Saudische Finanzen geraten über Geschlechterfragen in eine polarisierende EU-Krise über die Einreisesperre – Vermischtes 24.10.2018

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Tribalism isn’t our country’s main problem

This utter dearth of partisan polarization undermined democratic accountability. A liberal could vote for Democratic candidates in New York, and unwittingly empower arch-segregationists in the Senate; many voters had no clear heuristic telling them which party would best represent their interests and ideological goals, nor which one was to blame for Congress’s failure to advance such aims. In response, the American Political Science Association (APSA) released a report in 1950 that called on Republicans and Democrats to heighten their contradictions, arguing that “popular government in a nation of 150 million people requires political parties which provide the electorate with a proper range of choices between alternatives of action.” Sixty-eight years later, we’ve done just as the APSA advised. Today’s party system offers voters a wide — and clearly labeled — range of alternatives. While myriad policy debates remain stifled by bipartisan consensus (the proper size and role of the U.S. military, for example), it is nevertheless the case that Democrats and Republicans now provide the electorate with stark choices on health care, taxation, social spending, immigration, racial justice, abortion, environmental regulation, labor rights, and other issues. It has rarely, if ever, been more clear what — and whom — each party in the U.S. stands for. And rarely, if ever, has “popular government” been a worse misnomer for what transpires in our nation’s state and federal capitals. (New York Magazine)

Das ist ein sehr langer und ausführlicher Artikel sowohl über die Geschichte der Polarisierung beziehungsweise Überparteilichkeit als auch eine Analyse ihrer Funktion und Konsequenzen. Ich empfehle die Lektüre unbedingt und will an dieser Stelle nur eine kleine Ergänzung bringen. In Deutschland wurde und wird immer wieder gefordert, die Parteien müssten mehr streiten, sich klarer unterscheiden, und so weiter und so fort. Es wird immer so getan, als würde das Probleme lösen. Dabei zeigt das amerikanische Beispiel deutlich, dass es vor allem eine Änderung ist: manche Probleme verschwinden, andere kommen neu dazu. Es gibt kein objektiv besseres System, genauso wie bei Verfassungsmechanismen und Wahlrechten. Jede Variante kommt mit ihren eigenen Vor- und Nachteilen, und es wäre hilfreich diese ehrlich zu benennen statt der Idee einer utopischen Lösung aller Probleme nachzujagen.

2) Liberals need to fight for their values again

First, liberals must fight alongside and for the powerless, the underdogs of both society and economics. At its root, liberalism is a political philosophy demanding the diffusion of power—whether economic, social or political. That is why liberals want free, competitive, fair markets; a socially liberal culture and laws allowing for human diversity; and pluralism in politics. […] Second, liberals have to be eternally vigilant against the rigging of markets in favour of vested interests. This is not a battle that will ever end. Those with economic power will always use it to shape market dynamics to suit their own ends. The housing market in America and Britain, for example, is strongly tilted in favour of those with wealth and political power. […] Third, liberals have to sharpen their anti-elite instincts. The emergence of the phrase “liberal elite” is deeply unfortunate, since liberals ought in principle to be wary of the power of elites. But sadly, it applies. Liberals, especially those of an intellectual orientation, have become too respectful of the authority of elite colleges, professional associations, perhaps even of elite publications (like this one). Liberals certainly value expertise. And they worry that mass movements can damage pluralism. Mill and Tocqueville both wrote eloquently on these points. But while elites will always exist, liberals will always fight against them when they become self-serving. (The Economist)

Das gleiche kann man auch über die Sozialdemokraten sagen. Der große Vorteil der Rechten dieser Tage ist, dass sie ein klares Narrativ haben. Sie haben Schuldige, und sie haben ein Ziel. Alles was sie sagen und tun passt da rein. Von sozialdemokratischer oder liberaler Seite kommen da meist nur inkrementelle Reförmchen und policy-Ideen, die zwar allesamt besser sind als der Mist, der von AfD und Konsorten kommt, aber auch nicht sexy. Und ein großer Teil dieses Problems ist der mangelnde Wille zur Auseinandersetzung, der ja auch in Fundstück 1 beklagt wird. Selbst in den USA ist die Polarisierung eine sehr einseitige Veranstaltung; die krasse Aufrüstung wird bisher nur von einer Seite betrieben, in Deutschland sowieso.

3) Das Dilemma der AfD

Wie die Dinge liegen, hat die AfD nur diese Wahl, es gibt keinen Mittelweg. Extremisten können Gemäßigte aus taktischen Gründen tolerieren, umgekehrt geht das nicht. Ein Gemäßigter, der Extremisten toleriert, ist kein Gemäßigter mehr, er bezahlt dafür mit seiner Glaubwürdigkeit. Entsprechend vergiftet ist das Argument von Rechtsradikalen wie Björn Höcke, die stets betonen, für einen innerparteilichen Pluralismus einzutreten und Andersdenkende nicht verdrängen zu wollen. Das muss Höcke auch nicht, seine Duldung ist sein Sieg. Ebenso erklärt es, warum Gemäßigte wie die Vereinigung „Alternative Mitte“ nur verlieren, je länger sie zahnlos einen Ausschluss von Höcke fordern. Mit ihrem dürren Stimmchen liefern sie gerade den Beweis, warum die „Alternative“ nicht mehrheitlich in der „Mitte“ steht. Aber auch der Weg der Mäßigung birgt ein großes Risiko. Auch an ihm kann die Partei zerbrechen, übrigens aus dem gleichen Grund: Es gibt keinen Mittelweg. Wenn etwa die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, den Parteiausschluss des antisemitischen baden-württembergischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon fordert, klingt das zunächst nicht nach einem Risiko. Ist es aber. In der AfD-Landtagsfraktion gibt es einen Abgeordneten namens Stefan Räpple, der sagt, er teile Gedeons Ansichten vollkommen. Kann Weidel auf dessen Ausschluss verzichten, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren? Natürlich nicht. So sind es schon zwei. Dann sagt Gedeon selbst, er habe in der Landtagsfraktion weitere Unterstützer. Was ist mit denen? Die Kreise werden weiter. Und was ist, wenn nach langem Hin und Her dann doch keiner von ihnen ausgeschlossen wird? (FAZ)

Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel, der Teufel verändert dich. Das gilt für die AfD genauso wie für die Republicans. Wer sich nicht klar gegen Extremisten abgrenzt, wird am Ende zusehen wie sie den eigenen Laden übernehmen. Das ist im Übrigen auch einmal mehr einer der Gründe, warum die CDU nicht einfach den rechten Rand (wieder) integrieren kann, wie die CSU gerade schmerzlich erfahren musste. Das Dilemma der Populisten ist real, aber sie werden sich zwingend dafür entscheiden, diese Leute zu tolerieren und zu integrieren, weil sonst ihr ganzer scheiß Laden auseinander fällt. Umso wichtiger ist, sie auszugrenzen zund zu isolieren, damit dieses ganze Dilemma auch mit realen Kosten behaftet ist.

4) Why can’t Democrats get angry?

“Everyone is mocking Lindsey Graham for expressing the kind of outrage Democratic Senators should’ve been expressing daily over Merrick Garland,” tweeted writer Isaac Butler after the hearing. He’s not wrong, but it’s worth imagining a similar tweet reading, “Everyone is mocking Brett Kavanaugh for expressing the kind of outrage Christine Blasey Ford should have expressed daily since this debacle began.” What would “should” even mean in this case? She would have been justified, yes, but she absolutely never, ever could have. Crying, screaming, blaming, complaining—Brett Kavanaugh can get away with it. She can’t. This thought experiment isn’t just sophistry; the pressures are the same on the party at large, and for similar reasons. Lindsey Graham can get away with it; Kamala Harris would be pilloried. Even Chuck Schumer would be pilloried. The gender of the legislator is significant, but so is the gender, if you will, of the party. And though we don’t really discuss it, the Democratic Party is a girl. This isn’t just about who’s allowed to scream without consequence; it’s also about who’s expected to be reasonable and who gets to be stubborn, who keeps the peace and who advocates force, who makes compromises and who makes demands, who can and can’t successfully run a human tantrum for president. It’s also about ideology. Democrats’ concerns are those that are cast as feminine: justice, feelings, women’s bodily autonomy, children, the ability to keep a family provided for and alive. Republicans’ concerns are those considered masculine: money, business, repelling those seen as intruders, the wielding of physical and economic brutality. It’s not an accident that people who are deeply invested in the sanctity of masculinity—the right of men to power, violence, and control—tend to vote GOP. It is not an accident that these same people tend to denigrate the other party as womanly. (They think it’s a denigration, anyway.) (Slate)

Passend zu Fundstück 2 kommt hier diese Fragestellung. Auch wenn die Kommentatoren sich vermutlich gleich wieder an den Gender-Ideen reiben werden, ist doch zumindest die Substanz kaum zu leugnen. Die progressiven Kräfte haben ein ernstes Problem damit, Zorn, Erregung und Wut zu performen. Man denke nur an die Dauerkritik gegenüber den müden Versuchen seitens diverser SPD-Politiker von Nahles bis Scholz, das auf Wahlkampfveranstaltungen zu versuchen. In deren Fall ist es zum einen Teil auch eine mangelnde Glaubwürdigkeit, es wirkt alles nur wie Performance. Aber teilweise ist es halt auch so, dass der Zorn schlicht nicht zugestanden wird, weil man schon die Themen selbst als eine Zumutung empfinden will. Umgekehrt ist es immer kein Problem, wenn ein lautes „Mir san mir“ im Bierzelt herausgedonnert wird. Mag auch an den unterschiedlichen Milieus liegen.

5) Trump, populists and the rise of far-right globalization

President Trump and the far right preach not the end of globalization, but their own strain of it, not its abandonment but an alternative form. They want robust trade and financial flows, but they draw a hard line against certain kinds of migration. The story is not one of open versus closed, but of the right cherry-picking aspects of globalization while rejecting others. Goods and money will remain free, but people won’t. […] The pattern of right-wing alter-globalization is repeated in Germany and Austria, where the Alternative for Germany and the Austrian Freedom Party have recently recorded electoral wins. Neither party proposes national self-sufficiency or economic withdrawal. In their programs, the rejection of economic globalization is highly selective. The European Union is condemned, but the language demanding increased trade and competitiveness is entirely mainstream. The Alternative for Germany takes fiscal conservatism to an absurd degree with criminal charges demanded for policymakers who overspend. Both parties call for no inheritance tax and burdensome regulations, even as they make new promises for social spending. Free market capitalism is not rejected but anchored more deeply in conservative family structures and in a group identity defined against an Islamic threat from the East. Several of the Alternative for Germany’s leaders are also members in a society named after Friedrich Hayek, often seen as the arch-thinker of free-market globalism. (New York Times)

Ich bin mir immer nicht ganz sicher, wie viel von dieser „Hyper-Konnektivität“, die in dem Artikel angesprochen wird, genuin gefühltes Programm bei den Rechtspopulisten ist und wie viel davon einfach nur routinierte Rückfallposition. Es erinnert mich ein bisschen an Pazifismus und Internationalismus bei den Linkspopulisten: eine nützliche Rückfallposition, die aber im Zweifel sehr schnell anderen, als wichtiger empfundenen Prioritäten untergeordnet wird. Ich glaube, ähnlich verhält es sich mit globalisiert marktwirtschaftlichen Elementen bei Trump, Brexiteers, AfD und Co: Im Zweifel dafür, aber sobald in irgendeiner Art und Weise ein direkter Interessenskonflikt aufpoppt, ist der jeweilige Kulturkampf oder die jeweilige Wahlkampfhilfe wichtiger.

