Eva Hermann diskutiert mit Oskar Lafontaine und Säbelzahntigern über die Wiedervereinigung des amerikanischen Isolationsimus – Vermischtes 06.10.2020


Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Getting Rid of the Myth of ‘Isolationism’

The key thing to remember in all this is that the U.S. has never been isolationist in its foreign relations. The thing that Kupchan calls America’s “default setting” is not real. Isolationism is the pejorative term that expansionists and interventionists have used over the last century to ridicule and dismiss opposition to unnecessary wars. Isolationism as U.S. policy in the 1920s and 1930s is a myth, and the myth is deployed whenever there has been a serious challenge to the status quo in post-1945 U.S. foreign policy. Bear Braumoeller summed it up very well in his article, “The Myth of American Isolationism,” this way: “the characterization of America as isolationist in the interwar period is simply wrong.” We can’t learn from the past if we insist on distorting it. As William Appleman Williams put it in The Tragedy of American Diplomacy, “It not only deforms the history of the decade from 1919 to 1930, but it also twists the story of American entry into World War II and warps the record of the cold war.” Williams also remarked in a note that the use of the term isolationist “has thus crippled American thought about foreign policy for 50 years.” Today we can say that it has done so for a century. Our government eschewed permanent alliances for most of its history, and it refrained from taking sides in the European Great Power conflicts of the nineteenth century, but it never sought to cut itself from the world and could not have done that even if it had wished to do so. The U.S. was a commercial republic from the start, and it cultivated economic and diplomatic ties with as many states as possible. You can call the steady expansion of the U.S. across North America and into the Pacific and Caribbean “isolationism,” but that just shows how misleading and inaccurate the label has always been. (Daniel Larison, The American Conservative)

Jede Nation hat ihre Mythen, an die sich klammert und die im politischen Alltagsgeschäft permanent reproduziert werden. Wir haben das Wirtschaftswunder, während in den USA – neben dem Manifest Destiny, dem Wilden Westen und einigem mehr – die Idee des Isolationismus gerne hervorgekramt wird. Der American Conservative weist da sehr gerne darauf hin, weil diese Leute tatsächlich isolationistisch sind und logischerweise ihre ideologische Reinheit bewahren wollen.

Dabei ist ihnen aber zumindest unterbewusst klar, dass sie eine krasse Minderheit sind. Wie Larison in seinem Artikel ja auch feststellt, haben die meisten Amerikaner absolut kein Problem damit, das militärisch-wirtschaftlich-politische Gewicht ihres Landes herumzuwerfen. Was oftmals als „Isolationismus“ bezeichnet wird ist ungefähr so isolationistisch wie Deutschlands Haltung gegenüber Interventionen. Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

2) Since reunification, Germany has had its best 30 years. The next 30 will be harder

Answering the apparently simple question “How old is Germany?” is far from simple. But let me venture this bold claim: the last three decades have been the best in all that long and complicated history. If you can think of a better period for the majority of Germans, and their relations with most of their neighbours, I’d be glad to learn of it. In today’s world, roiled by populism, fanaticism, and authoritarianism, the Federal Republic is a beacon of stability, civility, and moderation – qualities personified by Chancellor Angela Merkel. But the national and regional challenges that Germany has faced over the last 30 years pale in comparison with the global ones it will face over the next 30. Unlike some other democracies, including southern European members of the eurozone such as Greece and Spain, this German democracy has not yet faced the test of a really major economic crisis. That is a result of its own great economic strengths, but also of the growth of export markets such as China opened up by globalisation, the advantages of having the euro (rather than a less competitively valued Deutschmark), and a reservoir of cheap skilled labour in east-central Europe. There is no guarantee of equally favourable geo-economic circumstances in the years to come, nor of a benign geopolitical environment. (Timothy Gardner Ash, European Council on Foreign Relations)

Ich würde Merkel Punkte mehr für stewardship als Gestaltung geben wollen. Aber ja, das Land war bemerkenswert stabil, obwohl wir mit Merkel drei große Krisen erlebt haben. Ich weiß nicht genau, wie viel Anteil sie persönlich daran hatte und wie viel davon auch einfach dem Fakt geschuldet ist, dass sie in der CDU ist (die SPD hätte längst mindestens eine Regierungskrise produziert, hätte sie in der Zeit den Kanzler gestellt). Aber eine erneute Litigierung der Merkel-Kanzlerschaft ist an der Stelle auch zweitrangig.

Ich fürchte, dass Timothy Gardner Ash Recht damit hat zu vermuten, dass die letzten 30 Jahre für Deutschland insgesamt wesentlich positiver waren als die nächsten. Und die letzten waren schon von einer sich krass öffnenden Schere zwischen Arm und Reich gekennzeichnet, die die Früchte dieser Stabilität äußerst ungleich verteilte. Gibt es künftig keine Früchte mehr, wäre das ziemlich mulmig machend.

3) Tweet


Was @derkutter hier aufwirkt, ist eine interessante Frage. Würde Eva Hermann heutzutage ebenfalls von der höflichen Gesellschaft ausgeschlossen werden und sich mit Gigs bei Compact und Co durchschlagen müssen? Oder würde man ihre Stimme nicht als notwendigen Beitrag zur Debatte betrachten und Cancel Culture beklagen? Ich fürchte, es ist Letzteres. Denn wie ich ja schon an anderer Stelle geschrieben habe, hat sich das Overton-Fenster in den letzten Jahren in beide Richtungen verschoben.

Es ist sowohl möglich, öffentlich wesentlich linkere Positionen zu vertreten als auch rechte. Es gehört vermutluch mit zu der Vertrauenskrise, die hier im Blog jüngst diskutiert wurde. Das früher deutlich vorhandene Bewusstsein dafür, welche Meinungen im „erlaubten“ Spektrum sind, hat sich deutlich ausgefranst. Wo die Meinungselite – Politik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft, etc. – da noch vor kurzer Zeit sehr homogen war, ist das nicht mehr der Fall. Mit all den Unsicherheiten, die damit einhergehen, und der entsprechenden Panik bei denen die glauben, von dieser Entwicklung benachteiligt zu sein. Da kommt dann so Unfug raus wie dass Echo im Interesse der „Debatte“ antisemitische Leserbriefe abdruckt. Hoffentlich sortiert sich das bald wieder ein…

4) Wie Kampfbegriffe den Diskurs prägen

Es gibt Veränderungen in der Debattenkultur, und die Rede von Zensur und Sprechverboten ist eine abwehrende Reaktion darauf. Gesellschaftliche Vielfalt ist heute sichtbarer als früher. Mehr Menschen haben und nutzen die Möglichkeiten, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Dabei werden Sprechpositionen, Verhalten, Denkmuster auf neue Weise befragbar. Es entstehen neue kommunikative Dynamiken und Ansprüche auf Partizipation werden offensiver vorgetragen: Wessen Wahrnehmungen und Erfahrungen zählen? Worüber wird öffentlich debattiert und wer sitzt an welchem Debattentisch? Welche sprachlichen und ästhetischen Formen der Repräsentation sind angemessen? Ist es in Ordnung, die Kultur anderer Menschen als Kostüm zu tragen? Ist es ein Problem, das N-Wort zu verwenden? Noch vor Jahren war es in journalistischen Berichten üblich, dass rechtsextremistische Gewalt stets als Fremdenfeindlichkeit bezeichnet wurde. Doch Rassist*innen fragen nicht nach Pässen, sie erklären Menschen zu Fremden. Wird es Konsens, Rassismus zu sagen, fallen zunehmend diejenigen auf, die weiterhin von Fremdenfeindlichkeit sprechen. Sie müssen sich fragen lassen, wieso sie ihre Begriffe nicht verändern. In vielen gesellschaftlichen Problemfeldern gibt es solche Konsensbildungen nicht, und es geht auch keineswegs nur um Begriffe. Es wird darum gerungen, was als veränderungsbedürftig angesehen werden sollte. Mit der Behauptung „Man darf ja gar nichts mehr sagen“, mit Begriffen wie Zensur oder Sprechverbot wird versucht, sich diesem erhöhten Begründungsbedarf zu entziehen und Kritik zu delegitimieren. Dass sich dabei auch Menschen, die sich für liberal und aufgeklärt halten, in die Defensive gedrängt sehen, bedeutet nicht, dass Sprechräume durch Political Correctness tatsächlich enger geworden sind. (Andrea Geier, Deutschlandfunk)

Ich habe zu diesem Artikel von Andrea Geier gar nicht so furchtbar viel beizutragen, ich möchte an dieser Stelle nur den Hinweis dalassen, mehr als den hier zitierten Ausschnitt zu lesen. Geier setzt sich sehr klug mit der Problematik auseinander und ist eine der führenden Kennerinnen auf dem Gebiet. Die Lektüre lohnt sich daher auch für GegnerInnen ihrer Thesen, schon allein, um zu verstehen, worum es und Progressiven tatsächlich geht und informierter ablehnen zu können.

