Tuğçe A. aus Gelnhausen

Am 15. November gegen 4 Uhr morgens suchte die junge Lehramtsstudentin Tuğçe A. die McDonald’s-Filiale in Offenbach am Kaiserlei-Kreisel auf. Sie bekam mit, wie zwei junge Mädchen im Alter von 13-16 Jahren von dem 18jährigen Sanel M. und weiteren jungen Männern belästigt und bedrängt wurden. Die junge Frau mit türkischen Wurzeln mischte sich ein, stellte sich schützend vor die Mädchen. Die Halbstarken ließen für einen Moment von den Teenagern ab, doch nur, um vor dem Schnellimbiss-Restaurant ihre Aggression an Tuğçe auszulassen. Der gebürtige Serbe schlug dabei so heftig zu, dass die 22jährige schwer stürzte.

Tuğçe erlitt schwerste Gehirnblutungen und fiel ins Koma, aus dem sie nicht mehr erwachte. Heute, am 28. November 2014, wurden die lebenserhaltenden Geräte abgestellt. Es ist ihr 23. Geburtstag.

So oder ähnlich wird die Geschichte von Tuğçe A. seit Tagen in den Medien, vom Gelnhäusener Tageblatt bis zu Spiegel Online, erzählt. Ich fühle mich persönlich getroffen. Tuğçe A. stammte aus meiner unmittelbaren Umgebung, trotzdem kannte ich sie nicht. Der Tatort ist mir wohlbekannt und der genaue Heimweg, den die Studentin nach Hause genommen hätte, wohlvertraut. Ihr Schicksal berührt mich zutiefst ohne dass ich es genau präzisieren könnte.

Ich scheine nicht allein. Seit der schrecklichen Tat finden in Offenbach Mahnwachen statt, im Internet existiert eine Petition, die für Tuğçe post mortem das Bundesverdienstkreuz fordert und die schon von 65.000 Menschen gezeichnet wurde. Ob die so jung Verstorbene sich darüber gefreut hätte? Sie galt als engagierter Mensch, sie wollte die Welt verbessern und Brücken schlagen zwischen den Kulturen. Deswegen studierte sie auf Lehramt. Sie kritisierte den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan auf Facebook heftig, verballhornte seinen Namen.

Die Tat ist voller Symbolik. Tuğçe A. steht für die erfolgreiche Integrationspolitik Deutschlands, eine Frau, der es bereits in der zweiten Generation gelang, den höchsten Bildungsweg einzuschlagen mit besten Berufschancen. Ihr Vater stammt aus Anatolien, ihre Mutter aus Istanbul, sie selbst lernte perfekt die deutsche Sprache. Und dort der junge, arbeitslose Serbe, der schon mit 18 Jahren aller Chancen beraubt ist, je in diesem Land anzukommen. Bereits vor der Tat galt er als auffällig, stand mehrmals wegen schwerer Straftaten vor dem Jugendrichter. Jetzt, kurz nach seinem 18. Geburtstag, hat sein Leben die wahrscheinlich tragischste Wendung genommen. Er ist das deutliche Symbol verfehlter Integrationspolitik.

Wie passt das zusammen? Tuğçe A.s Eltern besitzen Aufstiegswillen und sorgten sich um ihre Tochter. Sie hatte Chancen, weil sie Teil sein wollte und positiv engagiert war. Ihr war die deutsche Gesellschaft gegenüber aufgeschlossen, weil sie selbst aufgeschlossen war. Kein Kopftuch symbolisierte Distanz. Frauen sagt man zudem eine größere Anpassungsfähigkeit nach.

Sanel M. ist anders. Von den Eltern vernachlässigt, fand er keinen Halt in der Gesellschaft, die es nicht vermochte, ihm Stoppschilder zu setzen. Er gilt zwar längst als schwer gewalttätig, jedoch nicht genug, um von den Behörden aufmerksam beobachtet zu werden. Ohne Ausbildung ist er schon als Teenager arbeitslos, ohne Chance, sich hier eine gute Existenz aufzubauen. Und ohne Respekt vor den Werten dieses Landes.

Die Polizei sucht noch nach den jungen Mädchen, die von Tuğçe geschützt wurden. Sie haben sich zwei Wochen lang nicht gemeldet, obwohl sie sachdienliche Aussagen zum Tathergang machen könnten, der von Überwachungskameras aufgezeichnet wurde. Feige, weil sie getan haben, was sie nicht hätten tun dürfen: betrunken, tief in der Nacht auf der Straße als Minderjährige. Nicht ein Minimum an Mut bringen sie für ihre Retterin auf. Das ist leider normal in einem Land, welches das Wort „Zivilcourage“ nicht mehr kennt.

Tuğçe A. ist gestorben. Das macht mich betroffen.

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  • Ralf 28. November 2014, 22:08

    Auch mich macht dieser Fall betroffen und ich stimme Ihnen zu, dass Tuğçe A. und Sanel M. fuer die beiden Extreme dessen stehen, was am Ende von Integrationspolitik herauskommen kann; im einen Fall das komplette Gelingen, im anderen Fall das vollstaendige Versagen.

    Aber Sie machen es sich zu leicht. Die Integration von Tuğçe A. zeigt sich nicht daran, dass sie kein Kopftuch traegt, sondern an den Werten und Handlungen, an denen sie ihr Leben orientiert hat, an ihren Einstellungen und Meinungen. Das selbe gilt fuer Sanel M. in umgekehrter Form.

    Ihr Text legt nahe, die Gesellschaft haette Sanel M. nur fruehzeitig „Stoppschilder“ setzen muessen. Ich hingegen meine, dass Sanel M. an dem Punkt, an dem die Gesellschaft Ihrer Meinung nach haette einschreiten sollen (was auch immer Sie damit konkret meinen), bereits verloren war.

    Ich kenne die Geschichte seines Lebensverlaufs zwar nicht, aber es wuerde mich nicht wundern, wenn er aus einer wirtschaftlich benachteiligten Familie kam, in der Gewalt bereits an der Tagesordnung war. Kinder werden von so etwas gepraegt. Sie selber schreiben, er wurde von seinen Eltern vernachlaessigt. Weshalb hat er in der Schule versagt? Das Elternhaus ist sicherlich ein Ansatzpunkt. Aber moeglicherweise sprach er auch nicht ausreichend Deutsch. Fuer solche Kinder gibt es in hier kaum echte Foerderung. Sie sind bereits abhaengt, bevor sie in die erste Klasse kommen. Als Armutskind konnte er wohl auch mit anderen Kindern materiell nicht mithalten. Als Schulversager und bettelarm, blieb als einzige Option fuer etwas Selbstbewusstsein wohl seine Staerke. Also Gewalt. Das wird er wohl frueh gelernt haben. Und Sanel M. wird wohl auch in einem Umfeld grossgeworden sein, das sozialer Brennpunkt war. Also ohnehin schon viel Gewalt auf den Strassen. Und Drogen. Viel Kriminalitaet. Bereits in der Grundschule wird er moeglicherweise fast nur unter Auslaendern gewesen sein. Sprachprobleme machten vernuenftigen Unterricht dann eventuell schon da so gut wie unmoeglich. Lehrer, die von den sozialen Problemfaellen ueberfordert sind, werden wohl auch nicht gerade eine Inspiration gewesen sein. Sanel M. wurde dann wohl frueh aussortiert, landete auf der Haupt- oder Sonderschule, wo praktisch nur noch Katastrophenfaelle wie er akkumuliert werden. Schule wird dann mehr zur Beschaeftigungstherapie als zur Ausbildungsstaette. Und so entstehen die Biographien der Gewalttaeter, der Drogenabhaengigen, der Sozialfaelle. Eine direkte Folge der Milieus, in denen sie aufgewachsen sind. Nicht nur das Elternhaus, sondern alles andere drumherum ebenfalls.

    Wer den naechsten Sanel M. verhindern will, muss diese Milieus deshalb abbauen. Muss Menschen integrieren, Kinder foerdern, Armut verhindern, Perspektiven aufzeigen. „Stoppschilder“ und Zwang und Sanktionen und Haftstrafen bewirken langfristig garnichts und entfremden die Betroffenen unserer Gesellschaft nur noch weiter.

    • In Dubio 29. November 2014, 10:58

      Integration beginnt damit, dass ich mich nicht unterscheidbar zu anderen mache, nicht Barrieren errichte. Das gilt universell. Auch wer eine neue Stelle antritt, soll als erstes die ungeschriebenen Regeln lernen. Erst wer in eine Gemeinschaft integriert ist, kann sich dann unterscheidbar machen, seine Besonderheiten zeigen.

      Gerade dieser so berührende Fall zeigt doch das, was Sie nicht sehen wollen, obwohl Sie dauernd darüber schreiben. Es sind die Eltern, welche die entscheidende Rolle spielen, wie sich ihre Kinder entwickeln. Die einzige Schlussfolgerung, die Sie jedoch daraus ziehen, bedeutet, mehr Angebote machen, mehr (finanzielle) Unterstützung.

      Kein Integrationsland geht so vor. In Australien, in Kanada und in den USA gehen Sie unter, wenn Sie nicht schnellstens lernen, mit den Gegebenheiten zurecht zu kommen und mit dem Strom zu schwimmen. Sie verhungern im wahrsten Sinne des Wortes. Niemand wartet auf Sie, Sie müssen sich selber einbringen. Wir diskutieren dagegen lieber über „Willkommenskulturen“ und was dazugehören müsse.

      Gelnhausen ist eine im besten Sinne kleinbürgerliche deutsche Stadt (30.000 Einwohner mit Umland) mit gehobenen Einkommen und gepflegten Reihenhäusern wie altem Fachwerk. Das Stadtbild wird dominiert von der imposanten Marienkirche. Es gibt sehr wohlhabende Viertel mit Selbständigen, die zu Wohlstand gekommen sind, wie auch ärmere Bereiche. Viele Menschen aus Gelnhausen und Umgebung fahren zum Arbeiten in das nahegelegene Hanau, nach Offenbach und Frankfurt. In der alten Kaiserstadt von Barbarossa leben auch viele Migranten mit türkischem Hintergrund, sie bilden inzwischen die Mehrheit in den Kindergärten und einen wesentlichen Teil in den Schulen. Wie in anderen deutschen Städten auch schafft es nur ein geringer Teil auf das renommierte Grimmelshausen-Gymnasium.