Unabhängig davon zeigt die Analyse, weswegen die Begeisterung linker Kapitalismuskritiker für Trump, Brexit, AfD und Co so unglaublich kurzsichtig ist. Der Feind meines Feindes ist halt nicht automatisch mein Freund, und nur weil Nigel Farage und Donald Trump die EU nicht mögen heißt das noch lange nicht, dass sie die Ziele der linken Kritiker teilen würden. Und etwas zerschlagen, ohne eine Idee zu haben was danach kommt (oder einen Pfad, diese umzusetzen) ist noch der Kardinalsfehler aller gescheiterten Revolutionen gewesen, die danach von Extremisten übernommen wurden, ob von rechts oder links.

6) Weit weg von der Transferunion

Selten hat eine Idee eines amtierenden deutschen Finanzministers so viel mediale Empörung ausgelöst wie der in der vergangenen Woche bekannt gewordene Vorschlag von Olaf Scholz zu einer „Europäischen Arbeitslosenrückversicherung“. Es bringe nichts, „Europas Probleme mit Deutschlands Geld lösen zu wollen“, tönte es sofort aus der FDP. Die Spitze der Unionsfraktion polterte, man dürfe nicht „weitere Risiken vergemeinschaften“. Am Freitag stellte Kanzlerin Angela Merkel klar, dass auf dem geplanten Eurozonengipfel im Dezember der Vorschlag „kein Thema“ sein werde, weil die Bundesregierung keine einheitliche Position zu dem Thema habe. Diese reflexhafte Abwehr ist bedauerlich. Denn tatsächlich ist die Grundidee einer Art Rückversicherung für nationale Arbeitslosenversicherungen ökonomisch schlicht sinnvoll. Die Ängste, dass die Deutschen über ein solches System am Ende für die Fehler anderer zahlen müssten, sind dagegen weit übertrieben. Fangen wir einmal bei der ökonomischen Logik des Vorschlags an: Länder zahlen in guten Zeiten jedes Jahr aus ihrem Haushalt einen kleinen Beitrag auf ein Konto in einem gemeinsamen Fonds ein. Wenn ein Land in eine tiefe Krise rutscht, in der die Arbeitslosigkeit rapide und plötzlich steigt, bekommt es das von ihm selbst angesparte Geld zurück. Wenn die eigens angesparten Rücklagen nicht reichen, weil die Krise besonders tief ist, kann sich das Land außerdem Mittel aus den Rücklagen der Partner leihen. Diese Mittel müssten zurückgezahlt werden, sobald die Krise abebbt. Allein dieser einfache Mechanismus könnte schon dazu beitragen, dass die Konjunkturzyklen in der Eurozone weniger heftig ausfallen. Da die Länder gezwungen würden, in guten Zeiten in den Fonds einzuzahlen, würden sie im Effekt gezwungen, eine Reserve für schlechte Zeiten zu bilden. (ZEIT)

Die ideologisch begründete, instinktive Ablehnung eigentlich guter policy-Ideen habe ich ja bereits im Zusammenhang mit der Energiewende im letzten Vermischten beklagt. Gerade bei den Reformen der EU hätten CDU und FDP gerade eigentlich die einmalige Chance gehabt, mit einem gleichgesinnten und reformwilligen Staatsoberhaupt in Frankreich endlich eine Reform umzusetzen, statt alles nur auszusitzen – und das gerade entlang ihrer eigenen policy-Präferenzen, die ich ja nun wahrlich nicht teile. Aber stattdessen zog man sich in die eigene ideologische Wagenburg zurück und gefiel sich in der Rolle des moralisch sauberen Prinzipienreiters, eine Rolle, die man ja sonst gerne den Linken anhängt.

Mich erinnert diese Weigerung, selbst auf Basis der eigenen Prämissen sich überhaupt intellektuell mit den Ideen zu beschäftigen, an Obamacare. Ein allseits bekanntes Problem wird endlich auf Basis der Ideen der Gegenseite angegangen, aber anstatt konstruktiv mitzuarbeiten, wird ideologisch und wahlkampftaktisch sabotiert und behindert, was das Zeug hält. Das lohnt sich zwar an der Wahlurne, fügt der res publica aber schweren Schaden zu. Dabei könnten die Leute ja gerade mit so etwas wie der Agenda2010 auf eine sehr erfolgreiche konstruktive Mitarbeit zurückblicken, unabhängig davon, was man von der Agenda2010 hält. Die CDU und FDP konnten seinerzeit über die Sperrmajorität im Bundesrat einiges an eigenen policy-Vorstellungen einbringen (und die Schuld für das ganze Projekt bei der SPD belassen), was sie mit einem Beharren auf ideologischer Reinheit nicht erreicht hätten.

7) Einreisesperre offenbar überflüssig

Die von Bundesinnenminister Horst Seehofer Mitte Juni verfügte Wiedereinreisesperre für abgelehnte Asylbewerber an der deutsch-österreichischen Grenze hat bislang kaum Wirkung gezeigt. Wie die Zeitungen der Funke-Mediengruppe unter Berufung auf Sicherheitskreise berichten, hat es bislang erst drei Zurückweisungen solcher Asylbewerber gegeben. Das Ministerium hatte der Zeitung zufolge mit rund 100 Fällen im Monat gerechnet. Tatsächlich seien es bis zum 17. Oktober insgesamt 89 Migranten gewesen. Davon hatten nur drei bereits einen Asylantrag gestellt. Alle übrigen 86 wären auch vor dem Erlass schon abgewiesen worden. Seehofer hatte es im Sommer als „Skandal“ bezeichnet, dass Menschen mit Einreisesperre trotzdem einreisen könnten. (Tagesschau)

Das sind halt rechte identity politics: kosten einen Haufen Geld, belästigen zahllose unbescholtene Bürger, machen jede Menge Krach, vergiften den Diskurs und bringen – nichts. Dass solcherlei schädliche Symbolpolitik zwar immer gerne kritisiert wird, wenn sie von links kommt, aber nicht von rechts, liegt vermutlich auch am Sujet: Dadurch, dass die Rechtspopulisten den Scheiß immer bei Kriminalitätsthemen abziehen, will sich niemand die Blöße geben als schuldig dazustehen, wenn am Ende doch irgendwas passiert – während eine Seehofer immer die Schuld für einen Asylbewerber-Selbstmord weit von sich weisen kann, schon alleine, weil dessen Tod praktisch niemand berührt. Ekelhaft.

8) Warum Saudi-Arabien vor der Revolution steht

Saudi-Arabien ist ein Scheinriese. Er wankt heftig. Nicht erst seit heute, sondern grundsätzlich, strukturell. Die Frage ist nicht ob, sondern wann der Scheinriese strauchelt. Der entsetzliche Mord an Regimekritiker Jamal Khashoggi ist gerade wegen seiner Perversität ein Zeichen torschlusspanikartiger Schwäche. Wenn der saudische Scheinriese strauchelt, sind die Auswirkungen global und, wie bei der Iranischen Revolution seit 1979, nicht nur national oder regional. Die Welt, wir nicht zuletzt, sollten uns darauf vorbereiten. […] Jamal Khashoggi ist die eine Spitze des bürgerlich-saudischen „Eisberges“, der Oberterrorist Osama bin Laden die andere. Auch er stammt aus einer wohlhabenden, ja, geradezu superreichen Familie des sunnitisch-saudischen Bürgertums. So unterschiedlich die von bin Laden und Khashoggi gewählten Mittel – hier Reform und Partizipation, dort Terror und Revolution –, so ähnlich ihr Ziel: politische Teilhabe und Teilnahme. Ergänzt sei in diesem Zusammenhang, dass 19 von 22 der 9/11-Terroristen aus Saudi-Arabiens Bourgeoisie stammten. Ihre und Osamas Herkunfts-Geografie und Biografie dokumentiert Entscheidendes über ihre gegen die heimische Monarchie gerichtete Ideologie. Das saudische Regime meint offenbar, außer Mord keine Mittel mehr zu haben, um sich vor dem bevorstehenden bürgerlichen Umsturz zu „schützen“. Es hätte eine theoretische Chance: Machtteilung mit der sunnitischen Bourgeoisie. […] Ist es fünf vor oder nach zwölf für Saudi-Arabien? So oder so ist es höchste Zeit, dass Deutschland, Europa und die Welt sich auf Fundamentalveränderungen in Saudi-Arabien vorbereiten. Einstweilen fehlen besonders hierzulande Wille und Fähigkeit zur strategischen Risikoanalyse. (Handelsblatt)

Die im Artikel angesprochenen Parallelen zu 1979 sind in der Tat kaum zu verhehlen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die angesprochenen unterdrückten Gruppen – ob es die „sunnitische Bourgeoisie“ ist oder die Schiiten im Osten des Landes – nicht wissen, dass die Waffen und anderen Hilfen, die ihrer Unterdrückung dienen, unter anderem aus Deutschland kommen. Uns mag da durchaus ein Umschwung bevorstehen, wie ihn die USA nach 1979 erlebt haben, mit einer zutiefst feindlich gesonnenen Regionalmacht unter radikal-islamistischer Fahne im Mittleren Osten. Ein unwahrscheinliches Ergebnis eines Falls des saudischen Königshauses wäre das jedenfalls nicht.

Auf der anderen Seite ist es natürlich durchaus möglich, dass die Repression der Saudis weiterhin erfolgreich ist und sie sich halten. In dem Fall ist natürlich auch das Beliefern der Diktatur mit Waffen weiterhin eine vernünftige Businessstrategie für Deutschland, wenn man – wie das ja seit Jahrzehnten erfolgreich geschieht – den moralischen Aspekt einfach ausblenden kann. Aber auch die USA dürften in der Rückschau inzwischen nicht mehr so sicher sein, ob die kurzfristigen taktischen Vorteile eines solchen „Freundes“ oder Kunden die strategischen Nachteile im Falle seines Sturzes aufwiegen.

