Das große Kanzlerranking


Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Zudem sie als Wort der Warnung vorangestellt, dass nicht alle Plätze des Rankings gleich zu werten sind. In einigen Fällen ist es sehr schwierig, die genaue Reihenfolge festzulegen. Ich teile meine Plätze daher in vier Stufen, innerhalb derer die Plätze recht eng beieinander liegen und grundsätzlich auch anders verteilt werden könnten.

Stufe 1: Sie enthält nur den ersten Platz.

Stufe 2: Sie enthält die Plätze zwei bis vier, die alle die Republik einschneidend veränderten und je nach Schwerpunktsetzung innerhalb der Stufe anders angeordnet werden könnten.

Stufe 3: Sie enthält die Plätze fünf und sechs, die die Republik im wesentlichen auf ihrem Pfad hielten und diesen mit einigen Maßnahmen ausbauten. Die Reihenfolge ist hier auch nach persönlicher Präferenz problemlos änderbar.

Stufe 4: Sie enthält die Plätze sieben und acht, die wenig Auswirkung auf das politische Geschehen nehmen konnten. Diese Reihenfolge betrachte ich als eindeutig.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, beginnen wir mit unserer Betrachtung.

Bundesarchiv, B 145 Bild-F078072-0004 / Katherine Young / CC BY-SA 3.0 DE

Platz 1: Konrad Adenauer (1949-1963), CDU

Es ist völlig offensichtlich, dass Platz 1 in einem solchen Ranking von Konrad Adenauer besetzt sein muss. Niemand hat die BRD mehr geprägt als er, und während wir gegenüber der Theorie der „Großen Männer in der Geschichte“ einen gesunden Abstand wahren sollten – zu relevant sind strukturelle und gesellschaftliche Faktoren – so ist doch unbestritten, dass Adenauer persönlich einen gewaltigen Einfluss auf Richtungsentscheidungen der frühen BRD hatte. Allein deswegen gebührt ihm, mit Abstand, der erste Platz in diesem Ranking.

Innenpolitik

Ein Großteil der heutigen Verfassungsordnung wurde in der Kanzlerschaft Konrad Adenauers festgeschrieben. Es ist daher ein müßiges Unterfangen, hier auf Vollständigkeit pochen zu wollen.

Wenden wir uns zuerst den formalen Strukturen zu. Wie ich in meiner Serie zum politischen System Deutschlands bereits ausführlicher besprochen habe, geht ein wesentlicher Teil unserer heutigen Verfassungswirklichkeit auf Adenauer zurück. Er war es, der die Richtlinienkompetenz des Kanzleramts weiträumig auslegte und damit zur Schlüsselfigur des politischen Betriebs machte, der das Kabinett vergleichsweise schwach hielt, der die Exekutive zum klaren Zentrum der Gesetzgebung innerhalb des Bundestags machte. Damit prägte er die politische Struktur der Republik wie niemand nach ihm. Ich möchte noch einmal betonen: als erster Kanzler zwangsläufig. Hätte Kurt Schuhmacher die Bundestagswahlen 1949 gewonnen, hätte er die Struktur wohl ebenfalls geprägt. Wie und wie dauerhaft muss Spekulation bleiben. Wir wissen aber, dass Adenauers Festlegungen die Zeit überdauert haben. Und das ist bemerkenswert.

Ein weiterer Meilenstein, der in seine Regierungszeit fällt, ist die Wiederbewaffnung, die Gründung der Bundeswehr. Zwischen 1945 und 1955 hatte Deutschland keine eigenen Streitkräfte. Es war Adenauer, der von Beginn an auf die Wiederbewaffnung drängte (er bot ja bereits Präsident Truman 1950 im Koreakrieg einen deutschen Beitrag an!). Adenauer muss sich gleichwohl vorwerfen lassen, die Armee als deutlich rechtsgerichtete Kraft aufgebaut und von der deutschen Zivilbevölkerung weitgehend abgekapselt zu haben. Es brauchte die aufeinanderfolgenden Engagements mehrerer Verteidigungsminister, vor allem Helmut Schmidts, um die Bundeswehr zu reformieren und in ihre heutige Struktur mit dem „Staatsbürger in Uniform“ zu transformieren.

Das bringt uns auch zu einer weiteren Festlegung der Kanzlerschaft Adenauers: den Umgang mit den Nazis. Adenauer war von Anfang an der Überzeugung, dass der Aufbau des Staates nur möglich war, wenn möglichst schnell ein Schlussstrich unter die Jahre 1933 bis 1945 gezogen werde und schaute im Allgemeinen nicht nur nicht genau hin, sondern aktiv weg, wenn es um Nazi-Personal ging. Sein Kanzleramtsminister Globke ist nur das prominenteste Beispiel einer langen Reihe von Nazis aus der mittleren Ebene, die bruchlose Karrieren in der CDU machen konnten. Damit setzte Adenauer einen Ton, der in den 1960er Jahren zum ersten Mal und in den darauffolgenden Dekaden immer wieder hervorbrechen sollte.

Adenauer lag hier insofern richtig, als dass diese Nazi-Figuren eine umstandslose Wandlung zu Vernunftrepublikanern mitmachten. Es gibt keine Figur, die in der CDU Karriere gemacht hätte und später wegen Verfassungsfeindlichkeit aufgefallen wäre; gleichwohl wurde das natürlich durch die autoritäre Grundhaltung Adenauers und die generell muffige-konservative, punktuell ins Reaktionäre abgleitende Stimmung der 1950er Jahre auch deutlich erleichtert. Wir werden dieser Thematik in der Sektion der nicht gegangenen Wege noch einmal begegnen. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Integration der Alt-Nazis in die BRD insgesamt überraschend reibungslos verlief, wozu sicherlich auch das Verbot der SRP 1953 beitrug.

Umso auffälliger ist es, dass das große Verständnis für Nazis sich nicht auf die andere Seite des politischen Spektrums erstreckte. Adenauer setzte einen Ton eines ins pathologische übergehenden Anti-Kommunismus, der bewusst mit so breitem Pinsel zeichnete, dass er nicht nur die berechtigten Maßnahmen gegen Verfassungsfeinde wie die KPD ins Visier nahm (die 1956 verboten wurde), sondern auch die gesamte SPD in den Ruch des Vaterlandsverrats bringen wollte. Die christliche Nächstenliebe, die zum Verzeihen von Mördern wie Filbinger umstandslos möglich war, erstreckte sich nie auf einen Herbert Wehner, der unendlich viel redlicher war. Die CDU nutzte diese Rhetorik bis zum Untergang des Ostblocks, zuletzt in der Rote-Socken-Kampagne der 1990er Jahre.

Eine andere Leistung der Adenauer-Zeit war die Integration der Flüchtlinge. Dass wir darüber heute kaum noch reden ist allein bemerkenswert. Millionen Menschen kamen aus den verlorenen Ostgebieten mit praktisch Nichts in der BRD an, die selbst nicht gerade wohlhabend war und deren Städte in Trümmern lagen. Innerhalb von etwa 15 Jahren gelang die praktisch vollständige Integration der Flüchtlinge, so erfolgreich, dass deren politische Vertretung, der BHE, bereits in den 1950er Jahren in der CDU aufging und dass die Vertriebenen-Verbände eine deutlich geringere Rolle spielten, als man hätte erwarten können.

Mithin die größten Weichenstellungen aber die Wirtschafts- und Sozialordnung. Entgegen den Absichten Ludwig Erhards (der absurderweise gleichwohl als der Vater genau dieser Ordnung gilt) etablierte Adenauer ein Wirtschaftssystem, das auf einen korporatistischen Ausgleich zwischen den Interessen der Gewerkschaften und der Arbeitgeber setzte, was zur später viel beklagten „Herrschaft der Verbände“ führte, aber wirtschaftliche Konflikte in Deutschland auf ein Minimum reduzierte. Die Zahl der Streiktage in Deutschland bleibt im internationalen Vergleich verblüffend niedrig, die Lohnforderungen der Gewerkschaften generell moderat, ihre Erfolge dagegen höher und nachhaltiger als in vielen anderen Ländern. An dieser grundsätzlichen Ordnung hat sich, trotz des Verlusts der Bindekraft von Gewerkschaften und Verbänden, nichts geändert.

Adenauer setzte auch, gegen den erbitterten Widerstand etwa Ludwig Erhards oder seiner liberalen Koalitionspartner, die Schaffung des modernen deutschen Sozialstaats durch. Hier ist nicht nur die Grundsatzentscheidung zu nennen, das auf Bismarck zurückgehende und in der Weimarer Republik ausgebaute Versicherungsprinzip als zentrale Ordnungsvorstellung zu erhalten, sondern vor allem den Ausbau dieses Systems, so dass es eine menschenwürdige Existenz erlaubt.

Es ist vor allem die Einführung der dynamischen Rente 1957, die mit ihrer faktischen Abschaffung des bis dahin weit verbreiteten Phänomens der Altersarmut die Lebensrealität breiter Bevölkerungsschichten grundlegend zum Besseren wendete (und mit der absoluten Mehrheit bei den Wahlen im selben Jahr belohnt wurde). Gleichwohl schuf Adenauer damit auch Probleme, die die Republik in den kommenden Jahrzehnten plagen sollen, vor allem, weil er die andere Seite der Gleichung völlig außer Acht ließ. Es war Willy Brandt, in dessen Regierung das Kindergeld eingeführt wurde, und erst die CDU-Regierung Merkel (!) sollte zaghafte Schritte in die Richtung unternehmen, was an entsprechender Stelle diskutiert werden wird.

Außenpolitik

Es ist schwierig zu sagen, ob die Londoner Schuldenkonferenz mit einem Kanzler Schuhmann einen signifikant anderen Verlauf genommen hätte. Die weiter unten diskutierte Westbindung half Adenauer aber sicherlich, die Frage der Reparationen in Deutschlands Sinne zu lösen, indem sie weitgehend auf die Zeit nach einem (völlig hypothetischen) Friedensschluss geschoben wurde (es sollte Kohl zufallen, sie dann vom Tisch zu fegen). Adenauer aber etablierte die lange deutsche Tradition, die durchaus einzigartig ist, die Schuld des Landes grundsätzlich anzuerkennen und mit signifikanten Summen abzugelten. Das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel war nicht nur richtig, sondern in seinem Umfang auch überraschend generös. Hier wurde ein Präzedenzfall für das weitere deutsche Verhalten gesetzt, das zwar nie auch nur ansatzweise perfekt war, aber Meilen der Bewältigungspolitik anderer Länder voraus ist.

In der Außenpolitik aber ist als größte und nachhaltigste Weichenstellung der BRD die Westbindung zu nennen. Anstatt an alte deutsche Traditionen anzuknüpfen oder einem damals weit verbreiteten Wunsch nachzugeben, ähnlich wie Österreich eine Brückenrolle zwischen Ost und West einzunehmen und sich keinem der beiden Kalter-Kriegs-Blöcke zu verschreiben. Adenauer stattdessen wollte von Anfang an die enge Bindung an die USA, Frankreich und Großbritannien. Er war darin vor allem aus zwei Perspektiven geleitet.

Einerseits misstraute Adenauer allem, was sich östlich der Elbe befand (dort begann in seinen unsterblichen Worten Asien), vor allem den dortigen Protestanten, zutiefst und wollte mit ihnen keinen Staat teilen. Aus diesem Grund verhinderte er auch die Anerkennung West-Berlins als Bundesland („damit hätte die SPD ein Übergewicht“). Andererseits sah er, dass die Chancen für Deutschlands Wiederaufstieg in einer engen Bindung an den Westen wesentlich besser waren als in einer Schaukelpolitik. Adenauer hatte Weimar erlebt; ihm musste niemand den Geist von Rapallo beschwören.

Daher trieb er sowohl die Einbindung Deutschlands in die NATO voran (mitsamt der Wiederbewaffnung) als auch die europäische Einigung. Man sollte nicht der nachträglichen Verklärung auf den Leim gehen und Adenauer als überzeugten Europäer konstruieren. Der Rheinländer erkannte vielmehr in der Montanunion und später der EWG ein probates Mittel, die Isolation der BRD zu überwinden und die Wirtschaftspolitik international abzusichern. Aber Motive sind letztlich irrelevant, was zählt, ist das Ergebnis. Und beide Prozesse waren zutiefst bedeutsam, wenn es um die weitere Marschrichtung deutscher Außenpolitik geht. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die SPD erst eine Machtperspektive bekam, als sie mit Bad Godesberg diese Grundsatzentscheidung anerkannte und sich von der Idee einer Schaukelpolitik verabschiedet (auch wenn viele in der SPD bis heute Phantomschmerzen von dieser Entscheidung haben). Umgekehrt blieb der die deutsche Außenpolitik gewissermaßen auf einem Auge blind und ignorierte bewusst den Osten des Kontinents – ein strategischer Makel, der erst durch Willy Brandt beseitigt wurde.

Adenauer half hier sicherlich seine kulturelle Affinität zu Frankreich. Gegenüber den USA dagegen hatte er stets eine instinktive Abneigung; zu freiheitlich, kosmopolitisch, modern waren sie ihm. Instinktiv verstand er sich mit einem anderen autoritären Staatschef wie Charles de Gaulles. In seinen letzten Jahren als Kanzler setzte er die deutsche Außenpolitik so weit wie möglich von den USA ab (zu deren neuen Präsidenten Kennedy er ohnehin keinen Zugang fand, was sicher auf Gegenseitigkeit beruhte) und schloss ein Abkommen mit de Gaulle, das eine deutsch-französische Sonderpartnerschaft in Europa vorbereiten sollte. Hier erhielt er aber bereits viel innerparteilichen Gegenwind. Das weitere Schicksal dieser Bestrebungen werden wir in der Kanzlerschaft Erhards erleben.

Nicht gegangene Wege

Es ist offensichtlich, dass eine Figur, die so viele Richtungsentscheidungen traf wie Adenauer, damit auch eine ganze Menge Richtungen ausschloss. Wo diese durch die Wahl einer Alternative bestimmt sind, haben wir sie bereits abgehandelt.

Eine zentrale Entwicklung unter Adenauer wurde durch eine Kombination zahlreicher Widerstände zunichte gemacht: ein deutlich autoritäreres Deutschland, als wir heute haben. Beispielhaft kann man das bei Adenauers Versuch sehen, ein staatlich kontrolliertes Regierungsfernsehen einzurichten, weil ihm die Unabhängigkeit der damaligen ARD (die er stilsicher als „rotes“ Fernsehen bezeichnete) gegen den Strich ging. Das ZDF entspringt dieser Antipathie. Adenauers Kontrollvorstellungen aber schob das BVerfG einen Riegel vor. Auch in der Spiegel-Affäre verhinderte eine breite Allianz eine obrigkeitsstaatlichere Ausrichtung der BRD.

Dieselbe Stoßrichtung findet sich in zahlreichen Initiativen Adenauers. Stetig versuchte er, die Machtbefugnisse der Exekutive auszuweiten und sie gegen Kontrolle durch die anderen Gewalten oder die Presse abzuschirmen. Wir nehmen es heute als gegeben hin, dass er hier auf ganzer Linie scheiterte, aber das war bei weitem nicht gesagt. Hätte Adenauer Erfolg gehabt, würde die BRD heute ganz, ganz anders aussehen.

Gleiches gilt für ein Feld, auf dem er erfolgreich war. Der gesellschaftspolitische Muff der 1950er Jahre etwa ist legendär und brach in den Protesten der 1960er Jahre dann deutlich aufgeladener zusammen, als dies notwendig gewesen wäre. Hier ist Adenauers Figur vor allem eine der Verhinderung. Wäre es nach dem Alten gegangen, wäre das Land auch deutlich christianisiert worden. An Initiativen dieser Art fehlte es nicht; dass sie scheiterten, liegt weniger an Adenauers Vermögen oder Unvermögen, sondern an der rapide abnehmenden Bindungskraft der Amtskirchen, gegen die auch noch so klare Schützenhilfe aus dem Kanzleramt nichts auszurichten vermochte.

Adenauer scheiterte auch mit seinem Versuch, Deutschland in den Kreis der Großmächte zurückzuführen. Vor allem seine Versuche, an Atomwaffen zu kommen, scheiterten. Es ist schwer zu sagen, wie die deutsche Außenpolitik heute aussehen würde, wenn das wiedervereinigte Deutschland über Atomwaffen verfügte, aber die grundsätzliche Logik als „Zivilmacht“ wäre kaum aufrechtzuerhalten. Man kann an Frankreich und Großbritannien sehen, welches Eigenleben selbst vergleichsweise kleine Atomwaffenarsenale entwickeln und welche zwingenden Folgeschritte sich aus ihnen ergeben.

Hätte Adenauer nicht auf den Ausbau des Sozialstaats gesetzt oder seinen parteiinternen Machtkampf mit Ludwig Erhard verloren, so ist durchaus anzunehmen, dass Deutschland heute völlig anders aussehen würde. Amerikanischer, vermutlich, bedenkt man Erhards transatlantische Sensibilitäten. Die Gewerkschaften wären schwächer geblieben, gleichzeitig konfliktreicher. Das sozialdemokratische Milieu hätte sich vielleicht nie aufgelöst, die SPD nie Volkspartei geworden – und genauso wenig die CDU. Dieses Szenario schafft so viele weitere Pfade, dass es müßig ist, darüber zu spekulieren. Sicher aber ist, dass es ein komplett anderes Deutschland geworden wäre.