      Nur, Separation ist hier viel schwerer als in der alten Arbeiterstadt Hanau, wo alte deutsche Industrieunternehmen wie Degussa, Heraeus und Dunlop residieren. Folglich ist das Pro-Kopf-Einkommen dort unterdurchschnittlich und die Gewalt höher. Eine Wohnung in Offenbach und erst recht in Frankfurt ist teurer als in Gelnhausen. In erster Linie entscheiden Eltern, in welchem Umfeld ihre Kinder aufwachsen – in „Problembezirken“ oder im Kleinbürgerlichen, was einem an Eigeninitiative einiges abfordert.

      Die Eltern von Tuğçe hatten anscheinend beste Voraussetzungen geschaffen, dass ihr Kind in der Gesellschaft ankommen kann. Dennoch wollte sie, so habe ich erfahren, anscheinend einen ebenfalls türkisch stämmigen Mann ehelichen. Vollkommen frei konnte auch sie sich nicht von ihrem Kulturkreis machen.

      Was hätten Sie konkret im Falle von Sanel gemacht? Er fällt sehr früh mit Delikten auf: Diebstahl, später schwere Körperverletzung. Da ist er nicht mal 18. Seine Eltern wissen darum, sie tun jedoch nichts. Sie kommen aus einer gewalttätigen Kultur. Schlagen ist ein Mittel, um sich durchzusetzen. Meine Frau hat auch in Gelnhausen viele Kinder von türkischen Zuwanderern erzogen. Der Großteil will traditionell leben, vergöttert die Jungen als Prinzen und behandelt die Mädchen als potentielle Bräute. Typisch ein Dialog mit einer „aufgeklärten“ Mutter: „Zwangsheiraten?! Ach, das gab es früher vielleicht mal. Heute ist das anders. (..) Jetzt im Sommer fliegen wir mit unserem Sohn in die Türkei, er soll da ein Mädchen kennenlernen.“ Kein Witz, keine Übertreibung.

      Ich kann die Einstellung von erwachsenen Menschen kaum durch Überreden, Überzeugen beeinflussen. Lassen Sie sich von mir beeinflussen? Wir sind geprägt durch Erziehung, genetische Veranlagung, Umfeld, Lebenserfahrung und – nicht zu vernachlässigen – kulturelle Bindungen. Selbst als hochgebildete, international erfahrene Geschäftsleute tun wir Dinge anders, als sie Amerikaner oder Franzosen tun würden.

      An dieser Stelle gehe ich darauf ein, was Sie zu einem anderen Beitrag geschrieben haben: wenn ein Kind eingeschult wird (oder werden soll), ist es längst in den Brunnen gefallen, die Entscheidungen getroffen. Seine Intelligenz hat sich in den ersten 3 Jahren wesentlich herausgebildet, durch Veranlagung und durch Anreize im Umfeld. Es beherrscht Sprachen akzentfrei und versteht seine Umwelt. Ist das nicht gegeben, so hat es den Anschluss längst verpasst. In den ersten Grundschuljahren erfährt ein vernachlässigtes Kind Sprachförderung, damit es dem Unterricht folgen kann. Währenddessen machen die Mitschüler rasante Fortschritte, wie das so ist bei Kindern. Nur bei herausragendem Talent wird es den in den ersten 6 Jahren entstandenen Rückstand aufholen können.

      Meine Frau hat heute mit 0-3jährigen Kindern, dem Nachwuchs der EZB-Angestellten, zu tun. Der Großteil ist schon mit 1-2 Jahren hochbegabt, spricht häufig mehrere Sprachen und kann diese unterscheiden. Im Alter von 4-6 sind sie ihren Altersgenossen bereits um Jahre voraus. Da ist Ihre Sicht völlig naiv zu glauben, mit ein bisschen Tütteln der Eltern, mit gutem Zureden und Rücksicht des Umfeldes ließe sich da noch eine Basis schaffen, dass vernachlässigte Kinder im Alter von 6 Jahren mit solchen Talenten lernen könnten. Das ist absurd.

      Mit 3 Jahren dagegen habe ich aus erzieherischer Sicht noch Möglichkeiten einzugreifen. Ein Kind, das bis dahin nicht gelernt hat, regelmäßig die Zähne zu putzen, die Schuhe zu binden und motorische Schwächen hat, kann ich an die Hand nehmen. Und sicherlich nicht dadurch, dass ich den Eltern erkläre, wie wichtig das für ihre Kinder ist.

      Warum sollte es verfassungsrechtlich bedenklich sein? Wir erlauben heute, dass Eltern ihre gerade geborenen Babys ganztäglich in Krippen geben. Die universelle Untersuchung von 6jährigen auf ihre Schultauglichkeit ist obligatorisch. Und der Staat erhebt einen verfassungsrechtlich uneingeschränkt gültigen Bildungsauftrag aller Kinder und Jugendlichen. Was bitte sollte dagegen stehen bereits 3jährige auf ihre Entwicklung hin zu prüfen und dann aus stattlicher Sicht zu verfügen, dass vernachlässigte Kinder im Alter von 4-6 Jahren eben zwingend ganztägliche Einrichtungen besuchen müssen? Christliche Fundamentalisten dürfen ja auch nicht ihre 6jährigen selbst unterrichten.

      • Ralf 30. November 2014, 00:25

        @ In Dubio

        Integration beginnt damit, dass ich mich nicht unterscheidbar zu anderen mache, nicht Barrieren errichte.

        Im Grunde steckt in dem Statement ein wahrer Kern. Allerdings setzen Sie voellig falsche Prioritaeten. Ein Kopftuch allein baut keine Barriere auf. Genauso wenig wie eine Kippah. Beide sind nicht Zeichen von Desintegration. Wer zu uns nach Deutschland kommt, muss nicht seinen Glauben ablegen oder seine kulturelle Identitaet verleugnen. 

        Er soll zu unserer Verfassung stehen. Zu unserer offenen, freiheitlichen Gesellschaft. Und zu Demokratie und Rechtstaat. Verfassungspatriotismus nennt man das wohl heute.

        Die deutsche Gesellschaft ist ohnehin nicht homogen. Sie erstreckt sich von den Kindern der Smartphone-Generation hin zu den Alten, die den Krieg erlebt haben. Sie erstreckt sich von Punks und Rockern hin zum CDU-Kreisvorsitzenden, der am Wochenende seinen Rasen maeht. Sie erstreckt sich von der Putzfrau und dem Fliessbandarbeiter hin zum DAX-Vorstand. Bei soviel Vielfalt ueberleben wir als Gesellschaft auch das Kopftuch. Mir ist viel wichtiger was im Kopf drin ist, als wie er bedeckt ist.

        Ein kleines bisschen muss ich Ihnen dennoch rechtgeben. Es gibt sicher auch Menschen, die das Kopftuch nicht aus einem individuellen religioesen Beduerfnis heraus tragen, sondern die es explizit als Symbol der Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft verstehen. Das ist durchaus problematisch. Aber auch hier ist das Kopftuch lediglich sekundaer. Das eigentliche Problem ist das „sich abgrenzen wollen“. Und das wuerden Sie selbst dann nicht loesen, wenn Sie Kolftuecher erfolgreich verbieten koennten. 

        Gerade dieser so berührende Fall zeigt doch das, was Sie nicht sehen wollen, obwohl Sie dauernd darüber schreiben. Es sind die Eltern, welche die entscheidende Rolle spielen, wie sich ihre Kinder entwickeln. Die einzige Schlussfolgerung, die Sie jedoch daraus ziehen, bedeutet, mehr Angebote machen, mehr (finanzielle) Unterstützung.

        Nein, ich beschraenke mich nicht auf die alleinige Forderung nach mehr finanzieller Unterstuetzung. Ein laengeres gemeinsames Lernen aller Kinder z.B. anstatt bereits nach der 4. Klasse zu selektionieren wer auf’s Gymnasium und wer auf die Hauptschule geht, wuerde etwa langfristig nicht viel mehr kosten als was wir heute schon ausgeben. Aber gerade fuer die leistungsschwachen Kinder waere der nachhaltige Kontakt mit den leistungsstaerkeren Kindern enorm wichtig. Aus meiner eigenen Grundschulzeit kenne ich das Beispiel eines Kindes, das immer Klassenletzter gewesen war. Dann habe ich mich mit dem Kind angefreundet und in der Zeit unserer Freundschaft haben wir unsere Hausaufgaben immer gemeinsam nach der Schule vor dem Spielen gemacht. Moeglicherweise hat das Kind zum ersten Mal ueberhaupt wirklich Hausaufgaben gemacht. Oft habe ich die Aufgaben erklaert und meinem Freund geholfen zu verstehen. Unsere Lehrerin war total begeistert. Die Leistungen des vormaligen Klassenversagers wurden immer besser. Bis die Freundschaft sich irgendwann im Sande verlief. Die Leistungen des Kindes stuertzten anschliessend wieder ab. Es endete zum Schluss auf der Sonderschule. Haette man das nicht verhindern koennen, indem man das Potential in diesem Kind besser aktiviert haette? 

        Ueberhaupt muessen wir unser Schulsystem ueberdenken. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir praktisch jedes Kind aus den mittleren oder oberen Schichten, bei dem das auch nur halbwegs moeglich war, auf’s Gymnasium geschickt. In einem wohlhabenden Stadtteil von Koeln, in dem ich Freunde habe, wurden in meinem Jahrgang z.B. ALLE bis auf einen einzigen Grundschueler zum Gymnasium zugelassen. Egal wie gut, schlecht oder durchschnittlich die Schueler waren. Im relativ armen Stadtteil hingegen, in dem ich aufwuchs, schaffte es gerade mal ein Zehntel auf’s Gymnasium. Selbst Schueler mit absolut ordentlichen Leistungen und Potential wurden nicht fuer die hoechste Schulform beruecksichtigt. Die Folge ist, dass in Hauptschulen, und in Grossstaedten auch in Realschulen, praktisch kaum mehr Kinder aus der Mittelschicht zu finden sind. Aus der Oberschicht sowieso nicht. Stattdessen stapeln sich in diesen „Schulen“, und die Anfuehrungsstriche sind hier absichtlich gesetzt, nur noch soziale Problemfaelle, schulische Totalversager und Kinder, denen die sprachlichen Grundlagen fehlen dem Unterricht zu folgen. Hier entstehen die Brutstaetten, in denen Verlierer wie Sanel M. vom Rest der Gesellschaft abgekoppelt sind und in einem Milieu von Gewalt und Kriminalitaet aufwachsen. Wer glaubt diese Institutionen koennten noch realistischerweise ihrem Zweck als Bildungseinrichtungen nachkommen, glaubt auch an den Weihnachtsmann.

