Nachdem ich das nun verstanden habe, bin ich bei dem Thema etwas entspannter. Hier prallen eben zwei verschiedene Mindsets/Erziehungen/Erfahrungen aufeinander. Wer eben eher progressiv und inklusiv erzogen wurde, für den ist das allgemein verwendete Deutsch bereits „geschlechtergerecht“.

        Und wer eher konservativ und exklusiv erzogen wurde, der braucht jetzt natürlich neue Begriffe, wenn er sich von den gelernten engen Bedeutungen nicht verabschieden will.

        • Stefan Sasse 8. April 2022, 11:21

          Verstehe was du meinst, aber ich glaube nicht wirklich an deine Ursache-Wirkung-Darstellung.

          • Martin 8. April 2022, 12:30

            Welchen anderen Grund sollte es denn sonst geben, zu glauben die Begriffe „Lehrer“, „Ärzte“, „Erzieher“, „Wähler“ usw. würden nur Männer meinen?

            • Stefan Sasse 8. April 2022, 12:49

              Weil die empirische Lage das eindeutig so bestätigt?

              • Dennis 8. April 2022, 14:39

                Gesunder Menschenverstand hilft weiter:

                Bist du tatsächlich spontan der Auffassung, dass beim „Ärztestreik“ keine Frauen mitstreiken, weil es nicht vom „Ärzte- und Ärztinnenstreik“ die Rede ist ?

              • Martin 8. April 2022, 15:27

                Nein, tut sie nicht. Die Studien zum Thema die mir bekannt sind, sind größtenteils Assoziationstests (mit teilweise eher zweifelhafter Methodik).

                Im besten Fall zeigen diese Studien also nur, was die Probanden mit einem Begriff assoziieren. Also genau das, was ich oben beschrieb. Sie zeigen, welche Bedeutung die Befragten für einen Begriff erlernt haben.

                Im besten Fall! Meist verifizieren diese Studien aber nicht das Vorwissen der Probanden und können damit nicht unterscheiden, ob die Befragten nun deswegen Männer genannt haben, weil sie den Begriff nur mit Männern verbinden, oder weil in ihrem Wissen zu dem Bereich primär eben erst Männer gespeichert sind.

                Beispiel: Wenn ich eine Umfrage in Deutschland machen würde, in der ich frage „Nennen sie mir drei berühmte Menschen,“ werden mir wahrscheinlich sehr viele Personen genannt werden, die alle eine weiße Hautfarbe haben. Könnte ich mit dieser Studie beweisen, dass der Begriff „Mensch“ verhindert, dass man sich auch Personen anderer Hautfarben darunter vorstellen kann? Nein, natürlich nicht!

                Es ist viel plausibler anzunehmen, dass die meisten Deutschen in ihrem Wissen eher weißhäutige Personen gespeichert haben. Wenn ich jedoch viel Zeit mitbringe und Frage: „Nennen sie mir ALLE berühmten Menschen, die ihnen einfallen“, dann wird darunter vielleicht auch Nelson Mandela oder Martin Luther King sein.

                Je nach Frage, zapfe ich eben einen anderen Wissenpool an und da können die Geschlechterverteilungen verschieden sein.

                Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass, wenn ich nach drei berühmten „Kinderbuchautoren“ frage, dort – je nach Alter – Cornelia Funke, Astrid Lindgren, Enid Blyton auftauchen.

                Oder „an welche Erzieher können Sie sich noch aus ihrer Kindergartenzeit erinnern?“

                Kommischerweise werden aber immer nach Personengruppen gefragt, bei denen von einem eher männlich geprägten Wissenspool auszugehen ist.

                Aber wie gesagt: Selbst im besten Fall erfahre ich eben nur, was die Probanden mit einem Begriff assoziieren, nicht aber, ob sich diese Assoziation aufgrund iher Erziehung/Erfahrungen ergibt, oder aufgrund der Grammatik des Begriffs.