Ein letzter nicht gewählter Pfad besteht in der Frage der Flüchtlingsintegration. Wäre es der BRD in dieser Zeit nicht gelungen, die Flüchtlinge zu integrieren, wäre die dauerhafte Etablierung einer revanchistischen Partei vorstellbar gewesen, die nicht nur das politische System der BRD dauerhaft nach rechts verschoben hätte, sondern auch die Außenpolitik ungemein erschwert hätte. So wurden die Revisionisten in den demokratischen Konsens der CDU eingebunden und spielten dort eine eher untergeordnete Rolle.

Bundesarchiv, B 145 Bild-F057884-0009 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0

Platz 2: Willy Brandt (1969-1974)

Willy Brandts Kanzlerschaft markiert aus vielerlei Gründen eine Wasserscheide für die BRD. Ich würde nicht so weit gehen, es als eine „zweite Gründung der Republik“ zu sehen (eine Formulierung, die viele Historiker für die Präsidentschaft Abraham Lincolns verwenden), aber kein anderer Kanzler hat die BRD so tiefgreifend verändert wie er. Dazu kommt, dass sich mit ihm, in den Worten Heinemanns, „ein Stück Machtwechsel“ vollzog – der erste friedliche Übergang von Regierung zu Opposition. Die CDU tat sich bekanntlich schwer damit und arrangierte sich erst nach dem gescheiterten Misstrauensvotum 1971 und der folgenden krachenden Wahlniederlage 1972 mit der Oppositionsrolle.

Innenpolitik

Besonders innenpolitisch verwandelte die sozialliberale Koalition das Antlitz der BRD nachhaltig. Ein Großteil dieses Wandels fällt dabei in die Kanzlerschaft Willy Brandts; wir werden Helmut Schmidts Weichenstellungen an gegebener Stelle betrachten. Vor allem drei Schlagworte sind mit dem innenpolitischen Programm der beiden Brandt-Kabinette verbunden: „Wir bauen das moderne Deutschland“ (der Slogan aus dem Wahlkampf 1969), „Mehr Demokratie wagen“ (aus Brandts Regierungserklärung) und „Lebensqualität“ (das Leitmotiv aus dem Wahlkampf 1972).

Der Anspruch Willy Brandts (viel weniger Helmut Schmidts oder Herbert Wehners, die beide für eine Fortsetzung der Großen Koalition plädierten) war es, Deutschland zu modernisieren und aktiv umzugestalten. Von der eher patriarchalisch-beaufsichtigenden Rolle, die die drei CDU-Kanzler gesehen hatten, glaubte er an die Notwendigkeit und die Durchführbarkeit von Reformen. Zu seinem Glück wandelte sich die FDP in dieser Zeit stark, eine Entwicklung, die in den Freiburger Thesen 1971 ihren Höhepunkt finden sollte, und trat mit einem ähnlichen Gestus, wenngleich anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkten an. Ich will daher zuerst auf die vorrangig sozialdemokratischen Impulse eingehen, ehe wir die eher freidemokratischen betrachten.

Im Bildungssektor fanden ebenfalls umfassende Reformen statt. Die Universitäten öffneten sich dank neu eingeführter Maßnahmen wie dem Bafög für völlig neue Schichten (was ironischerweise die Rolle der Universitäten als Brutstätten des Protests und alternativer Lebensstile einrenkte). Immer mehr Kinder konnten das Gymnasium besuchen.

In einer Mammutreform aller Kultusministerien wurde das Schulsystem in jene Struktur gebracht, die wir heute noch kennen, mit klar abgetrennten, Primar-, Sekundar-1- und Sekundar-2-Stufen, letztere mit einem Notenpunktsystem, bei dem ein Großteil der Noten ins Abitur einfloss, das wiederum zur wichtigsten Zugangsvoraussetzung ins Studium avancierte – anders als vorher, wo Verbindungen und Stallgeruch entscheidend waren. Seither beugt an staatlichen Universitäten alles sein Haupt vor der Macht des Numerus Clausus.

Auch von der Demokratisierung wurden die Bildungsinstitutionen erfasst. SMV und Asta sind Entwicklungen, die auf diese Zeit zurückgehen, wenngleich sie die hochfliegenden Erwartungen ihrer Befürworter nie erfüllen konnten und in manchen konservativen Bundesländern wie Baden-Württemberg auch rasch zurückgefahren wurden oder nie zur Reife kamen.

Am durchschlagendsten war die Demokratisierung Brandts in der eigentlich politischen Arena, wo in den Parteien wesentlich mehr Mitspracherechte etabliert wurden (ein Trend, dem sich nach der Niederlage Barzels auch schnell die CDU anschloss, die unter Oppositionsführer Kohl eine Trendwende von der Honoratioren- zur Mitgliederpartei hinlegte), neue Wahlen eingeführt wurden, eine Gemeindereform das kommunale politische System der BRD komplett überholte (mit tief greifenden, bis heute wirkenden Veränderungen) und gänzlich neue Ansprüche an Transparenz und Offenheit der Politik gestellt wurden, die einen bis heute gültigen Standard darstellen. Die Regierungsweise, die noch unter Adenauer gang und gäbe war und so weit als möglich ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfand, ist seither unmöglich – im Guten wie im Schlechten.

Wesentlich umstrittener ist die Demokratisierung damals wie heute in der Wirtschaft. Zwar konnten die Sozialdemokraten die Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben endlich legalisieren und damit einen fast 100jährigen Arbeitskampf beenden. Auch wurde die Rolle der Betriebsräte stark ausgebaut. Aber die Demokratisierung der Wirtschaft erreichte nie auch nur annähernd das Ausmaß, das die Visionäre der SPD sich wünschten. Wir gehen auf diese Thematik in der Sektion für die nicht gegangenen Wege noch einmal ein.

Bereits im Adenauer-Teil unserer Betrachtung habe ich die Bundeswehrreformen angesprochen; sie sollen hier noch einmal gebührend Erwähnung finden. Helmut Schmidt konnte als Verteidigungsminister einen großen Anteil an diesen Reformen für sich verbuchen. Mit Sachverstand auf der einen und genügend Distanz zur Armee auf der anderen Seite (bei der er dank seiner Wehrmachtskarriere einen Vertrauensvorschuss genoss, den der Exilant Brandt nie haben konnte) brach er den alten Wehrmachtsgeist vollständig. Diese Reformen wurden ab 1972 unter seinem Nachfolger Leber leider teilweise wieder zurückgedreht, so dass die CDU-Verteidigungsminister der 1980er Jahre das ganze Thema noch einmal von vorne aufnehmen und, unterstützt durch die Demographie, dann endgültig lösen konnten.

Weitere Öffnungsmaßnahmen betrafen die Herabsenkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre, ebenso die des passiven Wahlalters von 25 auf 21 und später ebenfalls auf 18. Die Rechte von Kindern und Jugendlichen wurden stark ausgebaut, die der Eltern eingeschränkt. Statt der elterlichen Gewalt stand nach einer grundlegenden Reform des Familienrechts nun die elterliche Sorge im Vordergrund, wenngleich es noch einmal drei Dekaden dauern sollte, ehe Gewalt gegen Kinder unter Kanzler Schröder endgültig verboten werden sollte.

Zentrale Fortschritte wurden auch im Hinblick auf die Emanzipation der Frau gemacht. So wurde das Eherecht entscheidend verändert, das dem Mann viele Gewaltrechte gegenüber der Frau eingeräumt hatte. Beschränkungen für die Tätigkeit von Frauen wurden abgeschafft, Frauen gefördert. Zuletzt wurde mit der Legalisierung der Abtreibung eine feministische Kernforderung erfüllt.

Zentrale Weichenstellungen erfolgten auch in der Sozialpolitik. Seit Adenauer (und nie wieder seitdem) wurde der Sozialstaat nicht mehr so stark ausgebaut wie unter Brandt. Die Regierung beseitigte eine Leerstelle im Generationenvertrag, indem mit dem Kindergeld wenigstens ein kleiner Teil der Bürde der Kindeserziehung aufgefangen wurde. Zudem wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (übrigens im Einvernehmen mit der Wirtschaft und Versicherungsindustrie) reformiert, ein Programm, das so erfolgreich war, dass es bis heute weitgehend erhalten blieb und in Deutschland völlig unangefochten ist.

Die größte und sicherlich umstrittenste dieser Reformen aber war die Rentenreform 1972. Angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg überboten sich die CDU und die SPD gegenseitig mit Forderungen nach einem Ausbau der Rente. Die SPD errang schließlich einen Pyrrhus-Sieg, indem sie zwar die größten Angebote machte (und einen triumphierenden Rundbrief an die schwäbischen Rentner schreiben konnte), die Landtagswahl aber trotzdem verlor und den Staatshaushalt deutlich belastete, weswegen ein Gutteil des 1972 festgeschriebenen Rentenniveaus inzwischen wieder passé ist – und in einer schreienden generationellen Ungerechtigkeit nur von einer eingeschränkten Alterskohorte genossen, aber vor allem von der nachfolgenden bezahlt wird, ein Problem, an dem sich bis heute noch jede Partei die Zähne ausgebissen hat. In einer besonderen Ironie der Geschichte waren es die Sozialdemokraten, die die größte Rentenkürzung der Geschichte 2007 zu verantworten hatten – und dafür, wie es aussieht, endgültig jegliche Machtperspektive verloren.

Eine große, wenngleich völlig unbeabsichtigte Weichenstellung war eine Folge der Entscheidung der Adenauer-Regierung, den Arbeitskräftemangel durch die Anwerbung von Gastarbeitern zu beheben. Während die Arbeitsmigration aus Südeuropa weitgehend folgenlos blieb – die meisten Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen waren bis zu Beginn der 1970er Jahre verschwunden – sollte die Umstellung der Anwerbung auf Türken ab 1961 große Folgeeffekte haben. Mit dem ersten Ölpreisschock verschwand der Mangel an ungelernten Gastarbeitern endgültig. Um diesen zu beheben, entschied sich die Regierung Brandt 1973 für einen Anwerbestopp. Dieser hatte den gegenteiligen Effekt des Gewünschten: angesichts unklarer Rückkehraussichten blieben die Türken im Land, holten ihre Familien nach und begannen, von Arbeitsmigranten zu echten Migranten zu werden. Mit dieser Herausforderung nicht umzugehen wird einer der größten nicht gegangenen Wege unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl sein.

Eine letzte, bescheidene Weichenstellung erfolgte durch die zarten Anfänge einer Umweltpolitik. Brandt war einer der ersten deutschen Politiker, die sich für eine saubere Umwelt stark machten. Wir reden von einer Zeit, in der der Rhein klinisch tot und die Luft im Ruhrgebiet so schlecht war, dass man jeden Tag zweimal Fenster putzen und trotzdem nicht hinterherkommen konnte. Unter dem Schlagwort „Blauer Himmel über der Ruhr“ begann die Generationenaufgabe, die Hinterlassenschaften der Industrialisierung zu beseitigen und gleichzeitig den Strukturwandel einzuleiten – eine Generationenaufgabe, die bis heute nicht abgeschlossen ist und die von seinem Nachfolger Helmut Schmidt bedauerlicherweise in falsch verstandenem Pragmatismus praktisch abgebrochen wurde.

Kommen wir damit zu den Themen, die eher aus der liberalen Herzkammer stammen. Die Brandt-Ära steht im Zeichen einer weitgehenden Liberalisierung. So wurde die in der Großen Koalition bereits begonnene Strafrechtsreform weitergetrieben und zu Ende gebracht, die das komplette System der Strafverfolgung von seinem reaktionären Ballast befreite. Von der Abschaffung des Zuchthauses im Kleinen bis zur Abkehr vom Sühnegedanken im Großen wurde alles vom Kopf auf die Füße gestellt. Kaum ein Stein blieb auf dem anderen. Die FDP verdiente sich hier als Bürgerrechtspartei bleibende Meriten und schaffte im gesamten rechtlichen Bereich jenes moderne Deutschland, das die SPD im wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich schuf – und in dem wir heute noch leben.

So finden wir in dieser Zeit etwa die Einführung des Prinzips, dass Resozialisation der Hauptgedanke der Strafrechtsbehörden ist. Es geht nicht um das Bestrafen und Wegsperren, sondern um das Beseitigen der Gründe für Kriminalität – ein heute allgemein akzeptierter Gedanke (wenngleich nicht an deutschen Stammtischen, an denen besonders konservative oder reaktionäre Parteien und Politiker gerne mit Forderungen nach harten Strafen reüssieren).

Das Demonstrationsrecht, das unter den vorangegangenen Kanzlern noch ein Schattendasein fristete und jederzeit unter Polizeiknüppeln fallen konnte, wurde deutlich gestärkt (erneut gegen erbitterten Widerstand der CDU). Veraltete Strafbestände wurden abgeschafft; so fiel der Kuppelei-Paragraph ebenso wie die Strafbarkeit von Homosexualität.

Leider, und auch das muss ausgesprochen werden, fiel auch ein dunkles Erbe in diese Zeit: der so genannte Radikalenerlass. Um gegen die Bedrohung vor allem durch linksextremistische K-Gruppen vorzugehen, die in dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen, wurden Gesinnungsprüfungen eingesetzt. Diese waren verfassungsrechtlich fragwürdig, wertetechnisch inakzeptabel und wurden später von Brandt als sein „größter Fehler“ gesehen, unter Schmidt bereits wieder entschärft, finden sich aber bis heute in den Gesetzesbüchern.

All diese Reformen, allen voran die Rentenreform 1972, belasteten auch nachhaltig den Staatshaushalt. Bis 1973 war das kein großes Problem; die Wachstumsraten waren ordentlich, die Aussichten gut. Aber der Ölpreisschock 1973 zerschoss jegliche Projektionen und änderte die komplette Berechnungsgrundlage aller Haushaltsplanungen. Dies war ein Problem, das vor allem Brandts Nachfolger planen würde – er regierte nach dem Schock, wenngleich aus anderen Gründen, kein Jahr mehr.

Außenpolitik

Am berühmtesten ist Willy Brandts Kanzlerschaft fraglos für seine Ostpolitik. In den 1960er Jahren war zunehmend deutlich geworden, dass Adenauers harte Abgrenzungspolitik nach Osten (die in der Hallsteindoktrin institutionalisiert worden war) nicht mehr länger aufrechtzuerhalten war. Weder erfüllte sie ihr Ziel (die DDR wurde zwar delegitimiert und destabilisiert, aber brach offenkundig nicht darüber zusammen), noch standen die Erträge in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kosten.

Ganz abwenden wollten sich Genscher und Brandt aber von diesen Gedanken nicht; eine formelle Anerkennung blieb der DDR auch in der sozialliberalen Ära versagt. Stattdessen folgten die Grundlagenverträge. Zuerst einigte man sich mit der Sowjetunion – eine unverzichtbare Vorbedingung jeder Aufnahme von Verhandlungen mit ihren Satellitenstaaten, die ja außenpolitisch nicht eben souverän waren -, dann mit Polen und der Tschechoslowakei. Erst am Ende fand eine Einigung mit der DDR statt.

In allen Fällen bestanden die Grundbausteine dieser Verträge in gegenseitigem Gewaltverzicht und Anerkennung der Nachkriegsgrenzen. Aus heutiger Perspektive ist die Heftigkeit der Auseinandersetzungen um diese Frage völlig unverständlich, aber viele Abgeordnete betrachteten das als glatten Landesverrat. Die Stimmung war hoch aggressiv, und die Regierung Brandt zerbrach beinahe über der Frage. Am Ende aber hatten sowohl SPD als auch FDP ihre nationalistischsten Abgeordneten an die CDU verloren – wo sie im Gefolge der Wahlniederlage 1972 rapide an Einfluss verloren.

Neben der Anerkennung der Grenzen nahm die BRD auch Handelsbeziehungen zu den Ostblockstaaten auf, die wirtschaftlich deutlich relevanter waren, als beide Seiten sich dies damals wie heute eingestehen wollten. Im Gegenzug verpflichtete sich die DDR auf die so genannten „menschlichen Erleichterungen“. Letztlich lief es darauf hinaus, dass die BRD die DDR dafür bezahlte, ihr Volk nicht ganz so sehr zu misshandeln wie bisher.

Diese politische Entscheidung sollte Langzeitfolgen für die Legitimation des DDR-Regimes haben. Die neue Transparenz, die durch die Öffnung zum Westen zwangsläufig und nicht zu vermeiden war, führte den maroden Status der DDR und den Realitätsverlust ihrer Eliten vor allem ab den 1980er Jahren allen deutlich vor Augen. Andererseits aber stabilisierte die Ostpolitik die DDR auch deutlich. Sie blieb bis 1989 Regierungspolitik der BRD; so wie die SPD die Westbindung akzeptiert hatte, so akzeptierte die CDU die Ostpolitik.

Dies führte dazu, dass unter Kohl eine Franz Josef Strauß, Kommunistenfresser der ersten Stunde, die DDR mehrfach mit Milliardenspritzen vor dem Bankrott bewahrte. 1989 war die Ostpolitik in allen deutschen Parteien so sehr verankert, dass sie zu einer regelrechten Identifizierung mit der DDR-Regierung geführt hatte – und zu einer distanzierten, abweisenden Behandlung der DDR-Opposition, was sich im Wiedervereinigungsprozess für diese als fatal erweisen sollte. Doch dazu mehr, wenn wir zu Kohl kommen.