        Ein anderer kostenneutraler Vorschlag: Teilweise koennte man gegenwaertige „Foerderung“, die unsinnig ist, in Foerderung investieren, die sinnvoller ist. An meiner Grundschule z.B. gab es eine signifikante Minderheit an italienischen Kindern. Anstatt diese Kinder auf die vier Parallelklassen aufzuteilen, wurden alle in eine einzige Klasse gesteckt. Den Integrationseffekt dessen kann man sich wohl ausmalen. Aber damit nicht genug. Alle italienischen Kinder bekamen kostenlosen und verpflichtenden Foerderunterricht. Klingt auf den ersten Blick sehr sinnvoll. Leider lernten die Kinder im Foerderunterricht nicht die deutsche sondern die italienische Sprache. Nach vier Jahren sprachen die wohl alle fliessend Italienisch. Nuetzte ihnen aber nichts. Denn sie lebten halt nicht in Italien sondern in Deutschland. Und ihre Deutschkenntnisse waren in den meisten Faellen nicht ausreichend. Fast alle endeten auf der Hauptschule. Waere das Geld des Steuerzahlers hier nicht besser in Deutschunterricht anstatt in Italienischunterricht investiert worden?

        Neben den Schulen sind aber die Armutsmilieus, die sich zunehmend ausbilden, das groesste Problem. Und hier kommen wir nicht so billig davon. Diese Milieus sind die Brutstaetten fuer fast alle sozialen Probleme, von Kriminalitaet ueber Drogen ueber Schulversagen ueber fehlende Identifikation mit dem Gemeinwesen. Ich kann das Problem anhand meiner eigenen Erfahrung beschreiben. Ich bin in einer Sozialwohnung in einem Haus mit 10 Apartments grossgeworden, in einem eher aermeren Stadtteil von Koeln mit vielen Familien aus der Arbeiter- und unteren Mittelschicht. Obwohl viele der Bewohner in unserem Haus und in unserem Viertel nicht besonders beguetert waren, waren die Menschen dennoch anstaendig, buergerlich und in ihrer uebergrossen Mehrheit gemeinwohlorientiert. Hausgemeinschaften waren stabil. Nur selten zog jemand aus oder ein. Man war aneinander gewoehnt und kannte sich. In den ersten 10 Jahren meines Lebens gab es ueberhaupt keine Wechsel in der Wohnungsbelegung. Meine Eltern und ich hatten Freunde unter den Nachbarn, besuchten uns hin und wieder, verbrachten sogar einen Urlaub gemeinsam. Im Nachbarhaus, wo eine Bekannte wohnte (ebenfalls ein 10 Parteien-Wohnhaus), fanden sogar monatlich Treffen aller Mieter bei Kaffee und Kuchen statt. Es gab eine feste Gemeinschaft und man war fuer einander da. Ende der 80er aenderte sich das alles rapide. Im Zuge von Rationalisierungen spaltete sich die Gesellschaft zunehmend. Den einen ging es immer besser. Diese Gewinner zogen nach und nach weg, viele bauten ein Haus. Die Verlierer hingegen resignierten, sonderten sich zunehmend ab und einige verwahrlosten. Die leerstehenden Wohnungen wurden von Familien besetzt, die kaum noch soziale Kompetenz zeigten. Anfangs war das Problem noch zu managen. Sie wurden von einer immer noch relativ starken Wohnhausgemeinschaft absorbiert. Viele aenderten bald ihr Verhalten zum Positiven hin. Leute die nie gegruesst hatten und die einem die Tuer vor der Nase zumachten, wurden langsam freundlicher, sagten „Guten Tag“ und hielten die Tuere auf, wenn man Einkaufstueten in der Hand hatte. Aber irgendwann kippte das Verhaeltnis. Mitte der Neunziger gab es bereits praktisch keinen Kontakt mehr unter den Bewohnern im Haus. Jeder war nur noch fuer sich. Allein. Anonym. Im Nachbarhaus wurden die monatlichen Treffen auch ausgesetzt. Die neue Klientel war einfach nicht zu ertragen. Im Viertel insgesamt wurde Drogensucht zu einem immer groesseren Problem. Mein bester Freund aus der Grundschule starb etwa zu dieser Zeit an Heroin. Zahllose weitere Kinder, mit denen ich noch ein paar Jahre zuvor in den Strassen gespielt hatte, hingen an der Nadel. Das Viertel insgesamt wurde anonymer. Man kannte die Menschen in den Nachbarhaeusern und -Strassen nicht mehr. Oft kannte man die Bewohner des eigenen Hauses kaum noch. Wer damals glaubte, es konnte nicht mehr schlimmer kommen, wurde aber ueberrascht. Mit der Einfuehrung der Hartz IV-Reformen, also Mitte der 2000er Jahre wurde aus einer schlimmen Entwicklung eine katastrophale Entwicklung. Die neuen Sozialfaelle, die ins Viertel zogen, hatten eine voellig neue Qualitaet. Menschen, die man in jeder Hinsicht nur noch asozial nennen kann. Gegenwaertig wohnt in dem 10-Parteienhaus, in dem ich gross geworden bin mindestens eine Familie, die regelmaessig in den Hausflur pisst und wohl auch schon groessere Geschaefte dort verrichtet hat. Und im Parterre wohnt ein Drogenabhaengiger, der nachdem er seinen Hausschluessel verloren hat, seit ueber einem Jahr seine Wohnung ueber ein offenes Fenster betritt und verlaesst. Und das ist kein Einzelfall. Es ist die Geschichte der voelligen Zerstoerung einer Gemeinschaft – Hausgemeinschaft wie Gemeinschaft im Viertel. Verursacht durch Armut, durch Arbeitslosigkeit, durch fehlende Perspektiven, durch Resignation und durch die psychischen und sozialen Probleme, die die natuerliche und unweigerliche Folge all dessen sind. Die Menschen, die so geworden sind, sind nicht im Laufe weniger Jahre genetisch degeneriert, sondern ihr Umfeld hat sie so werden lassen. Vorhersagbar so werden lassen. Wenn Sie entsprechende Bedingungen schaffen, dann waechst eben eine grosse Zahl Sozialversager heran. Darunter werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Biographien wie die des Sanel M. sein. Sanel M. ist auch nicht erste Fall, in dem ein durchgedrehter Teenager oder ein junger Erwachsener einen Unschuldigen tottritt. Und es wird nicht der letzte Fall sein. 

        Wenn wir diese Tragoedien verhindern wollen, dann muessen wir die Armutsmilieus, die die Brutstaetten der Sanel M.s sind, aufloesen. Und das bedeutet, wir muessen Menschen eine vernuenftige Perspektive geben. In den 80ern gab es fuer Menschen mit relativ geringer Bildung immer noch ordentliche Jobs, in denen sie sich beweisen konnten, einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft leisteten und in denen sie auch ausreichend verdienten, um Teil der Mittelklasse zu werden: Brieftraeger, Bahnschaffner, Schalterbeamter, Muellmann etc.. Wir haben uns als Gesellschaft entschieden, diesen Menschen in Zukunft keine Chance mehr zu geben. Das Credo der vergangenen Dekaden war einzig „Kosten sparen, Kosten sparen, Kosten sparen“. Das Auseinanderfallen der Gesellschaft haben wir dafuer in Kauf genommen. „Nach mir die Sintflut“ haben die gerufen, die noch mithalten konnten, und sind aus den Problembezirken weggezogen. So wie Haupt- und Realschulen durch die fast ausschliessliche Akkumulation von sozialen Problemfaellen ueberlastet wurden, so geschah es auch mit Hausgemeinschaften und ganzen Vierteln. Anstatt dass die Schwachen durch die Starken aufgerichtet werden, haben sich die Starken einen schlanken Fuss gemacht und die wenigen verbliebenen sind im Meer einer immer asozialeren Gesellschaft untergegangen. 

        Aber ich hoere schon die Einwaende der Neoliberalen. Oeffentliche Arbeit zu schaffen, gerade auch noch zu anstaendigen Loehnen, ist unbezahlbar. Das kann man dem Steuerzahler nicht zumuten. Nun, ich halte dem entgegen, wir koennen der Gesellschaft die Degeneration ganzer Stadtviertel, unserer Schulen und nicht zuletzt Faelle wie den des Sanel M. noch viel weniger zumuten!

        Kein Integrationsland geht so vor. In Australien, in Kanada und in den USA gehen Sie unter

        Die USA und Kanada sind mit Deutschland in dieser Hinsicht ueberhaupt nicht vergleichbar. Wir haben es komplett verpasst, eine vernuenftige, an unseren Interessen ausgerichtete Einwanderungspolitik zu betreiben. Fuer viele Jahrzehnte war das deutsche Dogma: „Wir sind kein Einwanderungsland“. Wir haben die Probleme ignoriert, keinerlei Intergrationspolitik betrieben und wundern uns nun, dass uns die Probleme auf den Kopf fallen. Waehrenddessen haben die USA gezielt die Erfolgreichen, Leistungswilligen und Hochqualifizierten angeworben und oft an ihren eigenen Hochschulen ausgebildet.

