Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.
Diesen Monat in Büchern: 1989, Leviathan, Noten, Eiserner Vorhang, Kaiserreich
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –
BÜCHER
Victor Sebestyen – Revolution 1989. The Fall of the Soviet Empire
Dieses Buch ist ein gutes Gegenstück zu Vladislav Zaboks „Failed Empire“ (besprochen im Juli). Wo dieses sich mit der Geschichte der Sowjetunion seit Stalin genereller befasste und den Kreml-Herrschern eine entscheidende Rolle im Narrativ zusprach, konzentriert sich Sebestyen auf das osteuropäische Satrapenreich der sozialistischen Diktatoren. Wie brachen die Satellitenstaaten im Jahr 1989 plötzlich zusammen? Warum alle zur gleichen Zeit? Es ist gut, dass diese Fragen in leicht zugänglichen Werken wie diesen gestellt werden, wird doch die Geschichte Osteuropas immer noch allzu häufig als die eines Objekts geschrieben, das wahlweise unter nationalsozialistischer oder realsozialistischer Diktatur reine Verfügungsmasse des Willens des starken Manns in Berlin oder Moskau ist.
Sebestyen zeigt deutlich die Parallelen und Unterschiede der verschiedenen kommunistischen Regime. Während die Gemeinsamkeiten eindeutig überwiegen, gibt es doch einige markante Unterschiede, die festzustellen sich lohnt und die deutlich auf die unter der autoritären Oberfläche schlummernde nationale Eigenheiten verweist. Sebestyen beginnt seine Geschichte mit der Ermordung des rumänischen Diktators Ceaucescu, und er beendet sie auch dort wieder – quasi eine Rückblende von den letzten Tagen des ausgehenden Jahres 1989 zu den Anfängen, die Sebestyen in Polen ausmacht, wo die Gründung der Solidarnosc 1980, ihre Unterdrückung und ihr Wiederauferstehen sowie die Wahl und Rolle Papst Johannes Paul II. den erzählerischen Rahmen bilden, in dem in Polen erstmals power sharing arrangements innerhalb des Ostblocks ausprobiert werden.
Diese Arrangements erfordern vor allem eines: die Akzeptanz des Kreml, und die ist ab 1985 mit dem Aufstieg Michail Gorbatschows gegeben. Er ist es (wie Zabok in „Failed Empire“ ja auch deutlich herausgearbeitet hat), der effektiv den Selbstmord des Imperiums begeht. Auf faszinierende Weise arbeitet Sebestyen heraus, wie selbstverständlich die Satrapenstaaten davon ausgingen, dass Gorbatschow nur Propagandaphrasen von sich gebe, und diese wiederholten. Als sie merkten, dass er es ernst meinte, zogen sie sich so weit wie möglich zurück; alle osteuropäischen Regime erkannten, welch tödliche Gefahr für ihre Herrschaft von Gorbatschows Glasnost und Perestroika ausging, auch wenn der Kremlboss bis zuletzt uneinsichtig blieb.
Es half ihnen nichts. Seit 1945 beruhte die kommunistische Macht in Osteuropa einzig auf der Gewalt sowjetischer Bajonette. Ohne diese wurden die verkrusteten Regime hinweggefegt. Der runde Tisch in Polen, die Montagsdemos der DDR, die Grenzöffnungen Ungarns, die wesentlich gewaltsameren, interneren Revolutionen Bulgariens und Rumäniens – 1989 sah den Sturz der mittelmäßigen, uncharismatischen Bürokratenelite.
Ich kann die Lektüre rundum empfehlen. Für mich bot sie diesen Monat in Kombination mit Applebaums Buch (siehe unten) auch eine Art Umschlag um die ganze Zeit des Ostblocks. Es ist eine Zeit, die weitgehend unverstanden und unerforscht ist, in der simple Narrative eines triumphierenden Westens die Arbeit der Osteuropäer*innen an ihrer eigenen Befreiung weitgehend verdrängt haben. Zeit, dass sie zurück ans Licht geholt werden.