Als letztes möchte ich noch den Kniefall in Warschau erwähnen. Brandts spontane Geste vor dem Denkmal der gefallenen Juden gab der unter Adenauer begonnenen wirtschaftlichen und politischen Wiedergutmachungspolitik gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs endlich auch eine moralische Komponente, ein offizielles Schuldeingeständnis, das weit über Geldzahlungen hinausreichte. Nicht umsonst wurde die Geste kontrovers diskutiert (BILD-Schlagzeile: „Durfte Brandt knien?“). Man befürchtete Reparationsforderungen, die aus dieser Anerkennung folgen würden. Dazu kam es nie. Aber Brandts Geste bereitete mit den Weg für den generellen Wandel des deutschen Geschichtsbilds und war ein Beweis politischen Muts und persönlicher Integrität.

Nicht gegangene Wege

Ein kontrafaktisches Szenario höchster Güte betrifft die Demokratisierung der Betriebe – in beide Richtungen. Der Kompromiss, den die sozialliberale Koalition fällte, befriedigte keine der beiden Parteien. Teile der SPD hätte gerne wesentlich weitreichendere Mitbestimmung gehabt, als ersten Baustein eines generellen Umbau des Wirtschaftssystems. Die FDP dagegen hätte es bevorzug, überhaupt keine Mitspracherechte einzuräumen und die Arbeitnehmer stattdessen über die Gewährung von Beteiligungen zu stakeholdern in ihren Betrieben zu machen.

Beide Alternativszenarien beschäftigen seither die Geister von liberalen wie linken Kritikern der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung. Es ist schwer zu sagen, wie sich die Republik entwickelt hätte, wenn diese Vorstellungen hätten umgesetzt werden können. Eine gesellschaftliche Mehrheit findet sich für beide Projekte eher nicht, weswegen sie zwangsläufig theoretisch bleiben müssen.

Ein weiterer Aspekt betrifft den Ausbau der Gesamtschulen, ein ständiges sozialdemokratisches Herzensprojekt. Im Zuge der Bildungsexpansion hoffte man, das deutsche Schulsystem aus seiner klassischen Dreigliedrigkeit lösen zu können und stattdessen die Gesamtschule etablieren und in ihrem Rahmen mehr Gleichheit schaffen zu können. Allein, das Unternehmen scheiterte auf mehreren Ebenen, dem Bildungsföderalismus an erster Stelle. Die SPD versuchte seither immer wieder, auf Länderebene Gesamtschulen zu etablieren, aber das Projekt hat nie wirklich Breitenwirkung erzielt und bleibt ein ungeliebtes Kind.

Es ist fraglich, ob eine Umgestaltung des öffentlichen Schulwesens je so möglich war. Wenn, dann hätte die Frühzeit der BRD die Möglichkeit geboten, als die damalige Besatzungsmacht USA darauf drängte und die deutschen Stellen mit aller Macht gegenhielten. Wenn selbst die siegreichen USA einem Rumpfstaat vor 1949 solche Reformen nicht aufoktroyieren konnten, ist es vermessen anzunehmen, eine Koalition, deren kleinerer Partner eh kein Interesse daran hatte, hätte es tun können. Aber es ist ein klarer nicht genommener Weg. Stattdessen öffnete sich das dreigliedrige Schulsystem in den späten 1990er und 2000er Jahren deutlich, so dass wir das Problem mittlerweile auf anderem Weg gelöst haben. Die Gesamtschulen wirken daher mehr und mehr wie ein Relikt vergangener Tage.

Zuletzt stellt uns die 1. Ölkrise von 1973 vor ein interessantes kontrafaktisches Szenario. Ich will nicht annehmen, dass sie nicht stattgefunden hätte – das war völlig außer Kontrolle aller westlichen Regierungen – sondern dass in Reaktion darauf wesentlich größere Schritte zu einer Dekarbonisierung der Republik genommen worden wären. In der Realität führte der Ölpreisschock zu einer stärkeren Konzentration auf Kernenergie. Aber grundsätzlich wäre es vorstellbar, dass man sich damals bereits für einen Ausbau der erneuerbaren Energiequellen entschieden hätte. Wie realistisch das ist, sei dahingestellt. In der damaligen SPD ist die Idee keinesfalls mehrheitsfähig, in FDP und CDU gleich dreimal nicht. Aber es waren Weichenstellungen, die bis zum Atomausstiegsausstiegausstieg unter Angela Merkel die Energiepolitik der BRD bestimmten.

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Platz 3: Helmut Kohl (1982-1998)

Helmut Kohl löste 1982 Helmut Schmidt mit dem ersten und einzigen erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum der bundesdeutschen Geschichte ab. Dass dies möglich war, lag an einer internen Machtverschiebung der FDP: Die Kräfte des sozialliberalen Flügels gerieten gegenüber dem wirtschaftsliberalen Flügel ins Hintertreffen. Die FDP betrieb den Koalitionsbruch und wählte Kohl zum Kanzler; dieser baute 1983 seine Mehrheit nach vorgezogenen Bundestagswahlen (auch auf Kosten der FDP) aus.

Er trat mit dem Versprechen einer „geistig-moralischen Wende“ an: Weg von den gesellschaftlichen Reformen der sozialliberalen Ära, hin zu einer Rückbesinnung auf das konservative Deutschland von früher, mit einem Schuss Angebotspolitik à la Thatcher und Reagan. Nichts davon geschah. Ohne Ereignisse von außen, die sich Kohl mit unvorgesehener Geschicklichkeit zunutze machte, wäre seine Kanzlerschaft eher in derselben Riege wie Kiesingers und Erhards geblieben.

Innenpolitik

Helmut Kohls Kanzlerschaft war vor allem eine der Kontinuität. In dieser Beziehung steht er seiner politischen Ziehtochter Angela Merkel in wenig nach. Vergleichsweise behutsam fuhr er einiges von dem, was er als Fehlentwicklungen der sozialliberalen Ära sah, zurück. Doch ähnlich wie die SPD akzeptierte die CDU die Bundesrepublik im Großen und Ganzen so, wie sie sie nach dem Koalitionswechsel überreicht bekam. Trotzdem setzte die Regierung Kohl einige Akzente, die die Bundesrepublik wenigstens im Kleinen prägen sollten. Anders als die Festsetzungen Adenauers und Brandts kann man jedoch von den meisten nicht behaupten, dass sie sonderlich groß waren.

Da wäre zuerst die Anerkennung der Umweltpolitik als Thema. Kohl setzte den ersten Umweltminister ein; ein Amt, in dem auch Angela Merkel sich später ihre Meriten verdienen würde. Gerade bei diesem Thema ist allerdings ziemlich unumstritten, dass auch eine SPD-Regierung ein solches Ministerium geschaffen hätte; zu eindeutig war der Zeitgeist. Zwar prägte die Umweltpolitik künftig die deutsche politische Landschaft mit, aber bis zu Schröders Kanzlerschaft war sie eher unter ferner liefen. Nichts desto trotz konnten vor allem im Kampf gegen Sauren Regen, FCKW und natürlich mit der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls wesentliche Meilensteine erreicht werden.

Ähnlich wenig bedeutend, wenngleich mit einigen Sekundäreffekten behaftet, war die große CDU-Spendenaffäre. Ich liste sie hier vor allem deswegen auf, weil sie die spätere Kanzlerschaft Merkels überhaupt erst möglich machte. Ohne sie wäre ziemlich sicher Schäuble der nächste CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat 2002 gewesen.

Ebenfalls von späterer Bedeutung war die Schaffung der Pflegeversicherung 1997. Doch auch hier gilt, dass eine solche auch von einer SPD-Regierung geschaffen worden wäre; ihr vergleichsweise geringes Volumen relegiert sie zudem klar gegenüber den bisher untersuchten Sozialstaatsreformen auf die hinteren Plätze. Dies mag sich allerdings in Zukunft noch ändern.

Bedeutender war demgegenüber schon Kohls Steuerreform. In einer mehrstufigen Überarbeitung der Einkommenssteuersätze wurde der „Mittelstandsbauch“ beseitigt, der deutsche Steuerrechtler lange zur Verzweiflung getrieben hatte. Gleichzeitig wurden die Höchststeuersätze gesenkt. Dies führte zu sinkenden Staatseinnahmen, die nirgendwo kompensiert wurden, und die schnell zu rasant steigenden Rekordschulden führten. Letztlich war es eine Steuersenkung auf Pump, wie sie ein Wahrzeichen der CDU-Reformpolitik bis zum heutigen Tag geblieben ist.

Einschneidend erweisen sollte sich dagegen die große Asyldebatte. Bereits in den 1980er Jahren forderte die Regierung Kohl eine Überarbeitung hin zu einer deutlichen Verschärfung des Asylrechts, für die sie freilich wegen der notwendigen Grundgesetzänderungen die Zustimmung der SPD brauchte. In diesem Zusammenhang wurde eine deutliche Verschärfung der Sprache in Diskussionen rund um Migration und Integration nicht nur willentlich in Kauf genommen, sondern auch aktiv befördert.

Diese Entwicklung erklomm nach der deutschen Einheit rasch einen neuen Höhepunkt, vor allem unter dem Eindruck des rasanten Anstiegs der Asylbewerberzahlen im Rahmen des jugoslawischen Bürgerkriegs. Angesichts des unsicheren Schicksals der neuen osteuropäischen Demokratien konnte sich die SPD dem Änderungsdruck auch nicht mehr erwehren, weswegen das Asylrecht 1993 deutlich verschärft wurde. Die Debatte stellt kein Ruhmesblatt der Kohl-Regierung dar, schon alleine deswegen nicht, weil die rechtsextremistischen Übergriffe bis hin zum Terrorismus weitgehend ignoriert wurden. Dazu gehört auch, die Gefahr des Rechtsextremismus in Ostdeutschland nicht anzugehen, sondern sich stattdessen anzuschmiegen, wie es etwa die CDU Sachsen tat.

Eine Weichenstellung von kaum zu überschätzender Bedeutung war dagegen die Medienpolitik Helmut Kohls. Während sich Helmut Schmidt noch mit Händen und Füßen gegen die Öffnung des Fernsehens für private Sender gewehrt hatte, gewährte Helmut Kohl dem ganzen Unternehmen, das sein langjähriger Spender gefordert hatte, durch ein exklusives Format („Zur Sache, Herr Kanzler“) reichlich Schützenhilfe. In rascher Folge wurden Sat1 und RTL gegründet und beglücken uns seither mit qualitativ hochwertiger Ware rund um die Uhr.

Doch die medienpolitischen Weichenstellungen der Kohl-Regierung enden nicht im Privatfernsehen, das auch eine breitflächige Verkabelung notwendig machte (Kosten, die, anders als heute schnelles Internet, selbstverständlich vom Staat getragen wurden). Als die Entscheidung anstand, in die angesprochene Verkabelung zu investieren, mussten auch die Telefonleitungen neu gemacht werden. Die Alternativen waren Fieberglas oder Kupfer. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung von der Materie hatte, riet in heftigster Weise von Kupfer ab. Kohls Postminister Schwarz-Schilling aber, der Kupferindustrie geschäftlich verbunden, optierte für Kupfer – und verdammte die Bundesrepublik zu der bis heute andauernden Internet-Diaspora mit miesen Verbindungsqualitäten.

Die allergrößte Weichenstellung der Kohl-Ära aber ist natürlich der innenpolitische Teil der Wiedervereinigung. Hier müssen vor allem zwei Stichworte fallen: Treuhand und Aufbau Ost.

Die Treuhand war der Versuch, ohne Verstaatlichungen die Industriebetriebe Ostdeutschlands abzuwickeln. Es wird für ewig umstritten bleiben, inwieweit die Treuhand rein zerstörerisch wirkte und in unnötigem Ausmaß sanierungsfähige Betriebe auflöste und die Filetstücke an den Westen verschacherte, wie ihre Kritiker behaupten, oder wie unmöglich die Sanierung der meisten Betrieb von Anfang an war. Fakt ist, dass die Treuhand der Privatisierung den Vorzug vor Sanierung gab und damit das Schicksal der maroden DDR-Betriebe besiegelte.

Ich tendiere zu der Annahme, dass angesichts der grausigen Lage der DDR-Wirtschaft – das ganze Ausmaß des dortigen Bankrotts wurde erst in den letzten anderthalb Dekaden wirklich ausgeforscht – ein Schwerpunkt auf Sanierung letztlich eine zeitlich nicht begrenzbare Subventionierung unrentabler Branchen bedeutet hätte, mit Niedriglöhnen und ohne Aussicht auf Erfolg. Die Treuhand fuhr demgegenüber eine Schockstrategie, aber ich halte es für zu optimistisch anzunehmen, dass subventionierte Dauerbaustellen den Osten besser befriedet hätten, als angesichts der Massenarbeitslosigkeit der Fall war. Diese kam ob der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und er verdeckten Arbeitslosigkeit in der DDR (die von Experten auf bis zu ein Viertel geschätzt wird!) so oder so.

Es ist auch nicht bekannt, dass die jahrzehntelang subventionierten Kohlekumpel des Ruhrgebiets und des Saarlands ihr Schicksal mit größerer Fassung getragen hätten. Daher sehe ich am Endergebnis – Massenarbeitslosigkeit und hohe Kosten – letztlich als alternativlos, und die Frage, wo die Kosten entstanden wären, als weitgehend akademisch.

Ähnlich sieht das bei der Weichenstellung für den Aufbau Ost aus. Hier gibt es ein kontrafaktisches Szenario, das ich weiter unten diskutieren will, aber grundsätzlich hätte auch eine SPD-Regierung riesige Transfers installiert, um die Lebensstandards anzugleichen und „blühende Landschaften“ zu schaffen. Offiziell sollte dies 20 Jahre dauern; intern rechneten Experten mit 40 Jahren. Diese haben wir jetzt erreicht – und letztlich muss man dem Aufbau Ost eine Erfolgsgeschichte bescheinigen. Die vom Grundgesetz geforderte Angleichung der Lebensverhältnisse ist zwar bei weitem noch nicht erreicht.

Aber wenn man sich ansieht, von welchem Stand man den heutigen erreicht hat, und welche gewaltigen regionalen Disparitäten westliche Länder wie Frankreich, Großbritannien oder gar die USA ohne 40 Jahre realsozialistischer Misswirtschaft kennen, dann muss man vor den Leistungen des Aufbau Ost den Hut ziehen. Kohl hätte sicherlich so manches hier besser machen können. Aber das sind Detailfragen. Die grundsätzliche Stoßrichtung bleibt Notwendigkeit.

Außenpolitik

So durchwachsen Kohls Bilanz in der Innenpolitik auch ist, so unbestritten sind seine Verdienste in der Außenpolitik. Kein Kanzler seit Adenauer konnte Deutschlands Rolle in der Welt so nachhaltig ändern wie Kohl. Er präsidierte (kanzlerte?) über den Wandel Deutschlands von einem primus inter pares zur unangefochtenen Schlüsselmacht in Europa. Dabei wurden Grundsatzentscheidungen getroffen, die durch die Kanzlerschaften Schröders und Merkels nachhallten und auch Merkels NachfolgerInnen binden werden.

Die größte dieser Weichenstellungen ist sicherlich die Wiedervereinigung. Ich werde in der Sektion der nicht gegangenen Wege genauer auf die Gründe eingehen, aber meine grundsätzliche Prämisse ist folgende: Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung war sehr kurz. Wir reden von nicht einmal einem Jahr. Entsprechend schnell musste Kohl agieren. Zudem galt es, mit mindestens (!) fünf anderen Staaten eine Übereinkunft zu treffen, von der Konsensfindung im eigenen Land gar nicht zu reden. Das war eine gewaltige Aufgabe. Dass Kohl sie mit Bravour löste, wird immer seine herausragende Leistung bleiben und ist in meinen Augen in der Außenpolitik der BRD unübertroffen.

Das Managment der deutschen Einheit erforderte einige Weichenstellungen. Relativ unbedeutend war das Transferieren einiger Milliarden an die UdSSR, damit diese bis 1994 ihre Truppen abzog. An Geld hat es der deutschen Außenpolitik noch nie gemangelt (anders als der sowjetischen Wirtschaft). Das Bestätigen der weiteren NATO-Mitgliedschaft war ebenfalls unumstritten und beruhigte vor allem die USA.

Wesentlich problematischer war, die Zustimmung von Großbritannien und Frankreich zu erhalten. Hierzu ging Kohl zwei Verpflichtungen ein. Beide waren ihm als überzeugtem Europäer nicht fern. Einerseits blieb das wiedervereinigte Deutschland Mitglied in der EG, während die EG zur EU werden sollte. Andererseits würde diese EU eine gemeinsame Währung einführen, eine Forderung vor allem der Franzosen, die Kohl allerdings vollen Herzens unterstützte und mit voranbrachte.

Beide EU-Reformen würden gewaltige Langzeitkonsequenzen haben. Bereits 1987 brachte die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte mit der folgenden Umwandlung der EG in die EU zwischen 1993 und 1995 einen Paradigmenwechsel, der mit EU-Staatsbürgerschaft, dem Schengenabkommen und dem Vertrag von Maastricht nur unzureichend umrissen ist und die Lebensrealität weit über Deutschland hinaus maßgeblich geändert hat. Die Einführung des Euro ist eine Grundsatzentscheidung Kohls, deren Auswirkungen erst in der Kanzlerschaft Merkels wirklich spürbar wurden und dort tiefgreifender behandelt werden sollen.

Ebenfalls in Kohls Kanzlerschaft fällt die Entscheidung zur EU-Erweiterung nach Osten (die für die Erweiterung von 1995 war eine logische Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, wegen der Finnland, Schweden und Österreich bislang nicht hatten Mitglied sein können). Auch diese Entscheidung würde in ihrer Tragweite große Konsequenzen haben, die erst in der Kanzlerschaft Merkels wirklich spürbar werden würden.