5) Tweet


Der Hinweis, wie unglaublich unbeliebt die „Sparpolitik“ tatsächlich ist, sollte nicht nur bei den Democrats hängen, sondern auch bei Olaf Scholz. Er sollte nicht den Fehler machen, sein eigenes Kool-Aid zu trinken beziehungsweise in den Chor elitärer WirtschaftsjournalistInnen einzustimmen, die seit 40 Jahren immer denselben Artikel schreiben. Es gibt und gab noch nie eine Mehrheit für die Politik der „Schwarzen Null.“ Das heißt nicht, dass die „Schwarze Null“ als Konzept nicht total beliebt wäre, aber die daraus resultierende Politik halt nicht. Es ist kein Zufall, dass noch jede CDU-FDP-Regierung mehr Schulden gemacht hat. Alles andere wäre elektoraler Selbstmord.

6) Ist es radikal, nicht mehr zur Normalität zurückzukehren?

Und doch ging und geht es vielen sehr gut. Die Pandemie hat nicht nur Angst und Anpassung hinterlassen, sondern auch Hoffnung und Vorstellungsvermögen, Selbstvertrauen. Das Leben kann sich abrupt und grundlegend ändern, wir kommen weiter zurecht. Die Art von Veränderung, die groß war und nicht vorstellbar, bevor sie da war, funktionierte. Erst holprig, aber für viele Menschen machbar. Sie zeigte Dinge auf, die gut tun. Die Pandemie öffnete Vorstellungsräume: Systemrelevante Berufe endlich besser bezahlen, dauerhaft flexibel im Homeoffice arbeiten, mehr Zeit mit der Familie, öfter selbst kochen, weniger achtloser Konsum, mehr Umweltschutz, mehr Fahrradwege! Doch die anfängliche Aufbruchsstimmung ist schon wieder verstummt. Erinnern Sie sich an diese Diskussionen? Sie werden kaum noch geführt. Das Streben nach der Normalität von vor Corona ist groß. Doch welche Normalität ist es eigentlich, die wiederhergestellt werden soll? Wäre jetzt nicht die ideale Zeit, um zu entscheiden, welche Dinge aus der Zeit vor der Pandemie wir zurückhaben wollen und welche nicht? Welche wollen wir vielleicht nur aus Gewohnheit zurück? Die Pandemie hat in ganz unterschiedlichen Bereichen gezeigt, was nicht glücklich macht, und außerdem, welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konstrukte zerbrechlich sind. Wollen wir etwas, das einer Krise nicht standgehalten hat, tatsächlich zurück? Es gibt kaum etwas, das vor der Pandemie über gesellschaftliches Unrecht noch nicht bekannt war. Es ist nicht neu, dass vielen Kindern die Ausstattung fehlt, um digital lernen zu können, oder dass ihr Zuhause für sie ein gefährlicher Ort ist. Es ist nicht neu, dass die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken menschenverachtend sind und Erntehelfer*innen ausgebeutet werden. Es ist nicht neu, dass in Altenheimen und Krankenhäusern zu wenige Pflegekräfte sich um zu viele Menschen kümmern und dafür zu wenig Geld und Wertschätzung bekommen. Es ist nicht neu, dass arme Menschen weniger gesund sind und früher sterben als reiche. Es ist nicht neu, dass marginalisierte Gruppen, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, bei politischen Maßnahmen nie als Erste mitgedacht werden, obwohl sie eine besonders verletzliche Gruppe sind. (Theresa Bücker)

Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich kann diese Artikel von wegen „Lasst uns die Krise für radikale Neuerung X in Sektor Y nutzen!“ nicht mehr lesen. Ich verstehe, dass das Hervorheben struktureller Schwächen – schlechte Bezahlung der Pflegekräfte, veraltete Bildungsstrukturen in der Schule, nur um zwei zu nennen – bei den entsprechenden Vorkämpfern von Reform oder gar Revolution Handlungsdrang auslöst. Aber ich gewinne dieser Tage ein echtes Gefühl dafür, wie sich Konservative angesichts von Entwicklungen wie BLM fühlen.

Was meine ich damit? Ich will es an einem Beispiel deutlich machen. Ich bin ein passiver Mitleser am Randes des Twitterlehrerzimmers, eines losen Verbunds von Lehrkräften, die sich eher auf der modernen, reformorientierten Seite sehen und vor allem über Digitialisierung des Unterrichts sprechen. Ich verstehe, dass diese Leute zutiefst frustriert sind, wenn man ihre jahrelang entwickelten Gedanken einer digitalen Didaktik ignoriert und stattdessen nun unter dem Druck von Corona den Präsenzunterricht einfach nur auf Microsoft Teams verlegt (siehe etwa Bob Blume: „Der falsche Fortschritt„).

Aber gleichzeitig habe ich einfach keine Kraft dafür, in diesen anstrengenden Zeiten neben der Bewältigung der Pandemie und allem, was da beruflich, familiär und privat dran hängt, auch noch die Grundlagen meiner Profession zu überdenken. Ich bewundere die Leute, die das machen, und ich denke auch, dass sie absolut richtig liegen. Aber trotzdem denke ich immer öfter: „Boah Leute, lasst mich in Ruhe, ich will nur meinen Job machen.“ Das ist falsch, aber ich bin einfach am Ende der Aufnahmekapazität für so was. Lange Rede, kurzer Sinn: Veränderung ist anstrengend.

7) Linkenpolitiker fordern Lafontaine zum Rücktritt auf

Oskar Lafontaine sieht sich mit Rücktrittsforderungen aus seiner eigenen Partei konfrontiert. Grund ist ein gemeinsamer Auftritt mit Thilo Sarrazin. Mitglieder der Linken fordern, der frühere Parteichef solle seinen Posten als Fraktionsvorsitzender im saarländischen Landtag abgeben. In einer Mitteilung schreibt der Zusammenschluss „Antikapitalistische Linke“ (AKL): „Die AKL fordert, dass Oskar Lafontaine unverzüglich alle politischen Ämter niederlegt, in denen er die Politik der Linken vertreten müsste.“ Zur Begründung heißt es, Sarrazin sei „ein landesweit bekannter Rassist, der gerade und nach langem quälenden Verfahren aus der SPD ausgeschlossen wurde“ und eine „rechtsradikale Ikone“, die von einem Mitglied der Linken nicht öffentlich aufgewertet werden dürfe. Dieser gemeinsame Auftritt sei parteischädigend. Lafontaine war am Montagabend in München gemeinsam mit dem CSU-Politiker Peter Gauweiler und dem früheren Berliner Finanzsenator und Buchautor Thilo Sarrazin aufgetreten, um über Sarrazins neues Buch zu sprechen. Sarrazin wurde im Juli wegen rassistischer und islamfeindlicher Aussagen aus der SPD ausgeschlossen. Sein Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ gilt als eine der wichtigsten Wegmarken der Etablierung der neuen Rechten in Deutschland. […] Lafontaine sagte bei der Veranstaltung laut einem Bericht des „BR“, ein unbegleitetes Flüchtlingskind koste rund 5000 Euro im Monat und das könne er einer Sozialrentnerin nicht erklären. Es werde zu viel Geld für zu wenige Notleidende ausgegeben. (Kevin Hagen/Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Auf solchen Veranstaltungen wächst zusammen, was zusammengehört, um es mal in den Worten Willy Brandts auszudrücken, als dessen Enkel sich Lafontaine immer so gerne inszeniert hat. Der Mann war schon immer gut dabei, wenn es darum ging, Populismus aller Variationen zu verquicken. Als Kanzlerkandidat und SPD-Vorsitzender in spe gehörte er zu den maßgeblichen Konstrukteuren der „Das Boot ist voll“-Rhetorik der 1990er Jahre, die so unmittelbar mitverantwortlich für die ausufernde Gewalt gegen Asylbewerbende war. Und 2005 keilte er im Wahlkampf gegen „Fremdarbeiter“.

Ich glaube nicht, dass Lafontaine ein Rassist ist, genauso wenig, wie etwa Horst Seehofer oder Markus Söder welche sind. Letztlich wird Lafontaine von demselben Paradigma angetrieben, das Franz Josef Strauß mit der Losung „rechts von uns ist nur die Wand“ ausgegeben hat: Die Idee, dass man WählerInnen mit solchen Gedankenhaltungen in eine demokratische Partei integrieren könne. Dass das grundsätzlich möglich ist, haben CDU/CSU, SPD und FDP über Jahrzehnte bewiesen. Das muss man nicht diskutieren.

Was dieser Tage in der Debatte aufbricht sind vielmehr die Kosten dieser Inklusion. Denn wann man Rassisten und andere eher zweifelhafte Gestalten in seine Partei integriert, geht das zwangsläufig auf Kosten der entsprechend Gehassten. Lafontaine mag mit seiner Kalkulation Recht haben, durch wütende Wendeverlierer und bornierte weiße ArbeiterInnen (pars pro toto) mehr Stimmen zu gewinnen als er bei progressiven Frauen oder migrantischen NeuwählerInnen (ebenfalls pars pro toto) verliert. Aber man sollte sich nicht einreden, dass das ein Spiel ohne VerliererInnen sei.