9) The big conservative lie on „voter fraud“

It’s hard to know if Republicans are lying to the country or themselves with their incessant harping on the supposed epidemic of voter fraud. But they are clearly doing one or the other — because voter fraud is nowhere near a significant problem in this country, and to the extent that it’s a problem at all, it’s a miniscule one. Continually hyping the supposed voter fraud crisis is thus either a collective act of self-delusion or a cynical and flagrantly anti-democratic ploy to justify making it much harder for certain Americans (who just so happen to incline toward the Democrats) to vote. […] We shouldn’t be surprised by this. Most Republicans are notoriously quite comfortable with the many ways the U.S. Constitution stacks the deck in favor of the GOP — by, for example, giving voters in heavily Republican Wyoming the same representation in the Senate as voters in heavily Democratic California, despite the latter state having 68 times as many people as the former; and by giving individual voters in Wyoming three times the influence in allocating presidential electoral votes as individual voters in California; and by gerrymandering House districts to such an extent that Democrats may have to beat Republicans in total votes cast by 3, 4, 5, 6, or even 7 percentage points in next month’s midterm elections in order to win a majority of the seats. But even with all of those structural advantages, Republicans still may not prevail. That’s because the Republican president (who lost the popular vote by a whopping 2.8 million votes) is incredibly unpopular, as is the Republican Congress, as is the Republican policy agenda, including the party’s only major legislative accomplishment over the past two years, as well as its just-completed push to appoint a new justice to the Supreme Court. If the United States held a straight-up, majority-rules national referendum on the GOP’s performance over the past two years, President Trump, Mitch McConnell, Paul Ryan, and the rest of them would promptly be booted out of power. […] By continuing to treat voter fraud as a major problem and using it as an excuse to purge voter rolls and erect other obstacles to voting, Republicans demonstrate that they just don’t care about (and may even be positively giddy about) the costs — because they will likely be borne by those unlikely to vote for Republicans anyway. Whether Republicans are lying to the country or themselves about the imaginary voter fraud problem, the consequences of combating it are the same: the GOP gets to continue and expand its minority rule of the United States. (The Week)

Dem obigen Artikel ist nur wenig hinzuzufügen. Die Republicans sind eine Minderheit, die Wahlen (auf Bundesebene betrachtet) ausschließlich gewinnt, weil sie sich undemokratischer Mittel bedient. Diese sind teils eine endlos lange Tradition, wie etwa die Bevorzugung leeren Lands gegenüber Gegenden wo tatsächlich Menschen wohnen, und lassen sich auch kaum mehr ändern. Teilweise sind sie aber dazu auch noch Wählerunterdrückung, etwa wo in großem Stil (wie aktuell in Georgia durch den republikanischen Gouverneurskandidaten) Wähler von den Wählerlisten gestrichen werden und sich umständlich neu registrieren müssten, wobei die Stichtage maximal ungünstig gelegt werden, oder wo Regeln für die Identifizierung festgelegt werden, die zum einen an der Willkür der (republikanisch dominierten) Wahllokale hängen und zum anderen von republikanischen Stammwählern ohnehin bereits erfüllt werden, während demokratische Wähler eher Probleme haben. Und dann haben wir noch nicht mal mit Gerrymandering angefangen. Fakt ist, dass die Republicans bei jeder Gelegenheit den demokratischen Prozess auszuhebeln versuchen. Dass sie dann ihre rassistisch aufgeladenen Lügen von voter fraud nutzen, um das Ganze zu legitimieren und die Lage maximal zu vernebeln, passt ins Bild.

10) Gender Studies und die Polemik um die „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“

Die gegen­wär­tige Polemik gegen die Gender Studies, die an vielen Orten und Medien längst schon die Schwelle zur Bösar­tig­keit über­schritten hat, erweckt den Eindruck, als würden ein paar scheinbar amüsante Medien-stunts und Hoax-Juxe nur das Offen­sicht­lichste zeigen: Dass die wissen­schaft­liche Frage nach dem Geschlecht mit „rich­tiger“ Wissen­schaft nichts zu tun habe und besten­falls eine Mode­er­schei­nung sei. Die Entge­gen­set­zung von „wirk­li­cher“ Wissen­schaft und angeb­lich bloßem akade­mi­schem Geschwätz ist aller­dings ein alter Hut, der den Geis­tes­wis­sen­schaften immer wieder mal aufge­setzt wurde und wird, und der Vorwurf des Modi­schen lässt sich wohl prak­ti­scher Weise immer dann gebrau­chen, wenn man intel­lek­tuell nicht mehr ganz mitkommt. Wenn es dann noch um die Niede­rungen des Geschlecht­li­chen geht, ist der Spaß garan­tiert. Daher jetzt ernst­haft: Die Gender Studies, oder in meinem Fach die Geschlech­ter­ge­schichte, hat in ihrer langen akade­mi­schen Tradi­tion, die abge­sehen von Vorläu­fern in die 1970er Jahre zurück­reicht, einige Argu­mente entwi­ckelt und empi­ri­sche Belege beigebracht, an die zu erin­nern viel­leicht ganz hilf­reich sein könnte. Sie bewegen sich fern aller Aufge­regt­heiten, sind in keiner Weise „juicy“ – aber ziem­lich stark. Sie stellen wahr­schein­lich sogar die wich­tigste Inno­va­tion zumin­dest in der Geschichts­wis­sen­schaft seit einem halben Jahr­hun­dert dar, weil sie einen grund­sätz­lich neuen Gesichts­punkt, eine grund­sätz­lich neue Kate­gorie des Denkens in die Forschung einge­führt haben. […] Wie hart­nä­ckig sich die Vorstel­lungen der „Geschlechts­cha­rak­tere“ auch heute noch hält, zeigen nicht zuletzt die Medien-stunts und Hoax-Juxe, die mit ihren Vorwürfen, die Gender Studies seien unwis­sen­schaft­lich und über­haupt ein unzu­läs­siges, weil poli­ti­sches Projekt, letzt­lich selbst noch in dieser Tradi­tion der „Disso­zia­tion“ der Geschlechter stehen: Wie können Frauen es wagen, Wissen­schaft­lich­keit in Anspruch zu nehmen, um über das Geschlecht und das Poli­ti­sche zu spre­chen…!? Allein, dass Geschlech­ter­rollen – man sagt heute: Gender – nichts „Natür­li­ches“ sind, hat schon Karin Hausen als eine der ersten Histo­ri­ke­rinnen über­zeu­gend am histo­ri­schen Mate­rial darge­legt. Das war zwar noch bei weitem nicht das letzte Wort in diesem Forschungs­feld. Aber es wäre gut, wenn all jene, die meinen, die Gender Studies kriti­sieren zu können, sich zumin­dest auf den Stand der Diskus­sion von 1976 bringen. Dann kann man sicher über das eine oder andere treff­lich streiten – aber das tun die Gender Studies auch selbst und schon lange. (Geschichte der Gegenwart)

Ich empfehle diesen längeren Artikel all denen zur Lektüre, die ständig die Behauptung verbreiten, Gender Studies seien reiner Hokus Pokus, keine Wissenschaft und was der ideologisch motivierten Ablehnung nicht noch mehr ist. Ich will an dieser Stelle noch einmal auf Ungarn hinweisen, wo die Regierung das Fach nun durch Dekret abgeschafft hat. Es ist ein direkter Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, weil die Regierung ideologische Probleme damit hat. Egal, was man von dem Fach hält, sollte man das als liberal gesinnter Mensch für sehr bedenklich halten.

Ich zitiere an der Stelle mal den Niemöller: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Genauso ist es heute: Da schweigen Leute, weil sie die Gender Studies nicht mögen. Aber genau die Leute, die heute unter dem Feixen der Konservativen abgeschafft werden, fehlen dann als Demonstranten, wenn es anderen Fachrichtungen, die den Machthabern nicht genehm sind, an den Kragen geht. Wer Prinzipien hat, muss für die auch dann eintreten, wenn sie seine Gegner betreffen.

11) China’s coming financial crisis and the national security connection

China is more economically vulnerable to a confrontation with the United States than it likes to admit. However, that weakness is not driven primarily by a budding trade war with America. China’s export volume growth has begun to slow with all major trading partners, not just the United States. A decade of reckless domestic credit growth is the primary source of China’s vulnerability. […] The biggest national security issues, however, arise from the unpredictable political impact of a recession in China. We learned this, or should have, during the 1997 to 1998 Asian crisis. China may have had a disguised recession or near recession in 1998, but it was in a much smaller economy. Apart from that one episode there is no collective memory of recession and how to deal with it. As such, China is now psychologically unprepared to deal with the challenges of a recession. China’s coming recession will be accompanied by a large uncontrolled devaluation of the RMB as foreign exchange reserves evaporate, so it will be impossible to conceal this time. All asset prices, including housing prices, will be hit. Combine the shock of an unexpected economic setback with tensions in a one party state where a single individual has been calling the shots, and political instability could set in. While Xi’s anti-corruption campaign has not eliminated corruption, it has created many enemies who are biding their time. […] Any Chinese military adventurism is likely to be focused on Taiwan. China’s military is currently poorly equipped for an invasion of Taiwan, which has difficult geography and a substantial military, making an invasion of Taiwan unlikely to succeed. However, it is possible the Chinese leadership would miscalculate the risks, leaving it in a limited war with no clear resolution that would quickly draw in Japan and the United States. (War on the rocks)

Ich empfehle grundsätzlich, den interessanten und langen Artikel ganz zu lesen. Ich habe wenig beizusteuern außer der grundsätzlichen Erkenntnis, dass die Öffentlichkeit mehr Fokus auf China und die dortigen Geschehnisse legen sollte. Ich lese seit ungefähr einem halben Jahr deutlich mehr zum Thema, aber es ist vergleichsweise schwer, entsprechende Überblickswerke zu finden. China ist zwangsläufig der große aufsteigende Faktor der nächsten Dekaden, und welche Folgen und Ausprägungen dieser Aufstieg auch immer haben wird (und ich verbinde wenig Gutes damit), wir werden mit Sicherheit davon betroffen sein. Zusammen mit der globalen Erwärmung und der Digitalisierung dürfte der Aufstieg Chinas Teil der Top 3 sein, die in Deutschland gerade in geradezu frivoler Weise zugunsten von Nabelschau-Themen ignoriert werden.

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  • R.A. 24. Oktober 2018, 09:25

    2) „Der große Vorteil der Rechten dieser Tage ist, dass sie ein klares Narrativ haben.“
    Ein klares Narrativ haben die Linken auch. Sogar mit dem zusätzlichen Vorteil, daß dieses Narrativ allgemeiner Konsens in den Medien ist und von diesen massiv propagiert wird.
    Das nicht alle linken Parteien gleichermaßen davon profitieren (die Grüne derzeit sehr stark, die SPD gar nicht) hat andere Ursachen.

    3) „Ein Gemäßigter, der Extremisten toleriert, ist kein Gemäßigter mehr, er bezahlt dafür mit seiner Glaubwürdigkeit.“
    Meistens nicht. Grüne, SPD und gemäßigte „Linke“ tolerieren Extremisten und kooperieren mit diesen – normalerweise tut das ihrer öffentlichen Glaubwürdigkeit keinen Abbruch.

    4) „Die progressiven Kräfte haben ein ernstes Problem damit, Zorn, Erregung und Wut zu performen.“
    Seit wann denn das? Die SPD dreht erst in letzter Zeit etwas auf („Haß macht häßlich“), für die Grünen dagegen waren Zorn und Erregung schon immer wesentlicher Teil ihres Repertoires.