James S. A. Corey – Leviathan Falls (James S. A. Corey – Leviathan fällt)
Der neunte und abschließende Band der Expanse-Saga liegt nun endlich (?) vor. Für Fans des Stoffs sicherlich ein Grund zu feiern und für Kritiker*innen von George R. R. Martins eher gletscherartigem Schreibtempo ein Grund mehr, aufzutrumpfen und darauf zu verweisen, dass man eine Romanreihe auch in halbwegs zu handhabenden Portionsgrößen schreiben kann.
Allein, es geht zu Lasten der Qualität. Ich war schon kein heißer Fan der Romande 7 und 8, in denen nach einem Zeitsprung von 30 Jahren (der in der Serienumsetzung auf Amazon Prime, deren finale sechste Staffel gerade läuft, aus guten Gründen nicht nachvollzogen wird) Laconia als großer Antagonist auftritt und die merkwürdigen Aliens, die Schiffe verschwinden lassen, endgültig die Galaxie bedrohen.
Laconia ist kein interessanter Antagonist. Duarte erreicht nicht annähernd die Qualität eines Marco Ineros oder selbst Pierre Mao und bleibt ein schablonenhafter Diktator; seine Tochter Teresa, die einen gewaltigen Teil des Narrativs zugewiesen bekommt, ist ebenfalls so interessant wie ein abgebrochener Ast.
Science Fiction leidet generell unter dem Problem von Exposition: so viel Dialog muss die Funktionsweise der Welt und der Technologie erklären, und solche Erklärungen sind selten Höhepunkte toller Dialoge (Game of Thrones umging das Problem legendär durch die Verknüpfung mit Sexszenen, was jetzt auch nicht zwingend vorbildhaft ist). Aber in „Leviathan Falls“ nimmt es geradezu alberne Züge an; Charaktere erklären einander permanent irgendwelche technologischen Konzepte, die hauptsächlich aus echten oder erfundenen Fremdworten bestehen. Zwischen diesen Wortsalat ein „fuck“ einzufügen erfüllt nicht die Voraussetzung für authentische Dialoge.
Die Stärken der Expanse-Reihe – das Setting an sich, die eigentliche Rahmenhandlung – bleiben erhalten und tragen einen ansonsten reichlich unterdurchschnittlichen Roman über die Ziellinie. Die Wahrheit aber ist, dass die Geschichte besser nach Roman 6 aufgelöst worden wäre – eine Erkenntnis, die die Verantwortlichen bei Amazon glücklicherweise hatten.
Philippe Wampfler/Björn Nolte – Eine Schule ohne Noten
Ich bin zunehmend über ein Kerngeschäft des Unterrichtens frustriert: die Notengebung. Nichts zerstört Lernprozesse so sehr, nichts ist so zeitraubend, nichts ist so sinnlos. Aber Schule bestand seit jeher [citation needed] aus Notengebung. Was es braucht, ist eine wissenschaftliche Unterfütterung von Alternativen.
Genau diese werden in dem schmalen Band von Philipp Wampfler und Björn Nolte, beide bekannte Lehrkräfte in der Debatte um eine Modernisierung und Digitalisierung von Schule und Unterricht, hier vorgestellt. Die Aufteilung entspricht dabei grob einer klaren Logik: Von einer Kritik an der Notengebung (was ist das Problem?) zu Alternativen (was kann man stattdessen machen?).
Die größte Herausforderung, auf die die Autoren natürlich nur am Rande eingehen können, sind die Prüfungsordnungen, die für viele Alternativen herzlich wenig Raum lassen, von zentralen Prüfungen wie dem Abitur einmal ganz abgesehen. Aber jenseits der „luftigen“ Vorschläge einer Idealwelt ohne Noten, die wertvoll und befruchtend für die Meta-Diskussion sind, liefern die beiden auch Ideen für den unmittelbaren Anwendungsbereich; Ideen, aus denen ich mir sicherlich die eine oder andere in näherer Zukunft heranziehen werde. Direkt nach den Ferien etwa werde ich experimentell zum ersten Mal offene Klausuren verwenden (alle Hilfsmittel erlaubt), und ich bin gespannt, wie das Ergebnis sein wird.