8) Söder bedauert sein Verhalten im Asylstreit mit Merkel

„Wir alle haben zur Verschärfung des Streits beigetragen – auch ich. Ich habe mich dann aber auch korrigiert“, sagte der bayerische Ministerpräsident in einem Interview, […] Durch die erbitterte Auseinandersetzung mit Merkel „entstand der Eindruck, wir stünden mehr auf der ,dunklen Seite der Macht‘“, sagte Söder. „Das hat sich einfach nicht gut angefühlt.“ Es sei ein Irrglaube gewesen, man könnte Wähler von der AfD zurückholen: „Das war eine falsche Strategie. Es war eine Fehleinschätzung, die AfD nicht schon früher hart anzugreifen.“ […] Den Wahlkampf vor der Landtagswahl 2018 in Bayern habe er als „politische Nahtoderfahrung“ wahrgenommen, bekannte der Regierungschef. […] Konkret bedauerte Söder den umstrittenen Kreuzerlass vom April 2018: „Manches würde ich heute anders machen, gerade auch in der Form.“ Seinerzeit hatte das bayerische Kabinett auf Söders Initiative hin beschlossen, dass im Eingangsbereich jeder Landesbehörde künftig ein Kruzifix hängen soll. Bayern sei ein „liberal-konservatives“ Land, betonte Söder jetzt. „Die CSU darf sich nicht auf das Konservative verengen.“ (Welt)

Dass Söder jetzt Kreide frisst, ist natürlich vor allem ein wahltaktisches Manöver – und ein Schub für die Verkaufszahlen seiner Biographie, wenngleich er daran nicht direkt verdient (dafür aber politisches Kapital). Es ist aber über die Frage seines persönlichen Erfolgs aus zweierlei Gründen interessant. Einerseits ist da die historisch-strategisch Ebene: Ich sage schon seit Jahren, dass das Ranwanzen an die AfD ein Fehler war und ist, und es ist gut zu sehen, dass Söder das inzwischen einsieht (eine Erkenntnis, die Lindner noch abzugehen scheint).

Andererseits ist da aber auch die gegenwärtig-strategische Ebene. Denn bei aller Liebe für Söder, der Mann hat keinen Sinneswandel, der nicht durch eine fundierte politische Lageanalyse unterfüttert wäre. Wie viele andere Unionsgranden hat auch er offensichtlich den Schluss gezogen, dass die Modernisierung der CDU durch Merkel nicht mehr rückgängig zu machen ist. Diese Union ist eine andere Partei, und in der kann nur überleben, wer mit dem Strom schwimmt.

9) Mehr Covintelligenz, bitte!

Ich mag’s nicht so gern, wenn Politiker mich wie ein Kleinkind behandeln, das zu doof ist, sich die Strümpfe selbst anzuziehen. Ich möchte mir nicht von Markus Söder vorschreiben lassen, ob ich auf einer Isarbrücke stehen bleiben darf, um Enten anzugucken. Ob ich nach 20 Uhr Alkohol kaufen oder – noch schlimmer! – sogar trinken darf. Mit wem ich mich wo und wie treffe, möchte ich weder Angela Merkel noch einem angeblich Regierenden Bürgermeister überlassen. Ich will, dass wir Bürger als mündige Wesen behandelt werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man die eigene Mündigkeit auch hin und wieder mal unter Beweis stellen sollte. […] Dass etwas nicht verboten ist, bedeutet nicht zwingend, dass man es auch machen muss. Selbst denken ist nicht nur erlaubt, es ist manchmal sogar hilfreich. Eine gewisse Grundinformiertheit über das Virus und wie es sich verbreitet darf man von mündigen Bürgern erwarten. Es braucht dafür keinen Einzelunterricht durch die Bundeskanzlerin. […] Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich fühle mich echt nicht wohl in der Rolle des Corona-Blockwarts. Aber ich verzweifle immer öfter an der Gedankenlosigkeit mancher Mitbürger. Weil uns jetzt, da es kälter wird und das Leben sich notgedrungen nach drinnen verlagert, ein paar harte Wochen und Monate bevorstehen. Selbst wenn es einem persönlich schnuppe ist, ob man sich infiziert oder nicht, trägt jeder von uns eine Verantwortung, die größer ist als wir selbst. Gerade wenn wir wollen, dass Kinder auch im Winter Kitas und Schulen besuchen, dass möglichst wenig Arbeitsplätze verloren gehen und die Alten und Schwachen Corona überstehen, sollte ein jeder die letzten Reserven an Disziplin und Solidarität mobilisieren. Nur ein paar Monate noch. Sonst erklären uns die Politiker bald wieder, wo wir stehen, sitzen und trinken dürfen. (Markus Feldenkirchen, SpiegelOnline)

Da ist sie wieder, die viel gelobte Freiheit und Mündigkeit. Es ist gut, dass Markus Feldenkirchen darauf hinweist, dass die nicht im luftleeren Raum stattfinden. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn mündige BürgerInnen handeln und nicht von der Politik in jedem Schritt vorgeschrieben werden müssen. Andererseits gehört zu Mündigkeit und Freiheit aber eben auch Verantwortung. Allzu oft scheint das als ein Freifahrtschein verstanden zu werden. Aber es ist auch Teil von Freiheit und Mündigkeit, wenn man dann von seinen peers an der behaupteten Mündigkeit gemessen wird – und gegebenfalls Kritik erntet. Diese auszuhalten und gegebenenfalls umzusetzen gehört halt auch zur Mündigkeit. Anders gesagt: Wer nicht von „privaten Blockwarten“ (mieser Vergleich im Übrigen) ermahnt werden will, die Maske gefälligst auch über die Nase zu ziehen, muss das halt dann notgedrungen dem Staat überlassen. Freiheit bedeutet halt nicht, andere Leute gefährden zu können.

10) Überall Säbelzahntiger! Großartige Säbelzahntiger!

Solange er seine Aussage nicht widerruft oder das Gegenteil für zutreffend erklärt, existiert die erlogene Wahrheit im öffentlichen Raum als Schrödingers Fratze der politischen Täuschung, in der eine nicht belegte Wahrheit und eine nicht widerlegte Lüge gleichzeitig existieren können und deckungsgleich sind. In dieser Uneindeutigkeit kann man alles sein, was man will. Seine Kunst kulminiert in seiner „We’ll see what happens“-Catchphrase, die er als Antwort auf jede Frage hinsichtlich seiner politischen Führung zückt. In seinem Essay „The Art of Political Lying“ schreibt der irische Schriftsteller Jonathan Swift: „Wenn eine Lüge eine Stunde lang geglaubt wird, hat sie ihren Zweck erfüllt.“ Insofern erfüllen alle Lügen Trumps ihren Zweck – und mehr als das.  […] Sogar politische Lügen funktionieren, weil wir darauf geeicht sind, zunächst alles für voll zu nehmen, was jemand äußert. Erstens, weil wir begreifen: Unser Gesellschaftsvertrag baut darauf auf, dass wir darauf vertrauen müssen, dass das, was uns jemand sagt, erst mal stimmt; ansonsten wäre Gesellschaft nicht machbar, sondern wir würden in einer postapokalyptischen Anarchie leben, und/oder es wäre wie auf Tinder. […] Das stürzt uns als Kommentierende, Weiterverbreitende sowie alle Medienschaffenden in ein Dilemma: Wie schreibt man über jemanden, bei dem nahezu jede Behauptung eine Erfindung ist? (Samira El Ouassil, SpiegelOnline)

Es ist ein praktisch unauflösbares Dilemma. Einerseits sollen JournalistInnen berichten, was gesagt wurde und was passiert ist, ohne eine Vorauswahl zu treffen und ohne durch ihre Subjektivität alles zu verzerren. Aber andererseits sind diese Handlungen (Luhmann, ich hör dich trapsen) nicht neutral, geschehen nicht im luftleeren Raum. Denn dadurch, dass etwas berichtet wird, wird es „wahr“ – auch, wenn es sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Diverse Prominente, über die schon einmal etwas Falsches geschrieben wurde, und praktisch jedeR, der/die jemals das zweifelhafte Vergnügen hatte, Gegenstand der BILD-Berichterstattung zu werden, kennt dieses Problem.