    6) „Länder zahlen in guten Zeiten jedes Jahr aus ihrem Haushalt einen kleinen Beitrag auf ein Konto in einem gemeinsamen Fonds ein.“
    Die Logik des politischen Geschäfts wird dafür sorgen, daß aus diesem kleinen Betrag mittelfristig ein sehr großer Betrag werden wird.
    Und es ist eben NICHT so, daß die konjunkturellen Aufs und Abs unterschiedlich auf die EU-Länder verteilt werden, so daß mal der zahlt und dann ein anderer. Sondern es werden halt immer dieselben Länder sein, denen es relativ gesehen gut geht (selbst wenn sie in der Krise sind) und zahlen müssen.
    Ein solches System kann nur funktionieren, wenn in allen teilnehmenden Ländern ähnliche Rahmebedingungen gelten. Also ziemlich gleiches Arbeitsrecht und ziemlich gleiches Sozialsystem. Davon kann aber keine Rede sein. Scholz macht hier den vierten Schritt vor dem ersten, das ist völlig unseriöser Populismus.

    10) “ Dass die wissen­schaft­liche Frage nach dem Geschlecht mit „rich­tiger“ Wissen­schaft nichts zu tun habe“
    Das ist ein Strohmann. Die Kritik an den gender studies richtet sich NICHT an solche Fragestellungen. Natürlich kann und sollte man solche Fragen wissenschaftlich untersuchen und wahrscheinlich hat das die zitierte Studie auch gemacht.
    Die Kritik richtet sich am oft unwissenschaftlichen Vorgehen. D.h. die zu beweisenden Thesen werden schon als Voraussetzung genommen und dann nur noch anekdotisch illustriert.

    11) Danke für diesen wichtigen Hinweis.

    • Stefan Sasse 24. Oktober 2018, 11:15

      3) Deine Fähigkeit zum Bothsiderism ist bewundernswert. Für die LINKE gebe ich dir den Punkt sofort (Antifa, Schwarzer Block,….) aber SPD und Grüne?!
      4) Das ist, genauso wie „Moral“, das Zerrbild, das ihr euch von eurem politischen Gegner gemacht habt.
      6) Nein, wieso? Du kannst das an Indikatoren hängen, die relativ sind, und damit das Problem umgehen. Und „populistisch“ ist die Forderung in diesen Zeiten wohl kaum…
      10) Der Witz ist, dass diese Vorwürfe selbst nur anekdotisch illustrierte Behauptungen sind.
      11) Gern.

      • R.A. 24. Oktober 2018, 12:33

        3) „Deine Fähigkeit zum Bothsiderism ist bewundernswert.“
        Bothsiderism ist eine interessante Wortschöpfung. Heißt aber nur, daß man fair vergleichen und nicht mit doppelten Standards bewerten sollte.
        Ansonsten arbeiten auch Grüne und einige SPDler (vor allem Jusos) genauso mit Linksextremen zusammen wie die „Linken“.

        4) „Das ist, genauso wie „Moral“, das Zerrbild, das ihr euch von eurem politischen Gegner gemacht habt.“
        Kann ich nicht nachvollziehen. Die hohe Emotionalität, mit der gerade die Grünen immer aufgetreten sind (inclusive Zorn) kann man doch nicht wirklich abstreiten.

        10) „Der Witz ist, dass diese Vorwürfe selbst nur anekdotisch illustrierte Behauptungen sind.“
        Da ist was dran – weil man schlicht nicht die komplette gender-Ergebnisse durcharbeiten und auf wissenschaftlichen Gehalt überprüfen kann.
        Muß man aber auch nicht. Für den Wissenschaftsanspruch einer Disziplin ist es schon tödlich, wenn regelmäßig „anekdotische“ Fehlleistungen passieren.

        • Stefan Sasse 24. Oktober 2018, 15:17

          3) Nein, Bothsiderism bedeutet ein reflexhaftes „both sides do it“, obwohl etwas nicht vergleichbar ist. Etwas: „Schau mal, die Republicans arbeiten mit Neonazis zusammen und machen Minister aus ihnen!“ „Ja, aber bei den Democrats gab es ja auch mal diese primary-Bewerberin von den DSA.“

          4) Ich hab sie nicht so wahrgenommen, aber ich bin auch weder Grünen-Gegner noch -Parteigänger. Vielleicht liegt es daran.

          10) Offensichtlich nicht, denn den Wirtschaftswissenschaften passieren die auch permanent. Nur stellt da keiner solche Grundsatzfragen.

          • R.A. 24. Oktober 2018, 20:41

            3) „Bothsiderism bedeutet ein reflexhaftes „both sides do it“, obwohl etwas nicht vergleichbar ist. “
            Dann paßt das hier aber überhaupt nicht.
            Denn erstens ist es nicht „reflexhaft“, sondern die direkte Widerlegung Deiner Behauptung, nur die Rechten hätten ein Narrativ.
            Und zweitens ist das völlig vergleichbar, weil es eben um das Narrativ der jeweiligen Seite geht.

            4) Es ist blöde, daß ich mich hier nur wiederholen kann. Aber die besondere Neigung der Grünen, emotional zu agieren, incl. Zorn und Wut, sollte doch eigentlich jedem Beobachter auffallen. Das unterscheidet sie deutlich von allen anderen Parteien (bis eben die AfD kam).

            10) Guter Punkt. Die Wirtschaftswissenschaftler haben wohl weniger und nicht so krasse anekdotische Ausfälle – aber man könnte ihnen das durchaus grundsätzlich ähnlich vorhalten.

            • Stefan Sasse 24. Oktober 2018, 21:27

              4) Hast du konkrete Beispiele, wo sie über-emotional reagiert hätten? Also mehr als eine „Soziale Gerechtigkeit!“-Tirade bei der SPD, ein „Das ist Sozialismus!“ bei der FDP oder ein „Recht und Ordnung!“ bei der CDU?

  • Wolf-Dieter Busch 24. Oktober 2018, 10:49

    zu (6) – Rückversicherung für Arbeitslosversicherung – würde ich mich über einen Beitrag vom Fachmann für Finanzen freuen. Stefan Pietsch, kannst du dir denken, wen ich meine?

  • R.A. 24. Oktober 2018, 13:16

    8) Saudi-Arabien ist tatsächlich extrem schwierig. Ich würde noch nicht sagen, daß es kurz vor der Revolution steht. Aber das Risiko ist deutlich da. Und ich sage „Risiko“ weil ich sehr skeptisch bin, ob bei einer Revolution etwas Besseres nachkommen würde.

    Es gibt ein Zitat, das ich leider nicht mehr genau im Gedächtnis habe, wonach ein schlechtes Regime genau dann am gefährdetsten ist, wenn es versucht sich zu bessern.
    Das trifft hier genau zu. Denn es ist ja nicht so, daß Prinz Salman nur auf Repression setzt. Sondern er versucht die Unzufriedenheit mit Zuckerbrot und Peitsche zu vermindern. Dabei steht durchaus im Raum, daß mehr Teilhabe möglich sein wird.
    Aber weder Bin Laden noch Jamal Kashoggi ging es um Teilhabe, sondern im Gegenteil um eine Rückkehr zu noch strengeren muslimischen Zielen. Sie repräsentieren mächtige Gruppen in Saudi-Arabien, die aber wahrscheinlich nicht annähernd mehrheitsfähig wären.

    Wenn es knallt, dann wahrscheinlich weniger als Revolution wie damals im Iran, sondern als Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Interessencliquen innerhalb der reichen Elite.

    Für den Westen ist es extrem schwierig, darauf zu reagieren. Die aktuellen Reaktionen sind innenpolitisch motiviert und ziemlich neben der Spur (und beruhen im wesentlichen auf (Des-)Information ausgerechnet von Erdogan).
    Die Ermordung von Regimegegnern ist übliche Praxis in vielen Diktaturen, mit denen Deutschland und seine Partner Beziehungen pflegen. Vielleicht nicht immer gute Beziehungen, aber auf jeden Fall ungestört vom Umgang des jeweiligen Regimes mit seinen Gegnern.
    Mir persönlich liegen die Opfer der religiösen Repression in Saudi-Arabien oder die demokratische Opposition wie Raif Badawi deutlich mehr am Herzen als der dubiose Kashoggi.

    • Stefan Sasse 24. Oktober 2018, 15:18

      Ich kenn mich da nicht aus, aber die grundsätzlichen Tendenzen zu bösen Regimen und dem, was nachkommt, kann ich nur unterschreiben. Wenn du Lust hast was zu dem Thema zu schreiben wäre das sicher für die Leser interessant.

      • R.A. 24. Oktober 2018, 20:43

        Lust hätte ich schon, aber das ist ein heftig großes Thema und ich müßte erheblich recherchieren.

        Die zwei historischen Beispiele die mir spontan einfallen sind die französische Revolution (auf die sich das Zitat wohl bezog) und die mexikanische Revolution. Die war eigentlich schon fast gescheitert, als der Diktator Diaz auf die Idee kam, doch ein paar Reformzugeständnisse zu machen. Was dann allgemein so ankam „da geht noch etwas“ und wenige Wochen später war er abgesetzt.

        • Stefan Sasse 24. Oktober 2018, 21:28

          Überleg’s dir. Wäre echt cool. Hast ja auch keinen Zeitdruck.

        • Blechmann 26. Oktober 2018, 02:52

          Gorbatschov in der Sowjetunion. 😉

      • R.A. 29. Oktober 2018, 10:36

        Plötzlich kam die Erinnerung wieder – das Zitat war natürlich von Toqueville:
        „Die Erfahrung lehrt, dass der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung gewöhnlich derjenige ist, in dem sie sich zu reformieren beginnt“

        Hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag:
        https://de.wikipedia.org/wiki/Alexis_de_Tocqueville#Tocqueville-Effekt

  • Ant_ 24. Oktober 2018, 14:21

    Zu China: Ich kann da den Überblickspost von Adam Tooze’s blog sehr empfehlen:
    https://adamtooze.com/2018/07/18/notes-on-the-global-condition-the-rise-of-china-semi-regular-scrapbook-2018-july/

    • Stefan Sasse 24. Oktober 2018, 15:19

      Von Adam Tooze kann man eh alles empfehlen. Danke für den Link!

  • Stefan Pietsch 24. Oktober 2018, 16:19

    ad 6) Weit weg von der Transferunion
    Die Arbeitslosenversicherung zeichnet in jedem OECD-Land nur für einen sehr geringen Teil des Sozialbudgets verantwortlich. Dazu ist das Arbeitsrecht meist sehr komplex und von nationalen Besonderheiten geprägt. Gerade dort spiegelt sich die Kultur eines Landes wider. Die EU hat den Ländern diese Hoheit belassen, Richtlinien über die Organisation des Arbeitsmarktes gibt es nicht.

    Es ist diese Schizophrenie der Linken, Zahlungsverpflichtung und Verfügung über finanzielle Ressourcen gerne auseinanderfallen zu lassen, natürlich immer für einen guten Zweck. Zuletzt konnten wir dieses Schauspiel bei der Debatte um das Kooperationsverbot im Grundgesetz beobachten. Der Bund, so die prinzipielle Idee, überweist Ländern und Gemeinden Steuereinnahmen für Aufgaben, wo er kein Mitspracherecht hat. Der Bundesfinanzminister wird danach vom Wähler für hohe Steuern geprügelt, bei deren Verwendung er nicht mitreden kann. Das funktioniert selten gut, ich habe oft das Beispiel der Finanzkrise bemüht, wo Gemeinden aus dem Bundestopf ihre albernen Kreisel und Blitzeranlagen finanzieren ließen. Bringt dem Bürger nichts, kostet aber Geld.