Allen EU-Entscheidungen aber ist gemein, dass sie von so vielen Akteuren kollaborativ getroffen wurden, dass es schwer ist, sie direkt Kohl zuzuschreiben. Unzweifelhaft stand er ihnen nicht im Weg und hat sie im Sinne deutscher Interessen, wie er sie verstand, beeinflusst. Aber insgesamt muss wohl festgestellt werden, dass diese mehr in die Kanzlerschaft Kohl fallen als von ihr ausgingen. Was Kohl dagegen sehr wohl zuzurechnen ist ist seine generelle Verhandlungshaltung; der Kanzler vermochte es deutlich besser als seine Nachfolger, sachte aufzutreten und gerade kleinere Mitgliedsstaaten in den Konsens einzubeziehen.

Deutlich aktiver dagegen sehen wir die Rolle des Kanzlers bei der Bundeswehr und im Balkan. Es war Kohl, der die ersten deutschen Soldaten in den Auslandseinsatz schickte (1994 nach Somalia) und damit ein Grundsatzurteil des BVerfG erforderlich machte, das den Charakter der Bundeswehr als Interventionsarmee grundsätzlich ermöglichte, aber dem Parlamentsvorbehalt unterstellte. Dies wurde kurz darauf sehr relevant, als Deutschland – das neue Gewicht als europäische Regionalmacht nutzend – massiv auf dem Balkan intervenierte und die Auflösung Jugoslawiens vorantrieb. Später steuerte Kohl das Land nach einer Beteiligung an der Friedenserhaltungsmission SFOR auf eine deutsche Beteiligung im sich anbahnenden Krieg gegen Serbien hin. Dieser würde dann von der Regierung Schröder ausgeführt werden, aber die grundsätzliche Entscheidung traf Kohl.

Nicht gegangene Wege

Die Natur der Möglichkeiten zu Weichenstellungen, welche sich Kohl boten, erlaubt einige relevante kontrafaktische Szenarien, vor allem im Rahmen der Gestaltung der deutschen Einheit. Ich hatte eingangs das knappe Zeitfenster erwähnt. Wenn sich die Verhandlungen bis zu Gorbatschows Sturz 1991 hingezogen hätten, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass seine Nachfolger nicht bereit gewesen wären, die DDR so billig aufzugeben wie er. Allein das wirft gigantische Unwägbarkeiten in den Weg.

Es ist aber natürlich auch vorstellbar, dass Kohl die Gelegenheit schlicht nicht ergreift. Sein direkter Konkurrenz Oskar Lafontaine war wahrlich nicht der Einzige, der damals gegen die Einheit war, vor allem gegen die Einheit in dieser Geschwindigkeit. Auch die DDR selbst, sowohl ihre (rapide an Legitimität verlierende) Regierung als auch die Opposition, waren keine Freunde eines Beitritts zum Bundesgebiets. Grundsätzlich wäre etwa eine Art Föderationslösung vorstellbar gewesen – mit kaum zu übersehenden Folgen. Offene Grenzen, direkte Wirtschaftskonkurrenz und der bekannt marode Zustand der DDR würden de facto zu einem Billiglohnkonkurrenten im eigenen Land geführt haben, mit Verwerfungen auch in der westdeutschen Wirtschaft, gegen die die Globalisierung sich wie ein laues Lüftchen ausnimmt.

Ein letztes Szenario wäre ein unkontrollierter Zusammenbruch der DDR, der den gesamten Ostblock ins Chaos stürzt, entweder mit oder ohne Intervention der UdSSR, mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die sich in die BRD ergießen. Auch diese Alternative ist vorstellbar – auch wenn man die Übung lieber nicht unternehmen will.

Demgegenüber sind kleinere alternative Szenarien – ein anderer Umtauschkurs der D-Mark etwa oder eine andere Gestaltung der Treuhand – geradezu überschaubar. Die deutsche Einheit war eine Zeit voller Unsicherheiten, die in viele Richtungen hätte ausgehen können. Dass sie so gut ausgegangen ist wie sie ausging – das ist Kohl.

Ein weiteres Szenario, das sich im Umfeld der deutschen Einheit ergibt, wäre das Scheitern des Verhandlungsformats 2+4. Um ein Szenario wie Versailles zu vermeiden, wurden die Verhandlungen auf die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten begrenzt. Aber wenn, wie teilweise gefordert, auch andere Länder teilgenommen und/oder Reparationsforderungen gestellt worden wären, wären die Verhandlungen anders verlaufen – vor allem deutlich langsamer, was dann zu den bereits beschriebenen Problemen führt. Dies war allen Teilnehmern bewusst. Gerade die Griechen dürften ihre Zustimmung zum Verzicht auf Reparationen aber inzwischen bereut haben.

Ebenfalls spannend wäre die Frage, was geschehen wäre, wenn CDU und FDP darauf verzichtet hätten, ihre jeweiligen Blockflöten zu integrieren. Die SPD hatte ja ein Angebot der moderaten Teile der SED auf dem Tisch liegen, die Partei zu verlassen und zur SPD überzutreten. Dies hätte die Existenz der SED praktisch unmöglich gemacht und der SPD eine Machtstellung im Osten verschafft. Die SPD lehnte dies damals ab. CDU und FDP waren weniger skrupulös; sie vergaben und vergaßen den Blockflöten alles und nahmen ihre Hilfe im Wahlkampf an, den sie danach auch gewannen (nicht ohne Schützenhilfe eines irrlichternden Lafontaine, nebenbei bemerkt). Ein solches Szenario würde ein völlig anderes Parteiensystem im Osten Deutschlands bedeuten, und vermutlich auch eine deutlichere Trennung der beiden Landesteile.

Als letztes Einheitsszenario will ich die Option nennen, den Aufbau Ost als eine Art libertäre Dystopie zu begehen – völlig ohne Transferleistungen und Angleichung von Sozialleistungen. In diesem Fall haben wir einen wesentlich brutaleren Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, massenhaft Flüchtlinge in den Westen und desolate Landschaften. Zu keinem Zeitpunkt wurde diese Idee auch nur ansatzweise diskutiert – zu offensichtlich waren die Folgen.

Zwar war Kohl nicht maßgeblich für die Entscheidung der EU Mitte der 1990er Jahre, die Osterweiterung in Angriff zu nehmen, aber wenn wir für einen Moment annehmen, dass er sie blockiert hätte, ergibt sich eine weitere, massive Abweichung. Seinerzeit hat man es als kleineres Übel angesehen, die osteuropäischen Staaten – die sich mit einer Schockstrategie seriös machten – in die EU aufzunehmen, trotz der krassen Probleme, die daraus erwachsen würden. Hätte man das nicht gemacht, wäre vielleicht die von Experten befürchtete Destabilisierung des Ostens erfolgt, quasi Weißrussland/Ukraine an der Oder. Trotz aller Nachteile der Osterweiterung scheint mir diese das kleinere Übel geblieben zu sein.

Bevor wir Kohls Kanzlerschaft verlassen, brauchen wir noch ein weiteres, zentrales kontrafaktisches Szenario. Eine der schwerwiegendsten Nicht-Entscheidungen Kohls war es, sich auf die Behauptung zu versteifen, Deutschland sei kein Einwanderungsland und keine relevanten Schritte in der Integration der vielen ausländischen Mitbürger zu unternehmen. Dies sollte gigantische Folgeprobleme haben, die zu den Erblasten gehören, die Schröders und Merkels Kanzlerschaften hinterlassen wurden und die auch Merkels NachfolgerIn plagen werden. Fairerweise muss man sagen, dass Kohl dieses Problem von Schmidt, der von Brandt und der es von Kiesinger erbte. Aber es ist nicht schwer, sich ein Szenario auszumalen, in dem Kohl bessere Entscheidungen auf diesem Feld trifft und Deutschland von Anfang an die Realitäten anerkennt, statt sich 25 Jahre lang in die Tasche zu lügen.

Olaf Kosinsky/Skillshare.eu

Platz 4: Gerhard Schröder (1998-2005)

Schröder war der erste Kanzler, der ohne großes Änderungsversprechen an die Macht kam. Vom „modernen Deutschland“ Brandts zur „geistig-moralischen Wende“ waren mit den vorherigen Machtwechseln jeweils große Änderungsversprechen verknüpft gewesen. Die SPD bestritt den Wahlkampf 1998 unter dem Slogan „Innovation und Gerechtigkeit“. Ähnlich dem Machtwechsel 1969 trat sie also mit dem Versprechen an, das Land zu modernisieren. Anders als 1969 aber war die Idee die einer Überarbeitung bestehender Prozesse. Nicht komplett neue Strukturen sollten geschaffen, sondern die bestehenden behutsam modernisiert werden. Die linken Flügel beider Regierungsparteien waren damit nie wirklich einverstanden, verloren aber den entstehenden Machtkampf rasch. Bereits im Wahlkampf 1998 verkündete die Schröder-SPD dagegen, man wolle „wenig anders, aber vieles besser“ machen, kündigte 2001 eine „Politik der ruhigen Hand“ an – umso ironischer, dass gerade in Schröders Regierungszeit einige der größten Reformen der bundesdeutschen Geschichte fallen. Er ist der letzte der Kanzler, die Deutschland wirklich tiefgreifend verändert haben.

Innenpolitik

Ein ordentlicher Teil der Modernisierungsidee stammte vom kleinen Koalitionspartner, den Grünen. Unter Führung Joschka Fischers fügten sie sich Schröders Maßgabe, dass sie zu wissen hätten, „wer Koch und wer Kellner“ sei, und warf damit radikalere Forderungen, wie sie der Grünen-Parteitag 1998 beschlossen hatte („5 Mark für den Liter Benzin“) über Bord. Die Maßnahmen, die die von ihnen geführten Ministerien auf den Weg brachten, waren daher eher kleinteilig. Aber eine Menge kleiner Veränderungen kann sich zu einer großen Änderungssumme mutieren.

Die rot-grüne Regierung bereicherte etwa das ohnehin an Verteilungskonflikten reiche Feld der Agrarpolitik mit einer gehörigen Dosis Bio-Liebhaberei („Stärkung der ökologischen Landwirtschaft“), die seither bei jeden Koalitionsverhandlungen aufs Neue das Herz der betroffenen Zielgruppen erfreut. Einen weiteren kleinen Beitrag für ein ökologischeres Deutschland bestand im Dosenpfand, das für einige Jahre zum praktisch kompletten Verschwinden der Dosen sorgte, eher der Boom der Einmalverpackungen und neuen Pfandautomaten sie wieder zurückbrachte.

Irgendwo zwischen Symbolpolitik und Umgestaltung des Steuerrechts liegt die Einführung der Ökosteuer, die Benzin verteuerte und die Erlöse in die Rentenkasse leitete – zwei Fliegen mit einer Klappe, quasi. Insgesamt ist die Auswirkung auf beide Bereiche eher klein, aber die Regierung setzt ein Signal – und da die Ökosteuer in beiden Wahlkämpfen 2002 und 2005 ein Thema des TV-Duells war, darf man ihr durchaus Signalwirkung zusprechen.

Wesentlich nachhaltiger dagegen war ein rot-grünes Kernprojekt der ersten Regierungsjahre, der Atomausstieg und der damit verbundene starke Ausbau der erneuerbaren Energiequellen. Der Atomausstieg einerseits war ein Gründungsprojekt der Grünen. Ohne das war eine Koalition kaum zu haben. Der Ausstiegszeitraum war vergleichsweise großzügig gewählt; gleichzeitig sollte mit dem EEG ein gesetzlicher Unterbau zum Ausbau der erneuerbaren Energien geschaffen werden.

Es wird ein ewiger Streitpunkt bleiben, ob das EEG zu wenig oder zu viel war – darin ähnelt es praktisch jeder investierenden Staatstätigkeit seit mindestens den Tagen Keynes‘. Fakt ist, dass es den Energiemarkt stark verändert hat. Nicht nur konnten in den Jahren des Förderprogrammes viele Hausbesitzer aus der Mittelschicht und noch viel mehr Hausbesitzer auf dem Mietermarkt ein ordentliches Zubrot durch Solaranlagen auf dem Dach erwirtschaften; der Anteil der Erneuerbaren am deutschen Energiemix stieg auf weltweit führende rund 30%.

Mittlerweile aber stagniert diese Entwicklung seit mindestens einem Jahrzehnt. Die Energiepreise sind im internationalen Vergleich hoch, Deutschland braucht massiv Kohlekraft und die Erneuerbaren sind wegen der ausgelaufenen Subventionen nicht mehr im Wachstum noch international führend. Wir können, erneut, lange darüber streiten warum das ist. Fakt ist, dass es so kam. Die Energiepolitik ist seit der Regierung Schröder ein Dauerproblem jedes Kabinetts.

Ebenfalls in den Bereich dieser Politiken gehören zahlreiche Reformen auf dem Feld des Verbraucherschutzes. Als im Rahmen des BSE-Skandals Renate Künast das Agrarministerium übernahm, fügte sie ihm das Feld des Verbraucherschutzes hinzu, das seither eine deutliche Aufwertung erfahren hat – ein Konstante auch in allen Kabinetten Merkel, von der man erwarten darf, dass sie ein Fixpunkt der deutschen politischen Landschaft bleiben wird.

Dafür, dass Schröder sich so eindeutig-herablassend gegenüber seinem Ministerium für „Frauen, Familie und Gedöns“ geäußert hatte, machte die rot-grüne Koalition auch auf diesem Feld einige bemerkenswerte Fortschritte. So wurden die Kinderrechte zum ersten Mal seit Langem 2001 wieder deutlich gestärkt, als ihnen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zugesprochen wurde. Auch in der Emanzipationspolitik gelangen unter Rot-Grün deutliche Fortschritte.

Die größten gesellschaftlichen Verwerfungen aber brachte mit Sicherheit die Idee des „Multikulti“ mit sich. Anfangs noch positiv besetzt, versuchte die Regierung Schröder die Versäumnisse aller bisherigen Regierungen aufzuarbeiten, indem neue Modelle der Integration angewandt wurden. Beispielhaft erwähnt sei hier die doppelte Staatsbürgerschaft (gegen die mobilzumachen sich für die CDU als zwar anrüchige, aber effektive Methode erwies, 1999 die Mehrheit im Bundesrat zu erobern), die reformierte Visa-Vergabe oder die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts.

Man tut vermutlich keinem der Beteiligten Akteure zu viel Unrecht, wenn man feststellt, dass sie in mehreren Bereichen über das Ziel hinaus schossen. Für die Grünen entwickelte sich die arg freigiebige Visa-Vergabe in der Ukraine zu einem veritablen Skandal, der in eine ohnehin wachsende Ablehnung der Multi-Kulti-Idee schlug. Zudem sorgte paradoxerweise gerade der Versuch, eine Integration der Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen, dazu, dass das Thema politisiert wurde: CDU und FDP polemisierten gegen die Integrationsidee, während SPD und Grüne (und die PDS) sich betont optimistisch gaben.

Dabei geriet aus dem Blickfeld, dass weder Integration noch eine multikulturelle Gesellschaft dadurch geschaffen werden konnten, dass man die Leute in wohlwollender Vernachlässigung ließ. Nicht, dass CDU und FDP – die 16 Jahre lang das Problen ignoriert hatten – nun etwas anzubieten hatten; das musste noch bis zur kurzen Bundespräsidentschaft Christian Wulffs warten. Aber auch SPD und Grüne hatten kein echtes Konzept, und das Problem der Parallelgesellschaften plagt uns noch heute.

Auch auf dem Gebiet der Steuerpolitik brachte Rot-Grün durchgreifende Reformen auf den Weg. Einer radikalen Absenkung der Spitzensteuersätze stand eine deutliche Ausdünnung der Absetzbarkeiten und Ausnahmen im Weg. Die Befürworter dieser Reform argumentieren, dass sich hierduch am Gesamtaufkommen wenig verändert habe; Kritiker weisen auf die Gerechtigkeitslücke durch die gesunkenen Spitzensteuersätze hin.

Eine wesentlich andere Bresche wurde durch die Beseitigung der Kapitalertragssteuer (die unter Merkel dann auf 25% Flat Tax reformiert wurde) geschlagen. In der Theorie sollte damit Kapitalflucht verhindert und Investitionstätigkeit angeregt werden. Eine gleichzeitige Zielrichtung war die Zerschlagung der so genannten Deutschland-AG, der wechselseitigen Beteiligungen der großen deutschen Unternehmen und Banken. Im Resultat wude das Ziel der Auflösung der Deutschland-AG erreicht, wenngleich um den Preis eines gewaltigen Steuergeschenks für die Besitzer dieser Beteiligungen und den Flurschaden eines ebenso riesigen Steuergeschenks für sämtliche Profiteure von Kapitalerträgen; eine Gerechtigkeitslücke, die die SPD lange plagen sollte.

Die weiteren wirtschaftlichen Effekte sind in höchstem Maße umstritten; Kritiker weisen etwa auf eine deutlich größere Anfälligkeit für Übernahmen durch Hedge Fonds mit dem damit verbundenen Substanz- und Arbeitsplatzverlust hin. Diese negativen Auswüchse haben sich nach einer Welle der entsprechenden Käufe mittlerweile teilweise eingerenkt, aber die deutsche Wirtschaft ist seither deutlich kurzfristiger und mehr aus das shareholder value ausgerichtet als vorher.