Aber andererseits können JournalistInnen auch nicht einfach aufhören, zu berichten, oder einfach immer pauschal bei allem annehmen, dass es gelogen ist. Und gerade, weil sie das nicht können, können Autokraten wie Trump das zu ihrem Vorteil nutzen und immer lügen. Ich sehe hier die Verantwortung nur teilweise bei den Medien, denn zu dem Karussell gehören zwei: einerseits die, die berichten, und andererseits die, die das entsprechend rezipieren. Wenn trotz permanenten Nachweisens der Lüge keine Änderung bei den Belogenen eintritt, muss man von Absicht ausgehen. Die USA sind ja nicht die Sowjetunion; die Lügen kommen ja nicht von regierungsamtlicher Seite. Sie anzuzweifeln, geht nicht mit Repression einher. Es ist ein freiwilliger Akt, sich ihnen zu unterwerfen. Dass 40% des Landes damit offensichtlich kein Problem haben, lässt einige sehr düstere Rückschlüsse zu.

11) „Da muss man sich schon fragen: Hast du Unrecht getan?“ (Interview mit Petra Pau)

Pau: Das ist sehr pauschal gefragt. Aber nehmen wir zum Beispiel den Antisemitismus: Der war Teil des Sozialismus sowjetischer Prägung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist aber auch unter westdeutschen Linken bitter nötig. […] 

SPIEGEL: Als Teil einer rot-rot-grünen Koalition im Bund wären die Linken 30 Jahre nach der Einheit endgültig etabliert in Gesamtdeutschland. Ist das Land bereit für eine Linke an der Regierung?

Pau: Ja.

SPIEGEL: Gleichzeitig gibt es Widerstand gegen eine Regierungsbeteiligung aus den eigenen Reihen. Ist die Partei bereit?

Pau: Man tritt im politischen Geschäft an, um neue Mehrheiten zu erringen und Veränderungen herbeizuführen. Wenn die Linke dafür nicht bereitsteht, hat sie keine Funktion mehr. (Kevin Hagen/Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Ich habe die Teile von Paus Interview, die sich mit der Rezeption der Wende beschäftigen, bereits in meinem Artikel diskutiert. Daher hier nur die Teile genommen, die für dieses Thema relevant sind: Es ist auffällig, wie Pau sich von der „alten“ LINKEn, die ich in dem Artikel ja auch kritisiert habe oder in Fundstück 7 oben, zu distanzieren versucht. Ich bin völlig bei ihr, dass die Partei einerseits keine Funktion hat, wenn sie nicht für Regierungen bereit steht, und andererseits nur dann für eine solche in Frage kommt, wenn sie die ganzen Probleme in den Griff bekommt.

Dazu zählt ihr Verhältnis zur DDR-Vergangenheit ganz vorne dran, dazu zählt natürlich die Außenpolitik (ein Thema, das Pau hier wohl bewusst ausspart), dazu gehört eine Anerkennung von Problemen wie Rassismus und, vor allem, Antisemitismus in der Partei. Es steht zu hoffen, dass es die Paus dieser Partei sein werden die sich durchsetzen und nicht die Lafontaines.

{ 58 comments… add one }
  • Erwin Gabriel 6. Oktober 2020, 11:47

    @ Stefan Sasse on 6. Oktober 2020

    Zu 2) Since reunification, Germany has had its best 30 years. The next 30 will be harder

    Ich würde Merkel Punkte mehr für stewardship als Gestaltung geben wollen.

    Da kann sogar ich Deinem Merkel-Urteil zustimmen. 🙂

    Aber ja, das Land war bemerkenswert stabil, obwohl wir mit Merkel drei große Krisen erlebt haben.

    Ob das nun daran lag, dass sie sich so wenig wie möglich bewegte, oder dass sie alle weggebissen hat, oder dass sie so wenig getan hat, dass es nicht genug über sie zu meckern gab – ja, das muss man zu einem guten Teil ihr zurechnen.
    .

    Zu 3) Tweet: Eva Hermann

    Würde Eva Hermann heutzutage ebenfalls von der höflichen Gesellschaft ausgeschlossen werden und sich mit Gigs bei Compact und Co durchschlagen müssen?

    Vermutlich würden auch heute die üblichen Verdächtigen versuchen, sie auszuschließen. Ob mit Erfolg? Keine Ahnung. Aber die stramme Linke würde vermutlich weiterhin Gift und Galle spucken, und die AfD würde das Thema vermutlich in den Bundestag bringen. Beides überflüssige Reaktionen.
    .

    Zu 5) Tweet: Schwarze Null

    Es gibt und gab noch nie eine Mehrheit für die Politik der „Schwarzen Null.“

    Natürlich nicht – wie auch? Die Kinder wollen natürlich ihre Geschenke haben. Und wenn die Einnahmen für die Geschenke nicht reichen, müssen natürlich Schulden her. Die Bevölkerung WählerInnen zu fragen, was sie von der schwarezen Null halten, ist genauso gehaltvoll, wie kleine Kinder zu fragen, ob sie noch Bonbons möchten.

    So wenig dagegen spricht, für Investitionen auch mal in Schulden zu gehen, so wenig spricht für Schulden, die einfach nur verkonsumiert werden; die folgenden Generationen werden dafür zahlen oder sich im Vergleich zur jetzigen deutlich einschränken müssen.
    .

    Zu 6) Ist es radikal, nicht mehr zur Normalität zurückzukehren?

    Lange Rede, kurzer Sinn: Veränderung ist anstrengend.

    Vorwort aus Deinem neuen Buch „Wie ich ein Konservativer wurde“?
    🙂
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    Zu 8) Söder bedauert sein Verhalten im Asylstreit mit Merkel

    Ich sage schon seit Jahren, dass das Ranwanzen an die AfD ein Fehler war und ist, und es ist gut zu sehen, dass Söder das inzwischen einsieht (eine Erkenntnis, die Lindner noch abzugehen scheint).

    Ich habe damals gesagt, dass die Unwilligkeit, (politisch nicht extreme) Gegner der Flüchtlingspolitik überhaupt anzuhören, diese in die AfD treiben würde. Ist so geschehen; die AfD hatte deutliche Zugewinne.

    Ich habe auch geschrieben, dass diese Leute, wenn sie erst mal da wären, sich nach und nach radikalisieren würden. Ist so geschehen, die einst in ihrem Herzen konservative Partei ist inzwischen rechtsextrem.

    JETZT braucht man denen, die in der AfD gelandet und dortgeblieben sind, nicht mehr hinterherzurennen – die stecken in ihrer Blase genauso fest wie Scientology-Jünger in ihrer Sekte. DAMALS, als das Flüchtlingsthema aufkam, hätte man handeln müssen, also BEVOR sich so viele in der AfD festsetzten.

    Ich habe damals den vergeblichen Kampf zahlreicher Ortsverbände gegen Merkels einseitige, grenzenlose Politik hautnah mitbekommen, auch die folgende Wut und das Gefühl von Ohnmacht. Seehofer und Söder haben damals versucht, wenigstens einige Leitschienen einzuziehen (sie hätten in den CDU-Ortsverbänden Mehrheiten von 70% oder mehr bekommen).

    Merkel hat hinter den Kulissen schon recht brutal dagegengehalten. Und so mächtig ist Bayern auch nicht, sich allein gegen alle durchzusetzen, sie hätten noch ein, zwei Bundesländer zur Unterstützung gebraucht.

    Söder (den ich, ähnlich wie Angela Merkel, für weitgehend ideologiefrei halte) hat also Recht mit seinem Urteil. Und Du hast natürlich mit Deiner Einschätzung auch Recht: Was soll sich ein Markus Söder um verlorene Rechts-außen-Stimmen balgen, wenn er damit einen Teil der Mitte verschreckt?

    PS: Sorry für die Rechthaberei – als die AfD bei 17 % stand, habe ich auch gesagt, dass sie ihren Zenit erreicht haben und nicht weiterwachsen werden. War auch richtig.

    • Stefan Sasse 6. Oktober 2020, 15:47

      2) Wenn ich in Europa quasi nach rechts, links, oben oder unten schaue: Ganz ohne Eigenleistung wird die Merkel’sche Stabilität nicht sein. Im Guten wie im Schlechten.

      3) Naja, die damals einhellige Verurteilung Hermanns würde sich so kaum mehr wiederholen.

      5) Du redest von Geschenken, aber das sind keine Geschenke.

      6) Hah! Soweit sicherlich nicht. Aber es ist spannend, wenn man so was an sich feststellt.

      8) Ich habe immer gesagt, dass wenn man nicht ständig das Asylthema totreitet, die AfD nicht so viel Zuspruch kriegt. Und siehe da, seit man es nicht mehr tut, hat sie Verluste.

      Und ja, den Zenit würde ich dir zustimmen. Ich schreibe ja hier schon immer, dass die einzige Gefahr seitens der AfD darin besteht, dass die CDU das Bündnis mit ihr suchen könnte. In dem Moment, in dem die Union den Kurz oder Orban macht, sind wir geliefert.

      • Marc 6. Oktober 2020, 16:42

        Ich schreibe ja hier schon immer, dass die einzige Gefahr seitens der AfD darin besteht, dass die CDU das Bündnis mit ihr suchen könnte. In dem Moment, in dem die Union den Kurz oder Orban macht, sind wir geliefert.

        Nach meiner Einschätzung ist der Merz nach einer kleinen Schamfrist für diese Option offen.