    Zurück zum Thema: Die Rückversicherung bringt weder den Staaten noch der Konjunktur etwas, weil eben Staaten kein Problem der kurzfristigen Finanzierung von Arbeitslosigkeit haben. Denn schließlich sind Rückversicherung nur dafür da: Risiken zu schultern, die eine Dimension haben, die eine einzelne Versicherung nicht tragen kann (deswegen Rückversicherung). Und wieder versuchen Linke ein Problem zu lösen, wo keins ist – mit Steuergeld, das ihnen anscheinend viel zu locker sitzt.

    Leider geht Deine historische Parallele auch fehl: gerade der Zwang zur Kooperation mit dem Bundesrat hat bewirkt, dass die Arbeitsmarktreformen über das von Experten erarbeitete Konzept hinaus verschärft wurde und die Verantwortung der Behörden und damit die politische Verantwortung verwässert wurde. So wurde am Ende der Bund (Rot-Grün) für Maßnahmen und Wirrwarr geprügelt, für das sie wenig bis nichts konnten, während die eigentlich Verantwortlichen feixend in der Ecke lagen.

    Wie gesagt, Linke fürchten Verantwortung wie der Teufel das Weihwasser.

  • popper 25. Oktober 2018, 11:13

    Herr Pietsch,

    ich stimme ihnen zu, soweit es um den Vorschlag von Herrn Scholz geht. Nicht deshalb, weil er Linker ist, das ist er realpolitisch gesehen lange nicht mehr, sondern weil seine Überlegungen zu kurz greifen und die Südländer zu Zahlern macht. Die Staaten der EWU haben mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und den erzwungenen Sparpaketen ihre fiskalische Souveränität erheblich eingeschränkt. Man könnte es auch so beschreiben, dass damit die Demokratie und als Hybris des Ganzen, mit Zustimmung der Länder ausgehebelt wurde.

    Ein anderer Punkt ist die Verfasstheit der EWU, die es verhindert, dass einzelne Staaten eine Zentralbank haben, die deren Zahlungsfähigkeit garantiert. Stattdessen sind die Staaten davon abhängig von nicht demokratisch legitimierten Beamten der Kommission, der EZB oder des IWF Entscheidungen entgegen zu nehmen. Insbesondere die Kommission interpretiert mit dubiosen ökonometrischen Wolkenkuckucksheimen (NAWRU) die Arbeitslosigkeit als ein natürliches oder strukturelles Defizit, um es als Vorwand zu instrumentalisieren, Reformen am Arbeitsmarkt durchzuführen, indem sie kurzerhand ein durch Rezession erlittenes Defizit in ein strukturelles umwidmet und Sparprogramme verordnet.

    Schaut man sich die Blaupause des Vorschlags an, (http://www.economics.uni-wuerzburg.de/fileadmin/12010100/sonstiges/CompletingTheEuro_ReportPadoa-SchioppaGroup_NE_June2012.pdf) kommt man den Intentionen etwas näher. Denn im Grunde geht es gar nicht um eine Transferunion, sondern darum, die Marktdisziplin zurück in den Euroraum zu bringen und gleichzeitig mehr Risikoteilung einzuführen. Was bedeutet, dass die die einzahlen nur Geld bekommen, wenn Sie sich den Reformprogrammen unterwerfen. Es wird also so getan, als etabliere man einen automatischen Stabilisator, denn diesem fehlen bei genauer Betrachtung die wesentlichen Merkmale desselben.

    Natürlich kommt auch hier wieder der gebetsmühlenartige Unsinn von Scholz: dass eine europaweite Arbeitslosenversicherung davon abhängig ist, dass sie über einen Wirtschaftszyklus hinweg fiskalisch neutral ist und es zu keinen finanziellen Transfers zwischen den Mitgliedstaaten kommt. Das kann man nur mit „totalem Realitätsverlust“ umbeschreiben, was das ganze Unterfangen ad absurdum führt.

    Mit: Wie gesagt, Linke fürchten Verantwortung wie der Teufel das Weihwasser. hat das nicht im Geringsten zu tun. Das spielt eher den Neoliberalen in die Hände.

    • Stefan Pietsch 25. Oktober 2018, 11:41

      Niemand hat Italien gezwungen, dem Euro beizutreten und wenn es die Politik will, wird niemand es verhindern können, dass Italien austritt. Solange aber das Land einer Währungsgemeinschaft angehört, wird es sich auch gemeinsamen Regeln fügen müssen, die nunmal nicht national bestimmt werden können. Der zugrunde liegende Maastricht-Vertrag wurde auch von Parlament wie Senat in Rom ratifiziert. Es ist also keineswegs so, dass Italien von nicht gewählten Beamten Maßnahmen aufgedrückt werden. Das Bella Italia ist Nettozahler der EU und kein Empfänger von Zahlungen aus dem Stabilisierungsfonds. Allerdings sehen die unterzeichneten Verträge in bestimmten Fällen Sanktionsmaßnahmen vor.

      Die Vorgängerregierung verpflichtete sich zu einer Rückführung des Defizits. Auf die Einhaltung dieser Zusage im Rahmen der ratifizierten Verträge beharrt die EU. Rom bringt ja den Slapstick fertig, einerseits höhere Neuverschuldungen zu fordern und gleichzeitig gegen den Zinsspread zu wettern, so als ginge mit höheren Schulden nicht gleichzeitig ein höheres Risiko einher, zumal der Schuldner ausweislich seiner Politik nicht an einer seriösen Rückführung seines Defizits denkt.

      Anders als alle anderen Staaten der OECD hat Italien die Folgen der Finanzkrise immer noch nicht überwunden, obwohl die Lasten geringer waren als andernorts. Offensichtlich macht das Land eine falsche Krisenpolitik. Im letzten Jahr weiteten die italienischen Banken ihren Bestand an Staatspapieren deutlich aus, während die Risikopapiere privater Anleger zurückgefahren wurden. Wenn die Kreditinstitute in eine Schieflage kommen, so ist dies vor allem auf die Finanzpolitik des Staates zurückzuführen. Bei einer erneuten Wirtschaftskrise müsste der Großteil von ihnen ohne staatliche Stützung abgewickelt werden. Und wer hätte die Folgen zu tragen?

      • popper 26. Oktober 2018, 09:51

        Niemand hat Italien gezwungen, dem Euro beizutreten und wenn es die Politik will, wird niemand es verhindern können, dass Italien austritt.

        Das mag auf ihre Sichtweise zutreffen, ist auch gar nicht der Punkt. Wir diskutierten über den Vorschlag von Schulz bezüglich einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Abgesehen davon, die Kommission und die EZB werden mit allen Mittel den Austritt zu verhindern suchen. Das erkennt man sehr deutlich an deren Drohgebärden.

        Solange aber das Land einer Währungsgemeinschaft angehört, wird es sich auch gemeinsamen Regeln fügen müssen, die nunmal nicht national bestimmt werden können.

        Wer sagt das? Was sagen Sie zu Trump und den USA im Allgemeinen? Die USA verletzen jede nur denkbare Art der Vertragstreue, wenn es um ihre Interessen geht. Das ist bei Italien ganz anders. Die Regierung erkennt wie v.a. die Dysfunktion der EU-Verträge, die fiskalisch und geldpolitisch eine Hybris erster Güte darstellen. Die Regierungen von Monti bis zu vorletzten haben doch artig Reformen und Sparprogramme der Kommission umgesetzt, mit dem Ergebnis höherer Arbeitslosigkeit und weiterer Verschuldung. Italien hat seit zehn Jahren eine anhaltende dramatische Unterbeschäftigung. Diese Programme waren kontraproduktiv. Sie als Vertreter einer idealistischen neoliberalen Ökonomie wollen nicht sehen, dass gerade der Süden Europas den sogenannten kranken Mann Europas in den Jahren vor der Krise finanziert hat, und der sich jetzt aufs hohe Ross setzt und anderen Ratschläge gibt und Druck über die Institutionen ausübt. Zwischen 1995 und 2008 expandierten die Wirtschaft und das Wachstum in Südeuropa insgesamt um 61,6%, in Griechenland sogar um 115,3%, wogegen es Deutschland auf mickrige 15,8% brachte. Privater und öffentlicher Konsum aber auch Staatseinnahmen wuchsen im Süden, sodass das Budgetdefizit bis zur Finanzkrise kleiner war als 1995. Wenn heute von der Verbesserung der Leistungsbilanz im Süden verwiesen wird, dann ist dies Folge einer kollabierenden Binnennachfrage, weil man den Menschen Löhne und Transferleistungen gekürzt hat. Nach dem Motto: Operation gelungen, Patient tot.

        Der zugrunde liegende Maastricht-Vertrag wurde auch von Parlament wie Senat in Rom ratifiziert. Es ist also keineswegs so, dass Italien von nicht gewählten Beamten Maßnahmen aufgedrückt werden.

        Das ist formal zutreffend, aber welchen Sinn macht es, wenn politisch inspirierte, dysfunktionale Verträge an der ökonomischen Realität und den geldtheoretischen Gesetzmäßigkeiten scheitern? Hätten sich Länder oder die EZB an diese Verträge gehalten, wäre der Euro längst Geschichte. Hier bleibt ihre Argumentation im Dickicht legalistischer Wunschvorstellungen hängen. Wenn Deutschland seit Jahren gegen die 6% Leistungsbilanzüberschussklausel verstößt, bleibt ihr Insistieren auf die Einhaltung der Regeln stumm. Sie können gar nicht ernsthaft bestreiten, dass Beamte, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen Maßnahmen gegen den Willen einzelne Länder und ökonomische Vernunft durchzusetzen suchen. Es mag ja so sein, dass ein Einhalten von Regeln für das Funktionieren einer Staatenunion erheblich ist. Sobald sich aber zeigt, dass wesentliche Aspekte einer Währungsunion unberücksichtigt geblieben sind und zu dystopischen Ergebnissen führen, ist das Festhalten daran unsinnig. Aber genau das haben Kommission und Troika in der Eurozone ohne Legitimation permanent getan. Es war vorhersehbar, dass im Vertrag von Maastricht solche fiskalpolitischen Regelungen für die wirtschaftliche Entwicklung der meisten EWU-Länder nur katastrophale Folgen haben konnten. Der Grund liegt auf der Hand. In einer Situation wo der Privatsektor spart und das Ausland nicht (mehr) als Schuldner ausfällt, kann nur der Staat mit seiner Verschuldung den daraus hergeleiteten Nachfrageausfall kompensieren. Da die Regeln des Maastricht-Vertrags die Verschuldungsfähigkeit von Staaten und verbieten, begrenzen sie faktisch, dass der Staat in einer ökonomische Krise mit fiskalpolitischen Mitteln gegensteuern kann. Der Grund liegt auch hier auf der Hand. Italien hat die Vereinbarungen von Maastricht konsequent seit 1992 einen primären Haushaltsüberschuss (ohne Zinszahlungen) erwirtschaftet. Damit hat es ihrer nicht ausgelasteten Volkswirtschaft fiskalpolitisch die notwendigen Wachstumsimpulse vernachlässigt und seiner Wirtschaft kontinuierlich Nachfrage entzogen. Die derzeitige Regierung ist also zumindest formal durch die Verträge der Vorgängerregierungen zu einer Fiskalpolitik verpflichtet, die eine Wirtschaftspolitik im Gemeinwohlinteresse verhindert. Weil diese Regierungen auf der Basis neoliberaler Ideologien eine für das Land zerstörende Wirtschaftspolitik betrieben haben.