        Was hätten Sie konkret im Falle von Sanel gemacht? Er fällt sehr früh mit Delikten auf: Diebstahl, später schwere Körperverletzung. Da ist er nicht mal 18. Seine Eltern wissen darum, sie tun jedoch nichts. Sie kommen aus einer gewalttätigen Kultur. Schlagen ist ein Mittel, um sich durchzusetzen. Meine Frau hat auch in Gelnhausen viele Kinder von türkischen Zuwanderern erzogen. Der Großteil will traditionell leben, vergöttert die Jungen als Prinzen und behandelt die Mädchen als potentielle Bräute.

        Ich habe leider keine einfache Antwort fuer Sie. Zu dem Zeitpunkt als Sanel M. auffaellig wurde, war wahrscheinlich bereits so viel schief gelaufen, dass kaum noch Potential fuer eine Reparatur vorhanden war.

        Vielleicht haette er, und auch die Kinder der tuerkischen Zuwanderer, die Sie erwaehnen, eine bessere Entwicklung genommen, wenn er in einem Stadtviertel mit einer starken Mittelschicht grossgeworden waere. Wenn er im Kindergarten mit deutschen Gleichaltrigen gespielt haette und deren Familien kennengelernt haette, normale deutsche Familien. Dann waeren auch seine sprachlichen Faehigkeiten moeglicherweise besser entwickelt. In einer Klasse, die nicht nur aus Sozialversagern besteht, haette er dann eventuell auch mehr verstanden. Mit besseren Schulleistungen haette er eine berufliche Perspektive und damit etwas zu verlieren gehabt. In einem positiveren Umfeld haette er sich moeglicherweise auch bessere Vorbilder gesucht.

        Auch Ihre Idee mit den Ganztagsschulen ist nicht voellig verkehrt. Ich habe da moeglicherweise zu hart argumentiert. Aber es macht eben keinen Sinn „nur die verwahrlosten Kinder“ zu selektionieren und in eine Ganztagseinrichtung zu befoerdern. Vielmehr ist gerade die enorme Konzentration von sozialen Problemfaellen auf wenige Quadratmeter Ursache vieler Fehlentwicklungen. Man muesste diese Kinder in Ganztagseinrichtungen zusammen mit den Kindern der Mittel-und Oberschicht mischen. 

        • In Dubio 30. November 2014, 23:47

          Vielen Dank für Ihre ausführliches Statement, dass mir deutlicher macht, woher Ihre Sozialisation kommt. Sie beschreiben Situationen, die wir alle kennen, wenn wir auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Nur blenden Sie dabei immer wichtige Details aus. Sind Sie dafür verantwortlich, dass Ihr Freund zurückgefallen ist? Oder bewegte er sich durch Ihr Protegé nicht über seinem Niveau und konnte es ohne Sie nicht mehr halten?

          Erfolg setzt viel mehr Beharrlichkeit, Disziplin und Frusttoleranz voraus als Talent. Kinder sollten nicht deswegen vor dem Fernseher geparkt werden, weil viele Programme schlicht verblöden, sondern weil sie eine permanente Zerstreuung schaffen. Diese Eigenschaften sind erlernbar, aber nicht durch den Staat.

          In der ersten Klasse war ich am Ende des Schuljahres der zweitschlechteste Schüler. Nach mir kam jemand, der anschließend auf die Sonderschule ging (durch seine wohlhabenden Eltern jedoch aufgefangen wurde) und vor mir 2 Mädchen, die für die Schule noch nicht die nötige Reife mitbrachten. Drei Jahre später ging ich als Zweitbester aufs Gymnasium. Erfolg ist nicht nach Ergebnis von Nachhilfe und Unterstützung des Umfeldes, sondern dem Durchsetzungsvermögen.

          Ich hatte Ihnen geschildert, welchen immensen Vorsprung der 1-3jährige Nachwuchs der EZB-Angestellten schon in ganz frühen Jahren hat. Die wollen sie mit zurückgebliebenen Kindern aus prekärem Elternhaus zusammenbringen. Sie legen für die Elite-Kinder eine Vollbremsung hin, um Ihr sozialpolitisches Modell durchzudrücken. Kinder wollen lernen und entwickeln sich rasant, die einzig denkbare Möglichkeit, dem Paroli zu bieten ohne einen Teil der Jugendlichen zu behindern ist andere stärker zu fördern.

          Sprache ist das größte Hindernis, warum 6jährige nach der Einschulung dem Unterricht nicht folgen können. Also muss dafür gesorgt werden, dass alle 6jährigen bei der Einschulung perfekt Deutsch sprechen. Darüber hinaus sind sie undiszipliniert und unkonzentriert, was sie am Ende zu Verlierern des Bildungsweges macht. Doch beides ist trainierbar. Mitschüler sind da die schlechtesten Trainer, Kinder sind außerordentlich ungeduldig und wie jeder aus der eigenen Kindheit wissen sollte, eine Wolfsgesellschaft.

          Kennen Sie das Zidane-Clustering-Theorem? Es besagt, dass ein herausragender Spieler wie Zidane jede Mannschaft besser macht, jedoch bringt er vor allem eine bereits gute Mannschaft zur absoluten Spitze.

          Sie streifen das Broken-Window-Theorem, vernachlässigen jedoch, warum (manche) Menschen so sind. Ja, ich kenne auch so Asoziale, nur ändert man sie weder mit Argumentieren noch mit mehr Sozialtransfers. Warum denn? Ob jemand sich täglich wäscht und wo er seine Notdurft verrichtet, ist keine Frage, über die Einkommen entscheidet.

          An dem Fall Tugce verurteile ich eben auch, dass soviele Beteiligte sich völlig gehen ließen und keine Pflichten kannten. Das schaffe ich jedoch nur durch Regeln und Konsequenz. Stattdessen kam sofort der Reflex, man könne den Mädchen (und ihren Eltern) doch nicht zumuten, sich zu outen, dass sie spätnachts betrunken rumliefen. Und wieso bringen die Eltern von Sanel es nicht über sich, dass Selbstverständlichste des Mitmenschlichen zu tun und ihr Mitleid über die Tat ihres Sohnes auszudrücken?

          Sie ziehen nicht die Konsequenz aus den Forderungen zu der Zeit, wo Sie aufgewachsen sind: die Bildungsgesellschaften. Nichts unterscheidet Menschen mehr als ihr Intellekt, es war absehbar, dass dann auch die Einkommen völlig auseinanderlaufen werden als in den homogenen Arbeitsgesellschaften der 50er bis 80er Jahre. Sie können heute mit Innovation und Kreativität binnen weniger Jahre reich werden oder für immer arm bleiben. Der Staat kann diese Entwicklung nur bedingt aufhalten, will er nicht eine völlig planwirtschaftliche Gesellschaft, welche viele Bürger ihrer Möglichkeiten beraubt.

          Es ist sinnlos über die verschüttete Milch der verfehlten Integrationspolitik der früheren Jahre zu schimpfen. Fakt ist, dass dieser Fall völlig gegensätzliche Ergebnisse zeitigt und deutlich macht, dass Integration vor allem persönlich ist. Die angelsächsischen Länder sind aus vielerlei Gründen so beliebt als Einwanderungsländer. Ihre Sprache muss meist nicht gesondert gelernt werden, niedrige öffentliche Abgaben und Offenheit gegenüber technischen Entwicklungen könnten zwar nachgeahmt werden, widersprechen jedoch unserer Kultur.

          • Ralf 2. Dezember 2014, 00:59

            @ In Dubio

            Nur blenden Sie dabei immer wichtige Details aus. Sind Sie dafür verantwortlich, dass Ihr Freund zurückgefallen ist? Oder bewegte er sich durch Ihr Protegé nicht über seinem Niveau und konnte es ohne Sie nicht mehr halten?

            Ich sehe es so, dass der Freund Potential hatte, das er zum damaligen Zeitpunkt nur mit mir gemeinsam ausgeschoepfen konnte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er etwa ohne mich aus eigenem Antrieb gar keine Hausaufgaben gemacht haette.

            Ich habe Hausaufgaben uebrigens auch deshalb regelmaessig gemacht, weil ich den Druck aus dem Elternhaus hatte. Vor dem Spielen musste das erledigt sein. Dadurch dass mein Schulfreund und ich Zeit miteinander verbrachten, hat sich mein Lernrhythmus bedingt auch auf ihn uebertragen. Moeglicherweise zum ersten Mal in seinem Leben hat er sein Potential genutzt. Und dieses Potential war sehr wahrscheinlich besser als Sonderschulniveau. Mit konstanter Betreuung haette er durchaus vielleicht einen Hauptschulabschluss machen koennen. 1990 war die Reputation des Hauptschulabschlusses zwar bereits angeschlagen, aber er war noch nicht so verpoehnt wie heute. Moeglicherweise haette der Freund einen Ausbildungsplatz bekommen und einen Beruf erlernt. Moeglicherweise wuerde er heute ein selbststaendiges Leben mit geregeltem Einkommen fuehren. Mit einem Sonderschulabschluss hat das alles sehr wahrscheinlich nicht geklappt. Die Entscheidung das Kind auf die Sonderschule zu schicken, war aber nicht nur eine rein schulische Entscheidung, sondern hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch heftige wirtschaftliche und soziale Folgen. Moeglicherweise ist ein Leben zerstoert worden.

            Ein Bekannter von mir arbeitet als Lehrer in einer Sonderschule. Die Faelle, die ich von ihm hoere, lassen mir regelmaessig das Blut gefrieren. Ein relativ normales Kind in ein Umfeld von Psychopathen zu stecken, bei denen eigentlich nur noch die Frage besteht, ob sie in 10 Jahren im Gefaengnis oder in der Psychatrie landen, kann folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen. Moeglicherweise ist sogar ein Beitrag geleisetet worden, eine Biographie wie die des Sanel M. entstehen zu lassen.

            Sie schreiben, mein Schulfreund haette ohne mich sein Niveau nicht halten koennen. Fuer die Zeit damals stimmt das wohl. Aber wenn wir das gemeinsame Lernen fortgesetzt haetten, haette das auch 2 Jahre spaeter, 5 Jahre spaeter, 10 Jahre spaeter gegolten? Soldaten lassen ihre verwundeten Kameraden doch auch nicht im Feld zurueck. Auch dann nicht, wenn diese selbststaendig nicht mehr laufen koennen. Die Hoffnung ist, dass sie, wenn sie erst mal in Sicherheit gebracht sind, schon wieder genesen werden. Bei der schulischen Entwicklung von Kindern gilt aehnliches. Man hofft, dass mit kleinen Erfolgen Selbstbewusstsein, Interesse und Freude am Lernen entsteht. Und dass dies wiederum zu groesseren Erfolgen oder zumindest stabilen Leistungen fuehrt. Manchmal klappt das schnell. Manchmal nur langsam. Manchmal garnicht. Es ist aber immer wert, es zu versuchen.