Insgesamt hoffe ich, dass die Debatte an Fahrt gewinnt. Auch und gerade im Bildungswesen mahlen die Mühlen langsam, und ich rechne nicht damit, eine Schule ohne Noten vor meiner Pensionierung erleben zu dürfen. Aber jeder Schritt in die richtige Richtung ist wichtig.
Anne Applebaum – Iron Curtain (Anne Applebaum – Der Eiserne Vorhang)
Wo Sebstyens „1989“ den Untergang der kommunistischen Regime in Osteuropa zum Thema hatte, befasst sich Anne Applebaum mit ihrem Entstehen. Auch sie ist entschlossen, die Osteuropäer*innen nicht länger als reines Objekt und Verfügungsmasse der Großmächte zu behandeln, sondern stattdessen zu eigenständigen Akteuren zu machen und aufzuzeigen, wie ihre Hoffnungen auf eine bessere Welt nach dem Zweiten Weltkrieg unter Hammer und Sichel erdrückt wurden.
Vom Einmarsch der Roten Armee in Polen 1944 bis zur Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 zeichnet Applebaum ein Narrativ, das maximalen Profit aus ihrer Profession als Journalistin zieht und die Menschen und ihre Schicksale in den Mittelpunkt stellt. In jedem ihrer Kapitel wendet sie sich einem Aspekt des Aufbaus des „Eisernen Vorhangs“ zu, der hier eher metaphorisch denn in seiner späteren Reduktion auf die Grenzanlagen verstanden werden muss.
So verfolgen wir das Eintreffen der kommunistischen Exilanten aus dem Hotel Lux in Moskau, die vor Ort mit großzügiger Schützenhilfe der Sowjetbesatzer die Kontrolle übernehmen – nicht obwohl sie keine Verankerung in der Bevölkerung haben oder trotz des Vorhandenseins kommunistischer Kräfte vor Ort, die aktiven Widerstand gegen die Nazis leisteten, sondern gerade deswegen. Wir verfolgen den Aufbau von Geheimpolizeien, die tastenden Schritte Stalins, zu Beginn noch den Anschein eines multipluralen Systems aufrechtzuerhalten, um dann mit dem Einsetzen des Kalten Krieges ab 1947 mit brutaler Gewalt den Einparteienstaat mit Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild durchzusetzen, ungeachtet der Umstände vor Ort.
Wir sehen, welche Konsequenzen das für die Wirtschaft hat, die nach sowjetischem Vorbild kollektiviert und auf Schwerindustrie ausgerichtet wird, wo unsichere Fabriken unter den Arbeitern Todesopfer in den Tausenden fordern, wo Unternehmer ebenso enteignet werden wie Tante-Emma-Läden.
Wir werden Zeugen der Gleichschaltung von Kultur und Kunst unter zentrale Zensurbehörden, die von beidem ungefähr so viel verstehen wie von Wirtschaft, nämlich nichts. Jeans und Jazz, Tanz und Feiern, Romane und Filme, das Regime verbietet alles, das Freude macht, und presst es unter einen grauen, realsozialistischen Einheitsbrei, der vor allem durch ideologische Linientreue und fehlenden Anspruch jeglicher Art auf sich aufmerksam macht.
Überhaupt, die Ideologie. Wie mit einem Vorschlaghammer versuchten die Diktaturen, ihre Bevölkerung zu sozialistischen Menschen zu machen. Jeder Beweis, dass das nicht funktionierte, wurde mit dem immerselben Rezept beantwortet: mehr Ideologie, mehr Propaganda, mehr Zwang. Die Menschen duckten sich weg, Sozialisten wurden sie bis zum Ende nicht – was den raschen Fall der Regime 1989 sicherlich mit erklärt.
Applebaum schreibt großartig, siezeichnet ein umfassendes Gemälde Osteuropas in jener Zeit, verknüpft Politik und menschliche Schicksale, Gesellschaft und Kultur, Geisteswelt und ihr offenkundiges Fehlen zu einem filigranen Gesamtbild. Es ist glaube ich offenkundig, dass eine absolute Empfehlung für dieses Werk steht. Genauso wie bei Sebestyen gilt, dass Osteuropa einen Platz in der historischen Wahrnehmung verdient hat – ohne den wir nicht verstehen können, was heute in Osteuropa vor sich geht.