        • Stefan Sasse 6. Oktober 2020, 18:28

          Würde ich auch davon ausgehen. Ich denke aber, dass der Kanzlerkandidat dafür relativ egal ist. Entscheidend ist der Druck aus der Partei selbst. Und da habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten sehr ermutigende Signale gesehen, ehrlich gesagt. Bin also vorsichtig optimistisch.

          • Ralf 6. Oktober 2020, 22:39

            Der Kanzlerkandidat auf der einen Seite und der Druck aus der Partei auf der anderen Seite sind zwei Seiten derselben Münze. Wenn der Druck in der Union hin zur AfD geht, wird Merz Kanzlerkandidat. Und der öffnet dann das Tor zur AfD. Wenn der Druck in der Union hingegen dahin geht sich von der AfD zu distanzieren, dann werden Söder oder Laschet Kanzlerkandidat. Und die schließen dann das Tor zur AfD.

            • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 06:56

              Ich würde es nicht so apodiktisch sehen, aber die Grundrichtung deiner Überlegung teile ich. Die Parteibasis wird in diesen Überlegungen viel zu wenig in den Blick genommen. Als ob CDU-Vorsitzende diktatorisch den Kurs bestimmen könnten. Haben 16 Jahre Merkel denn diesbezüglich gar nichts gelehrt?

        • Erwin Gabriel 6. Oktober 2020, 18:52

          @ Marc 6. Oktober 2020, 16:42

          Nach meiner Einschätzung ist der Merz nach einer kleinen Schamfrist für diese Option offen.

          Bin da anderer Meinung (= Glaube, nicht Wissen). Selbst wenn Friedrich Merz sich durchsetzt, wird sein Ergebnis zu knapp und schwach sein, um als Diktator agieren zu können. Und da er, im Gegensatz zu Merkel, für etwas steht, hat er schon von Anfang an Gegenwind. Mit Laschet, Röttgen und erst recht mit Spahn wäre keine AfD-Koalition möglich, mit der Söder-CSU (inzwischen) auch nicht mehr. Auch gäbe es starke Ablehnung von allen Landesverbänden im Westen, da diese sich die grüne Option offenhalten wollen.

          Die CDU/CSU hat darüber hinaus im Angesicht der Corona-Krise gesehen, dass sie sich auf sich selbst verlassen kann, dass sie Vertrauen genießt, und dass die AfD auch nur mit (ziemlich abgestandenem) Wasser kocht. Sie muss sich nicht nach anderen richten, um Erfolg zu haben.

          Dazu hat der rechtsextreme Flügel der AfD alle „moderaten“ Sprecher mundtot gemacht; die Partei ist in rasantem Tempo nach rechtsaußen gerutscht, und hat sich in dem schon sehr kurzen Zeitraum seit der Wahl AKKs deutlich weiter nach rechts bewegt (ja, das war noch möglich).

          Es würde also, vermute ich, aus verschiedenen Gründen in einem sehr frühen Stadium scheitern.

          • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 06:50

            Wie ich an anderer Stelle schrieb ist das Problem nicht Merz als Diktator, sondern Merz als jemand, der sich dem nicht in den Weg stellt. Gerade weil er so schwach wäre wäre er gefährdet.

          • Marc 7. Oktober 2020, 09:14

            Ich werfe noch in den Ring, dass vor allem die Bild-Zeitung jede kleinste oder nicht vorhandene Möglichkeit nutzen wird, um ihren Mann in die richtige Richtung zu drängen. Aber gegen sein Scheitern hätte ich keinerlei Einwände.

  • Erwin Gabriel 6. Oktober 2020, 18:38

    @ Stefan Sasse 6. Oktober 2020, 15:47

    zu 2)

    Wenn ich in Europa quasi nach rechts, links, oben oder unten schaue: Ganz ohne Eigenleistung wird die Merkel’sche Stabilität nicht sein. Im Guten wie im Schlechten.

    Zustimmung

    zu 5)

    Du redest von Geschenken, aber das sind keine Geschenke.

    Aber natürlich. Zwingend notwendig sind: Bildung, Gesundheit, Dach über dem Kopf, Essen in ausreichender Qualität und Menge, Informationszugang, Kleidung, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit. Das meiste, was darüber hinausgeht, fällt nicht in die kategorie „Menschenwürde“, sondern in die Kategorie „Luxus“.

    Praktisch alle konsumptiven Ausgaben, die von Parteien „entwickelt“ werden, sind Geschenke zum Stimmenkauf. Wir sind auch in den 60er-, 70er-, 80er-, 90er-Jahren nicht verhungert oder erfroren, und dass es mit weniger geht, zeigen die meisten europäischen Länder.

    zu 8)

    Ich habe immer gesagt, dass wenn man nicht ständig das Asylthema totreitet, die AfD nicht so viel Zuspruch kriegt. Und siehe da, seit man es nicht mehr tut, hat sie Verluste.

    Wenn man sich dem Thema Flüchtlinge in einer offenen Diskussion gestellt hätte (was man nicht tat), wäre die AfD gar nicht erst so groß geworden. Als sie groß war, lag das Kind im Brunnen. Das ignorierst Du immer noch.

    Und noch immer wird nicht sachlich diskutirt, sondern von jeder Seite moralisierend und populistisch.

    Und ja, den Zenit würde ich dir zustimmen.

    … ja, jetzt … 😉

    • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 06:50

      5) Da ich das ja mit meinen Steuern finanziere, sehe ich das mit dem geschenkt bekommen eher kritisch.

      8) Ich halte das nach wie vor für eine Fehleinschätzung.

      Und ich weiß ehrlich nicht mehr, ob ich der Überzeugung war, die AfD habe jenseits der 20% große unentdeckte Potenziale. Mag sein, aber zumindest in der Selbstwahrnehmung nicht.

      • derwaechter 7. Oktober 2020, 08:33

        5
        Wenn es schuldenfinanziert ist bezahlst Du (bzw die Steuerzahler) es eben gerade nicht über die Steuern.

        • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 11:28

          Dann zahl ich eben die schuldenfinanzierten Investitionen der Vergangenheit mit meinen Steuern, das ändert wenig am Grundthema.

          • derwaechter 7. Oktober 2020, 11:47

            Ich glaube es geht Erwin nicht um Investitionen (über deren Charakter man auch durchaus streiten kann). Er schreibt von konsumptiven Ausgaben. Und die werden, logischerweise, nicht komplett von den Steuern derer getragen die von ihnen profitieren.

            • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 15:25

              Was meinst du zum Beispiel?

              • derwaechter 7. Oktober 2020, 16:20

                Ich vermute stark, dass das hier gemeint war
                https://de.wikipedia.org/wiki/Konsumausgaben_des_Staates

                • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 18:29

                  Ah ok. Aber da fangen die Probleme schon an. Das Bildungswesen unter „Konsum“ statt „Investition“ zu fassen finde ich etwa nicht sonderlich sinnvoll. Und ob so was wie eine vernünftige Rente ein „Geschenk“ ist…? Ich finde das einfach ein unglückliches Framing. Ich glaube inhaltlich sind wir gar nicht soooo weit auseinander.

                  • derwaechter 7. Oktober 2020, 22:52

                    Geschenk kam nicht von mir.

                    Ich habe mich nur daran gestoßen, dass Du meinst es könnten keine Geschenke sein, weil sie von Deinen Steuern finanziert werden.
                    Das werden sie aber bei einem Haushaltsdefizit eben nicht. Und bei einer Umverteilung (die ja oft durchaus sinnvoll ist) erst recht nicht.

                    • Stefan Sasse 8. Oktober 2020, 08:28

                      Auch schuldenfinanziert sind es keine Geschenke. Wovon werden die Schulden denn zurückbezahlt, wenn nicht von Steuern? Oder die Zinsen?

                    • derwaechter 8. Oktober 2020, 11:19

                      1. Die totale staatliche Schuldenlast kennt i.d.R. nur ein Richtung: nach oben. D.h. sie werden, in Summe, gar nicht zurückgezahlt.
                      Historisch (glaube ich, bin nicht sicher) ist ein Staatsbankrott oder Schuldenerlass wohl häufiger als eine Rückzahlung.

                      2. Die Empfänger staatlicher Leistungen zahlen im Schnitt weniger (oder gar keine) Steuern als sie bekommen. Das ist Umverteilung oder halt „Geschenke“.

                      In Norwegen gab es vor einiger Zeit die Diskussion wie „lohnend“ Einwanderer seien (kann man drüber streiten, ob das moralisch ist. Anderes Thema).
                      Berechnet wurde, ob sie in Summe mehr staatliche Leistungen erhalten als sie einbezahlen. Antwort: Ja das tun sie. Grosser Unmut bei den Rechten.

                      Weniger beachteter Teil der Berechnung. Das gilt für Norweger im Schnitt auch, wenn auch in geringerem Ausmass.

                      Dürfte in Deutschland ähnlich sein.