Unerwartete Langzeitwirkung hat die Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Während sie zwar seinerzeit einen wesentlich höheren Betrag in die Kassen spülte, als man erwartet hatte – mit dem sich dann das Sanierungsprogramm mit bezahlen ließ – blieb die Einmalspritze für den Bundeshaushalt relativ bedeutungslos, entzog aber den Telekommunikationsdienstleistern Kapital. Das zumindest ist seither die Begründung derselben für den miserablen Stand der deutschen Internetinfrastruktur. Die Regierung Schröder schlief auf diesem Feld genauso wie die Regierungen Kohl und Merkel.

Die rot-grüne Regierung brachte auch die größte Rentenreform seit 1972 auf den Weg. Hatte man 1999 noch die moderate Kürzung der Kohl-Regierung wieder rückgängig gemacht, legte die Regierung 2004 eine Kehrtwende hin und beschloss eine Kürzung des Rentenniveaus von 53% auf 43% bis zum Jahr 2030 bei gleichzeitiger Höchstgrenze des Beitragssatzes von 22%. Diese beispiellose Kürzung ging mit einer Förderung der privaten Vorsorge unter dem überkomplexen und überregulierten Konstrukt der Riester-Rente einher, die mittlerweile als gescheitert gesehen werden muss. De facto bedeutete die Reform eine starke Kürzung der Rente für alle seit den späten 1950er Jahre Geborenen, vor allem aber für alle, die seit den späten 1970er Jahren das Licht der Welt erblickten. Dass damit das Rentenproblem gelöst worden sei, wird dagegen wohl niemand behaupten wollen.

Auf ewig verbunden aber wird die Schröder-Regierung mit der Agenda2010 bleiben. 2001 setzte Schröder eine Kommission unter Peter Hartz ein, die ein umfassendes Konzept für Arbeitsmarktreformen erarbeiten sollte. Im Wahlkampf 2002 verpflichtete er sich, die Vorschläge der Kommission 1:1 umzusetzen. Das geschah natürlich nie, weil die CDU und FDP im Bundesrat starke Veränderungen durchsetzten. Aber die Grundidee blieb erhalten.

Die Agenda2010 ist letztlich der Versuch, das „Reformstau“-Problem der 1990er Jahre zu lösen, das die zweite Hälfte von Kohls Kanzlerschaft geprägt hatte. Im berühmten Artikel des Economist von 1999, der Deutschland als „kranken Mann Europas“ bezeichnete, wurden als Probleme die hohen Zinsen, die Kosten des Aufbau Ost und das hohe Niveau der Sozialabgaben kritisiert. An den ersten beiden Problemen konnte keine Regierung viel drehen. Wie auch der Economist seinerzeit feststellte, war die einzige Drehschraube das Niveau der Abgaben. Und hier setzte die Schröder-Regierung an.

Als zentrales Problem der damals sehr hohen Arbeitslosigkeit wurde ihre strukturelle Natur ausgemacht. Ein großer Teil der Arbeitslosen waren Langzeitarbeitslose. Das war aus zwei Gründen ein Problem. Einerseits wegen der hohen Kosten, andererseits wegen der Verstetigung. Die Hartz-IV-Reform, größte und bleibendste der Hartz-Reformen, schaffte die bestehende Arbeitslosenhilfe und die parallele Sozialhilfe daher de facto ab und schuf eine Grundsicherung, die, in den Worten von Schröders Regierungserklärung, „im Allgemeinen auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe liegen wird“.

Diese Reform veränderte das Leben der Menschen in Deutschland tiefgreifend. Vor allem für die Mittelschichten entstand der Albtraum eines Absturzes ins ökonomische und, vor allem, soziale Nichts, das wegen der Verwerfungen durch die Globalisierung ohnehin wahrscheinlicher war als früher. Kombiniert mit der Sockelarbeitslosigkeit vor allem im Osten führte dies zu wahren Proteststürmen, in denen die PDS den lange gehegten Traum einer Expansion nach Westen erreichen konnte und sich als LINKE neu als Fixpunkt des Parteiensystems etablierte – die erste Anti-System-Partei seit den Grünen 1983. Ob die LINKE eine ähnliche Wandlung durchmachen wird, ist noch immer offen.

Weniger erfolgreich und tiefgreifend waren die anderen Hartz-Reformen, die unter anderem die Selbstständigkeit fördern sollten. Zwar gab es eine kurze Periode des Booms der so genannten Ich-AGs, aber viel ist davon nicht geblieben. Hartz-IV aber bleibt eine Realität der Bundesrepublik, die nicht mehr wegzudenken ist. Selbst die LINKE fordert bestenfalls rhetorisch die Abschaffung der Reform. Noch steht eine historische und soziologische Gesamtbetrachtung der Auswirkungen der Agenda2010 aus; sicher sein dürfte allerdings, dass die rot-grüne Regierung das Antlitz der deutschen Gesellschaft stark verändert hat.

Außenpolitik

Eine außenpolitische Weichenstellung, die sich bereits unter Kohl ankündigte, erhielt in der rot-grünen Ära eine neue Bedeutung: die Intervention im Kosovo 1999. Obwohl Deutschland bereits seit 1997 auf den Konflikt hinsteuerte, bedeutete die Schröder-Kanzlerschaft, dass die Verantwortung für den ersten Kampfeinsatz seit 1945 (und das auch noch ohne UN-Mandat!) ausgerechnet von einem grünen Außenminister und einem roten Verteidigungsminister mit verantwortet werden musste – eine deutliche Abkehr von sowohl den Wurzeln der Grünen (was ihnen die Verunglimpfung der „Olivgrünen“ eingetragen hat) als auch der SPD mit ihrer Kritik am Doppelbeschluss unter Schmidt. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr genossen daher in den Folgejahren eine breite Basis im Parlament, wo alle Parteien (außer der PDS bzw. seit 2005 der LINKEn) den Einsätzen zustimmten.

Ebenso bedeutsam erwies sich die Intervention in Afghanistan 2001. Dieses Mal mit UN-Mandat beteiligte sich Deutschland am längsten Krieg der modernen Geschichte des Staates. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchem Gleichmut die Bevölkerung diesem mittlerweile 18 Jahre währenden Engagement gegenübersteht. Inzwischen dienen Soldaten in Afghanistan, die zum Zeitpunkt 9/11 noch nicht einmal geboren waren!

In der Europapolitik steht die rot-grüne Ära eher für Stillstand oder gar Rückschritt, wenngleich das nur teilweise der Regierung zum Vorwurf zu machen ist. Die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden etwa oder die Stagnation des Einigungsprozesses nach Nizza fallen in diese Kategorie. Auffällig ist dagegen, wie wenig Schröders „Männerfreundschaft“ mit Chirac erbrachte; obwohl es an gemeinsamen Initiativen nicht mangelte (ein auffälliger Kontrast zur folgenden Merkel-Ära), etwa im Bereich der Schaffung des „sozialen Europa“, fiel die Europapolitik vor allem in ihrer Verfestigung der absurden Agrarsubventionen auf.

Als persönliche Note darf Schröder für sich in Anspruch nehmen, den Ausverkauf an ausländische Interessen normalisiert zu haben. Sein Vorantreiben der Gazprom-Pipeline als Kanzler und sein danach übernommener Vorstandsposten in derselben Firma, genauso wie sein öffentliches Verteidigen von Putin, sind Schandflecken auf dem Amt.

Nicht gegangene Wege

Ein erstes spannendes Szenario ist das Ausbleiben eines Bruchs mit Lafontaine. Hätte Schröder – aus welchen Gründen auch immer – den internen Machtkampf verloren und wäre Lafontaines Kalkül aufgegangen, hätte dieser mit seiner Hausmacht als SPD-Vorsitzender das Finanzministerium als Machtbasis dem Kanzleramt beinahe gleichgestellt und eine Art Nebenregierung eröffnet. Das wäre ein völlig anderes Regierungssystem gewesen, als Deutschland je zuvor ausprobiert hat, mit einer stark eingeschränkten Kanzlermacht und deutlich gestärktem Kabinett. Man könnte sagen, es käme der ursprünglichen Idee des Grundgesetzes näher, aber das war 50 Jahre nach dessen Verabschiedung und den Adenauer’schen Prägungen eher unwahrscheinlich. Warum Lafontaine je dachte, damit durchzukommen, bleibt sein Geheimnis. Relevant bleibt in diesem Szenario vielleicht noch die Variante, in der ein frustrierter Schröder gescheitert zurücktritt und Lafontaine Platz macht, aber das hat sehr viele Unwägbarkeiten für Lafontaine auch in der Treue des grünen Bündnispartners, der mit ihm aus dem Saarland nicht eben viele gute Erfahrungen verband.

Die letzte militärpolitische Weichenstellung ist ebenfalls interessant. Wohl auch, um die Wahl 2002 zu gewinnen, positionierte sich Schröder klar gegen den Krieg im Irak und riskierte gemeinsam mit Frankreich den Bruch mit den USA. Angela Merkel sprach sich seinerzeit für eine deutsche Beteiligung aus; angesichts der Teilnahme am Afghanistaneinsatz ist nicht unvorstellbar, dass auch die Bundeswehr 2003 an dem Irakkrieg beteiligt gewesen wäre. Man sollte Schröder in dieser Frage nicht allzuviel Prinzipienfestigkeit unterstellen. In diesem Fall wäre die rot-grüne Regierung ähnlich Tony Blairs Labour in den kommenden Jahren in den Mahlstrom des Konflikts verwickelt worden – einmal abgesehen von den Kosten an Geld und Menschenleben.

Eine Zielsetzung deutscher Außenpolitik während Rot-Grüb zeigt einen beeindruckenden Weitblick, blieb aber letztlich folgenlos: der mit Frankreich unternommene Versuch des Aufbaus einer multipolaren Weltordnung. Mit großer Klarheit sahen die rot-grünen Außenpolitiker das Ende von Amerikas Unilateralismus kommen und hofften, die EU als einen Gegenpol etablieren zu können. Aus verschiedenen Gründen scheiterte das bereits im Ansatz, aber die Vorstellung einer im Zuge der Verfassungsreform von der Achse Paris-Berlin getriebenen deutlich proaktiveren EU-Außenpolitik ist spannend.

Ein letztes außenpolitisches Was-wäre-wenn stellt die gescheiterte EU-Erweiterung in Richtung Türkei dar. Die rot-grüne Regierung setzte sich gegen den erbitterten Widerstand von CDU und FDP, aber auch etwa Großbritanniens, für die Aufnahme der Türkei in die EU ein (übrigens in Übereinkunft mit der Bush-Regierung, mit der man gleichzeitig wegen des Irakkriegs im Konflikt lag). Aus heutiger Perspektive kann man nur froh sein, dass Schwarz-Gelb sich damals durchsetzen konnte (wenngleich der stetige rassistische Unterton damals wie heute problematisch bleibt). Eine EU, in der die Türkei Mitglied ist lässt einen erschaudern. Ein Bündnis von Warschau, Budapest und Ankara? Erschreckende Vorstellung, genauso wie eine EU-Außengrenze zu Syrien. Dieses Szenario hat so viele direkte Konsequenzen, man weiß gar nicht wo anfangen.

Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Platz 5: Angela Merkel (2005-2021)

Angela Merkel ist ein schwieriger Fall. Ihre lange Regierungszeit allein lässt erwarten, dass zentrale Weichenstellungen in sie fallen, aber wie bei Kohl ist eine lange Regierungszeit nicht mit großen Weichenstellungen gleichzusetzen. Vielmehr scheint es, als ob diese einer solchen eher im Wege stehen. Zudem gibt es einige Entscheidungen, die noch während der Amtszeit wieder aufgehoben wurden – man denke nur an die Krankenkassengebühr beim Arztbesuch.

Die Ära Merkel ist daher, sehr typisch für sie Kanzlerin, vielleicht vor allem dafür relevant, welche Entscheidungen nicht getroffen wurden. Denn wie jeder in der Politik weiß ist eine Nicht-Entscheidung auch immer eine Entscheidung mit Konsequenzen. Es gibt keine echte Neutralität. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf wollen wir uns nun der ersten Frau an der Spitze der Nation zuwenden.

Innenpolitik

Einige der zentralen innenpolitischen Weichenstellungen der Merkel-Ära fallen in den Bereich der Gesellschaftspolitik. Es gibt nur Weniges, das sich aus der Warte des Wahlkampfs 2005, in dem die CDU sich mit Friedrich Merz und Paul Kirchhof ein betont neoliberales Profil gab und damit kolossal gegen die Wand fuhr, absurder scheint als die folgende Expansion des Sozialstaats auf Druck der Unionsparteien. Obwohl in einer großen Koalition mit der SPD war es die Sozialdemokratie, die weitere Einschnitte in den Sozialstaat (Rente mit 67!) und die entsprechende Rhetorik („waschen und rasieren Sie sich, dann finden Sie einen Job“) in den Vordergrund stellte (was die SPD als Machtfaktor praktisch beseitigte und dauerhaften Absturz unter 25% der Stimmen zementierte), während ausgerechnet die Christdemokraten über die größte Ausweitung des Sozialstaats seit der Rentenreform 1972 präsidierten, als sie das Elterngeld verabschiedeten.

Die innere Logik dieser Reform war praktisch unausweichlich und ein Ausfluss des Dilemmas der CDU. In ihren marktfreundlichen Reformen, wie sie etwa in der Person Friedrich Merz‘ verkörpert wurden, steckte immanent der Abschied vom klassischen konservativen Familienmodell, da Einernährer-Haushalte schlichtweg materiell nicht mehr möglich waren. Die sinkende Geburtenzahl vor allem im Bereich der Familien, in denen Frauen ökonomisch wie persönlich attraktive Jobs hielten, musste vor allem Konservative besorgen. Das Elterngeld war logische Konsequenz dieses Dilemmas.

Ebenso logische Konsequenz war der konservative Aufstandsversuch seitens der CSU gegen die Entwicklung, die sie selbst mit angestoßen hatte. Die Lösung, noch mehr Geld in eine weitere Sozialleistung mit dubiosem Effekt zu pumpen – das Betreuungsgeld -, während die Kitas dem rasant steigenden Bedarf wegen ihrer Unterfinanzierung nicht hinterher kamen, ist geradezu prototypisch für die Ära Merkel.

Ebenfalls typisch für Merkels Regierungsstil ist die Einführung der Homo-Ehe 2017. Jahrzehntelang ein heftiges gesellschaftspolitisches Streitthema hatte sich die öffentliche Meinung in den 2010er Jahren rapide gewandelt; rund drei Viertel der Deutschen befürworteten die „Ehe für alle“. Um der SPD im Bundestagswahlkampf desselben Jahres nicht ein polarisierendes Thema zu geben, erklärte Merkel es kurzerhand zur Gewissensfrage und gab es zur Abstimmung frei, wohl wissend, dass das Gesetz angenommen werden würde.

Eine ähnliche Ausrichtung an einer sich ändernden Mehrheitsmeinung sehen wir beim Atomausstiegsausstieg und dem folgenden Atomausstiegsausstiegausstieg. So wie Rot-Grün mit großer Fanfare Kohls Rentenreform zurückdrehte, um den linken Parteiflügel zu befrieden, drehte Merkel zur Beruhigung des rechten Parteiflügels nach der Wahl 2009 den Atomausstieg zurück – nur um dann, ähnlich der Regierung Schröder mit der Rente, eine weitere 180°-Drehung hinzulegen und 2011 unter Eindruck der Katastrophe von Fukushima endgültig von der Atomkraft Abschied zu nehmen – nicht ohne die Energiewende Rot-Grüns torpediert und die Bundesrepublik auf Jahrzehnte auf die teuren, ineffizienten und schmutzigen Kohlekraftwerke als Zwischenlösung festgelegt zu haben.

Ebenfalls vor allem gesellschaftspolitisch relevant ist die Aussetzung der Wehrpflicht. Die Bundeswehr und mit ihr die Wehrpflicht waren unter dem Primat der „Friedensdividende“ seit der deutschen Einheit bis auf die Substanz abgewertet worden; die Verschiebung der deutschen Außenpolitik zu Interventionseinsätzen unter Rot-Grün, ein Trend, der unter Merkel unvermindert anhielt, machte die Wehrpflicht zunehmend überflüssig. Gerechtigkeit war angesichts Einziehungsraten von unter einem Drittel ohnehin längst nicht mehr gegeben. Es war daher nur folgerichtig, dass Verteidigungsminister Guttenberg 2011 die Wehrpflicht aussetzte und die Bundeswehr zu einer reinen Berufsarmee machte, ein tiefgreifender Strukturwandel, mit dem seine NachfolgerInnen heute noch kämpfen.

Angela Merkel gebührt grundsätzlich der Verdienst, die CDU modernisiert und von einer Partei des 20. Jahrhunderts in eine des 21. Jahrhunderts verwandelt zu haben. Wir besprachen bereits den Wandel des Familienbilds und das Abstreifen der Homophobie in der Partei; die Amtskirchen verloren zudem weiterhin an Einfluss – analog zum Rest der Gesellschaft. Vor allem um 2010-2012 herum versuchte die Partei zudem, ein entspannteres Verhältnis zum Islam zu gewinnen, das in Bundespräsident Christian Wulffs berühmten Statement „Der Islam gehört zu Deutschland“ kulminierte. Leider fand diese Öffnungspolitik keine Fortsetzung, als Krisen zunehmend Merkels Agenda zu bestimmen begannen.

Die erste innenpolitische Krise, die über das Land hereinbrach, war die Flüchtlingskrise 2015. Sie ist die wohl größte Hinterlassenschaft Merkels zur Veränderung der Republik. Rund anderthalb Millionen Menschen dürften zwischen 2015 und heute als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein; ein Teil von ihnen wird für immer bleiben. Bereits vor der Flüchtlingskrise lag der Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund vor dem der USA (!), seit der Flüchtlingskrise dürfte niemand mehr behaupten wollen, wir seien kein Einwanderungsland.