        Das Bella Italia ist Nettozahler der EU und kein Empfänger von Zahlungen aus dem Stabilisierungsfonds. Allerdings sehen die unterzeichneten Verträge in bestimmten Fällen Sanktionsmaßnahmen vor.

        Was hat das mit der Feststellung zu tun, Italien ist Nettozahler der EU. Sie behaupten hier einen Automatismus, den es gar nicht gibt. Jeder Staat, der in den Stabilitätsfonds einzahlt, erhält daraus Zahlungen, um Krisen abzufedern.

        Die Vorgängerregierung verpflichtete sich zu einer Rückführung des Defizits. Auf die Einhaltung dieser Zusage im Rahmen der ratifizierten Verträge beharrt die EU.

        Das ist doch nun wirklich albern, was Sie da propagieren. Die alte Regierung wurde ja gerade dafür abgewählt, weil sie eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung machte. Außerdem ist das Versprechen, das Defizit zurückzuführen keine qualifizierte Aussage. Ich habe bereits oben darauf hingewiesen, was die Folgen dieser einseitigen Betrachtungsweise sind.

        Rom bringt ja den Slapstick fertig, einerseits höhere Neuverschuldungen zu fordern und gleichzeitig gegen den Zinsspread zu wettern, so als ginge mit höheren Schulden nicht gleichzeitig ein höheres Risiko einher, zumal der Schuldner ausweislich seiner Politik nicht an einer seriösen Rückführung seines Defizits denkt.

        Was daran ist „Slapstick“. Der Grund dafür sind nicht die Schulden oder nicht die Macht der Kapitalmärkte, sondern die Tatsache, dass Italien, wie übrigens alle EWU-Staaten, keine „eigene“ Zentralbank mehr hat und die EZB aus politischen oder besser gesagt neoliberalen Gründen, ihr Mandat verletzt, die Finanzstabilität in der gesamten Eurozone zu garantieren. Denn sie könnte (Müsste) aufgrund ihrer unbegrenzten Finanzkraft die Renditen italienischer Staatsanleihen auf jedes von ihr gewünschte Niveau drücken. Stattdessen lässt sie über den spekulierenden Kapitalmarkt die Renditen steigen, um Italien (wie Griechenland und Zypern) zu zwingen, einen regelkonformen, aber das Gemeinwohl schädigenden Haushalt vorzulegen.

        Anders als alle anderen Staaten der OECD hat Italien die Folgen der Finanzkrise immer noch nicht überwunden, obwohl die Lasten geringer waren als andernorts.

        Das ist schlichter Unsinn, den Sie hier zu verbreiten suchen. Länder außerhalb der EWU hatten völlig andere Anpassungsmodalitäten. Die Eurozone verharrt nach wie vor aus den vorgenannten Gründen in einer ungelösten Krise. Auch, wenn Spanien und Portugal immer als Beispiele für die Wirkung der Programme angeführt werden, sprechen die Fakten dagegen. Verschwiegen wird, dass Spanien sich seit längerer Zeit nicht mehr an die Vorgaben hält und Portugal ganz ausgestiegen ist- mit Billigung der Kommission, um gegenüber ihren Kritikern punkten zu können. Das ist einfach absurd. Und Griechenland ist nach wie vor in einer tiefen Rezession und Verelendung. Auch hier wurden vor einigen Wochen groteske Jubelarien von der Kommission verbreitet.

        • popper 26. Oktober 2018, 09:59

          Im dritten Absatz sollte der Satz lauten: …wo der Privatsektor spart und das Ausland nicht (mehr) als Schuldner zur Verfügung steht…

        • R.A. 26. Oktober 2018, 13:13

          „Man könnte es auch so beschreiben, dass damit die Demokratie und als Hybris des Ganzen, mit Zustimmung der Länder ausgehebelt wurde.“
          Das wird oft behauptet und ist so komplett falsch. Sowohl die EU generell wie auch die Währungsunion wurde auf allen zuständigen Ebenen von demokratisch legitimierten Akteuren beschlossen. Da wurde und wird nichts ausgehebelt.
          Es redet ja auch niemand davon, daß die Demokratie in einer Stadt ausgehebelt wird, nur weil sich die Stadt nicht per Abstimmung über Bundesgesetze hinwegsetzen kann. Und die Stadt könnte nicht einmal aus Deutschland austreten, Italien könnte sehr wohl aus der EU austreten.

          „die Verfasstheit der EWU, die es verhindert, dass einzelne Staaten eine Zentralbank haben,“
          Das ist logisch bei einer Währungsunion. Genau das haben diese Staaten so gewollt.

          “ … die deren Zahlungsfähigkeit garantiert.“
          Nicht wirklich. Wenn ein Staat pleite ist, ist er pleite. Auch wenn wie derzeit in Venezuela die Zentralbank massenhaft Papier mit immer mehr Nullen bedruckt.

          „Stattdessen sind die Staaten davon abhängig von nicht demokratisch legitimierten Beamten …“
          Natürlich werden die durchführenden Beamten nicht gewählt. Aber ihr Handeln folgt demokratisch beschlossenen Regeln. Ich habe meinen Finanzbeamten auch nicht direkt „demokratisch legitimiert“ und muß doch regelgerecht Steuern bezahlen.

          „Reformen am Arbeitsmarkt durchzuführen“
          Die Kommission führt keine Reformen am Arbeitsmarkt durch. Sie gibt nur Hinweise, wie ein Staat sein Defizit in den Griff kriegen könnte. Die Staaten haben aber völlige Freiheit, ihr Defizit auch durch andere Maßnahmen zu beseitigen.

          „Was bedeutet, dass die die einzahlen nur Geld bekommen, wenn Sie sich den Reformprogrammen unterwerfen.“
          Ich halte aus anderen Gründen nichts von dem Vorschlag, aber dieses Vorgehen ist natürlich völlig legitim. Wer Geld will, muß halt die Bedingungen der Geldgeber erfüllen. Es steht ihm aber frei, am Programm nicht teilzunehmen.

          „Abgesehen davon, die Kommission und die EZB werden mit allen Mittel den Austritt zu verhindern suchen.“
          Solange das legale Mittel sind, ist das auch völlig richtig so. Und wie man beim Beispiel Brexit sieht, spielt die Kommission sehr fair und transparent mit.

          „Die USA verletzen jede nur denkbare Art der Vertragstreue“
          Das ist erstens falsch und ist zweitens völlig sinnfreier Whataboutismus.

          „Die Regierungen von Monti bis zu vorletzten haben doch artig Reformen und Sparprogramme der Kommission umgesetzt“
          Na ja, so artig nicht. Sonst wäre das Defizit ja weg.

          „Zwischen 1995 und 2008 expandierten die Wirtschaft und das Wachstum in Südeuropa insgesamt um 61,6%, in Griechenland sogar um 115,3%“
          Schuldenfinanzierter Konsum ist kein wirkliches Wachstum. Natürlich kollabiert das, wenn kein frisches Geld mehr zum Verbrennen rübergereicht wird. Dann landet das Land eben wieder auf dem Stand, den es ohne das Strohfeuer hatte und der seiner echten Leistungsfähigkeit entspricht.

          „Sobald sich aber zeigt, dass wesentliche Aspekte einer Währungsunion unberücksichtigt geblieben sind“
          Die sind nicht unberücksichtigt geblieben. Nur war „ich würde gerne anderer Leute Geld konsumieren“ nie ein vereinbarter Aspekt der Währungsunion.

          „primären Haushaltsüberschuss (ohne Zinszahlungen)“
          Das ist schön, aber völlig unzureichend. Weil ja die Zinsen auch bezahlt werden müssen – und wenn das nur über neue Schulden gelingt, ist der Haushalt unzureichend und es muß gespart werden.

          „Denn sie könnte (Müsste) aufgrund ihrer unbegrenzten Finanzkraft die Renditen italienischer Staatsanleihen auf jedes von ihr gewünschte Niveau drücken. “
          Es ist NICHT Aufgabe der EZB, einzelnen Staaten beliebig billige und beliebig hohe Verschuldung zu ermöglichen. Und mit „Finanzmarktstabilität“ hätte das sowieso nichts zu tun.

          „spekulierenden Kapitalmarkt die Renditen steigen“
          Das ist keine Spekulation, sondern normale und legitime Reaktion von Kreditgebern auf zunehmende Risiken in Italien.

        • Stefan Pietsch 27. Oktober 2018, 16:09

          Den Vorschlag von Scholz haben wir beide ja schon in die Tonne getreten. Es geht aber ganz generell um Ihren Vorhalt, Italien sei seiner Souveränität beraubt worden. Italien ist absolut souverän, nur kann niemand ernsthaft verlangen, dass andere Mitgliedstaaten ihre Souveränität zu Gunsten Italiens aufgeben.

          Wer sagt das?

          Das steht, wie geschrieben, in von Italien gezeichneten Verträgen. Sie sind mit der Debatte mindestens 25 Jahre zu spät. Ich sehe darüber hinaus nicht, wo die USA Verträge verletzen. Sie kündigen Abkommen, das ist aber etwas völlig anderes.

          Die Regierungen von Monti bis zu vorletzten haben doch artig Reformen und Sparprogramme der Kommission umgesetzt, mit dem Ergebnis höherer Arbeitslosigkeit und weiterer Verschuldung.

          Monti hat verhindert, dass Italien unter den Rettungsschirm musste und Renzi, dass wegen Vertragsverletzungen Sanktionen verhängt wurden. Nur, wer trotz Regelbruch Entgegenkommen will, muss auch etwas bieten. Weiß jeder, der mal einen Kaufvertrag für einen Kühlschrank verhandelt hat oder in eine WG wollte.

          Schauen Sie sich Italien mal genauer an. Im Norden herrscht eine hohe Beschäftigung und Wohlstand vergleichbar mit dem Großräumen Stuttgart und München. Generell sind die Italiener wohlhabender als die Deutschen. Der Konsum bewegt sich über dem Niveau der Nullerjahre, was kein Zeichen einer konjunktuwrellen Schwäche ist. Darüber hinaus hat Italien einen starken Mittelstand, Unternehmen die ähnlich wie in Süddeutschland vor allem im B2B-Geschäft und Luxussegmenten (z.B. Modeindustrie, Sport, Getränke). tätig sind. Die ziehen nicht aus Italien weg, weil dort die Leute gerade nicht kaufen wollen, sondern weil Steuer- und Arbeitsrecht sowie bürokratische Regeln regelrecht erdrückend sind. Italienische Gerichte benötigen die drei- bis fünffache Zeit wie in Deutschland für ein erstinstanzliches Urteil. Da hat kein Unternehmer Spaß dran und das könnte kein Konjunkturprogramm korrigieren.