            Erfolg setzt viel mehr Beharrlichkeit, Disziplin und Frusttoleranz voraus als Talent.

            Das ist richtig. Aber das gilt doch nicht fuer Kinder in der Grundschule. Disziplin, Beharrlichkeit und Frusttoleranz entwickeln sich mit der Zeit. In den fruehen Jahren zaehlt vielmehr, dass die Kinder Freude am Lernen haben. (Viel) Spaeter wenn sich die Schueler bzw. Studenten etwa durch seitenweise Integrale quaelen muessen, kommt es auf Beharrlichkeit und Disziplin und Frusttoleranz an.

            Erfolg ist nicht nach Ergebnis von Nachhilfe und Unterstützung des Umfeldes, sondern dem Durchsetzungsvermögen.

            Schoen wenn Sie damals schon das noetige Durchsetzungsvermoegen hatten. Ich kenne viele Beispiele von Menschen, die erst spaet der Ehrgeiz gepackt hat. Manche erst gegen Ende der Gymnasialzeit. Manche erst im Studium. Bis dahin hatten sie die Unterstuetzung und Ermutigung durch ihr Umfeld noetig.

            Ich hatte Ihnen geschildert, welchen immensen Vorsprung der 1-3jährige Nachwuchs der EZB-Angestellten schon in ganz frühen Jahren hat. Die wollen sie mit zurückgebliebenen Kindern aus prekärem Elternhaus zusammenbringen. Sie legen für die Elite-Kinder eine Vollbremsung hin, um Ihr sozialpolitisches Modell durchzudrücken.

            Von einer Vollbremsung kann keine Rede sein. In obigem Beispiel etwa, als ich mit meinem leistungsschwaecheren Schulfreund gemeinsam lernte, habe ich doch in keinster Weise eine Behinderung erfahren. Im Gegenteil. Dadurch dass ich die Aufgaben erklaert habe, konnte ich mich auch nochmal selbst vergewissern, dass ich die Sachen wirklich verstanden hatte. Ich habe dabei profitiert. Es war eine Win Win-Situation fuer alle.

            Natuerlich stellt sich aber am Ende die Frage „wer integriert wen?“. Es waere unsinnig vorzuschlagen, ein einziges leistungsfaehiges Kind in eine Klasse von 20 Schulversagern zu setzen. Das wuerde nicht zu einer Staerkung der Schwaecheren fuehren, sondern sehr wahrscheinlich zu einem Absacken des einzigen Schuelers, aus dem etwas haette werden koennen. Aber andersrum wird ein Schuh draus. Integriert man einige wenige Schulversager in eine Schulklasse mit vielen starken Schuelern, wird das die Top-Schueler kaum beeinflussen, aber die Schwachen werden mitgezogen. Nicht nur schulisch, sondern auch sozial.

            Ich kenne mehrere konkrete Beispiele aus meinem Umfeld. Die Schueler aus meiner Grundschulklasse, die mit mir auf’s Gymnasium wechselten, waren erstaunlicherweise garnicht die „besten Schueler“ der Klasse. Es waren lediglich diejenigen, bei denen sich die Eltern entsprechend eingesetzt hatten. Dennoch waren die Biographien derer die mit relativ schwachen Noten auf’s Gymnasium gingen, deutlich positiver als die Biographien derer, die mit relativ guten Noten die Real- oder Hauptschule besuchten.

            Ich kenne einen Fall, der wegen schlechten Betragens von der Gesamtschule flog und anschliessend keine Schule mehr fand, die ihn aufnehmen wollte. Die Eltern waren verzweifelt. Am Ende erbarmte sich unser Gymnasium. Ironischerweise wurde der Schueler also fuer sein Verhalten mit einem Wechsel „nach oben“ statt „nach unten“ belohnt. Wie der Zufall es wollte, freundete er sich mit den besten Schuelern seines Jahrgangs an und lernte oft mit diesen gemeinsam. Am Ende machte er Abitur, schloss eine Ausbildung erfolgreich ab, kaempfte sich durch ein schweres Studium und ist heute ein erfolgreicher Akademiker.

            Noch nicht einmal der schulische Erfolg ist unbedingt notwendig. Ich kenne einen Fall, der nach der Grundschule auf’s Gymnasium ging und dort hoffnungslos ueberfordert war. Vier Jahre lang schaffte er immer nur eben gerade die Versetzung. Ein Jahr musste er sogar wiederholen. Dann gab er auf und ging fuer die letzten zwei Jahre auf die Hauptschule. Die Jahre auf dem Gymnasium haben ihm trotzdem enorm genutzt. Anders als bei denen, die nach der Grundschule sofort auf die Hauptschule gekommen waren, war bei diesem Schueler nicht die typische Verarmung in Sprache und Intelligenz zu beobachten. Er zeigte auch nicht das primitive Verhalten, dass leider oft in Hauptschulen gang und gaebe ist. Nach seinem Abschluss hat ihm das sehr geholfen. Er hatte keine Schwierigkeiten einen Ausbildungsplatz und anschliessend Arbeit zu finden.

            Allen Beispielen gemeinsam ist dass schwaechere Schueler vom Kontakt mit staerkeren Schuelern enorm profitieren. Oft mit langfristigen Folgen. Auch mit langfristigen sozialen Folgen. Und wenn man die damit einhergehenden beruflichen Chancen mitberuecksichtigt, auch mit langfristigen wirtschaftlichen Folgen. Sogar gesundheitliche Folgen kann man hier miteinrechnen, wenn man in Betracht zieht, dass Menschen mit geringer Bildung statistisch eher Raucher sind, sich eher ungesund ernaehren etc.. Aber waehrend die Schwachen deutlich profitieren, fehlen Hinweise, dass die Starken unter dem gemeinsamen Lernen signifikant leiden oder hinter ihren Moeglichkeiten zurueckbleiben. Meine Erfahrung gibt zu solchen Befuerchtungen jedenfalls keinen Anlass.

            Sprache ist das größte Hindernis, warum 6jährige nach der Einschulung dem Unterricht nicht folgen können. Also muss dafür gesorgt werden, dass alle 6jährigen bei der Einschulung perfekt Deutsch sprechen.

            Ja, sehe ich auch so.

            • In Dubio 2. Dezember 2014, 17:22

              Sie sehen den kurzfristigen Erfolg, ignorieren jedoch den langfristigen Misserfolg. Man kann einen Menschen nur für eine Übergangszeit „ziehen“, nie über einen langen Zeitraum. Irgendwann muss jemand von selber laufen, sonst läuft er nie. Im Alter von gerade 6 Jahren verstarb mein drei Jahre älterer Bruder bei einem Verkehrsunfall. Er war bis dahin mein Übersetzer und Beschützer. Ich brauchte nicht zu sprechen, mein Bruder hat das Brabbeln in verständliche Sprache gebracht. Ich hatte keine Kontakte, aber mein Bruder hatte welche. Sein Tod war die größte Tragödie für meine Eltern und hat ihr weiteres Leben stark beeinflusst. Doch der kleine Stefan musste anfangen, selbst zurechtzukommen.

              Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Ihr kurzzeitiger Schützling nach der Betreuung wieder zurückfiel. Das war auch meine Erfahrung, als ich meine Kommilitoninnen geschult hatte. Was wir nie vergessen dürfen, wenn wir uns anderer annehmen: sie in den Status zu versetzen, sich selbst und alleine zurecht zu finden. Erst dann beweist sich, ob der Lehrer wirklich gut war.

              Sie reden ausschließlich über die Benachteiligten. Und es mag seine Vorteile haben, durch Erklären selbst sich Wissen zu vergewissern. Doch das gilt niemals für einen langen Zeitraum von 6 Jahren. Wir haben nun über ein Jahrzehnt Erfahrung mit der internationalen Messung von Lernerfolgen. Dabei zeigte sich, dass Deutschland laut dem letzten PISA-Test bei den unteren 20% spürbar aufgeholt hat. Bei den Eliten stagnieren die Ergebnisse. Doch alle Kinder haben Anspruch, altersgerecht gefördert zu werden und es ihnen zu ermöglichen, ihr Potential optimal zu nutzen. Nicht nur die unteren 20 oder 30 Prozent.

              Deswegen: die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen können dauerhaft nur pädagogische Fachkräfte übernehmen und nicht Gleichaltrige. So kann allein sichergestellt werden, das Förderung nicht von Empathie und sozialer Auslese abhängt. Sie vergessen leicht, dass gerade in diesem Bereich zu kurz Gekommene am stärksten gemobbt und ausgegrenzt werden.

              Das ist richtig. Aber das gilt doch nicht für Kinder in der Grundschule. Disziplin, Beharrlichkeit und Frusttoleranz entwickeln sich mit der Zeit.

              Nein, das ist ein ganz großer Irrtum! Und dazu muss man nicht „Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit“ gelesen haben. Heute ist z.B. häufig schon 1/3 bis die Hälfte der Grundschüler verhaltensauffällig. Nein, man kann es im Spiel von 1-3jährigen beobachten. Selbst das Kleinste zu erlernen, dazu bedarf es Geduld und Frusttoleranz. In der 1. Klasse muss ein Kind 45 Minuten stillsitzen können, viermal am Tag. Wie soll das gehen, wenn dieser kleine Junge (oder Mädchen) es bisher gewöhnt war, dauernd rumzuflitzen? Und Geduld, Beharrlichkeit und Frusttoleranz muss man von klein auf lernen.

              Die Schüler aus meiner Grundschulklasse, die mit mir auf’s Gymnasium wechselten, waren erstaunlicherweise garnicht die “besten Schüler” der Klasse. Es waren lediglich diejenigen, bei denen sich die Eltern entsprechend eingesetzt hatten.