Die Bewältigung dieser Krise ist bislang schwer zu beurteilen. Sehr gute Leistungen muss man der Regierung beim Bereitstellen von Unterkünften, Versorgung und Deutschkursen bescheinigen; besonders letztere wurden in einem Mammutverfahren auf ein Vielfaches ihres ursprünglichen Umfangs aufgebläht und sorgten dafür, dass alle Flüchtlinge auf einen Kurs zum B-Niveau und dem Hauptschulabschluss gebracht wurden. Gleichwohl gibt es zahlreiche Probleme, die bis heute ihrer Lösung harren. Dieses Feld wird Historiker noch eine ganze Weile beschäftigen.

Unstrittig ist aber, dass die Flüchtlingskrise das deutsche Parteiensystem so tiefgreifend verändert hat wie zuvor Schröders Agenda2010. War der Sozialdemokrat mit seinem Reformwerk für die Etablierung einer linkspopulistischen, tendenziell systemkritischen Linkspartei verantwortlich, so erwies sich die Flüchtlingskrise als lebensrettende Infusion für die absinkende AfD, die sich als klar rechtspopulistische, schnell ins rechtsradiakale und zunehmend sogar rechtsextreme Spektrum abgleitende, systemfeindliche Partei etablierte, die erste ihrer Art seit 1945. Dafür ist mit Sicherheit nicht Merkel allein verantwortlich; eine extrem freundliche Presseumgebung und eine geradezu fahrlässige Normenverschiebung nach rechts gekoppelt mit der Selbstradikalisierung großer Teile des bürgerlichen Spektrums spielten mit eine entscheidende Rolle. Es ist aber klar, dass das ohne die Flüchtlingskrise nicht passiert wäre.

Die zweite große innenpolitische Krise Merkels ist die Coronakrise, in deren Anfangsstadien diese Artikelserie entsteht. Aktuell ist noch nicht absehbar, welche Langzeitfolgen – abgesehen von einem mit Sicherheit rapide steigenden Schuldenstand – die Bewältigung der Krise haben wird. An dieser Stelle soll daher auch nicht spekuliert werden. Wir werden in den kommenden Jahren mit Sicherheit noch darüber debattieren; dass die Krise Effekte haben wird, dürfte unbestritten sein.

Außenpolitik

In den Bereich der Außenpolitik fällt Merkels dritte große Krise (und die erste ihrer Kanzlerschaft), die Eurokrise. Als Folgewirkung der weltweiten Finanzkrise 2007-2009 (die wir in den nicht gegangenen Wegen näher untersuchen werden) gerieten die Staatsfinanzen zuerst Griechenlands, dann des Rests der despektierlich PIIGS-Staaten genannten Gruppe vorrangig, aber nicht exklusiv im Mittelmeerraum verorteter Staaten in eine nicht mehr zu haltende Schieflage.

Die Regierung Merkel reagierte darauf, indem sie versuchte, die Krise in Griechenland einzudämmen und ein Überschwappen auf die bedeutenderen Volkswirtschaften Italiens und Spaniens zu verhindern. Das Rezept dafür war radikale Austerität, die den betroffenen Staaten über die EU-Institutionen aufgezwungen wurde. Dies führte zu ungeliebten und schnell fallenden Regierungen von Technokraten in Italien und der rapiden Auflösung der alten christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien zugunsten jeweiliger populistischer Ausleger in Griechenland und Spanien; in Italien übernahmen nach dem Fall der Technokraten die bereits sattsam bekannten Rechtspopulisten unter Berlusconi die Macht.

Die Euro-Politik basierte auf einem Ansatz von Zuckerbrot und Peitsche: Würde die oktroyierte Austerität eingehalten, so flossen Stabilisierungskredite des neu geschaffenen ESM. Diese Politik spannte die CDU und FDP bis zum Zerreißen, Merkel verlor ihre eigene Mehrheit bei mehreren Abstimmungen und konnte die Rettungspakete nur dank der Stimmen der stets loyalen, eigentlich oppositionellen SPD verabschieden. In Folge konstituierte sich am rechten Rand der schwarz-gelben Parteien eine immer offenere Opposition, deren radikalste Elemente eine eigene, eurofeindliche Partei formten: die Alternative für Deutschland, die damals vor allem als nationalliberale Partei zu reüssieren versuchte, 2013 jedoch knapp scheiterte (dafür aber die FDP mit in den Abgrund riss). Die Eurokrise wurde nie wirklich gelöst, sondern durch die 2015 beginnende Flüchtlingskrise überdeckt und abgelöst.

Demgegenüber verblassen andere Elemente der Merkel’schen Außenpolitik. Die Verabschiedung des Lissabon-Vertrags 2009 stellte die Europäische Union auf ein neues, tragfähigeres Fundament, das sich seither unter Bedingungen einer Dauerkrise zu bewähren hat – mit bestenfalls gemischten Folgen. Das Lissabonner System ist aber mit Sicherheit tragfähiger als der gescheiterte Kompromiss von Nizza und trägt den neuen Realitäten seit der Wiedervereinigung Rechnung. Seine institutionelle Logik wurde schnell von allen Parteien anerkannt und hat seither eine eigene Dynamik entwickelt. Gleichwohl sind Merkel im Speziellen und Deutschland im Allgemeinen nicht prominent mit der Konzeption und Verabschiedung des Vertragswerks verknüpft.

Im Jahr 2011 zeigte sich eine besorgniserregende Entwicklung, als FDP-Außenminister Westerwelle Deutschland international mit einer Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Libyen-Intervention brüskierte. Der Versuch, sich ein eine neutrale Mittlerposition zwischen der NATO und Russland und China zu stellen, entfremdete das Land von seinen Verbündeten, ohne einen klaren Gewinn mit sich zu bringen – rhetorisch und faktisch unterstützte Deutschland die Intervention schließlich! Rückblickend ist die Enthaltung ein Zeichen der kommenden Konflikte in der NATO; inzwischen ist ein merkwürdiges Bündnis aus FDP, LINKEn, SPD und AfD für eine Distanz zum Bündnis und Annäherung an Russland, während die Transatlantiker allenfalls noch eine Heimat in CDU und Grünen (!) haben. Die Langzeitfolgen für die Außenpolitik, die diese Entwicklung aufzeigt, sind kaum absehbar.

Nur einmal wandte sich Merkel aktiv gegen diesen Trend, als sie – ungewohnt entschlossen – in der Krim-Krise 2014 klare Position gegen Putin bezog und gegen den Widerstand der oben genannten Allianz die Russland-Sanktionen und die Minsk-Verhandlungen durchsetzte, die bis heute die Verhältnisse zum eurasischen Nachbarn bestimmen. Mit der verteidigungspolitischen Aufwertung der EU-Battle-Groups hat Deutschland in den vergangenen Jahren zudem den NATO-Partnern in Osteuropa gegen Russland den Rücken gestärkt. Insgesamt aber bleibt die Außenpolitik der Bundesrepublik sehr unberechenbar.

Nicht gegangene Wege

Einer meiner größten Kritkpunkte an Merkel bleibt stets, dass sie Angebote zur europäischen Kooperation und zur Entwicklung gemeinsamer Institutionen oder auch nur Politiken beharrlich ausgeschlagen und auf nationalistisch angehauchte Alleingänge gesetzt hat. In der Eurokrise schuf sie damit nachhaltig böses Blut in Südeuropa, in der Flüchtlingkrise fiel ihr die Verweigerung von Hilfe an Südeuropa massiv auf die Füße. Am schlimmsten wiegt das Ausschlagen der ausgestreckten Hand Emanuel Macrons. Eine Chance, die EU grundlegend zu reformieren wurde von ihr beiläufig weggeworfen. Nicht auszudenken, wie viel besser die Union dastehen könnte, wenn Merkel nicht den politischen Konflikt gescheut und ihre Instinkte überwunden hätte!

Wir müssen angesichts der verschiedenen Koalitionen Merkels und des wandelnden Wahlglücks einige kontrafaktische Wahlausgänge betrachten.

Ein erstes Szenario, das ich kurz streifen möchte, betrifft das Scheitern der Koalitionsverhandlungen 2005. Angesichts des unerwartet knappen Ausgangs der Wahl hätte sich die SPD durchaus der Koalition verweigern und damit Neuwahlen nötig machen (oder gar eine rot-rot-grüne Koalition eingehen) können. Das wäre das Ende von Merkels Karriere gewesen; sie hatte damals noch genug innerparteiliche Widersacher, die nur darauf warteten, sie in so einer Situation zu beerben. Ähnlich sieht es für die Erfüllung von Lafontaines Wunschtraum aus, dem Koalitionsbruch um 2007/2008, den er der SPD damals mehrmals schmeichelnd anbot. Ab 2009 gab es dafür keine Mehrheiten mehr; die Gefahr war für Merkel vom Tisch.

Relevant ist koalitionstaktisch dann das Szenario einer Ampel-Koalition 2009, das die bevorzugte Lösung der SPD-Spitze war. Ich habe darüber ausführlich geschrieben und will mich hier nicht wiederholen. Eine dauerhaft sich auf der Mitte-Rechts etablierenden SPD aber würde der CDU die Luft zum Atmen abschnüren und hätte ein völlig anderes Parteiensystem zur Folge als das, das wir jetzt haben.

Ein letztes koalitionstechnisches Szenario wäre der Erfolg der Jaimaka-Verhandlungen 2017 oder gar entsprechende Sondierungen und erfolgreiche Verhandlungen 2013. Ich habe wenig Hoffnung, dass dies die unverantwortlich agierende FDP arg domestiziert hätte; vielmehr lässt einen die Vorstellung, Lindner und Kubicki würden in der aktuellen Corona-Krise Verantwortung tragen, erschaudern. Allenfalls die Hoffnung auf eine tatsächliche Stärkung des digitalen Bereichs, die Lindner versprochen hatte, verschafft einen Lichtstreifen am Horizont.

Ein anderes eher kleinteiliges Szenario ist eine erfolgreiche Amtszeit Verteidigungsminister Guttenbergs mit Aussicht auf den ersehnten Außenministerposten. Guttenberg war ein politisches Talent, das die CDU dringend gebrauchen konnte, wenngleich nur wenig Substanz vorhanden war. Die Substanz, die er besaß, lag in seiner klaren transatlantischen Ausrichtung. In seiner kurzen Amtszeit begann er mit der Modernisierung der Bundeswehr (und hinterließ seinen NachfolgerInnen einen Scherbenhaufen), aber wenn wir ihm den benefit of the doubt geben, wäre vorstellbar, dass Guttenberg eine deutlich kohärentere, wenngleich enger an die USA und interventionistischere Außenpolitik betrieben hätte.

Unsere restlichen Szenarien sind alle innenpolitischer Natur.

Zuerst wäre da eine stärkere Konzentration auf die Integrations- und Islampolitik zu nennen. Die Versuche, institutionelle Ansprechpartner für die islamische Religion zu schaffen und mit diesen in Dialog zu treten war grundsätzlich richtig und hätte möglicherweise eine domestizierende Wirkung auf den radikalen Islam haben können; faktisch fand das leider nicht statt. Spätestens das unrühmliche und widerwärtige Ende der Wulff-Präsidentschaft markierte einen deutlichen Bruchpunkt in dieser Entwicklung.

Ein Dreifachthema betrifft die Energie- und Umweltpolitik. Ohne die zweifache Trendwende bei der Energiepolitik oder ohne die Ablenkung von einer grundsätzliche energiepolitischen Reform durch die Flüchtlingskrise wäre vorstellbar, dass dieser Themenkomplex heute deutlich weniger Probleme machen würde als er es tut. Damit einhergehen könnte dann auch eine vernünftigere Umweltpolitik, ein Thema, das die SPD zwischen 2005 und 2015 für sich entdeckt hatte und zielstrebig auszubauen versuchte, ehe die Flüchtlingskrise das alles über den Haufen warf und die Trümmer dann den Grünen zum Auflesen ließ, als die Fridays-for-Future-Bewegung das Thema 2019 in die Schlagzeilen brachte.

Völlig ohne äußere Einflüsse scheiterte die Regierung Merkel durch gezieltes Nichtstun beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. Deutschlands katastrophaler Stand auf diesem Gebiet wurde kaum angegangen, das Thema kontinuierlich kleingehalten. Die Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit allein sind dramatisch. Hätte Merkel hier entschlossener agiert und die erforderlichen Investitionen getätigt, wäre Deutschland auch in der Corona-Krise besser vorbereitet gewesen.

Wesentlich durchgreifendere Folgen hätte gehabt, wenn die Wahl 2005 nicht so knapp ausgegangen und die ursprünglich stark neoliberal geprägte Parteiplattform des Leipziger Parteitags 2003 Bestand gehabt hätte. Das läuft auf eine deutliche Verschärfung der Agenda2010 hinaus, die das Antlitz der Bundesrepublik noch einmal einschneidend verändert und vom Sozialstaat, der uns gerade das Überleben in der Corona-Krise ermöglicht, wenig übrig gelassen hätte. Dass die Reformpolitik mit der SPD-Regierung ihren Höhepunkt und nicht ihren Anfang nehmen würde, war 2005 jedenfalls nicht abzusehen und wurde auch von kaum jemandem erwartet.

Ähnlich sieht es in der Finanzkrise aus. Eine neoliberale Krisenpolitik, wie sie eine schwarz-gelbe Regierung gefahren hätte, hätte vermutlich dafür gesorgt, dass die Krise nicht den Sargnagel für die Reformer darstellte (seither ist, sehr zum Bedauern der Sozialstaatskritiker, die Reformperiode endgültig vorbei), sondern vielleicht wie im britischen Vorbild Gelegenheit zu weiteren massiven Kürzungen gegeben hätte – erneut mit unwägbaren, aber mit Sicherheit negativen Folgen in der Corona-Krise jetzt.

Fotograf Hans Schafgans, 1977, CC BY-SA 2.0

Platz 6: Helmut Schmidt (1974-1982)

Helmut Schmidt ist einer jener Kanzler, denen es nie an der Überzeugung mangelte, für den Job geboren worden zu sein. Er übernahm den Job in einer turbulenten Situation: das innere Reformwerk der Brandt-Ära war noch nicht abgeschlossen, die Ostpolitik erwartete ihre ersten Bewährungsproben, die Wirtschaft der westlichen Welt rutschte in eine Dauerkrise (Stagflation), der Terrorismus nahm in beunruhigendem Ausmaß zu und sowohl EU als auch NATO wurden von inneren Zerwürfnissen zerrissen (Eurosklerose, Doppelbeschluss).

Das allgemeine Gefühl einer „Krise des Westens“, von dem radikale Splittergruppen profitierten, hatte die ganze westliche Welt erfüllt. Schmidt war wie gemacht für diese Zeiten: Ein Krisenmanager, der bisherige Erfolge absicherte und das Staatsschiff durch unruhige Gewässer führte (der Hamburger hätte sicher nichts gegen ein paar nautische Metaphern), ohne sich groß um das Murren der eigenen Besatzung zu kümmern. Schmidt ist der letzte unserer Kanzler, der genuin eigene Akzente setzte.

Innenpolitik

Die Regierung Schmidt setzte den Schlussstein unter die seit 1945 betriebenen Reformen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Diese Forderungen stammten nicht nur aus der Arbeiterschaft; es waren gerade die Montanbetriebe, die sie elementar mit erhoben hatten – wohl einer der Gründe, warum das Reformwerk am Ende möglich wurde. 1976 erhielten die Arbeitnehmer Plätze im Aufsichtsrat, eine Reform, deren Gewinn für die Arbeitnehmer zunehmend kritisch bewertet wird – entstammen die „Arbeitnehmervertreter“ doch häufig aus sehr hohen Positionen und sind den Interessen der Arbeitgeber viel näher als denen der breiten Belegschaft. Korruptionsskandale taten ihr Übriges, den Ruf des Modells zu schädigen. Gleichzeitig hat es sich als krisenfest erwiesen und hilft dabei, die Arbeitskämpfe auf einem niedrigen Niveau und die Legitimation von Entscheidungen hochzuhalten.

Ein aus heutiger Sicht wesentlich relevanterer und eindeutig positiv bewerteter Baustein ist die BGB-Reform von 1976. Hauptsächlich in der Brandt-Regierung ausgearbeitet, wurde das Gesetz schließlich unter Schmidt verabschiedet. Unumstritten sind heute die rechtlichen Gleichstellungen der Frau, die den Muff der Adenauer-Zeit endgültig beseitigten. So durften Frauen etwa ab 1976 eine Beschäftigung ohne Erlaubnis des Ehemanns aufnehmen, dieser konnte diese Stellungen nicht mehr kündigen, Frauen konnte eigene Konten führen und hatten ein Grundrecht auf eigenen Besitz, wo dieser vorher immer unter dem Vorbehalt des Ehemanns gestanden hatte.

Auch das Ehe- und Scheidungsrecht wurden modernisiert, indem man das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte und damit Millionen Frauen den Ausweg aus unglücklichen Ehen ermöglichte, ohne sie dem Ruin preiszugeben. Gleichzeitig blieb es in seiner Umsetzung sehr problematisch und wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder reformiert. Besonders problematisch war die Frage des Unterhalts: Grundsätzlich bezahlte der vermögendere Ehepartner (fast immer der Mann) dem weniger vermögenden Ehepartner (fast immer der Frau) genug, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, was zu dem berühmten Bonmot Gaby Hauptmanns führte, dass „die Frau, die nach der dritten Scheidung noch keinen Porsche fährt, etwas falsch gemacht“ habe.