                Im ersteren Fall kann die Bedeutung des Begriff nämlich verändert werden, und dann bräuchten wir uns keine Gedanken über Doppelnennung oder Trennzeichen oder y-Endungen machen. Dann müssten wir den entsprechenden Personen nur sagen „hey, auch Frauen können Astronauten/Kosmonauten sein. Kennst du z.B. Walentina Tereschkowa?“ – „Ach echt? War mir gar nicht bekannt. Danke. Wieder was gelernt.“

            • Erwin Gabriel 9. April 2022, 14:34

              @ Martin 8. April 2022, 12:30

              Welchen anderen Grund sollte es denn sonst geben, zu glauben die Begriffe „Lehrer“, „Ärzte“, „Erzieher“, „Wähler“ usw. würden nur Männer meinen?

              Es gibt, da stimmi ich Dir zu, nicht nur einen Grund. Und natürlich spielt da der Mindset eine entscheidende Rolle.

              Aber wie schon an anderer Stelle geschrieben, wird ein Mindset, der nur Männer sieht, durch die Sprache gestärkt und bestätigt. Wenn Du unter „Arzt“ losgelöst vom Wort nicht nur einen Mann siehst, bist Du sicher weiter als viele andere.

              Aber während angelsächsische Berufsbezeichnungen wie „doctor“, „driver“, „judge“, „lawyer“, „physican“, „police officer“ oder „worker“ explizit mindestens beide binären Geschlechter meint („nurse“ und „male nurse“ sind extrem seltene Ausnahmen), bezeichnen deutschsprachige Begrifflichkeiten wie „Anwalt“, „Arbeiter“, „Arzt“, „Polizist“ oder „Richter“ ganz klar die männliche Ausführung; weibliche Personen werden als „Anwältin“, „Arbeiterin“, „Ärztin“, „Polizistin“ oder Richterin bezeichnet.

              Das ist, wenn man sprachliche Gleichbehandlung als erstrebenswertes Ziel anerkennt, durchaus ein Nachteil der deutschen Sprache (mit dem Vorteil einhergehend, gelegentlich genauer beschreiben zu können, was man meint).

              Natürlich kann man die ‚Mitmeinung‘ so verinnerlichen, wie Du das tust; aber dann ist das Problem nur für Dich gelöst, nicht für die vielen Menschen, die nicht nur gerne mitgemeint, sondern auch der Realität entsprechend mitgenannt sein wollen.

              In jedem Falle stimmt ich zu, dass die Diskussion darüber erst bei vielen Menschen ein Problembewusstsein schafft, die vorher kein Problem gesehen haben, oder Streit schaffen könnte mit Menschen, die sich weigern, die vorhandene Situation als Problem wahrzunehmen.

              Aber ich halte es hier wie mit dem Schwangerschaftsabbruch, wo ich mich enthalte, da ich nicht schwanger werden kann: Als Mitgenannter würde ich die Entscheidung gerne den Betroffenen (= nur Mitgemeinten) überlassen.

              Viele Grüße
              E.G.

              • Stefan Sasse 9. April 2022, 19:02

                Exakt. Die Tatsache, dass wir überhaupt darüber streiten zeigt, wie viel sich da verändert hat. Nimm mal einen Artikel, egal ob pro oder contra Genderstern, spring in die Zeitmaschine und gib ihn Menschen aus, sagen wir, dem Jahr 2005. Die Blicke will ich sehen.

                • Thorsten Haupts 9. April 2022, 22:54

                  Pruuust. Jungspund. Debatten um das grosse I in Berufsbezechnungen gab es schon in den siebzigern.

                  • Erwin Gabriel 10. April 2022, 10:54

                    @ Thorsten Haupts 9. April 2022, 22:54

                    Pruuust. Jungspund.