                      Eine Journalistin rechnete dann mal vor, dass es „lohnender“ sei teure norwegische Frauen (Mutterschaft, Elternzeit, Teilzeitarbeit etc.) mit relativ „günstigen“ türkischen Einwanderern zu ersetzen. Aus mir unerfindlichen Gründen haben die Rechten den Vorschlag nicht aufgegriffen 😉

                    • Stefan Sasse 8. Oktober 2020, 14:37

                      1) Das stimmt doch überhaupt nicht?

                      2) Wie gesagt, ich verstehe was du sagen willst, finde aber den Begriff falsch.

                    • derwaechter 8. Oktober 2020, 16:01

                      1)
                      Wieso nicht? Das geht i.d.R. nach oben. Und zwar ziemlich steil https://de.statista.com/statistik/daten/studie/154798/umfrage/deutsche-staatsverschuldung-seit-2003/

                      2) Ja, der Begriff ist aber dann aus anderen Gründen falsch.

                    • Stefan Sasse 8. Oktober 2020, 16:08

                      1) In den letzten zehn Jahren ist sie doch sogar gesunken!

                      2) Möglich. Aber das ist nicht mein Hauptaugenmerk.

                    • derwaechter 8. Oktober 2020, 20:50

                      In der Regel schrieb ich ja auch. Aber was man da sieht ist ja auch eine kleine Delle nach unten. Mehr nicht. Und wegen der Pandemie wird es wohl wieder nach oben gehen vermute ich mal.

  • CitizenK 6. Oktober 2020, 20:51

    „Die Bevölkerung WählerInnen zu fragen, was sie von der schwarezen Null halten, ist genauso gehaltvoll, wie kleine Kinder zu fragen, ob sie noch Bonbons möchten.“

    Ist Dir eigentlich klar, dass Du damit unser Demokratiemodell fundamental in Frage stellst? Die Wähler, der „Souverän“ – kleine Kinder? Die „Volkssouveränität“ – eine Schimäre? Von diesen kleinen Kindern geht nach unserem Grundgesetz alle Staatsgewalt aus.

    Aber vielleicht ist es ja so. Auch Stefan Sasse zieht ja nicht zu Unrecht „düstere Rückschlüsse“ aus der Tatsache, dass 40 Prozent des US-„Souveräns“ keine Probleme mit Trumps Lügen haben.

    Müssen wir Demokratie neu denken?

  • derwaechter 6. Oktober 2020, 21:05

    Das mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit war mir gar nicht klar. Ich habe letzteres immer als ähnlichen, im Zweifel noch weiter gefassten Begriff gesehen. Denn der Hass auf als fremd empfundenes kann ja auch über „Rassen“ hinausgehen. Z.B. gegen Religionen oder Menschen aus anderen Gegenden aber der gleichen „Rasse“.
    Ich meine wenn Leute z.B. etwas gegen Polen oder Italiener haben würde ich das als Fremdenfeindlichkeit bezeichnen aber eher nicht als Rassismus.

    Das Problem an Rassismus ist, das man sich implizit das Konzept Rasse zu eigen macht. Das ist auch nicht gerade unproblematisch.

    • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 06:52

      Ja, das ist sicher richtig. Aber: „Fremdenfeindlichkeit“ ist falsch. Kein Nazi hatte je ein Problem mit einem eingewanderten Dänen oder Amerikaner. Diese Leute nehmen eine Gewichtung bei der Herkunft vor, erklären manche für besser und andere für schlechter. Und das ist rassistisch. Habe neulich erst gelesen, dass Rasse eine Erfindung der Rassisten ist. Da sieht man das glaube ich gut.

      • derwaechter 7. Oktober 2020, 08:28

        Du meinst, man ist nur fremdenfeindlich, wenn man alles Fremde gleichermassen hasst?

        Aber klar, die „Rasse“ spielt natürlich eine sehr grosse Rolle. Mit einem Amerikaner oder Dänen mit dunkler Haut hätten die natürlich sehr wohl Probleme.

        Gibt es das auch in der englischsprachigen Welt? Die sind ja oft sehr empfindlich was die richtigen Begriffe angeht. Aber zu dem Thema konnte ich nichts finden. Als ich nach xenophobia and racism gegoogelt habe ist mir dieser Artikel angezeigt worden in dem Human rights watch konsequent von racism and xenophobia spricht. Augenscheinlich als zwei ähnlichen aber nicht gleichen Problemen.

        Aber das man im Englischen nicht Xenophobia sagen sollte, habe ich noch nicht gefunden.

        • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 11:27

          Ich weiß nur dass es ein Unterschied ist. Ich sehe dein Problem, und ich nehme gerne Lösungsideen an.

          • derwaechter 7. Oktober 2020, 12:25

            Mein Lösungsvorschlag, wäre gewesen Fremdenfeindlichkeit als Begriff anders zu verstehen und benutzen. Das Argument gegen den Begriff („Doch Rassist*innen fragen nicht nach Pässen, sie erklären Menschen zu Fremden.“) erscheint mir eher schwach. Xenophobie hat ja nichts mit Staatsangehörigkeit zu tun. Dafür gibt es das Wort Ausländerfeindlichkeit, ein Begriff der tatsächlich oft nicht zutrifft, und daher mit Vorsicht genutzt werden sollte.

            Das ist übrigens etwas ganz anderes als das unmittelbar vorher genannte N-Wort.
            Ich finde es eigenartig beide so auf eine Stufe zu stellen.

            Ein anderer für mich interessanter Aspekt ist die Frage, wer hier eigentlich für wen spricht, der in dem Ausschnitt auch schon mitschwingt:
            „Es entstehen neue kommunikative Dynamiken und Ansprüche auf Partizipation werden offensiver vorgetragen: Wessen Wahrnehmungen und Erfahrungen zählen? Worüber wird öffentlich debattiert und wer sitzt an welchem Debattentisch? “

            Anders als z.B. beim N-Wort sind viele dieser Kampfbegriffe nämlich nur Anliegen einer Minderheit, die mit der betroffenen Gruppe zum Teil nicht einmal übereinstimmen, und oft sogar eine Mehrheit/bedeutende Minderheit dieser Gruppe gegen sich haben.

            Siehe z.B. Latinx https://www.washingtonpost.com/news/post-nation/wp/2018/09/14/latinx-an-offense-to-the-spanish-language-or-a-nod-to-inclusion/

            Oder das von Dir praktizierte BinnenI, welches von der Mehrheit der Frauen m.W. weiterhin abgelehnt wird.

            So hat dieser sprachliche Kulturkampf oft etwas selbstbezogenes, herablassendes und wirklichkeitsfremdes. Erinnert mich oft an die 68er, die die Arbeiterklasse befreien wollte, ohne zu merken, dass die von ihnen vielleicht gar nicht befreit werden wollten.

            • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 15:27

              Ich denke, wenn etwa die Polizeipräsidentin von „ausländisch aussehenden Menschen“ spricht, ist das rassistisch und nicht fremdenfeindlich. Denn die „ausländisch aussehenden Menschen“ sind ja oft gar keine Fremden, sondern Deutsche. Nur sehen sie halt anders aus, als die Frau Polizeipräsidentin sich Deutsche vorstellt. Das ist rassistisch.

              Wenn dagegen ein AfD-Wahlplakat „Zuwanderung begrenzen“ brüllt, könnten wir das fremdenfeindlich nennen, weil es sich pauschal gegen alle richtet, die von außen kommen.

              Macht das Sinn?

              • derwaechter 7. Oktober 2020, 16:25

                Ja.

                Allerdings warne ich davor sowas wie „ausländisch aussehenden Menschen“ direkt zu problematisieren.

                Ich kenne den Zusammehang hier nicht. Aber generell wäre das eine Beschreibung warum Menschen zum Ziel fremdenfeinflicher Gewalt werden. Weil sie, in den Augen der Angreifer eben „fremd“ aussehen.
                Das heisst ja noch lange nicht, dass man sich mir dieser Ansicht gemein macht oder gar die Taten rechtfertigt.

                Ganz anders wäre es, wen sie z.B. das N-Wort gentuzt hätte.

                • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 18:31

                  Das Problem ist der Absender. Nachdem wirklich zur Genüge das racial profiling und der rechte Bias in der Polizei dokumentiert wurde, tue ich mich schwer damit, denen noch den benefit of the doubt einzuräumen. Genauso wie Lafontaine mit seinen Fremdarbeitern oder Riexinger mit seinem beknackten Gag vom „Einsperren statt Erschießen“.

                  • derwaechter 8. Oktober 2020, 11:23

                    Keine Frage. Viele meinen das genauso wie sie es sagen.

                    „Das racial profiling und der rechte Bias in der Polizei“ verschwinden allerdings kein bisschen, wenn die Präsidentin jetzt korrekt von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen hätte.

                    • Stefan Sasse 8. Oktober 2020, 14:38

                      Racial profiling ist das ja dann erst Recht…

                    • derwaechter 8. Oktober 2020, 20:54

                      Kenne den Kontext wie gesagt nicht.