Der Grund dafür lag sicherlich darin, dass das Gesetz ein Opfer des eigenen Erfolgs wurde: Frauen wurden selbstständiger, verfolgten eigene Karrieren und waren so nicht mehr so stark auf die Unterhaltszahlungen angewiesen, die das Gesetz ihnen zusprach; gleichzeitig war die Praxis, die Kinder nun automatisch der Frau zuzusprechen (statt wie früher dem Mann) eine Verstetigung dieses Problems, weil die Gerichte davon ausgingen, dass die Frauen vom Unterhalt und nicht von der eigenen Arbeit lebten. Dieses System sorgte für eine große Zahl alleinerziehender Mütter; dass diese Bevölkerungsgruppe bis heute mit Abstand das größte Armutsrisiko trägt, zeigt nicht nur, dass Gaby Hauptmann falsch lag, sondern dass das Scheidungsrecht auch dringend reformbedürftig war. Glücklicherweise ist dieses Problem weitgehend gelöst.

Eine innenpolitische Krise gänzlich anderer Art erwuchs der Schmidt-Regierung im linksextremistischen Terror. Was in der Brandt-Ära noch zahlreiche sektiererische, sich immer weiter radikalisierende Splittergruppen waren, verlor in der Schmidt-Ära rapide an Bedeutung – doch ein kleiner Kern bildete die größte einzelne Terrorzelle der Geschichte der BRD. Im Rückblick muss man sagen, dass die Bedeutung der RAF wohl überschätzt wurde.

Zu keinem Zeitpunkt bestand die Gefahr, dass die illusorischen Träume der Terroristen von einem Aufstand gegen das System oder dem Ausbruch des proletarischen Freiheitskampfs real werden könnten. Das war aber nicht der Punkt. Während die Polizei mit nie dagewesenen Befugnissen (große Rasterfahndung, GSG9) die Terroristen nach und aushob und kriminell unschädlich machte, sorgte die begleitende, teilweise ins Hysterische gleitende Debatte dafür, dass Linksextremismus für Generationen verbrannt wurde. Die K-Gruppen waren bis 1980 praktisch völlig verschwunden, die SPD-Linke hatte sich den klassenkämpferischen Ideen völlig abgewandt. Die Idee von Gewalt als politischem Mittel war auf der Linken völlig diskreditiert. Darin, nicht im (unvermeidlichen) polizeilichen Erfolg gegen die Terrroristen liegt der bleibende Effekt der RAF-Zeit.

Schmidt musste sich jedoch den Großteil seiner Regierungszeit als Krisenmanager betätigen, nicht nur im Deutschen Herbst. Eine wirtschaftliche Dauerkrise – die Stagflation – plagte seine gesamte Regierungszeit. Ihre Ursachen konnten von den Experten nicht ausgemacht werden; der Rückgriff auf keynesianische Rezepte brachte zwar Linderung, aber auch heute unvorstellbare Inflationsraten. Schmidt erklärte, 5% Inflation seien ihm lieber als 5% Arbeitslosigkeit. Es war Kohl, der durch die Umkehrung dieses Mottos die Stagflation beendete – und gleichzeitig eine Sockelarbeitslosigkeit in Kauf nahm, die sich bis 1998 nicht beseitigen ließ; der berühmte „Reformstau“ hatte seinen Anfang bereits in der Ära Schmidt.

Dessen Aufgabe wurde durch die zweite Ölkrise 1979 nicht eben erleichtert. Wie bereits seinem Amtsvorgänger Brandt schadeten die Bilder von leeren Autobahnen uns rasant steigenden Benzinpreisen dem Ansehen des Kanzlers; die internationalen Verwerfunden durch die Ölkrise sollten allerdings erst unter Kohl spürbar werden (vor allem in der rapiden Auflösung der DDR-Finanzen).

Außenpolitik

Auch außenpolitisch stand Schmidt für eine gewisse Kontinuität der Brandt-Politik. So fand die Ostpolitik in der KSZE-Schlussakte von 1975 ihren Abschluss. Die Etablierung der KSZE wird von Historikern mittlerweile als ein Meilenstein auf dem Weg des Ostblocks in seinen Untergang gesehen; ein starker Kontrast zu der zeitgenössischen Wahrnehmung, in der die westlichen Staatsmänner stark gescholten wurden, weil die KSZE-Schlussakte den Osten zu bevorteilen schien. Schmidt sollte hier deutlich richtiger liegen als Kohl, der ihn harsch kritisierte.

Doch Schmidt konnte auch einige eigene Aspekte setzen. Zum konservativen französischen Präsidenten d’Estaign verband ihn ein Vertrauensverhältnis, wie es seit den Tagen Adenauers zwischen dem Quai d’Orsay und dem Palais Schaumburg nicht mehr bestanden hatte. Die Einigung zwischen Deutschland und Frankreich wurde zum Motor, der die Dauerkrise der EWG durchbrechen sollte. Unter anderem richtete man die so genannte Währungsschlange ein, die einen Ersatz für die amerikanische Aufkündigung des Systems von Bretton Woods darstellen sollte. Das System war letztlich eine Ersatzlösung für eine echte gemeinsame Währung, wie sie die Regierung Kohl schaffen sollte, und funktionierte nur eingeschränkt gut – es stellte allerdings einen Meilenstein auf dem Weg zur wirtschaftlichen Einheit Europas dar.

Das am engsten mit der Schmidt-Regierung verknüpfte Thema aber ist sicherlich der NATO-Doppelbeschluss. Nichts symbolisiert so deutlich die zunehmende Entfremdung Schmidts von seiner eigenen Partei. Hintergrund war die Aufstellung neuer sowjetischer Mittelstreckenraketen, für die kein NATO-Pendant bestand. Rüstungsexperten seitens der NATO – zu denen sich auch Schmidt zählen durfte – forderten von der Sowjetunion, diese Raketen rückzubauen. Das Mittel dazu war eine clevere Vertragskonstruktion, der Doppelbeschluss: Würde die UdSSR bis zum Stichtag die Raketen nicht abbauen, würde die NATO automatisch nachrüsten.

Dieses Vertragswerk wurde von der entstehenden Friedensbewegung, die zu einem elementaren Faktor bei der Etablierung der Grünen als eigenständiger Partei im Jahr 1980 wurde, und von der SPD-Parteibasis vehement abgelehnt und strapazierte das Verhältnis zwischen Kanzler und Partei bis zum Zerreißpunkt. Aus diesen Zeiten stammt das Bonmot, Schmidt sei der beliebteste Kanzler, den die CDU je hatte; seine Beliebtheitswerte waren in der Bevölkerungsgesamtheit deutlich höher als in der eigenen Partei, eine spannende Parallele zu der Spätphase von Merkels Kanzlerschaft. Die Geschichte gab Schmidt in dieser Angelegenheit mittlerweile Recht. Das Urteil über Merkel steht noch aus, und wird das auch noch für mindestens zwei bis drei Jahrzehnte tun.

Nicht gegangene Wege

In einer weiteren Parallele zu Merkels Kanzlerschaft steht die Schmidt-Kanzlerschaft auch für einige nicht genommene Wege und verpasste Gelegenheiten.

Der größte Punkt aus parteistrategischer Sicht ist sicherlich der Konflikt, den Schmidt durch seine Kanzlerschaft hindurch sowohl mit der Friedens- als auch der Umweltbewegung ausfocht. Seine unnachgiebige Haltung führte zur Etablierung der Grünen – sowie Merkels unnachgiebige Haltung die Entstehung der AfD förderte. Vielleicht hätte die Etablierung der Partei verhindert werden können, wenn Schmidt nicht die umweltpolitischen Anfänge Brandts in falsch verstandenem Wirtschaftspragmatismus beiseite geworfen hätte, oder wenn er den Doppelbeschluss nicht verfochten hätte.

Eine andere zentrale Weichenstellung war das völlige Ignorieren der Ausländethematik. Obwohl die Regierung Schmidt mit Heinz Kühn den ersten Ausländerbeauftragten einsetzte, wurde dessen Abschlussbericht von 1979 völlig ignoriert. Liest man Kühns Bericht heute, so ist frappant, wie aktuell er immer noch ist. Die Probleme der Integration und die Folgen von Nichthandeln der Regierung wurden praktisch in den gleichen Begriffen auch 2010 noch diskutiert. Erst unter Rot-Grün wurden überhaupt erste Schritte unternommen, die unter Merkel teilweise modifiziert, großteils aber fallengelassen wurden. Schmidt steht die zweifelhafte Ehre zu, das Problem als erster aktiv ignoriert zu haben, obwohl die Fakten eindeutig auf dem Tisch lagen. Was hätte erreicht werden können, wenn er sich damit beschäftigt hätte!

Ein Lieblingsthema aller Schmidt-Fans bleibt zudem die Arbeitsteilung zwischen Schmidt und Brandt. Nach seinem Rücktritt 1974 behielt Brandt nicht nur sein Bundestagsmandat, sondern auch den Vorsitz über die SPD, den er bis in 1987 ausüben sollte. Ob es Schmidt besser gelungen wäre, die SPD hinter seiner Politik zu einen, wenn er das Amt innegehabt hätte? Es ist möglich, aber die Erfahrung Merkels und Schröders lässt mich eher skeptisch zurück. Wahrscheinlicher, dass Schmidt aus dasselbe Mittel zurückgegriffen und beide Ämter getrennt hätte, als der Basisstreit zunehmend Kapazitäten in Anspruch nahm. Brandt wenigstens lose in die Kabinettsdisziplin einzubinden stabilisierte die SPD vermutlich mehr als wenn er von außen kritisiert hätte, zumindest wenn die Erfahrungen mit Oskar Lafontaine nach 1999 irgendwelche Bedeutung haben.

Bundesarchiv, B 145 Bild-F024017-0001 / Gathmann, Jens / CC-BY-SA 3.0

Platz 7: Kurt Georg Kiesinger (1966-1969)

Der erste und bislang einzige Schwabe im Kanzleramt ist ein sehr schwieriger Fall für dieses Ranking, und das nicht nur wegen seiner Nazi-Vergangenheit. Nach dem unrühmlichen Scheitern Ludwig Erhards übernahm Kiesinger das Amt in der ersten Großen Koalition. Diese verfügte über so viele Stimmen, dass die oppositionelle FDP entscheidende Minderheitenrechte nur noch durch die Gnade der Mehrheitsparteien besaß.

Die große Koalition trat, anders als ihre späteren Iterationen, mit dem Ziel eines Umbaus der BRD an. Es sollten Themen angegangen werden, die eine verfassungsändernde Mehrheit benötigten und von beiden Volksparteien als dringlich angesehen wurden. Zentral war hier die Umsetzung von Notstandsgesetzen, deren Fehlen ein Hindernis zum förmlichen Abbau der alliierten Vorbehaltsrechte war, und die Reform des politischen Systems gesehen. Es ist nicht zu viel gesagt, dass beide Vorhaben nicht so liefen, wie die Koalitionäre sich  das 1966 vorstellten.

Innenpolitik

Kiesingers Kanzlerschaft ist aber gerade wegen der größtmöglichen Stimmenmehrheit im Parlament ein Problem. Das effektive Fehlen einer Opposition bedeutete, dass diese letztlich aus den disparaten Parteien selbst kam. Die Union, die mitten in der Transformation von der Honoratioren- zur Volkspartei steckte, besaß von den Absorptionen der Rechtsparteien seit 1949 einen starken rechten Flügel; zudem pochten die von Franz Josef Strauß geführten Bayern mit der CSU auf Unabhängigkeit. Die SPD besaß einen starken linken Flügel voller dogmatischer Marxisten, eine unabhängige Jugendorganisation, die die beginnenden Studentenproteste mit zu prägen begann und mit dem Berliner Bürgermeister Willy Brandt eine Schlüsselfigur außerhalb der institutionellen Formen der BRD, die einen Machtwechsel anstrebte, während mit Helmut Schmidt und Herbert Wehner im Bundestag zwei Figuren den Ton angaben, die ihre eigene Partei durch eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartner zu disziplinieren und in ihrem Sinne zu formen hofften.

Angesichts dieser disparaten Interessenlagen war Kiesingers Job zu einem großen Teil, die Koalition überhaupt zusammenzuhalten – er verdiente sich in diesen Jahren den Spitznamen des „wandelnden Vermittlungsausschusses“. Dies gelang ihm. Es hielt ihn aber gleichzeitig auch davon ab, groß selbst die Richtlinienkompetenz anzuwenden, die Adenauer so prominent genutzt hatten, um sich selbst die größte Machtstellung zu sichern. Nie kam eine Bundesregierung der ursprünglichen Vorstellung der Verfassungseltern näher als Kiesingers Kabinett. Der Mangel an Begeisterung, die es dafür von HistorikerInnen erhält, zeigt deutlich, wie wegweisend Adenauers Weichenstellung in dieser Hinsicht war.

Daher haben wir in der Großen Koalition Kiesingers eine ungeheure Bedeutung der Ministerposten, wie sie vorher nicht und seither nie wieder erreicht wurde, gepaart mit einer eben solchen Bedeutung der Fraktionsvorsitzenden. Wenn die folgenden Auflistungen deswegen nach großen Weichenstellungen aussehen, so ist das durchaus der Fall – gleichzeitig ist die Mitwirkung des Kanzlers ungewöhnlich leichthändig, distanziert. Die Große Koalition war in dieser Hinsicht einzigartig.

Die erste große Weichenstellung war die so genannte Bildungsexpansion. Die grundsätzliche Entwicklung begann bereits Mitte der 1960er Jahre mit der Schaffung weiterer Kapazitäten im Bildungswesen. Das alte Schulsystem, in dem kaum 4% der Schüler das Gymnasium und noch weniger eine Hochschule besuchten, zeigte sich den Anforderungen einer modernen Wirtschaft nicht mehr gewachsen. Es war völlig offensichtlich, dass etwas geschehen musste. Dieses „Etwas“ bestand vor allem in einem „Mehr“. Mehr Gymnasien, mehr Universitäten, mehr Fachhochschulen. Der Versuch, ein stringentes Reformkonzept dahinter zu stellen, wurde erst in der Regierung Brandt unternommen, scheiterte jedoch kläglich. Bis heute sind die Strukturen im Bildungssektor das wohl beste Beispiel für den Wettbewerb im Föderalismus, ein Dickicht 16 unterschiedlicher, organisch gewachsener Systeme.

Die Bedeutung dieser Entwicklung kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Zusammen mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung und der vor allem in der sozialliberalen Koalition vorangetriebenen Gleichberechtigung der Frau schuf die Bildungsexpansion die Voraussetzung für den sozialen Aufstieg von Millionen und damit die eigentliche Entstehung der deutschen Mittelschicht, wie sie seither die bundesdeutsche Politik bestimmt.

Justizminister Gustav Heinemann, der 1969 als erster SPD-Bundespräsident als Fanal des „Machtwechsels“ wirken und auf die Partei lange als liberaler Leuchtturm strahlen sollte, zeichnete sich in der Großen Koalition für die Große Strafrechtsreform verantwortlich. Die Einbindung der Union in diese Reform, die zu großen Teilen in der sozialliberalen Koalition vollendet wurde, sorgte für einen vergleichsweise unumstrittenen und reibungslosen Übergang von der muffigen, reaktionären Strafrechtslage der alten Adenauer’schen Bundesrepublik zu einem neuen, aufgeklärterem Staatswesen.

Am berühmtesten aber waren Finanzminister Franz Josef Strauß und Wirtschaftsminister Karl Schiller. Als „Plisch und Plumm“ managten sie gemeinsam die Wirtschaftspolitik der Republik und lenkten das Land schnell aus der ersten Wirtschaftskrise seit 1949, als die Arbeitslosenzahl auf unerhörte 100.000 hochschnellte. Diese Rezession wurde durch keynesianische Rezepte überwunden, die damals denselben unangreifbaren Stand in den Wirtschaftswissenschaften genossen, wie es in den 1980er und 1990er Jahren angebotsorientierte Politiken taten. Das Krisenmanagment war ein voller Erfolg, die Vollbeschäftigung wurde wiederhergestellt.

Die große Bedeutung gerade Karl Schillers, wenn die Nebenbemerkung erlaubt ist, zeigte sich auch im Wahlkampf 1969. Die SPD brach einen konzertierten Koalitionsstreit über die Frage der D-Mark-Aufwertung vom Zaun, in der Schiller (als einer der „besten Männer“, mit denen die SPD kaum sexistisch das „moderne Deutschland“ zu schaffen versprach) der Star war und als Ausweis von „Wirtschaftskompetenz“ galt, die die SPD damit erstmals und bis 1998 letztmalig aus den Händen der CDU nahm. Schiller brach ab 1970 mit der Regierung Brandt und unterstützte im Wahlkampf 1972 die CDU. Sein Effekt (die Rede war von „Schiller-Wählern“) wurde maßlos überschätzt; 1972 war von den Schiller-Wählern keine Spur. Die SPD erhielt ihr bestes Wahlergebnis aller Zeiten, und Schiller verschwand im Keller der Geschichte. Ich erwähne diese Episode vor allem als Beleg dafür, dass die herausgehobene Bedeutung – und Prominenz! – von Fachministern ein einzigartiges Phänomen der Großen Koalition und Schwäche Kiesingers war.