Eckart Conze – Schatten des Kaiserreichs
Dieses Jahr ist wegen des 150jährigen Geburtstags des Kaiserreichs eine gewisse Konjunktur in historischen Betrachtungen dieser Epoche zu beobachten. Besonders Hedwig Richter, Christoph Nonn und Oliver Haardt haben die Debatte maßgeblich in Richtung einer revisionistischen Betrachtung vorangetrieben, die wesentlich mehr Blick auf Kontinuitäten zur Moderne und Chancen der Demokratisierung und Parlamentarisierung lenkt als frühere Betrachtungen. Demgegenüber hat vor allem Jürgen Zimmerer, allerdings ebenfalls mit revisionistischer Zielrichtung, die zentrale Rolle des Kolonialismus, der gerne verdrängt wird, ins Licht gerückt.
Eckart Conze dagegen versteht sich eher als ein Anker im Sturm dieser Neubewertungen. Er fürchtet, dass in ihrem Strudel der Blick dafür verloren geht, dass das Kaiserreich trotz allem ein autoritärer Obrigkeitsstaat war, und vertritt die klare These, dass eine Kontinuitätslinie von 1871 zu 1945 führt. In seinem Buch konzentriert er sich klar darauf, diese deutlich zu machen.
Der Wert liegt in den großen Linien, die Conze zum Vorschein bringt. Im ersten der drei Großkapitel des Buches, das sich mit der Reichsgründung beschäftigt, verfolgt er die Ideenwelt vor allem der Liberalen und der Konservativen (die damals die beherrschenden Spieler waren; die Sozialdemokratie als dritte Kraft wird erst in den 1890er Jahren wirklich mit Macht das Feld betreten) bis zu den Freiheitskriegen nach. Er zeigt an den Spaltungen der Liberalen und dem Faustischen Bündnis der Nationalliberalen mit Bismarck die Kompromittierung liberaler Ideen auf. Wo Autor*innen wie Haardt und Richter den Blick auf die Malleabilität der Reichsverfassung lenken, zeigt Conze die Grenzen auf.
Ich empfinde die Argumentation Conzes bereits hier, trotz seiner lautstarken Proteste des Gegenteils, für zu deterministisch. Natürlich kann er die Parlamentarisierung Oktober 1918 einfach beiseite wischen und für irrelevant erklären, aber sie bleibt ein (wenn auch unter Extrembedingungen erreichtes) Indiz für die Veränderbarkeit des kaiserlichen Systems. Selbiges gilt für viele andere Aspekte auch, die er als unveränderlich in die autoritäte Struktur eingeschrieben ansieht; ich empfand Haardts Analyse hier wesentlich überzeugender.
Im zweiten Großkapitel beschäftigt sich mit dem Kaiserreich selbst, beziehungsweise seinen autoritären Ausprägungen. Besonders kritisch geht Conze hier mit dem Reichstag ins Gericht, in dem er weniger eine Triebfeder der Parlamentarisierung als eine konstutionelle Sackgasse erkennt: Da die Regierung dem Reichstag nicht verantwortlich ist, habe sich, anders als in Westminster, nie eine parteipolitische Verantwortungsethik (meine Formulierung, nicht seine) entwickelt. Das ist sicherlich korrekt, und genauso ist wahr, dass über den Bundesrat vor allem die preußische Hegemonialmacht jegliche Liberalisierung zu verhindern suchte – was wegen der undemokratischen Struktur Preußens auch leicht möglich war.
Aber auch hier geht mir Conze zu sehr vom Ist-Zustand aus und schreibt diesen stark fort. Das preußische Wahlrecht war am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereits massiv unter Druck, und es ist nicht unrealistisch, eine Reform in den nächsten 10 Jahren nach dem überwältigenden Sieg der SPD in den Reichstagswahlen 1913 zu erwarten. Gleichzeitig ist das Bündnis von Fortschrittsliberalen, Zentrum und SPD, das im Krieg eine Parlamentarisierung erzwang (parallel zur autokratischen Machtübernahme der OHL, einer der faszinierendsten Dualismen in dem an solchen nicht eben armen Kaiserreich), durchaus auch im Frieden denkbar; oder aber eine solche Reform als Auswirkung für einen Sieg im Krieg (eine Möglichkeit, die Conze zwar anerkennt, aber in einem Nebensatz verwirft, ohne dies tiefer zu begründen).