                      Aber genau das wäre ja eine gute Illustration für mein Unbehagen mit dem Thema. Man hängt sich an sprachlichen Feinheiten auf aber das eigentliche Problem bleibt nahezu uneberührt

              • cimourdain 9. Oktober 2020, 12:46

                Kluge Trennung, aber schwer durchzuhalten: Bei Fund 7) hast du auch bei Lafontaine den (emotional stärkeren) Begriff Rassismus eingebracht (auch noch mit dem rhetorisch schmutzigen „Ich will nicht sagen, dass…“ Priming), obwohl sein Ausspielen von Flüchtlingskind gegen (deutsche) Rentnerin eher in die Kategorie „fremdenfeindlich“ fällt.

                • Stefan Sasse 9. Oktober 2020, 14:09

                  Ich habe diese Unterscheidung bisher auch nie gemacht, das war ja in Reaktion auf die Frage, ob der Begriff nicht unpassend sei.

                  • derwaechter 9. Oktober 2020, 16:33

                    „Ich habe diese Unterscheidung bisher auch nie gemacht“

                    vs.

                    Zitat aus dem Text: „, fallen zunehmend diejenigen auf, die weiterhin von Fremdenfeindlichkeit sprechen. Sie müssen sich fragen lassen, wieso sie ihre Begriffe nicht verändern.“

                    Mit anderen Worten, würdest Du als Journalist ihr negativ auffallen (als verkappter Rassist?), während Du nicht mal weißt, dass Du etwas falsch gemacht haben könntest.

                    Noch so ein Beispiel, warum diese sprachlichen Feinheiten problematisch sein können.

                    • Stefan Sasse 9. Oktober 2020, 17:31

                      Ja, Sprache ist nun mal schwierig, schon immer gewesen. Das kann ja kein Grund sein, einfach jeden Anspruch aufzugeben.

                    • derwaechter 9. Oktober 2020, 21:07

                      „Das kann ja kein Grund sein, einfach jeden Anspruch aufzugeben.“
                      Das fordert ja auch keiner. Ich schon gar nicht.

                    • Stefan Sasse 9. Oktober 2020, 23:02

                      Wollte das auch nur deutlich machen.

  • Ralf 6. Oktober 2020, 22:34

    zu 6)

    Mir ist schleierhaft, was Du so anstrengend am Wandel findest. Vieles von dem, was wir in der Krise gelernt haben, ist zweifellos nützlich. Ich habe z.B. niemals zuvor Home-Office gemacht und wenn Du mich im Februar gefragt hättest, ob meine Mitarbeiter und ich mit häufiger Home-Office-Tätigkeit erfolgreich sein können, hätte ich Dich für verrückt erklärt. Heutzutage ist es eine Selbstverständlichkeit, die weit überwiegende Zahl der Leute liebt es und der Ansatz funktioniert in der Praxis ganz hervorragend. Warum sollte man nach dem Ende der Krise wieder zu einem alten System, in dem wir in manchem weniger zufrieden waren, zurück? Das selbe gilt für stressbehaftete Auslandsreisen. Manchmal neun Stunden Flug, anschließend drei Stunden Taxi, mit Jet-Lag einen Vortrag von 30 Minuten halten, dann zurück drei Stunden ins Taxi, ein paar Stunden Schlaf im Flughafenhotel und dann nochmal neun Stunden im Flieger heim. Corona hat uns gezeigt, wie man das ganz locker per Skype machen kann. Besser für die Vortragenden und besser für’s Klima. Warum da wieder zurück zur alten Normalität? Wieso ist das schlichte Beibehalten von Verbesserungen anstrengend?

    zu 7)

    Ich kann Dein Urteil über Lafontaine seit 1990 nicht nachvollziehen. An dem “Fremdarbeiter-Wort” ist auch nichts verkehrt. Ich bin eigentlich nicht ungebildet und habe den Begriff “Fremdarbeiter” nie auch nur ein einziges Mal im NS-Kontext gehört. Außer in Artikeln über Lafontaine. Also bitte die Kirche im Dorf lassen.

    Ganz anders ist sein gemeinsamer Auftritt mit Thilo Sarrazin zu bewerten. Ich muss ganz ehrlich gestehen, mir ist der Kaffee aus der Hand gefallen, als ich das gelesen habe. Ja, das ist beschämend, traurig, abstoßend. Der Aufforderung, dass Lafontaine alle seine Parteiämter zurückgeben sollte, schließe ich mich an.

    zu 8)

    Ich kann Deine negative Beurteilung von Markus Söder nicht nachvollziehen. Am Ende ist es egal, aus welchen Motiven ein Politiker das Richtige tut. Ich wäre vollständig zufrieden damit gewesen, wenn er die Vergangenheit hätte ruhen lassen und in Zukunft keinen Scheiß mehr gebaut hätte. Stattdessen setzt er sich mit seinen gemachten Fehlern auseinander und bekundet etwas dazugelernt zu haben. Soll das jetzt echt schlechter sein, als wenn er nichts gesagt hätte? Nur weil er gerade eine Biographie verkaufen will? Die hätte sich auch verkauft, wenn er sich nur mit Lob überschüttet hätte. Vor zwei Jahren bei der Bayernwahl haben wir gegen Söder protestiert und ein Umdenken gefordert. Jetzt denkt er um. Und wir protestieren weiter, weil wir dem Umdenken die falschen Motive unterstellen?

    Für mich wird Markus Söder der immer bessere Kandidat. Der Union könnte im Augenblick wohl nichts Besseres passieren, als dass Söder Kanzlerkandidat wird und einen moderaten Kurs weiterfährt, der in einer schwarz-grünen oder einer Jamaika-Koalition wirtschaftliche und Umweltinteressen in ein vernünftiges Gleichgewicht bringt.

    • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 06:55

      6) Weil das für meinen Job spezifisch bisher alles ist, aber keine Verbesserung.

      7) Wikipedia: Während der Begriff Fremdarbeiter durch seinen Gebrauch während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland negativ konnotiert ist, wird er in der Schweiz weiter neutral verwendet. In Deutschland wird er zumeist durch die Begriffe Arbeitsmigranten oder Wanderarbeiter ersetzt.

      8) Du missverstehst mich, ich bin froh dass Söder das macht und wollte ihn eigentlich auch dafür loben. Mein Hinweis war eher Vorwärtsverteidigung bevor jemand darauf hinweist, dass er vermutlich aus taktischen Motiven so handelt. Ist mir egal, warum. Hauptsache, dass.

  • Martin 7. Oktober 2020, 08:48

    Zu 4) Hier scheint bei den Beführwortern einer Cancel-Culture ein blinder Fleck zu existieren. Wenn zumindest ich von Cancel-Culture höre, denke ich nicht an Kritik, sondern an Drohungen gegen Körper, Existenz und Eigentum.

    Ich denke an Fälle, wo jemand aufgrund seiner geäußerten Meinung Morddrohungen erhält, wo der Arbeitgeber angerufen wird und aufgefordert wird, den Delinquenten zu entlassen oder wo Veranstaltern mit Zerstörung und Randale gedroht wird, wenn die unangenehmen Gäste nicht ausgeladen würden.

    Das mit „Kritik“ zu verharmlosen, finde ich bezeichnend. Sachliche Kritik führt nicht zu Absagen (Cancels). Ein „wir zerstören dein Leben“ schon eher.

    • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 11:30

      Darüber habe ich explizit einen Artikel geschrieben:
      http://www.deliberationdaily.de/2015/05/arbeitsrecht-zur-politischen-hexenjagd/
      Vor fünf Jahren übrigens schon. Das Thema ist also bei mir schon wesentlich länger auf der Platte als es diesen beknackten Begriff von „cancel culture“ gibt, und die Idee, ich würde das verharmlosen, halte ich für eine ziemliche Beleidigung.

      • Martin 7. Oktober 2020, 13:34

        Du hast unter dem Punkt 4) einen Artikel von Andrea Geier zitiert und ich habe in diesem Artikel nicht gelesen, dass sie die Probleme angesprochen hätte, die ich in meinem Kommentar erwähnte. Statt dessen spricht sie nur von „Kritik“ und „Protesten“. Deswegen schrieb ich, dass sie in diesem Bereich einen blinden Fleck hat.

        Da Du ihren Artikel wohlwollend empfiehlst („Geier setzt sich sehr klug mit der Problematik auseinander und ist eine der führenden Kennerinnen auf dem Gebiet“), ging ich davon aus, dass Dir dieser blinde Fleck auch zu eigen ist.

        Nun verweist Du auf einen Artikel von Dir, der die von mir genannten Ereignisse ebenfallst thematisiert und kritisiert. Ob man das nun „Cancel Culture“, „Hexenjagd“ oder sonstwie nennt, kann ja eigentlich nichts an der Bewertung der Fälle ändern.