          Seit Jahrzehnten pflegt Italien in der Wirtschaftspolitik das, was Ihnen vorschwebt, mit dem Ergebnis, dass traditionell die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist. Schauen Sie nach Süden beispielsweise nach Sizilien, so ist das eine Region auf Drittweltstatus. Das ist nicht die Schuld der EU, das können Sie niemals behaupten. Dieser Landstrich ist absolut über die Jahrzehnte trotz Milliardenüberweisungen immer ärmer geworden. Heute arbeitet dort fast niemand mehr und diejenigen, die arbeiten, haben ihren Job der Mafia zu verdanken und haben fürstliche Bedingungen (25-Stundenwoche bei Vollzeitgehalt weit über den sonstigen Verhältnissen in Europa). Das sollte die Erkenntnis reifen lassen, dass reine Staatsverschuldung und Umverteilung zwischen Regionen definitiv falsch sind.

          Italien steht es jederzeit frei, dysfunktionale Verträge zu kündigen. In die Richtung scheint die neue Regierung ja marschieren zu wollen. Die Folge wäre die sofortige Insolvenz des Landes, auch das muss als gesichert gelten.

          Wenn Deutschland seit Jahren gegen die 6% Leistungsbilanzüberschussklausel verstößt, bleibt ihr Insistieren auf die Einhaltung der Regeln stumm.

          Weil es, wie sagen Sie so schön? – dysfunktional ist. Das ist eine politisch festgelegte Regel, die keine wissenschaftliche Grundlage besitzt. Ist es nicht das, was Sie immer kritisieren? 😉 Es ist selbst in Ihrem Denken für die Funktionsfähigkeit der Eurozone völlig ohne Belang, wenn Deutschland in Drittstaaten wesentlich mehr exportiert als importiert. Und bekanntlich exportiert Deutschland mehr dorthin als zu den EU-Partnern. Das dürfen Sie folglich getrost von den 9% (Tendenz fallend) abziehen. Daneben, auch das wissen Sie, bildet der Leistungsbilanzüberschuss nicht die ganze Wahrheit ab.

          Sie können gar nicht ernsthaft bestreiten, dass Beamte, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen Maßnahmen gegen den Willen einzelne Länder und ökonomische Vernunft durchzusetzen suchen.

          Tun sie ja nicht. Am Ende unterliegen sämtliche Maßnahmen der politischen Kontrolle des EU-Parlaments wie der Partnerländer. Und die sind sämtlich demokratisch legitimiert.

          In einer Situation wo der Privatsektor spart und das Ausland nicht (mehr) als Schuldner ausfällt, kann nur der Staat mit seiner Verschuldung den daraus hergeleiteten Nachfrageausfall kompensieren.

          Das ist gerade in Bezug auf Italien Unsinn. Weder spart der Privatsektor noch fällt er bei der Nachfrage aus. Italien hat in Bezug auf das BIP einen höheren Nachfrageanteil als Frankreich, ein traditionell sehr konsumstarkes Land (61% zu 54%). Die Arbeitnehmerentgelte sind weiter kräftig gestiegen, Italien lebt somit in der beste der von Ihnen skizzierten Welten. Nur scheinen Ihre Maßnahmen nicht zum gewünschten Ergebnis zu führen. Italien ist exportstark mit hoher Inlandsnachfrage, reich in Bezug auf die Konten der Bürger, mit steigenden Einkommen – was nun, Herr popper? Tatsächlich investieren Staat und Unternehmen traditionell wenig und das nicht erst seit der Finanzkrise. Da haben sich bestenfalls die Kurven der Unternehmen abgesenkt. Das alles spricht dafür, dass die neoliberale Sicht auf die Dinge weit eher richtig sind als Ihr vorgetragenes Nachfragemantra.

          Länder außerhalb der EWU hatten völlig andere Anpassungsmodalitäten.

          Das ist Unsinn, was Sie erzählen. Niederlande, Irland, Deutschland hatten sämtlich bezogen auf das BIP höhere Kosten zu schultern. Doch diese Länder haben sich seit fast einem Jahrzehnt erholt – Italien nicht. Auch hier liegen Sie falsch. Überprüfen Sie Ihre Theoriemodelle an den Fakten.

          • popper 31. Oktober 2018, 11:06

            Den Vorschlag von Scholz haben wir beide ja schon in die Tonne getreten. Es geht aber ganz generell um Ihren Vorhalt, Italien sei seiner Souveränität beraubt worden. Italien ist absolut souverän, nur kann niemand ernsthaft verlangen, dass andere Mitgliedstaaten ihre Souveränität zu Gunsten Italiens aufgeben.

            Wovon reden Sie? Ich sprach von fiskalischer Souveränität. Der Fiskalpakt greift über die Kommission, aber auch über die EZB in die Autonomie der Unterzeichnerländer ein. Es gibt ja mittlerweile die Briefe von Trichet an Italien, Spanien und Irland, worin ganz offen gedroht wurde, dass bei der Weigerung „Reformen“ durchzuführen, was im Klartext natürlich immer auf Privatisierungen, die Kürzung von Löhnen, Beschneidung von Rentenansprüchen und Abschaffung von Arbeitnehmerrechten bedeutete, restriktive Maßnahmen in Gang gesetzt würden. Was heißt, es wird mit gezielt lancierten Äußerungen Abstufungen durch Ratingagenturen stimuliert, der von Banken-Runs bis zu Spekulationen auf den Niedergang eines betreffenden Staates führt. Das Gleiche wird im Falle von Italien passieren. Heraus kommt eine marktkonforme Demokratie zugunsten einer Clique von Kapitalbesitzern und zum Schaden der Bevölkerung. Und der Effekt des Ganzen ist, dass am Ende alles ruiniert ist.

            Das steht, wie geschrieben, in von Italien gezeichneten Verträgen. Sie sind mit der Debatte mindestens 25 Jahre zu spät. Ich sehe darüber hinaus nicht, wo die USA Verträge verletzen. Sie kündigen Abkommen, das ist aber etwas völlig anderes.

            Mein Debattenbeitrag ist auf der Höhe der Zeit. Sie übersehen nämlich, dass die Europäische Verfassung nicht verabschiedet wurde und insoweit nicht gültig ist. Die Amerikaner haben den von der UNO ratifizierten völkerrechtlichen Atomvertrag mit dem Iran gebrochen.

            Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages kommt zu dem Ergebnis: „Der JCPOA ist für sich genommen zwar kein völkerrechtlicher Vertrag i.S.v. Art. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK), wohl aber eine – rechtsverbindlich gewordene – Vereinbarung zwischen Staaten. Insoweit ließen sich die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln über die Beendigung von Verträgen – zumindest analog – anwenden. Auch dann scheidet ein unilaterales Rücktrittsrecht der USA aus dem JCPOA nach Maßgabe des Art. 54 WVRK schon aus formalen Gründen aus, da es sich bei der im JCPOA vereinbarten „Zehnjahresfrist“ um eine abschließende „Vertragsbestimmung“ i.S.v. Art. 54 lit. a) WVRK handelt. Das Abkommen ist nach dem Willen der Beteiligten auf zehn Jahre angelegt und soll den Konflikt um das iranische Nuklearprogramm dauerhaft lösen. Eine vorzeitige Aufkündigung widerspräche daher dem Sinn und Zweck des JCPOA.32 Eine Beendigung des JCPOA nach Maßgabe des Art. 60 WVRK käme nur dann in Betracht, wenn dem Iran eine erhebliche Verletzung des JCPOA nachzuweisen wäre…“ (Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag, Seite 10)

            Monti hat verhindert, dass Italien unter den Rettungsschirm musste und Renzi, dass wegen Vertragsverletzungen Sanktionen verhängt wurden. Nur, wer trotz Regelbruch Entgegenkommen will, muss auch etwas bieten.

            Monti war ein Wasserträger der Kommission und Renzi hat sich selbst verschrottet. Beide sind verantwortlich für den weiteren Schuldenanstieg in Italien, was man ihnen noch nicht einmal verübeln kann, wenn man ihr Selbstverständnis als Krisenmanager betrachtet. Sie waren überzeugt, das Richtige zu tun. Dass es unter ökonomischen und geldtheoretischen Aspekten eine Verschlimmbesserung war, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr leugnen. Eine Regel, die dem Gemeinwohl schadet, muss nicht eingehalten werden. Das sieht man an Deutschland, das wiederholt die Regeln gebrochen hat und weiterhin bricht, nichts tut.

            Italien steht es jederzeit frei, dysfunktionale Verträge zu kündigen. In die Richtung scheint die neue Regierung ja marschieren zu wollen. Die Folge wäre die sofortige Insolvenz des Landes, auch das muss als gesichert gelten.

            Ein Land kann in seiner eigenen Währung nicht insolvent gehen. Das ist nur dann anders, wenn es keine eigene Währung hat, wie das de facto in der EWU der Fall ist, weil die EZB die Eurostaaten nicht finanzieren darf, sodass Staaten sich über den Finanzmarkt bei ausgewählten Bieter-Geschäftsbanken finanzieren müssen. Und die Europäische Zentralbank (EZB) ihr Mandat zu politischen Zwecken missbraucht und Staaten damit bedroht, den Geldhahn (Notkredite ELA) zuzudrehen. Jetzt kann man, wie Sie das tun, auf Regeln pochen und den ganzen „Laden“ EWU ruinieren oder wie die Italiener fiskalpolitisch richtig zu handeln. Dem steht aber eine Phalanx neoliberaler Institutionen entgegen, die das mit aller Macht zu verhindern suchen.

            Weil es, wie sagen Sie so schön? – dysfunktional ist. Das ist eine politisch festgelegte Regel, die keine wissenschaftliche Grundlage besitzt. Ist es nicht das, was Sie immer kritisieren? Es ist selbst in Ihrem Denken für die Funktionsfähigkeit der Eurozone völlig ohne Belang, wenn Deutschland in Drittstaaten wesentlich mehr exportiert als importiert. Und bekanntlich exportiert Deutschland mehr dorthin als zu den EU-Partnern. Das dürfen Sie folglich getrost von den 9% (Tendenz fallend) abziehen. Daneben, auch das wissen Sie, bildet der Leistungsbilanzüberschuss nicht die ganze Wahrheit ab.

            Ach ja? Warum bekommen Staaten einen blauen Brief, wenn sie die Defizitregel von 4% nicht einhalten? Ihre Argumentation ist unseriös, weil selektiv. Ich wäre ganz bei ihnen, wenn Sie konsequent alle politischen Festlegungen, z.B. Schuldenregel (3% bzw. 60%) oder die Berechnungen des Fiskalpakts als obsolet erklären würden. Handelt es sich doch um das, was Sie immer so heftig verurteilen: Planwirtschaft. Da es sich aber um eine neoliberale Konzeption handelt, schweigen Sie halt. Exporte sind per se nicht das, was ökonomisch betrachtet Teufelszeug wäre. Wenn Sie mit Drittstaaten, Staaten außerhalb der Eurozone meinen, dann interpretieren Sie mich aber falsch, wenn Sie vermuten, hier sei für mich ein Gleichgewicht zwischen Export und Import ohne Belang. Handelsbilanzen sollten von temporären Schwankungen abgesehen in der Regel ausgeglichen sein. Der Handelsbilanzüberschuss bildet insoweit nicht die ganze Wahrheit ab, weil mittlerweile deutsche Unternehmen Zulieferteile und sogar ganze Fertigungen im Ausland produzieren, importieren und anschließend wieder exportieren, sodass man davon ausgehen kann, die die Bilanzüberschüsse sogar noch wesentlich höher sind.