Für das einschlägig interessierte Publikum weniger umstritten scheint mir das dritte Großkapitel zu sein, das sich mit der historiographischen Wahrnehmungsgeschichte des Kaiserreichs befasst. Hier gibt Conze eine konzise und erkenntnisreiche Überblicksdarstellung der großen Trends und Debatten, von Apologeten wie Ritter und Scheidel zur Fischerkontroverse hinüber zur Sonderwegsthese und ihrem Popularitätsverlust. Die eingangs angesprochenen Debatte des Jahres 2021 spart er komplett aus; wohl aus strukturellen Gründen (das Buch wurde vorher fertig, simpel gesagt).
Auch wenn ich sehr kritisch mit Conze zu Gericht gegangen bin, so möchte ich das Buch dennoch empfehlen. Es enthält viele spannende Denkanstöße und ist in vielen Details durchaus korrekt. Einzig seine großen Interpretationslinien möchte ich mir nicht zu eigen machen, aber das entwertet nicht die Sachdarstellungen.
ZEITSCHRIFTEN
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Ich frage mich, woher dieses Bedürfnis nach Revision des Geschichtsbildes vom Kaiserreich kommt. Kannst Du die Frage für Dich beantworten?
Ich sehe noch immer: Kaiserkult, Untertanengeist, Militarismus. Fortschritte in Wissenschaft und Technik wurden stark in dessen Dienst gestellt. Ein Reich, das auf erpressten Tonnen von Gold (Frankreich) und Korruption (Bismarck und der „Kini“) errichtet wurde. In einer für die Franzosen extrem demütigenden Zeremonie „gegründet“. Wenn der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war, dann wurde im Spiegelsaal von Versailles in einer (für mich unfassbaren) Kombination von Arroganz und Dummheit der Grundstein dafür gelegt.
Warum muss man dieses Gebilde rehabilitieren?
Man rehabilitiert dieses Gebilde nicht. Aber ich halte nichts von der direkten Linie 1871 zu 1914. Ich glaube, das beantwortet auch die Frage. Das Kaiserreich war kein Gebilde, in dem ich hätte leben wollen, aber es war ein komplexer Apparat, in dem viele Grundlagen der Moderne und des späteren Deutschland gelegt wurden. Und das wurde bisher durch den Exorzismus des „bösen Deutschland“ glaube ich verdeckt.
Verzeih meine Penetranz, ich vermute im Kaiserreich die Wurzel der fatalen deutschen Mischung von Minderwertigkeitsgefühl und Überheblichkeit. Verspätete Nation. Ich blicke aus der Perspektive der 1848er darauf und auf die Tatsache, dass dieser Teil der deutschen Geschichte durch das Bismarck-Bild verdeckt war. Bis Gustav Heinemann das in die Öffentlichkeit brachte in seiner Rede zum 100. Jahrestag, 1971:
„Die Reichsgründung hatte die Verbindung von demokratischem und nationalem Wollen zerrissen. Sie hat das deutsche Nationalbewusstsein einseitig an die monarchisch-konservativen Kräfte gebunden, die in den Jahrzehnten vorher dem demokratischen Einheitswillen hartnäckig im Wege gestanden hatten.“
https://www.schullv.de/resources/PDF/XE023349XEMG8M4DOU.pdf
Das finde ich zu platt.
Die Zeit des Deutschen Kaiserreichs hat mich seit Jahren nicht mehr interessiert. Es macht aber keinen Sinn eine ganze Epoche zu verurteilen, außer dem Nationalsozialismus. Autobahnen und 40-Stunden Woche sind für das Übel zu leichtgewichtig.