              Das mag sein. Doch es waren vor allem „linke“ Politiker, die sich für die Wahlrecht der Eltern eingesetzt haben. Zu meiner Zeit war es anders: aus meiner Klasse sind nur die eindeutig 3 besten aufs Gymnasium gewechselt, wo die Auslese von vorne begann. Ich würde sofort unterschreiben, dass es vorrangig der Schule zusteht zu bestimmen, wer wie einzustufen ist.

              Anders als bei denen, die nach der Grundschule sofort auf die Hauptschule gekommen waren, war bei diesem Schüler nicht die typische Verarmung in Sprache und Intelligenz zu beobachten.

              Klar, Hauptschüler haben nach 8 Jahren Schule keinen größeren Sprachschatz und mehr Mathekenntnisse als ein Viertklässler. Aber was Sie beklagen, ist das Ergebnis sozialdemokratischer und grüner Bildungspolitik. Es ginge auch anders. Sie hätten mich sofort für eine Umschichtung von freien Lernmitteln von den Hochschulen zu den Grund-, Haupt- und Realschulen. Aber auch das ist in diesem politischen Spektrum nicht zu machen.

              (..) fehlen Hinweise, dass die Starken unter dem gemeinsamen Lernen signifikant leiden oder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.

              Oooh doch, die hat die letzte PISA-Studie geliefert. Elitenförderung ist in Deutschland eben nicht. Oder wollen Sie ernsthaft behaupten nur Amerikaner seien zu herausragenden Leistungen fähig?

      • Ralf 30. November 2014, 01:10

        @ In Dubio

        Beim Lesen meines letzten Beitrags faellt mir auf, dass ich einen Satz haette voranstellen sollen, der meinen Standpunkt zusammenfasst. Ich sehe die Biographien wie die des Sanel M. eben nicht ausschliesslich als Folge verfehlter Erziehung. Nicht alleine die Eltern sind Schuld. Vielmehr sehe ich eine Verkettung von negativen Umstaenden als ursaechlich: Unfaehige oder ueberforderte Eltern, wirtschaftliche Armut, ein katastrophales soziales Umfeld auch ausserhalb des Elternhauses, Wegbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, kaum realistische Perspektiven zum wirtschaftlichen Aufstieg, ein gescheitertes Bildungssystem, verfehlte oder verschlafene Integrationspolitik.

        Einige der Felder habe ich in dem Beitrag dann tiefer erlaeutert. Meine Kernthese ist dass wir als Gesellschaft diese Entwicklung selbst gefoerdert haben. Dass wir den Naehrboden selbst geschaffen haben, auf dem Biographien wie die des Sanel M. gedeihen. Und dass es uns moeglich ist diese Entwicklungen auch wieder umzukehren. 

        Ich hoffe das schafft etwas Klarheit.

        • In Dubio 3. Dezember 2014, 12:59

          Ich hoffe das schafft etwas Klarheit.

          Leider ja. Aus Ihrer Sicht sind alle schuld an dem, wie sich Sanel M. entwickelte und was passierte. Nur einer nicht: Sanel M. selbst. Wenn ein 14, 15, 16jähriger mehrmals strafrechtlich auffällt, muss auch der Rechtsstaat klar reagieren.

          Sie scheinen ein Einzelkind zu sein. Ich bin es nicht. Geschwister nehmen üblicherweise unterschiedliche Entwicklungen. Mein Schwager hat sogar 2 Zwillinge, die unterschiedliche Lebenswege gehen, was Karriere, politische Einstellungen und Familie betrifft. Bei allen ist folgendes gleich: Umfeld, Eltern, politische und gesellschaftliche Verhältnisse. Ihre Erklärung und Ihr Ansatz passen nicht.

          „Hätte man diesen Menschen vorher schon ein bisschen mehr wachgerüttelt und ihm klare Grenzen gezeigt, wäre es vielleicht nicht zu dieser Tat gekommen“, sagte Tina K. im RBB-Inforadio. Sie ist die Schwester von Johnny K., der 2012 auf dem Berliner Alexanderplatz angegriffen und tödlich verletzt worden war. „Ich schüttle den Kopf, wenn ich höre, dass solche Täter vorher schon auffällig waren.“

          Dem ist wenig hinzuzufügen.

          • Ralf 4. Dezember 2014, 01:22

            Aus Ihrer Sicht sind alle schuld an dem, wie sich Sanel M. entwickelte und was passierte. Nur einer nicht: Sanel M. selbst.

            Nun, in gewisser Weise stimmt das sogar. Wie Sie sich geistig und sozial entwickeln, haengt grundsaetzlich nur von zwei Faktoren ab: (a) Ihren genetischen Anlagen und (b) Ihrem Umfeld. Auf Ihre genetischen Anlagen haben Sie offensichtlich keinen Einfluss. Niemand sucht sich seine Gene selbst aus. Auf Ihr Umfeld haben Sie ebenfalls keinen Einfluss. Ob Sie etwa in eine Familie hineingeboren werden, die Sie foerdert, die Sie unterstuetzt, die Ihnen ein liebevolles Zuhause gibt, die Ihnen die materiellen Grundlagen fuer eine positive Entwicklung zur Verfuegung stellt und die Ihnen hilft ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, liegt nicht an Ihnen. Manche haben Pech und werden in eine Familie geboren, in der die Eltern Alkoholiker und mit der Erziehung ueberfordert sind, in der Gewalt an der Tagesordnung ist und in der gelernt wird, dass Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ist.

            Auch das Umfeld ausserhalb des Elternhauses suchen sich Kinder nicht aus. Welche Grundschule sie besuchen, haengt in der Regel damit zusammen, wo Ihre Eltern wohnen und der Wohnort Ihrer Eltern haengt meist von deren Verdienst ab. Deshalb haben Sie als Kind keinen Einfluss, ob Sie etwa auf einer Schule mit 80% Auslaenderanteil landen, in der Sprachprobleme jeden Unterricht unmoeglich machen oder ob Sie eine Schule in einem normalen Mittelklasse-Viertel besuchen. Auch ihre eigenen Sprachprobleme suchen Sie sich nicht selbst aus. Werden Sie als Kind etwa in eine tuerkische Familie geboren, wachsen in einem tuerkischen Viertel auf, haben nur tuerkische Nachbarn, Bekannte und Verwandte, ihre Eltern kaufen nur im tuerkischen Supermarkt ein etc., dann ist es kein Wunder, wenn Sie bei der Einschulung kaum ein Wort deutsch sprechen und ihre Schullaufbahn direkt bergab geht. Ist aber nicht Ihre Schuld. Sie suchen sich das als Kind ja nicht aus. Und selbst die Entscheidung wer auf die weiterfuehrende Schule geht, wird in der Praxis an der sozialen Schicht der Eltern und nur sehr eingeschraenkt an den schulischen Leistungen festgemacht.

            Die Folge: Als Kind, in den Jahren, die Sie spaeter als Erwachsener praegen werden, haben Sie weder Einfluss auf Ihre Gene noch auf Ihr Umfeld. Beide Aspekte formen Ihre Persoenlichkeit ohne Ihr Zutun. Sie sind wie ein Stueck Wachs, das in eine Form gegossen wird, die ohne Ihre Mithilfe gefertigt worden ist. Ob Sie als als empathischer, gemeinwohlorienter Buerger oder als verrohter Asozialer aus diesem Prozess kommen, haengt in der Tat an allem nur nicht an Ihnen. Wenn Entwicklungen schief laufen, muessen wir dort die Ursachen suchen, wo sie liegen.

            Wenn ein 14, 15, 16jähriger mehrmals strafrechtlich auffällt, muss auch der Rechtsstaat klar reagieren.

            Die Zahl an 14, 15, 16-jaehrigen, die mehrmals strafrechtlich aufgefallen sind, duerfte insgesamt riesig sein. Nur zwei oder drei davon entwickeln sich letztlich zu einem Sanel M.. Wer das sein wird, ist unmoeglich vorherzusagen. Sanel M. ist uebrigens noch nicht einmal als Intensivtaeter eingestuft worden. Da gibt es wesentlich krassere Faelle. Haette er nicht den Mord begangen, waere jemand wie er lediglich ein kleiner Fisch gewesen, der kaum die Aufmerksamkeit der Gerichte auf sich gezogen haette.

            Ein umfangreiches Strafprogramm, das alle jugendlichen Kleinkriminellen wegsperrt oder dieser Klientel sonstwie nachstellt, wuerde gigantische Kosten verursachen ohne die Probleme zu loesen. Da reicht ein Blick in die USA, wo selbst gegen Jugendliche drakonische Strafen verhaengt werden. Das hat lediglich dazu gefuehrt, dass die Gefaengnisse aus allen Naehten platzen. Der Abschreckungseffekt ist gleich Null, selbst bei Eigentumsdelikten. Affekttaten wie der Mord an Tuğçe A. hingegen sind sowieso nicht geplant und unterliegen folglich auch keinem Abschreckungseffekt. Schon garnicht wenn der Taeter alkoholisiert oder auf anderen Drogen ist.

            Es gibt auch ausreichend Studien, dass Abschreckungsprogramme nicht nur nicht funktionieren, sondern sogar kontraproduktiv sind, also zu MEHR nicht zu weniger Kriminalitaet fuehren. Siehe z.B. hier:

            http://www.neuro24.de/show_glossar.php?id=12

            Konservative wollen oft trotzdem drakonische Strafen. Egal ob es teuer und kontraproduktiv ist. Aus Prinzip. Ich kann mich mit dem Standpunkt nicht anfreunden.

            Mein Schwager hat sogar 2 Zwillinge, die unterschiedliche Lebenswege gehen, was Karriere, politische Einstellungen und Familie betrifft. Bei allen ist folgendes gleich: Umfeld, Eltern, politische und gesellschaftliche Verhältnisse. Ihre Erklärung und Ihr Ansatz passen nicht.

            Das widerspricht meinem Standpunkt ueberhaupt nicht. Selbstverstaendlich koennen Geschwister unterschiedliche politische Meinungen entwickeln. Haengt oft halt zu grossen Teilen davon ab, in welchen Freundeskreisen man sich bewegt. Auch Zwillinge fuehren wenig ueberraschend keine „identischen Leben“.