                    🙂

                    (Sorry, Stefan … nimm’s als kompliment)

                    • Stefan Sasse 10. April 2022, 12:48

                      Für meine große Leistung, später als ihr geboren worden zu sein? 😀

              • Martin 10. April 2022, 14:15

                Deinen Ausführungen über die geschlechtsneutralere englische Sprache muss ich leider widersprechen. Hier zeigen Assoziationstests (die hier wirklich einmal Sinn ergeben), dass die Probanden englischen Personenbezeichnungen sehr wohl Geschlechterstereotypen zuweisen; und das ganz ohne grammatisches Geschlecht. Daran sieht man, dass die Bedeutung – die Bilder – die wir für einen Begriff verinnerlicht haben, die Wirkung der Grammatik weit überwiegt.

                Solche Tests widerlegen also die These, dass die Grammatik unsere Vorstellung für einen Begriff determiniert, sonst würden im Englischen ja nicht die gleichen Stereotype bei Begriffen wie „the pilot“ oder „the guard“ auftreten wie im Deutschen bei „der Pilot“ oder „die Wache“ (wobei letzter Begriff die Sache gleich doppelt widerlegt).

                Auch im Englischen gibt es eine -in Form, nur dort nicht so gehäuft (-ess). Und dort wird die Diskussion genau andersherum geführt. Nämlich, dass man doch bitte auf diese Sonderform für Frauen verzichten solle. Das würde ich auch für das Deutsche als sinnvoller erachten – und ich glaube auch, dass sich diese Veränderung eher in der langfristigen Zukunft durchsetzen wird.

                Wer’s weniger akademisch will, kann sich auch die Bill-Cosby-Show-Folge „Trust Me“ (https://www.dailymotion.com/video/x5vmd0x) ab Minute 20:45 anschauen. Dort werden diese Stereotypen auch schon Ende der 1980er thematisiert. Und ganz ohne Bezug auf die (englische oder deutsche) Grammatik. Deswegen bekomme ich immer das Haareraufen, wenn dieses Rätsel heute, in den 2020ern in Deutschland als Argument für die vermeintlich negative Wirkung der deutschen Grammatik angeführt wird.

                Bei genauerem Hinsehen ist die deutsche Sprache, was die Pronomen angeht, sogar wesentlich geschlechtsneutraler als das Englische. Deswegen wird dort über ein geschlechtsneutrales Pronomen diskutiert, was bei uns eben nicht notwendig ist, da wir „er“ und „sie“ zu 95% für geschlechtsunspezifische Begriffe verwenden. Aus diesem Grund habe die Pronomen für uns im Deutschen eine viel geringere (bis gar keine) sexuelle Bedeutung. Solange man sich keinen Fetisch daraus bastelt.

                Also sorry: Man kann nicht der Sprache die Schuld für die eigenen Vorurteile geben. Da muss man schon selbst dran arbeiten.

                Und wenn jemand auf mich zukommen sollte, und mir sagt, dass er sich bei „Mitarbeiter“, „Techniker“ oder „Kollege“ nicht mitgemeint fühlt, weil er doch eine Frau sei; dann drücke ich als erstes mein Bedauern über seine sehr traditionelle Erziehung aus und weise darauf hin, dass ich nicht die Absicht habe, ihn aufgrund seines Geschlechts von mir abzugrenzen. Und da, der goldenen Regel folgend, ich nicht den Wunsch habe, ständig mit „männlicher Mitarbeiter“ angesprochen zu werden, wenn mein Geschlecht keine Rolle spielt, so erweise ich diesen Respekt auch zurück, indem ich auch andere nicht ständig mit „weiblicher Mitarbeiter“ anspreche – was letztlich die Langform von „Mitarbeiterin“ ist.

                Was Deine Behauptung angeht, dass die Apologeten der selbsternannten geschlechtergerechten Sprache eine doch wichtige Diskussion angestoßen hätten, widerspreche ich größtenteils und stimme dir in einem geringen Teil zu.