Für das Kaiserreich fällt mir spontan ein:
– der Aufschwung in praktisch allen Wissenschaften ein: Röntgen, Robert Koch, Nietzsche, Max Weber, Albert Einstein uvam.
– Sozialgesetzgebung
– Revisionismusdebatte in der SPD als Ursprung des Realo-Flügels der Partei
– Zentrum und DtVP als Keimzellen der späteren CDU und FDP
– das sehr engmaschige deutsche Eisenbahnnetz
– Frauenbewegung
– Demokratisierung
– Parlamentatisierung
– Rechtsstaat
– Medien
I could go on.
Auf die aktuelle Debatte 2021 über das Kaiserreich geht Conze in einem Interview mit dem SWR ein und formuliert damit auch eine Sorge, die mich zu meinem Beitrag motiviert hat: Die Tendenz zur Re-Nationalisierung der Geschichte. Conze vermutet dahinter die Absicht, den Nationalstaat Bundesrepublik in die Tradition des Kaiserreiches stellen zu wollen. Diese geschichtspolitische Debatte zeige den „gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn eines neuen Nationalismus“, in dem nicht nur die AfD stehe.
Dafür werde ein „weichgezeichnetes Bild dieses obrigkeitsstaatlichen autoritären Kaiserreiches gezeichnet, die den Militarismus und die illiberalen Strukturelemente in den Hintergrund treten lassen und „stattdessen die Modernisierung und die Fortschrittlichkeit geradezu affirmativ betonen“.
(Ab Minute 31)
https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/eckart-conze-fortschritt-wird-an-der-loesung-globaler-probleme-gemessen-100.html
Die Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Industrie im Kaiserreich sind mir durchaus bewusst. Dass sie in einem autoritär-obrigkeitsstaatlich organisierten Gemeinwesen möglich waren (also dem Gegenteil des neo-liberalen Silicon Valley-Narrativs), bietet durchaus Stoff zum Nachdenken.
@ Stefan Sasse
Vielen Dank für die Bücherliste auch von mir. Ich schaff es nicht, all die Bücher zu lesen. Daher bringt dieser „Service“ immer willkommene und wertvolle Anregungen. Danke dafür.
Das verstehe ich nicht wirklich; die aktuellen Beiträge zum Kaiserreich gehen ja gerade WEG von einer nationalen Betrachtung des Kaiserreichs und setzen es in einen internationalen Kontext.
Wie gesagt, wir haben auch massenhaft gesellschaftliche Fortschritte, die diese Idee einer Halbdiktatur fragwürdig erscheinen lassen.
Gerne!
Das war mehrere Jahrzehnte lang die Deutung, aber sie ist in der Geschichtswissenschaft weitgehend passé (mit Ausnahmen wie Conze). Und dafür gibt es gute Gründe. Erstens, was heißt „zu spät“? Viele Nationen haben sich erst nach Deutschland gebildet, ohne Minderwertigkeitskomplex und Holocaust. Und Italien war praktisch zeitgleich, ohne Minderwertigkeitsgefühl und Überheblichkeit.
Dazu kommt, dass diese Deutungen meist andere Länder völlig ignorieren. Überheblich waren damals schlicht ALLE, und paranoide Außenpolitik mit auftrumpfenden Militarismus war wahrlich kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Die Idee eines deutschen Sonderwegs ist letztlich auch nur eine Ausformung von „wir sind besondere Schneeflocken“. Der Holocaust wird eher schlimmer dadurch, dass kein jahrzehntelanger Sonderweg davorstand.
Einmal mehr vielen Dank für diese Ausgabe und für die Rubrik überhaupt.
Jahreszahl-Geschichtsbücher sind ja schwer angesagt^, aber wenn ein ausreichend großer Kreis um das Jahr herum geschlagen wird, spricht ja nichts dagegen. Wenn einem die Jahreszahleritis nicht stört, ist von Sebestyen m.E auch „1946“ lesenswert, wenngleich etwas arg häppchenhaft. 1989 kommt dann irgendwann in 2022 ran, vielleicht zu Weihnachten.