            “Hätte man diesen Menschen vorher schon ein bisschen mehr wachgerüttelt und ihm klare Grenzen gezeigt, wäre es vielleicht nicht zu dieser Tat gekommen”, sagte Tina K. im RBB-Inforadio. Sie ist die Schwester von Johnny K., der 2012 auf dem Berliner Alexanderplatz angegriffen und tödlich verletzt worden war. “Ich schüttle den Kopf, wenn ich höre, dass solche Täter vorher schon auffällig waren.”

            Dem ist wenig hinzuzufügen.

            Dem ist eine Menge hinzuzufuegen. Wie gesagt, wenn Sie jeden der „auffaellig“ ist, strafbehandeln, verzettelt sich die Strafverfolgung hoffnungslos, konzentriert sich zu 99,9% auf kleine Fische, die nie ein groesseres Problem dargestellt haetten, vervielfacht die Kriminalitaet, produziert neue Taeter aus Individuen, die harmlos geblieben waeren und verstaerkt laut Statistiken sogar die kriminelle Energie von Intensivtaetern. Und obendrauf steigen die Kosten fuer die Gesellschaft, so dass wir mehr Geld dafuer ausgeben, dass unsere Gesellschaft noch krimineller und gefaehrlicher wird. Ein bloederes Eigentor kann man eigentlich kaum schiessen.

            Ich bleibe dabei: Wenn wir Faelle wie den des Sanel M. verhindern wollen, dann muessen wir ein Umfeld schaffen, in dem sich solche Biographien nur noch schwer entwickeln koennen. Wir koennen nicht alle Eltern aendern, nicht jedes Elternhaus reparieren. Aber wir koennen Kindern ein positives schulisches Umfeld anbieten. Wir koennen sie in ein Umfeld platzieren, in dem sie produktive und langfristige Kontakte bis weit in die Mittelschicht haben und nicht soziale Versager ausschliesslich im Umfeld ihrer Gleichen aufwachsen. Wir koennen mehr Ganztagsschulen schaffen, die auch Aktivitaeten nach dem Unterricht anbieten, und Kinder dabei von der Strasse und ein Stueck weit auch aus den problematischen Elternhaeusern holen. Wir koennen Kinder wo noetig mit Sprachunterricht und mit gut ausgebildeten Lehrern und Betreuern unterstuetzen. Wir koennen ein Schulsystem reformieren, in dem alle Verlierer eines Stadtteils auf die selbe eine Schule geschickt werden, wo sie fortan unter sich sind. Wir koennen Jugendaktivitaeten wie Fussballclubs oder Schulbands foerdern, in denen Jugendliche ihre Energie konstruktiv einbringen koennen, anstatt sie als Gewalttaeter auf der Strasse rauszulassen. Und wir koennen fuer ein Umfeld sorgen, in dem Familien garnicht erst verarmen und sozial voellig abgehaengt werden, was Problemen wie Alkohol- und Drogensucht und vielfaeltigen anderen psychischen Problemen vorbeugen wuerde. Es sind letztlich diese Probleme, die genau diejenigen katastrophalen Elternhaeuser schaffen, in denen die Sanel Ms der Zukunft heranwachsen.

            Aber dafuer wird man wohl kaum den Applaus der BILD-Leser kriegen. Die wollen lieber Blut sehen. Auffaellige Jugendliche in den Knast! Am besten fuer immer. Und nach mir die Sintflut.

            • In Dubio 4. Dezember 2014, 11:39

              Wie Sie sich geistig und sozial entwickeln, hängt grundsätzlich nur von zwei Faktoren ab: (a) Ihren genetischen Anlagen und (b) Ihrem Umfeld. Auf Ihre genetischen Anlagen haben Sie offensichtlich keinen Einfluss. Niemand sucht sich seine Gene selbst aus. Auf Ihr Umfeld haben Sie ebenfalls keinen Einfluss.

              Ich hätte einen Einwand: mein Wertesystem entscheidet maßgeblich, wie ich mich verhalte. Dies hängt von einigen Faktoren ab, die ich auch beeinflussen kann. Aber lassen wir das. Jetzt erinnern Sie sich bitte an Ihre naturwissenschaftlichen Wurzeln. Sie sagen, alles, was mich als Individuum ausmacht, kann ich nicht beeinflussen. Gehen wir auf die Umwelt, die eben am Ende auch nur aus Individuen besteht. Die können ihr Verhalten auch nicht beeinflussen und bilden damit wieder die Umwelt, die an allem schuld ist. Mit anderen Worten: wir können gar nicht das Umfeld des Sanel M. verändern, so wenig, wie Sanel sich ändern kann. Das ist die Logik, die Sie aufgebaut haben. Folglich war die Tat zwangsläufig und niemand hat Schuld.

              Die Zahl an 14, 15, 16-jaehrigen, die mehrmals strafrechtlich aufgefallen sind, dürfte insgesamt riesig sein.

              Nun, das hoffe ich mal nicht. Ich bin mit 17 ohne Führerschein gefahren. Das macht mich trotz einer Straftat noch nicht zum Mehrfachtäter (bestenfalls Wiederholungstäter).

              Konservative wollen oft trotzdem drakonische Strafen. Egal ob es teuer und kontraproduktiv ist.

              Ich bin kein Konservativer.

              Bei Jugendstrafen geht es nach Ansicht von Experten um zweierlei: schnell und konsequent. Und spätestens, wenn ich einen Jugendlichen vor mir habe, der bereits zwei Diebstähle (Strafrahmen Erwachsene: bis 5 Jahre) und zwei Gewalttaten mit schwerer Körperverletzung (Strafrahmen Erwachsene: 1-10 Jahre) begangen hat, weiß ich, dass derjenige einen ordentlichen Schuss vor den Bug und Betreuung braucht. Wie das bei Sanel ausgesehen hat, kann ich nicht beurteilen, anscheinend ist es weder Eltern noch Justiz gelungen, ihn sehr frühzeitig einzunorden. Was übrigens von Eltern zu halten ist, die in der Situation kein persönliches Wort des Mitgefühls an die Hinterbliebenen herausbringen, ist überdeutlich. Umso mehr die Frage: wieso überlässt man solchen einen aus dem Ruder laufenden Halbstarken?!

              Das widerspricht meinem Standpunkt überhaupt nicht. Selbstverständlich können Geschwister unterschiedliche politische Meinungen entwickeln. Hängt oft halt zu großen Teilen davon ab, in welchen Freundeskreisen man sich bewegt. Auch Zwillinge führen wenig überraschend keine “identischen Leben”.

              Nehmen Sie mal an, junge Zwillinge hätten Identität des Freundeskreises bis 18. Und nun? Stürzt Ihre These mit Ihren weiteren Ausführungen zusammen. Ihre argumentative Krücke ist nur noch „Freundeskreis“. Die schlage ich Ihnen weg.

              Zur Einstufung von Intensivtätern: Die wird von Bundesland zu Bundesland nach anderen Kriterien gehandhabt. Sanel M. war damit nur nach den internen behördlichen Bestimmungen der Staatsanwaltschaften in Hessen kein Intensivtäter. Kritisieren Sie bitte nie mehr rechtliche Abgrenzungsfragen (z.B. Grenzwerte u.ä.)

              Und wir können für ein Umfeld sorgen, in dem Familien gar nicht erst verarmen und sozial völlig abgehängt werden (..).

              Jetzt wird’s weihnachtlich. Jede Gesellschaft ist in gewisser Form elitär und nicht egalitär. D.h. es gibt immer eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht und das gilt erst recht in Wissensgesellschaften. Es galt aber auch im Sozialismus. Wenn es aber eine Unterschicht zwingend gibt, gibt es auch Abgehängte. Vielleicht benennen Sie mal empirische Beispiele, was Ihnen vorschwebt (und nicht das Wolkenkuckucksheim). Vorsicht: auch in Skandinavien haben Sie Abgehängte, Intensivtäter und Drogensüchtige.

              In Skandinavien (z.B. Schweden) ist übrigens die primäre Einkommensverteilung noch ungerechter als in Deutschland. Erst durch Sozialtransfers („Aufstockungen“) werden die Niveaus stark nivelliert. Das ist aber ein Procedere, was Sie in Deutschland mit Verweis auf Ihre Argumentation zum Mindestlohn abgelehnt haben.

              • Ralf 5. Dezember 2014, 00:26

                Ich hätte einen Einwand: mein Wertesystem entscheidet maßgeblich, wie ich mich verhalte. Dies hängt von einigen Faktoren ab, die ich auch beeinflussen kann.

                Ach ja? Also mein eigenes Wertesystem steht zunaechst mal im Zusammenhang mit meiner Erziehung. Als Kind habe ich zuhause gelernt, dass man etwa nicht stehlen soll, dass man nicht luegen soll, dass sich gewisse Dinge einfach nicht gehoeren. In vielen Faellen musste man mir das garnicht explizit erklaeren, sondern es reichte, wenn ich etwa am Tisch beim Abendessen sass und meine Eltern sich z.B. ueber das Unrecht unterhielten, das jemand (ein Bekannter oder vielleicht auch eine Persoenlichkeit des oeffentlichen Lebens) erfahren hatte. Als Kind im fruehen Alter hoert man bei sowas zu und die Meinungen, die sich bilden, orientieren sich ziemlich direkt an dem was die Vorbilder und Bezugspersonen denken. Einfluss auf diese Diskussionen hatte ich nicht. Weder habe ich die Debatten initiiert, noch habe ich ausser passivem Zuhoeren direkt daran teilgenommen.

                Dazu bin ich in einer Familie gross geworden, in der es voellig normal war, dass alle Erwachsenen arbeiteten. Selbst meine damals minderjaehrige Schwester hatte einen Job, trug Zeitungen aus. Ohne dass jemals mit mir darueber gesprochen worden waere, war fuer mich damit immer selbstverstaendlich, dass man fuer Lohn arbeiten muss. Dass man im Leben halt nichts geschenkt kriegt. Auch das hat mein Wertesystem gepraegt. Wiederum habe ich keinen Einfluss auf diese Situation gehabt. Ich bin halt einfach in diesen Kontext hineingeboren worden. Genauso gut haette ich in eine arbeitslose Familie geboren werden koennen.