        Wie kann dieser Widerspruch aufgelöst werden?

        • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 15:30

          Das Problem ist, dass weder Geier noch ich über Fälle reden, in denen Gewalt angedroht oder die Vernichtung beruflicher Existenzen gefordert wird. Das wirfst du aber alles in einen Topf.

          • Martin 7. Oktober 2020, 16:02

            Ich glaube, dass ist der Grund, warum viele Debatten heute nicht mehr gelingen: Weil Begriffen unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden.

            Im konkreten Fall: Die Kritiker der „Cancel-Culture“ verstehen darunter eben Drohungen und Existenzvernichtung und wollen dass halt nicht. Und verstehen nicht, wie es jemanden geben kann, der das befürwortet.

            Die Befürworter der „Cancel-Culture“ verstehen darunter aber nur verbale Kritik und gewaltlose Proteste und verstehen nicht, wie man dageben sein kann.

            Das Spaßige ist ja, dass so gut wie alle wahrscheinlich eigentlich die gleichen Ansichten haben, aber durch die verschiedene Verwendung des Begriffs erst in Konkurrenzstellung gehen.

            Tscha, lässt sich nicht ändern.

            • Stefan Sasse 7. Oktober 2020, 18:28

              Solche Missverständnisse sind ja nichts Neues. Und unschuldig ist an so was meistens keiner; man ist ja immer nur allzu geneigt, die Verfehlungen des eigenen Teams als gar nicht dem eigenen Team zugehörig zu betrachten. Daraus erwächst dann so was. Denk mal nur an so Begriffe wie „Sozialismus“, wo seit Jahrzehnten völlige Uneinigkeit herrscht, was das meint. Wo bei den Linken gerne die Vorstellung gepflegt wird, das sei so was wie eine allgemeine Krankenversicherung für alle, ist es für die Rechten maximal noch einen halben Schritt vor dem Gulag. Klar kommst du da in der Debatte nicht zusammen. Ähnlich vermutlich auch hier.

              • derwaechter 8. Oktober 2020, 20:59

                „Verfehlungen des eigenen Teams als gar nicht dem eigenen Team zugehörig zu betrachten“

                Ich sehe die Meinungsfreiheit durch dieses Phänomen mit dem doofen Namen definitiv bedroht. Von beiden „Teams“, dem rechten noch viel mehr als dem Linken.

  • derwaechter 8. Oktober 2020, 12:19

    Passend zu Nr. 4, gerade im Economist gelesen:

    Johnson – The battle against racist language is too important to trivialise

    https://www.economist.com/books-and-arts/2020/10/03/the-battle-against-racist-language-is-too-important-to-trivialise

  • cimourdain 9. Oktober 2020, 12:47

    Sehr lose zu 4) (Immer wieder komme ich von Cancel-Culture auf Bilderstürmerei) . Dieser Fall ist interessant, weil die Reflexe des links-rechts-alt-jung-gut-böse Kulturkampfs nicht ganz so schnell greifen und man deshalb die Zeit hat, das Thema differenziert zu betrachten:
    https://taz.de/Gedenken-an-Trostfrauen/!5719024/
    Eine Hintergrundinfo verschweigt die taz leider: Die gleiche Statue wurde schon in verschiedenen Städten weltweit aufgestellt (unter anderem in Wiesent (Oberpfalz) und beinahe in Freiburg). Es handelt sich (ähnlich wie die Bürgerkriegsgeneräle) um ein bewusstes Mittel der Geschichtspolitik.

    • Stefan Sasse 9. Oktober 2020, 14:10

      Ich hab das auch auf Twitter kommentiert, die Japaner haben eine wahnsinnig toxische Erinnerungskultur.

  • Ariane 10. Oktober 2020, 13:26

    Hach je, ich bin wieder spät dran.

    zu 3 & 4)
    Andrea Geier ist wirklich eine Entdeckung der letzten Wochen, immer sehr kluge Gedanken!

    Und ich muss gestehen, ich musste erstmal ne Weile überlegen, bis mir der Herman-Skandal wieder einfiel (ich glaube, sie fand die Familienpolitik der NS-Zeit irgendwie ganz ok?).

    Ich hab schon das Gefühl, dass sich sowohl Grenzen als auch Maßstäbe verschoben haben, es ist ja auch kein Zufall, dass mehr über Cancel Culture anstatt über die konkreten Probleme von Nuhrs Wissenschaftsfeindlichkeit oder Eckharts Antisemitismus gesprochen wird, das Thema ist sofort verschoben. Ich kann dieses „Debatte ist nur, wenn jeder alles und überall sagen darf“ nicht mehr hören.

    Siehe Hier (von Geier): Und warum Kritik, wenn sie im politischen Spektrum links angesiedelt wird, so häufig als gewaltsam beschrieben wird. Eine Antwort lautet: Es gibt Veränderungen in der Debattenkultur, und die Rede von Zensur und Sprechverboten ist eine abwehrende Reaktion darauf.

    Da fällt mir immer dieser wunderbare Comic von erzählmirnix ein:
    https://twitter.com/erzaehlmirnix/status/1310974288862863362

    Das ist ja alles mehr eine Debatten-Verhinderungs-Kultur, wenn man ständig bei Diktatur-Vergleichen landet.

    6)
    Ich bin überhaupt kein Freund dieser „Krise als Chance-Rhetorik“ Ich glaube auch nicht, dass es so funktioniert, weil – wie du ja selbst schreibst – einfach schon soviel Zeit und Mühe aufgewendet werden müssen, um alles am Laufen zu halten, dass wenig Kapazitäten frei sind.
    Mal abgesehen davon, dass ich nicht daran glaube, dass sich diese Probleme auf individueller Ebene lösen lassen. Ich weiß ja nicht, ob Frau Brücker die letzten Monate mal in Pflegeeinrichtungen war, ich schon. Die Probleme sind größer und nicht kleiner geworden. Und ich sehe nicht wirklich, wie es besser werden soll, wenn ich wie aktuell mein Geld in Benzin statt Shopping stecke.

    Da bin ich auch zu sehr Pragmatikerin statt Revolutionärin, ich glaube in solchen Zeiten braucht man entlastendere, gangbare Lösungen anstatt die großen Ideen, Veränderung erfolgt nämlich (wenn sie positiv sein soll) sowieso in kleinen Schritten.

    8) Ich finde Söder da wirklich sehr spannend, weil sich sein Wandel ja ziemlich klar mit der letzten Landtagswahl vollzogen hat, wo sein Ranwanzen an die AfD eben absolut nicht geholfen hat. Seitdem hat er einen ziemlich deutlichen Kurswechsel vorgenommen, insofern haben mich seine Äußerungen auch nicht überrascht, es war schon vorher zu sehen. Ich erinnere auch nochmal daran, dass er der erste und deutlichste war, als es um Reaktionen nach der Thüringen-Wahl (und ich glaube auch nach Hanau) ging.

    Die Wahl hatte da meiner Meinung nach mehr Impact als irgendwelche Überlegungen zu Merkel. Ich finde es auch interessant, dass die CSU seitdem da sehr viel konsequenter vorgeht als Teile der CDU-Basis.
    (Interessant: irgendwo bei SpOn glaub ich, hab ich heute die Überlegung gelesen, ob sie vielleicht doch Spahn direkt aufstellen, der dann evtl die Kanzlerkandidatur Söder überlassen würde, weil – man höre und staune – die CDU mit dem Personalangebot eher unzufrieden ist^^)

    9)
    Bezeichnend, dass so eine Pandemie schnell Begriffe wie Mündigkeit, Eigenverantwortung und Selberdenken diskreditiert, das ist ja mittlerweile mehr ne Chiffre für „ich will machen, was ich will, egal ob ich damit andere gefährde“ Komm mir manchmal schon vor wie beim Doppelsprech. Mal abgesehen davon, dass das oft mehr Trotz als Unwissenheit ist.

    11)
    Ich mochte die Pau schon immer ganz gerne, glaub sie war eine von zweien im Bundestag, bevor die LINKE bundesweit über 5% kam und ich mag auch die Selbstreflektion gerne, die sie hier zeigt. Ich fand auch die Empörung gegen Lafontaine aus den eigenen Reihen eigentlich ganz ermutigend (dass er sich gerne mal rechtspopulistisch in diesen Fragen äußert, war ja echt nichts Neues).
    Mal sehen, wie sich die Vorsitzendenwahl abspielt, ich denke schon, dass zumindest Teile der Partei in letzter Zeit erwachsener geworden sind.

  • Sebastian 12. Oktober 2020, 12:31

    Zu Punkt 6 (Reform in der digitalen Bildung): ich kann dich da voll verstehen. Ich habe dazu auch einen Kommentar unter dem Artikel gepostet und um Verständnis geworben, wenn man eben nicht alles „neu denken“ will, weil das eben auch kognitiv sehr anstrengend ist. Ich bewundere Leute, die das können, aber im Alltagsstress habe ich da oft keinen Kopf für…

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