Und ja, die „Kaiserreich-Debatte“. Wenn die Geschichte ein teleologisches Narrativ zum „immer Besseren“ (mit gewissen bedauerlichen Rückschlägen zwischendurch) ist, geziemt es sich natürlich, die „fortschrittlichen“ Komponenten bei Kaisers hochzujazzen und alles, was dagegen steht, als Rückzugsgefechte auf dem Weg zum letztlich glänzenden Ende der Geschichte (steht vermutlich noch bevor) einzustufen. Schweinereien aller Art sind demnach – ohne dass die Schweine das ahnen – nur notwendige Durchgangsstationen; das gilt dann wohl auch für die Kaisers 71-18. Diese repräsentieren eine gewisse Verzögerung im Fortschritts-Determinismus, natürlich „letztlich“ erfolglos.
So könnte man/frau das sehen und namentlich Frau Richter scheint ja in diese Richtung zu denken^. Aber den Streit kann man/frau sich eigentlich sparen. Einen Sinn der Geschichte gibt es eh nicht.
Zitat Stefan Sasse:
„Natürlich kann er die Parlamentarisierung Oktober 1918 einfach beiseite wischen und für irrelevant erklären, aber sie bleibt ein (wenn auch unter Extrembedingungen erreichtes) Indiz für die Veränderbarkeit des kaiserlichen Systems. “
Es handelt sich um ein Indiz für Panik, IMHO. für das Indiz „Veränderbarkeit“ war 50 Jahre Zeit, da gab’s aber nichts, diesbezüglich. Ein Ablaufdatum von vier Wochen spricht eigentlich auch nicht groß für „Relevanz“ .
Der Krieg ist halt der Vater aller Dinge, das wußte schon der olle Heraklit. Dieses Ereignis hat die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, so kamen u.a. die „Oktoberreformen“ als Ultraspätvorstellung auf die Bühne, respektive Kriegsbühne. Vermutlich hat der Kaiser das und alles andere nicht beabsichtigt^, aber ein Fortschrittsgen, das inkognito zielführende Wühlarbeit leistet, war es wahrscheinlich auch nicht.
Sehr gerne, danke für das Interesse.
Lohnt sich 1946, wenn ich jetzt Applebaum gelesen habe? Scheint ja ziemlich dasselbe Thema abzudecken.
Nein, das ist nicht die Richtung, in die das geht. Dem von mir beschriebenen Revisionismus geht ja gerade eine Ablehnung teleologischer Geschichtsbilder zugrunde; à la „das Kaiserreich war verdorben und musste zum Scheitern von Weimar und dem Aufstieg des NS führen“.
Parlamentarisierung: klar spielt die Panik eine Rolle, aber es war offensichtlich möglich.
Zitat Stefan Sasse:
„Lohnt sich 1946, wenn ich jetzt Applebaum gelesen habe? Scheint ja ziemlich dasselbe Thema abzudecken.“
Für einen studierten Historiker lohnt sich das eigentlich weniger, der weiß das eh schon alles^. Eigentlich mehr eine Tour d’horizon ohne wesentliche Vertiefungen. Aber immerhin hab ich gelernt, dass der kalte Krieg schon Ende ’45 und in ’46 im Iran (wurde ja im Krieg gesamt-alliiert im sowjetischen Interesse als Waffen-Transitland besetzt) stattfand – mit dem dortigen gegen die Westalliierten gerichteten sowjetischen Satellitenstaat um Täbriz, der allerdings bald wieder aufgegeben wurde. Mit Täbriz, so Sebestyen, begann der kalte Krieg – im Iran also, und nicht etwa erst 47/48 in Berlin.
Zitat:
„à la „das Kaiserreich war verdorben und musste zum Scheitern von Weimar und dem Aufstieg des NS führen“. “
ja klar, ganz richtig, dergleichen ist immer kalter Kaffee. Ich frag mich ja schon lange: Wenn retrospektiv alles so kommen MUSSTE – wieso weiß das eigentlich keiner vorher ?
Interessant, Iran hatte ich bisher nicht so auf dem Schirm.
Das ist natürlich auch wieder ein unfairer Vorwurf, weil man die Infos ja häufig erst hat, wenn die Archive offen sind. Aber grundsätzlich hast du natürlich Recht.