                Wie die popkulturelle Referenz oben zeigt, ist das Problembewusstsein über stereotype Vorstellung mindestens seit Ende der 80er Jahre in der breiten Öffentlichkeit präsent, und ging eben dahin, Frauen den selben Respekt zu zollen wie Männern und zu lernen, dass eben auch sie alle Berufe und Stellungen einnehmen können, die zuvor nur Männern zugestanden wurde. (Hier könnt ihr meine kindliche Prägung vielleicht etwas nachvollziehen. ;-))

                Mit der „geschlechtergerechten Sprache“ sehe ich jetzt aber eine Gegenbewegung aufkommen, die die Frauen nun wieder aus den männerangestammten Bezeichnungen herausgedrängt sehen möchte, in einen eigenen Innen-Bereich. Und ja, das ist für mich antiemanzipatorisch.

                Den kleinen Teil, bei dem ich Dir zustimme, dass die Diskussion auch bei mir noch einen Anstoß gegeben hat, ist, dass ich seitdem versuche auf Verwendung der In/Innen-Formen so weit wie möglich zu verzichten. Insoweit kann dieses letzte Aufbäumen der Reaktion sehr wohl dazu führen, dass eine Gegenbewegung entsteht, die dafür sorgt, dass uns die In-Formen bald (in sprachgeschichtlichen Maßstäben) entschwinden.

                Vielen Dank übrigens für die sachliche Diskussion (ich hoffe, auch meine Beiträge kommen einigermaßen so an). Das hilft mir, meine Argumente in der Praxis zu schärfen.

                • Stefan Sasse 11. April 2022, 08:11

                  Die Sache ist halt: praktisch die gesamte Sprachwissenschaft widerspricht deinen Thesen. Und ich sehe wenig Grund, deren Ergebnisse anzuzweifeln.

                  • Martin 11. April 2022, 09:21

                    Eine Handvoll Personen, die sich selbst Sprachwissenschaftler nennen, machen nicht die ganze Sprachwissenschaft aus.

                    Wir sehen hier den gleichen Effekt wie z.B. bei der Homöopathie. Die Befürworter hauen massenweise „wissenschaftliche Studien“ heraus, die die Wirksamkeit belegen sollen.

                    Seriöse Wissenschaftler aber veröffentlichen kaum Gegenstudien, da sie sich sagen: „Warum soll ich mich mit so einem Blödsinn beschäftigen?“

                    Das Ergebnis ist dann ein zahlenmäßiges Übergewicht an bestätigenden Veröffentlichungen und so gut wie keinen widerlegenden.

                    Wenn ich mir dann aber das Design dieser „Studien“ anschaue, sehe ich dass da kein Erkenntnissinteresse dahintersteht, sondern – ganz ehrlich gesprochen – Täuschungsabsicht.

                    • Martin 11. April 2022, 11:24

                      Ich verweise dazu auch einmal auf diesen eher vermittelnden Text: https://lingdrafts.hypotheses.org/2158

                    • Martin 12. April 2022, 09:55

                      Ein Beispiel: Die Studie „Yes I Can! – Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy“ [1] wurde und wird in den Medien immer wieder als ein solcher Beleg für die negative Wirkung des „generischen Maskulinums“ angeführt. U.a. bei Quarks [2], Verdi [2] oder RND [3]. Bei letzterem steht dazu:

                      „In einer Studie aus dem Jahr 2015 wurde ein Experiment mit fast 600 Grundschulkindern durchgeführt. Dabei wurden ihnen Berufe entweder in der männlichen und weiblichen Form oder im generischen Maskulinum vorgelegt. Mädchen trauten sich eher traditionell männliche Berufe zu, wenn die Berufsbezeichnung gegendert wurde.“

                      Da hatte ich beim Lesen zwei Gedanken. Erstens: Die Mädchen haben also prinzipiell kein Problem damit, sich mit Berufen zu identifizieren, wenn diese im Maskulinum stehen. Denn die „frauentypischen“ Berufe haben sie ja ausgewählt. Keines der Mädchen hat gesagt: „Damit sind ja nur Männer gemeint. Da fühle ich mich nicht angesprochen. Ich kann also nichts davon wählen.“ Nein. Damit würde diese Studie also eigentlich die Behauptung der Theoretiker der „geschlechtergerechten Sprache“ widerlegen. Gut, DAS überrascht mich natürlich nicht.