Mit praktisch keinem innenpolitischen Reformwerk allerdings ist die Große Koalition so sehr verbunden wie mit den Notstandsgesetzen, die 1968 inmitten der größten Unruhen verabschiedet wurden, die die westliche Welt bis dato gesehen hatte. Die Notstandsgesetzgebung war an und für sich ein technischer Akt, der langweiliger kaum sein konnte. In was aus heutiger Sicht nur als Hysterie bezeichnet werden kann, betrachtete ein großer Teil der „kritischen Öffentlichkeit“ die Notstandsgesetze aber als Beginn einer Rückkehr in die Diktatur. Da die 1968er-Bewegung die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus (zu Recht!) zum ersten Mal en vogue gemacht hatte und nach den Taten der Väter fragte, war es für sie ein rotes Tuch, eben diese Väter Notstandsgesetze verabschieden zu sehen. In der Realität spielten diese Gesetze keine Rolle. Kein einziges Mal wurden sie bislang genutzt, auch in der Corona-Krise nicht. Entsprechende Überlegungen scheint es bislang auch nicht zu geben.

Der Effekt von 1968 dagegen blieb lange bestehen. Im Widerstand gegen das „Schweinesystem“ erwarb sich eine ganze Generation von PolitikerInnen erste Meriten. Einige von ihnen traten später den „Marsch durch die Institutionen“ an, die berühmtesten wohl Joschka Fischer, Otto Schily und Daniel Cohn-Bendit. Inzwischen wird die 1968er-Bewegung von HistorikerInnen aber zunehmend kritisch gesehen.

Zum Einen scheint es, als ob die eigentlichen Proteste vergleichsweise wenig bleibende Effekte hatten. Weder die alternativen Lebensformen noch Protestarten wie die Teach-Ins und Sit-Ins blieben Teil des Lebens. Zum Anderen waren viele der Änderungen, die die 1968er wortreich anklagten, bereits unterwegs. Die Auschwitz-Prozesse fanden 1964 statt, die Liberalisierung des Rechtssystems begann, der Abschied von der Macht der reaktionären CDU-Garden war in vollem Schwung. Dass 1968 mit solcher Bedeutung aufgeladen wurde liegt zum Einen an der Selbstvermarktung der Alt-68er, aber zu noch größeren Teilen an ihren Gegnern. Für Jahrzehnte wurde „68“ zur Chiffre, die verlässlich die Reihen jeder konservativen oder liberalen Koalition zu schließen vermochte, ließ sich mit einer hysterischen Beschwörung der radikalen Ziele der 68er problemlos eine Kolumne in der Springer-Presse schreiben. Erst langsam, als die Biologie ihr unerbittliches Werk verrichtet und die Zeitzeugen jener Epoche aus dem öffentlichen Leben verschwindet, scheint die Kollektiv-Psychose der Deutschen mit 1968 abzuklingen – ein Psychose, die mit der Realität weit weniger zu tun hatte als die Bedeutung der Chiffre nahelegt.

Außenpolitik

In der Außenpolitik zeichnete sich in der Großen Koalition bereits die fundamentale Änderung ab, die unter Willy Brandt als Ostpolitik ihre volle Entfaltung erfahren sollte. Brandt, der in der Koalition als Außenminister fungierte, versuchte bereits erste Schritte in diese Richtung zu gehen. Dies behagte dem konservativen Koalitionspartner jedoch gar nicht. Dass Kiesinger ein NSDAP-Mitglied gewesen war und Brandt wegen dessen Exil verachtete, macht eine Zusammenarbeit zwischen den Beiden persönlich schwierig. Zusammengehalten wurde der Laden durch das gute Verhältnis Herbert Wehners als Minister für gesamtdeutsche Fragen, in dem er als Neben-Außenminister agierte und Brandts Ambitionen einhegte, zu Kiesinger.

Insgesamt bleiben die Impulse der deutschen Außenpolitik in dieser Zeit daher erratisch. Hätte Kiesinger seinen Willen bekommen und nach der Wahl 1969 ein Bündnis mit der FDP schließen können (eine arithmetische wie politische Möglichkeit) wäre vermutlich eine Rückkehr zur Isolation mindestens der DDR erfolgt, wenngleich die Hallstein-Doktrin in der Großen Koalition endgültig zu den Akten gelegt wurde. Das Bild ist hier aber nur in der Rückschau klar; entscheidende Weichenstellungen blieben dem Kanzler Brandt und Egon Bahr vorbehalten.

Nicht gegangene Wege

Das wohl bedeutendste Was-wäre-Wenn der Großen Koalition ist das dritte der großen Projekte, weswegen die Koalition sich neben der Bewältigung der Wirtschaftskrise und der Notstandsgesetze) überhaupt erst zusammenfand: die Reform des Bundestagswahlrechts. 1966 waren sich CDU und SPD noch einig, dass sie das Bundestagswahlrecht in ein Mehrheitswahlrecht verändern wollten. Hierzu ist nur eine einfache Bundestagsmehrheit vonnöten, aber nur die maximal größte Koalition bot die Legitimität eines solchen Schritts. Die Reform intendierte die Vernichtung der FDP, die sich, anders als die anderen bürgerlichen Parteien, einer Assimiliation in die CDU bisher entzogen hatte. Die Idee war ein Wahlrecht nach britischem Vorbild.

Dass es dazu nicht kam hat vor allem zwei Gründe.

Zum einen bekam die SPD nach einigen internen Analysen kalte Füße. Ein Mehrheitswahlrecht würde nach den meisten Modellrechnungen die CDU strukturell stark bevorzugen, da diese – wie konservative Parteien in jedem Land – ihre Machtbasen auf dem flachen Land besaß, während die SPD vor allem in urbanen Regionen stark war. Die jedem Mehrheitswahlrecht inhärenten Verzerrungen zugunsten der ländlichen Regionen, so die Befürchtung, würden eine CDU-Mehrheit auf unbestimmte Zukunft zementieren.

Zum anderen aber schockte die Planung für diese Änderung des Wahlrechts die FDP-Spitzen derart, dass alle Bedenken gegenüber den Avancen Willy Brandts (der ein Gegner der Reform war und seit Jahren in Opposition zu Schmidt und Wehner für eine sozialliberale Koalition trommelte) über Bord geworfen und eindeutige Signale hinsichtlich der Wahl 1969 gesendet wurden. Die SPD ließ die Reform platzen, und die CDU wurde vom Machtwechsel unangenehm überrascht, den sie bis zuletzt als unmöglich angesehen hatte.

Diese Entwicklung gibt uns auch den Blick auf zwei andere kontrafaktische Szenarien frei.

Einerseits wäre es vorstellbar gewesen, dass sich im Feuer der Bewährungsprobe der Großen Koalition nicht Willy Brandt mit seinen Vorstellungen durchsetzte, sondern Helmut Schmidt, der die SPD in eine zweite Legislaturperiode der Großen Koalition zu führen gedachte. Wäre das passiert, wäre Erhard nicht nur weitere vier Jahre Kanzler geblieben, ein Kanzler Willy Brandt wäre nie geschehen. Stattdessen wäre Schmidt der natürliche Kandidat der SPD für die Bundestagswahlen 1973 gewesen. Ob er sie gewonnen hätte, steht dagegen in den Sternen. Auch vorstellbar ist ein weiterer Sieg Kiesingers – quasi eine frühe Auflage der Entwicklung, die die CDU und das Land unter Angela Merkel nehmen sollten, mit wechselnden Koalitionen mit FDP und SPD, in denen das Land statt von der sozialliberalen Koalition von der Union modernisiert werden würde. Die schmerzhaften Anpassungsprozesse der 1970er Jahre hätten die Union dann, analog zu Merkels Regierungszeit, in der Regierungsverantwortung statt in der Opposition getroffen.

Andererseits wäre es nicht unvorstellbar, dass die FDP 1969 eine weitere Wende vollzogen hätte. Zwar strebte ihr Vorsitzender Scheel eine Koalition mit Brandt an; die Partei war jedoch von Nationalliberalen durchsetzt. Die Partei besaß sozusagen einen AfD-Flügel. Und diese Abgeordneten lehnten die Koalition mindestens ebenso ab wie die Progressiven um Scheel sie befürworteten. In der Realität gewann Scheel, und die FDP gab sich 1971 in Freiburg ein modernes Programm; die Nationalisten verließen die Partei und wechselten zur CDU, was die Regierungskrise 1971 auslöste, die diese Fraktion praktisch eliminierte – bis 2013, als sie in einer neuen Partei wiederauferstand. . Aber grundsätzlich hätten im FDP-Richtungsstreit auch diese Vertreter gewinnen können, was dann zu einer nationalliberalen FDP und dem Exodus der Progressiven in die SPD geführt hätte.

Auffällig an all diesen Szenarien ist aber, wie irrelevant die Rolle Kiesingers in diesen Überlegungen ist. Zwar hatte er das Kanzleramt in jener Zeit inne. Bedeutend aber war seine Person nicht. Deswegen habe ich ihn, trotz der unbestrittenen Weichenstellungen jener Zeit, an diese nachrangige Position verbannt.

Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 / Adrian, Doris / CC-BY-SA 3.0

Platz 8: Ludwig Erhard (1963-1966)

So kontrovers die Bewertungen von Kanzlerschaften auch sind, würde irgendjemand in einer Geschichte der BRD die von Ludwig Erhard vergessen, den meisten Lesern dürfte es nicht einmal auffallen. Das liegt unter anderem an Konrad Adenauer. Erhard hatte in den 1940er eine deutlich andere Vision von der „sozialen Marktwirtschaft“ als sein großer Rivale. Adenauer setzte sich mit seinen Ideen durch, war aber clever genug, Erhards Selbstvermarktung wenig entgegenzusetzen, so dass er zwar der Säulenheilige der Sozialen Marktwirtschaft wurde, den heute sogar Sahra Wagenknecht zitiert ohne rot zu werden, aber mit seinen Vorstellungen nicht durchkam.

Als er dann endlich den Posten bekam, den er seit den 1940er Jahren anstrebte – als die CDU ihren alternden Patriarchen 1963 endgültig zum Abschied zwang – musste er mit dem Ruch des Cäsarenmords kämpfen und regierte gerade, als die Wirtschaftswunderzeit zu Ende ging. Auf die einsetzende Wirtschaftskrise hatte er nur wenig Antworten und warf bald entnervt das Handtuch.

Innenpolitik

In der Innenpolitik gibt es eigentlich keine relevanten Weichenstellungen Erhards, weder im Guten noch im Schlechten. Die Wirtschaftskrise vermochte er nicht zu lösen, wohl aber seine in anderer wirtschaftswissenschaftlicher Wolle gewaschenen Nachfolger, weswegen auch hier wenig Bleibendes besteht. Letztlich ist das Wichtigste, das man über seine Ägide hier sagen muss wohl, dass er nichts kaputt gemacht hat.

Außenpolitik

In der Außenpolitik gibt es drei Themen, in denen Erhard kleine Akzente setzte.

Die erste Öffnung gegenüber der DDR erfolgte mit dem Passierscheinabkommen, das wenigstens in kleinem Rahmen Verwandtschaftsbesuche von West nach Ost ermöglichte und auf dessen Strukturen die späteren Ostpolitik-Abkommen mit der DDR aufbauen würden.

Erhard war zudem ein überzeugter Atlantiker. Er brach die Verhandlungen, die Adenauer mit de Gaulle zu einer strategischen Partnerschaft begonnen hatte, brüsk ab und bekannte bei jeder Gelegenheit die Treue zum transatlantischen Bündnispartner, etwa bei Devisenabkommen zu den Kosten der Stationierung von US-Truppen. Mit Johnson verband ihn ein freundschaftliches Verhältnis, das dieser allerdings nicht wirklich erwiderte. Nach Erhard gab es keinen CDU-Politiker mehr, der ein besonderes Verhältnis zu Frankreich hatte, das vor dem zu Washington gestanden hätte – erste Priorität galt ab da immer dem amerikanischen Bündnispartner.

Zuletzt öffnete Erhard, seinem Führungsstil folgend (dazu gleich mehr) ohne jeden Parlaments- oder Kabinettsbeschluss diplomatische Beziehungen zu Israel, ein damals sehr kontroverser Schritt, der heute eher als Ausdruck moralischen Urteilsvermögens gelten dürfte.

Nicht gegangene Wege

Von Beginn an versuchte Erhard, eine andere Konzeption des Kanzleramts durchzusetzen, als sie von Adenauer geprägt worden war. Darin überschätzte er sowohl seine eigenen Fähigkeiten als auch die Beharrungskräfte der Adenauer’schen Festlegungen. Seine Idee war die eines „Volkskanzlers“, der quasi plebiszitär an den traditionellen Strukturen vorbeiregiert. Einem Wirtschaftsexperten wie Erhard lag diese Idee nahe; sich nicht in die Niederungen der Politik begeben zu müssen, hat noch jedem Menschen mit seinem Hintergrund gefallen. Und sie hat noch nie funktioniert. Wäre Erhards Plan, auf Basis seiner eigenen großen Popularität statt auf der Stärke von Fraktion, Koalition und Partei, zu regieren aufgegangen, sähe die Kanzlerschaft heute anders aus. Sie war jedoch von Beginn an realitätsfern und trägt den Keim des Scheiterns bereits in sich.

Dazu passt, dass Erhard mit der „Formierten Gesellschaft“ ein ambitioniertes Projekt zum kompletten Umbau der deutschen Gesellschaft nach seinen Vorstellungen hatte, das er auch in die öffentliche Debatte einzubringen versuchte. Das Konzept sah im Endeffekt eine Überwindung aller Klassen- und Standesschranken vor und träumte von einem einigen Volk, das er dann kraft seines Charismas regieren konnte – eine nicht eben sonderlich demokratische Idee. Bereits in seiner Amtszeit schlug Erhard für diese Ideen harsche Kritik entgegen; die HistorikerInnen sind ihnen gegenüber seither nicht eben aufgetaut.

Ein weiteres kontrafaktisches Szenario betrifft die Änderung des Wirtschaftssystems anhand der Ideen, mit denen Erhard gegenüber Adenauer nie durchdringen konnte. Dazu fehlte ihm jedoch innerhalb der Partei die Machtbasis, insgesamt das politische Geschick, der Wille und auch die Zeit. Grundsätzlich wäre aber vorstellbar, dass unter Erhard eine leichte Amerikanisierung des deutschen Wirtschaftssystems erfolgt, ohne dass einige spezifische deutsche Eigenheiten aufgegeben würden.

Erhard verpasste in den Wahlen 1965 die absolute Mehrheit nur relativ knapp. Dieses Rekordergebnis für die CDU konnte er aber nie in persönliche Macht ummünzen; eine auffällige Parallele zu Willy Brandt und der Wahl 1972. Hätte er entweder die absolute Mehrheit errungen oder aber die FDP die Koalition 1966 nicht platzen lassen, die Große Koalition wäre vielleicht nie passiert. Vielleicht hätte sich die CDU-Herrschaft sogar bis in die 1970er Jahre fortgesetzt.

Ein letztes Szenario betrifft das Frankreich de Gaulles. Erhard trat dem französischen Präsidenten immer sehr kühl gegenüber, aber grundsätzlich hätte er den Angeboten aus Paris, eine verstärkte Sicherheitspartnerschaft unter dem Schirm der force de frappe einzugehen, auch annehmen und damit die USA mittelfristig aus Europa wenn nicht hinausdrängen, so doch zumindest schwächen können – was die erklärte Absicht de Gaulles war. Eine Achse Paris-Berlin mit Schwerkraftzentrum in Paris, die eine unabhängige Außenpolitik verfolgt scheint eher als Fantasterei, weswegen Erhard diesen Pfad auch nicht beschritt. Aber offen stand er grundsätzlich.

{ 11 comments… add one }
  • Kirkd 11. Mai 2020, 15:01

    Und jetzt ein Ranking der besten Reichskanzler 😉

    • Stefan Sasse 11. Mai 2020, 17:38

      Lol! Das Spannende wäre da ja eher, welche von denen nicht ein Totalausfall sind.

    • cimourdain 11. Mai 2020, 21:46

      Das ist doch keine Herausforderung. Ich bin für Britische Lordkanzler: Davon gibt es bestimmt über hundert. Thomas Becket, Thomas More, Francis Bacon,…

    • Dennis 11. Mai 2020, 22:43

      Ich hätte gerne was über MinisterInnen für Gedöns.

      Da gibt’s womöglich interessantere Leute als wie bei Reichskanzlers.

    • Ariane 12. Mai 2020, 03:44

      Also bitte kein Scheidungsgedöns aus der Zeit von Henry VIII! Nicht dass es dann heißt, Generationen von Frauen, die nicht geköpft wurden, waren so raffgierig, dass sie sogar auf Schlössern wohnten und offiziell 2. Hure von Babylon genannt wurden (also zumindest Katharina von Aragorn, so hieß sie glaub ich)

      Da mein Schlafrhythmus mittlerweile völlig kaputt ist, wäre ich für die skurrilsten Figuren der Geschichte, hier läuft gerade ne Doku über Rasputin, der wär automatisch auf Platz 1 🙂

  • Ariane 11. Mai 2020, 15:55

    Stimmt, die Phase von Bismarck zur Weimarer Republik und ihrem Ende würde auch eine nähere Beleuchtung verdienen. Und ich würde unheimlich gerne eine Vorstellung von Walther Rathenau lesen. 🙂

    Ich hoffe einfach mal, irgendwer im Kultusministerium kommt auf die Idee, einfach Ferien bis nach den Sommerferien auszurufen, damit du viel Zeit und Muße hast 🙂

    • Stefan Sasse 11. Mai 2020, 17:39

      Um ehrlich zu sein wäre das meinem Schaffenstrieb eher hinderlich. Ich bin wesentlich produktiver außerhalb der Ferien.

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