            Tun sie ja nicht. Am Ende unterliegen sämtliche Maßnahmen der politischen Kontrolle des EU-Parlaments wie der Partnerländer. Und die sind sämtlich demokratisch legitimiert.

            Was ist das: politische Kontrolle? Meine Argumente betreffen die Arbeitsweise EU-Kommission. Und die tut genau das, was Sie hier in Abrede zu stellen suchen (vgl. Zypern u. Griechenland). In letzterem hat sie es im Rahmen der Quadriga noch bis vor kurzem getan, was auch für die Zukunft kein Zeichen für Erleichterungen ist. Würden Sie sich wirklich um Eklärungungsansätze in der Sache bemühen, könnten Sie nicht zu solchen, vornehm ausgedrückt, abwegigen Behauptungen kommen. Ich hatte weiter oben schon erklärt, dass die „Europäische Verfassung“ nicht ratifiziert wurde und damit nicht gültig ist (wg negativer Referenten einzelner Länder). Tatsache ist – der EU-Rat hat nichts zu sagen. Allein die EU-Kommission besitzt das Vorschlagsrecht für Gesetzte. Die EU-Kommission wird auch nicht gewählt, sondern eingesetzt. Entscheidungen erfolgen in Arbeitsgruppen, auf deren Beschlüsse nicht einmal das Parlament Zugriff hat. Die Arbeitsgruppen der Kommission operieren ausnahmslos im Verborgenen. Mit demokratischen Usancen hat das wenig zu tun.

            Das ist gerade in Bezug auf Italien Unsinn. Weder spart der Privatsektor noch fällt er bei der Nachfrage aus.

            Warum Unsinn? Weil Sie das sagen. In Italien sparen, wie in Deutschland, alle drei Sektoren (Private, Unternehmen und der Staat). Das erklärt sich auch aus deren Handelsbilanzüberschuss. Die Nachfrage ist, wie in Deutschland unterentwickelt, weil Lohndumping und Kürzungen in beiden Ländern eine Nachfrage nur auf niedrigem Niveau erlaubt.

            Das ist Unsinn, was Sie erzählen. Niederlande, Irland, Deutschland hatten sämtlich bezogen auf das BIP höhere Kosten zu schultern. Doch diese Länder haben sich seit fast einem Jahrzehnt erholt – Italien nicht. Auch hier liegen Sie falsch. Überprüfen Sie Ihre Theoriemodelle an den Fakten.

            Ich erinnere Sie daran, dass Sie von allen>/b> OECD Staaten (35) behauptet haben, besser aus der Krise gekommen zu sein als Italien. Deutschland war sehr schnell mit über 5% im Defizit, weil der Außenhandel, mit seinen exorbitanten Exportüberschüssen, und so das Geschäftsmodel des Beggar-thy-Neighbor ins Stocken geriet, sodass die GroKo sich entschloss, keynesianisch zu handeln, um da einigermaßen schnell herauszukommen. Niederlande und Irland kann man gar nicht vergleichen. Ersteres liegt wirtschaftlich am Boden und Irland erweckt ein falsches Bild, weil durch sein Steuerdumping die größten Konzerne dort ansässig sind. Im Übrigen wurde Irland von Deutschland, der Kommission und vor allem der EZB regerecht erpresst (Trichet-Brief). Profiteure waren die Gläubiger der irischen Banken – hauptsächlich französische und deutsche Geldinstitute. Dieser Briefwechsel blieb lange geheim. Das Verhältnis von BIP zu den Kosten ergibt insoweit überhaupt keinen Sinn und erholt hat sich wenig. Wir stehen zehn Jahre nach Beginn der Finanzkrise immer noch vor einem europäischen Scherbenhaufen. Das sind Fakten, keine Theoriemodelle, die zu überprüfen wären. Sie müssen sich schon fragen lassen, warum Sie in Diskussionen Tatsachen verdrehen oder schlicht leugnen.

            • R.A. 31. Oktober 2018, 15:45

              „Der Fiskalpakt greift über die Kommission, aber auch über die EZB in die Autonomie der Unterzeichnerländer ein.“
              Bei ALLEN Verträgen ist die Autonomie der Vertragspartner hinterher eingeschränkt. Das ist Sinn der Sache und wird bei Vertragsabschluß von allen Seiten so freiwillig gewollt.

              „dass bei der Weigerung „Reformen“ durchzuführen“
              Bei der Weigerung, die vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten!
              Und diese Verpflichtung besteht in erster Linie darin, die Ausgaben nicht über das vereinbarte Maß auszuweiten.
              WIE die Vertragspartner machen ist erst einmal ihre Sache. Wenn sie keine Lust auf Reformen haben, können sie anderweitig agieren – nur unterm Strich muß die Summe korrekt sein.

              „Was heißt, es wird mit gezielt lancierten Äußerungen Abstufungen durch Ratingagenturen stimuliert“
              Die Abstufungen beruhen NICHT auf den vertragsgemäßen Äußerungen der Kommission, sondern sind Reaktion auf die Unzuverlässigkeit der Schuldenländer.

              „Und der Effekt des Ganzen ist, dass am Ende alles ruiniert ist.“
              Wird passieren, wenn die Schuldenländer weiter Verträge brechen und über ihre Verhältnisse leben.

              „Die Amerikaner haben den von der UNO ratifizierten völkerrechtlichen Atomvertrag mit dem Iran gebrochen.“
              Nein. Sie haben ihn nie abgeschlossen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat die internen US-Vorschriften für eine Vertragsratifizierung nicht zu beurteilen.

              „Monti war ein Wasserträger der Kommission“
              Er war demokratisch gewählt und legitimiert, seine Maßnahmen folgten den notwendigen demokratischen und juristischen Regeln.

              „Ein Land kann in seiner eigenen Währung nicht insolvent gehen.“
              Selbstverständlich. Siehe Venezuela.

              „Warum bekommen Staaten einen blauen Brief, wenn sie die Defizitregel von 4% nicht einhalten?“
              Weil die Regel und der blaue Brief vertraglich vereinbart wurden.

              „Handelsbilanzen sollten von temporären Schwankungen abgesehen in der Regel ausgeglichen sein.“
              Überhaupt nicht. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür und in der Realität ist das selten und eher zufällig der Fall.

              „Ich hatte weiter oben schon erklärt, dass die „Europäische Verfassung“ nicht ratifiziert wurde“
              Die ist ja auch nicht Grundlage des Kommissionshandelns. Sondern das folgt Verträgen, die sehr wohl von allen Partnern ratifiziert wurden.

              „Die Arbeitsgruppen der Kommission operieren ausnahmslos im Verborgenen. Mit demokratischen Usancen hat das wenig zu tun.“
              Das ist im Gegenteil in ALLEN demokratischen Staaten so. Der größte Teil des internen Verwaltungshandelns ist nicht-öffentlich und auch dem Parlament nicht zugänglich. Ist auch völlig ok so, weil das Parlament andere Aufgaben hat.

              „Profiteure waren die Gläubiger der irischen Banken“
              Die Gläubiger haben schlicht die von den Iren vertraglich zugesicherten Gelder bekommen. Das ist völlig fair und legitim.

              • popper 31. Oktober 2018, 18:26

                Ich lasse ihre Einlassungen mal als abschreckens Beispiel völliger Inkompetenz unkommentiert so stehen. Sie sollten sich informieren, bevor sie einen derart geschwollenen „Käse“ präsentieren. Es ist doch völlig abwegig, logische Zusammenhänge in Abrede zu stellen, nur weil man glaubt mit Worten und lauen Lüftchen, aber wenig Inhalt partout widersprechen zu müssen.

  • Blechmann 26. Oktober 2018, 02:37

    3) „Das Dilemma der Populisten ist real, aber sie werden sich zwingend dafür entscheiden, diese Leute zu tolerieren und zu integrieren, weil sonst ihr ganzer scheiß Laden auseinander fällt.“

    Das bezweifle ich. Immerhin hat die AfD Lucke und Petry rausgeschmissen ohne auseinander zu fallen. Die hatten auch Anhänger und Gleichgesinnte. Da könnten sie vermutlich auch Höcke entsorgen oder einen Stefan Räpple.

    • Stefan Sasse 26. Oktober 2018, 05:33

      Die haben sie aber nicht wegen dieser Gründe rausgeschmissen.

  • R.A. 26. Oktober 2018, 13:16

    „Immerhin hat die AfD Lucke und Petry rausgeschmissen“
    Hat sie nicht.
    Die beiden sind selber ausgetreten – Lucke in der völlig absurden Erwartung, daß die Mehrheit der AfD-Mitglieder ihm folgen würde.

    • Stefan Sasse 26. Oktober 2018, 14:31

      Lucke zeigt halt einmal mehr, warum Amateure in der großen Politik nichts verloren haben.

  • Wolf-Dieter Busch 31. Oktober 2018, 10:45

    Zu (10) „Gender Studies und die Polemik um die ‚Polarisierung der Geschlechtscharaktere‘“

    Du schreibst, „Da schweigen Leute, weil sie die Gender Studies nicht mögen. Aber genau die Leute, die heute unter dem Feixen der Konservativen abgeschafft werden, fehlen dann als Demonstranten, wenn es anderen Fachrichtungen, die den Machthabern nicht genehm sind, an den Kragen geht. Wer Prinzipien hat, muss für die auch dann eintreten, wenn sie seine Gegner betreffen“ – Betrifft mich auch, weil ich die Gender Studies als unwissenschaftlich erachte.

    Also ehe ich also anfange zu feixen, bitte ich dich, mir zu verraten, welches weitere Fach von den Konservativen abgeschafft werden sollte. (Ich will das mit dem Feixen nicht überstürzen.)

    • Stefan Sasse 31. Oktober 2018, 15:28

      Die Konservativen schaffen gar nichts ab, die stehen nur feixend dabei.

      • Wolf-Dieter Busch 31. Oktober 2018, 18:25

        Ok, also nicht die Konservativen. Trotzdem, welche weiteren Fächer sollten wohl abgeschafft werden (also realistisch in Gefahr)?

      • Wolf-Dieter Busch 1. November 2018, 13:28

        Jetzt mal Spaß beiseite. Die Gender Studies haben ihren Ausgangspunkt nicht in der akademischen, sondern in der politischen Welt.

        „Das Problem ist weiterhin, (…) dass Genderstudies erst dann zur Wissenschaft werden könnten, wenn Sie sich auf das System der Wissenschaft, deren Regelwerke, Methoden und Kommunikationsformen einlassen. Also das Gegenteil der Selbstghettoisierung von Frauen unter den Dächern der Universitäten.“ (Gerhard Amendt).

        In der akademischen Welt erleben Gender Studies eine gewisse splendid isolation – kein seriöser Wissenschaftler hat mit denen beruflichen Kontakt. Keiner.

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