                      Aber halt! Anscheinend führe die unterschiedliche Benennung der Berufe aber zu einer anderen Verteilung bei der Auswahl von männertypischen Berufen.

                      Das wollte ich dann einmal genauer wissen, und schaute mir die Studie selbst an. Ich dachte daran, die Signifikanz zu prüfen, mir das Testverfahren anzuschauen usw. Als ich aber den einführenden Text lass, wurde ich schon stutzig. Ich sprang deswegen gleich zur Liste der genannten Berufe und glaubte, ich sehe nicht recht.

                      Das sind die geschlechtsunspezifischen Personenbezeichnungen, im generischen Maskulinum für die stereotypisch weiblichen Berufe:

                      Blumenverkäufer
                      Babysitter
                      Zahnarzthelfer
                      Raumpfleger
                      Kosmetiker

                      Ok. Hier die List der geschlechtsunspezifischen Personenbezeichnungen, im generischen Maskulinum für die stereotypisch neutralen Berufe:

                      Sänger
                      Sportler
                      Schriftsteller

                      Keine Besonderheit. Und hier nun die die Liste, bei der festgestellt wurde, dass Mädchen die in dieser Form aufgeführten Berufe nicht so freudig auswählen. Geschlechtsunspezifisch? Im GENERISCHEM Maskulinum?

                      Astronauten
                      Lastwagenfahrer
                      Geschäftsmänner
                      Erfinder
                      Bürgermeister
                      Maurer
                      Feuerwehrmänner
                      Automechaniker

                      Bin ich der Einzige, der hier, vorsichtig ausgedrückt, stutzt? Kann hier irgendjemand nicht nachvollziehen, warum ich über das Ergebnis jetzt nicht mehr verwundert bin? Und dass ich finde, dass diese Studie keine Aussagekraft über die Wirkung des GENERISCHEN Maskulinums hat? Und dass ich mich frage, ob das Absicht war oder Inkompetenz?

                      Fragt gerne nach. Ich kann das erläutern.

                      Und das ist eine Leuchtturmstudie, auf die in der Presse rauf und runter verwiesen wird. Das hinterlässt bei mir jedenfalls keinen positiven Eindruck von dieser „Forschung“.

                      [1] https://www.researchgate.net/publication/279288124_Yes_I_Can_Effects_of_Gender_Fair_Job_Descriptions_on_Children%27s_Perceptions_of_Job_Status_Job_Difficulty_and_Vocational_Self-Efficacy
                      [2] https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/was-gendern-bringt-und-was-nicht/
                      [3] https://gender.verdi.de/themen/genderpolitik/++co++983e5dd0-2fc1-11e5-bde0-525400a933ef
                      [4] https://www.rnd.de/wissen/debatte-ums-gendern-mit-sternchen-doppelpunkt-und-co-LGWLUTR7S5HI3IFDZ4V4XHTOUY.html

                    • Thorsten Haupts 12. April 2022, 12:52

                      Herzlichen Dank. Die Studie fand also heraus, dass Berufe „männlich“ besetzt sind, die insbesondere in freien entwickelten Gesellschaften seltener von Frauen gewählt werden. Aber genau keinen universellen Zusammenhang?

                      Wenn ich nicht schon vor Jahrzehnten die Illusion losgeworden wäre, bestimmte akadmische Fachbereiche – geschweige denn Journalismus – hätten irgendwas mit Wissenschaft am Hut, könnte ich jetzt Empörung mimen.

                      Gruss,
                      Thorsten Haupts,
                      bis jetzt zu faul, auch diesen Sch* zu überprüfen

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