                Fuer ein paar Mark Taschengeld mehr habe ich habe im elterlichen Garten gearbeitet und auch darin steckte eine unausgesprochene Lektion: Ernten kann man nur, wenn man zuvor gesaeht hat. Auch das hat mein Wertesystem beeinflusst. Aber wieder hatte ich darauf keinen Einfluss. Dass meine Eltern einen Garten hatten, war purer Zufall. Viele Eltern haben keinen. Und meine Eltern haben mich vehement „ermutigt“ mitzuarbeiten. Andere Eltern haetten mich moeglicherweise einfach ohne eigenes Zutun miternten lassen.

                Dann haben mich natuerlich Dinge in meiner Umgebung beeinflusst. Ich habe z.B. am eigenen Leib erfahren wie es ist von Bullies gepeinigt zu werden. Ich habe zugesehen wie es anderen passiert ist. Und manchmal war ich selber der Bully. Diese Situationen haben sich einfach ergeben. Nichts davon war geplant. Wie haette ich wissen sollen, dass ich wenn ich aus der U-Bahn aussteige auf eine Gruppe streitsuchender Schlaeger treffen werde? Und wenn ich selber mitgemacht habe, anderen das Leben schwer zu machen, war das auch immer spontan; Situationen, die halt einfach passierten. All das aus beiden Perspektiven – als Taeter und als Opfer – gesehen zu haben, hat mir die Gelegenheit gegeben nachzudenken. Auf die Gelegenheiten selber hatte ich keinen Einfluss. Mit etwas Glueck waere es durchaus moeglich gewesen, dass mein Umfeld mich nie zum Opfer gemacht haette. Oder nie zum Taeter. Dann haette ich auch nie darueber reflektiert. Es haette sich keine Scham eingestellt, andere bedraengt zu haben. Oder kein Gefuehl von Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit, da wo ich selbst als Opfer betroffen war. So wie es insgesamt gelaufen ist, hat es mein Wertesystem halt gepraegt. Es hat mir geholfen einzuordnen was „richtig“ und was „falsch“ ist.

                Und so koennte ich endlos weitermachen. Mein Wertesystem habe ich mir nicht selber gegeben, sondern es ist ein Produkt von unzaehligen Lebenssituationen, in die ich hineingeraten bin und die mich nachhaltig beeinflusst haben. Diese Situationen waren nicht unter meiner Kontrolle, sondern voelliger Zufall. Und so ist es mit dem Wertesystem aller Menschen.

                Mit anderen Worten: wir können gar nicht das Umfeld des Sanel M. verändern, so wenig, wie Sanel sich ändern kann. Das ist die Logik, die Sie aufgebaut haben. Folglich war die Tat zwangsläufig und niemand hat Schuld.

                Ja, so deterministisch kann man es tatsaechlich sehen. Passt natuerlich nicht in die Vorstellung, die die meisten Menschen haben. Wir glauben ja oft an den „freien Willen“. Daran dass wir unsere Handlungen aktiv beeinflussen koennen, dass wir unser Tun beeinflussen koennen. Tatsaechlich sind wir aber nur Opfer dessen was unser Gehirn errechnet. Darauf welche Neuronen wie stark feuern, in welcher Weise die Neuronen vernetzt sind, wie sensitiv Neuronen auf Signale reagieren, wie stark Hormone ausgeschuettet werden etc. haben Sie null Einfluss. Folglich haben Sie auf Ihr Empfinden keinen Einfluss. Folglich haben Sie keinen freien Willen. Folglich sind Sie fuer Ihr Handeln nicht verantwortlich. Folglich macht der Begriff „Schuld“ keinen Sinn, denn er impliziert, dass man sich anders haette entscheiden koennen.

                Und spätestens, wenn ich einen Jugendlichen vor mir habe, der bereits zwei Diebstähle (Strafrahmen Erwachsene: bis 5 Jahre) und zwei Gewalttaten mit schwerer Körperverletzung (Strafrahmen Erwachsene: 1-10 Jahre) begangen hat, weiß ich, dass derjenige einen ordentlichen Schuss vor den Bug und Betreuung braucht.

                Dann konkretisieren Sie das doch mal. Sie sprechen staendig von „Schuessen vor den Bug“ und vom „Setzen von Stoppschildern“. Was heisst das? Was haette die Justiz mit Sanel M. machen sollen vor der Tat? Er hatte doch bereits im Jugendarrest gesessen. Und er hatte auch bereits mehrere Vorstrafen gekriegt. Das alles hatte ja offensichtlich keinerlei abschreckende Wirkung. Was also tun? Eine laengere Gefaengnisstrafe? Dann ist der jugendliche Straftaeter statt in einem Milieu, in dem er sich positiv veraendern kann, 24/7 in der Gesellschaft von Verbrechern. Das soll helfen seine kriminelle Energie abzubauen? Wenn man umfangreicheren Studien glaubt, wird das Gegenteil passieren. Ich hatte das bereits im letzten Beitrag verlinkt.

                Was übrigens von Eltern zu halten ist, die in der Situation kein persönliches Wort des Mitgefühls an die Hinterbliebenen herausbringen, ist überdeutlich.

                Naja, dem wuerde ich hier nicht so viel Bedeutung schenken. Erstens sitzen die Eltern nicht auf der Anklagebank. Sie haben niemanden umgebracht und schulden niemandem eine Entschuldigung. Sie sind im Augenblick in einer schrecklichen Situation. Mir ist wichtiger, dass wir aus der Tragoedie des Todes von Tugçe A. lernen und so etwas in Zukunft so gut es geht verhindern. Schuldige zu identifizieren, mag unser Beduerfnis befriedigen schnell Gerechtigkeit zu schaffen – Sanel M. ist Schuld; seine Eltern sind Schuld; die Zeuginnen, die sich nicht melden wollen sind Schuld.

                All das loest das Problem nicht! Lassen Sie uns doch mal in die Zukunft nicht staendig nur in die Vergangenheit schauen.

                Nehmen Sie mal an, junge Zwillinge hätten Identität des Freundeskreises bis 18. Und nun? Stürzt Ihre These mit Ihren weiteren Ausführungen zusammen. Ihre argumentative Krücke ist nur noch “Freundeskreis”. Die schlage ich Ihnen weg.

                Zwillinge fuehren nie identische Leben. Auch eineiige Zwillinge nicht. Entgegen landlaeufiger Annahmen, sind sie noch nicht einmal genetisch wirklich identisch. Selbst in Ihrem eigenen Koerper werden Sie kaum zwei Zellen finden, die wirklich ein identisches Genom besitzen. Auch Eltern behandeln ihre Kinder normalerweise nicht identisch. Der eine Zwilling hat etwa bei der Klassenarbeit betrogen und ist aufgeflogen. Der andere ist nicht erwischt worden. Zuhause wird nur ersterer sich eine Standpauke anhoeren muessen. Auch das Leben von Zwillingen verlaeuft unterschiedlich. Der eine bricht sich den Fuss und verpasst die Klassenfahrt. Der andere faehrt mit und bekommt beim Tanz seinen ersten Kuss. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr divergieren die Leben auch von Zwillingen, aufgrund von unterschiedlichen Erlebnissen und unterschiedlichen Einfluessen, die zu unterschiedlichen Chancen und Entwicklungen fuehren. Ihr Argument ist deshalb einigermassen realitaetsfern.

                Zur Einstufung von Intensivtätern: Die wird von Bundesland zu Bundesland nach anderen Kriterien gehandhabt. Sanel M. war damit nur nach den internen behördlichen Bestimmungen der Staatsanwaltschaften in Hessen kein Intensivtäter. Kritisieren Sie bitte nie mehr rechtliche Abgrenzungsfragen (z.B. Grenzwerte u.ä.)

                Natuerlich sind Grenzwerte immer willkuerlich. Aber das steht meinem Standpunkt nicht entgegen. Mir ging es darum, dass Sanel M. ein kleiner Fisch war (und nach wie vor ist). Die behoerdlichen Bestimmungen der Staatsanwaltschaften in Hessen sind ja genau deshalb so gewaehlt worden, um Taeter mit groesserem Kriminalitaetspotential, also Intensivtaeter, von weniger gefaehrlichen Straftaetern abzugrenzen. Und Sanel M. gehoerte offensichtlich nicht in diese Intensivtaeter-Kategorie.

                Faelle wie Sanel M. gibt es halt zu zehntausenden. Ich kann Ihnen garnicht sagen, wieviele Faelle ich kenne, in denen Jugendliche auf der Strasse grundlos von Schlaegern terrorisiert oder gar zusammengeschlagen worden sind. Ist mir selbst wie gesagt als Kind zig mal passiert. Und es ist praktisch jedem passiert, der mir bekannt ist. Manche kamen oft in diese Situation, manche selten. Manche konnten sich noch rechtzeitig aus der Situation befreien. Manche bekamen nur ein paar Kratzer ab. Andere endeten mit erheblichen Blessuren. Auch die Situation auf dem Parkplatz von McDonald’s haette normalerweise glimpflich geendet. Anders als etwa im „Fall Dominik Brunner“ kann man Sanel M. wohl kaum eine Toetungsabsicht unterstellen. In 9999 von 10000 Faellen waere das Ergebnis der Auseinandersetzung gewesen, das Tugçe A. gedemuetigt und geschlagen, aber lebend und ohne bleibende Schaeden den Ort verlassen haette. Es kam anders, da das Maedchen sehr ungluecklich getroffen wurde und dann wohl auch noch ungluecklich gefallen ist.

                Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir geht es nicht darum Sanel Ms Verhalten schoenzureden. Es ist ein Skandal, dass ein rabiater Gewalttaeter eine junge Frau bedroht und angreift. Es ist ein Skandal, dass sich jemand, der sich schuetzend vor andere stellt, angegangen und geschlagen wird. Und selbstverstaendlich muss die Gesellschaft das ahnden. Aber noch wichtiger als den Schuldigen seiner Strafe zuzufuehren, ist sicherzustellen, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert. Und deshalb muessen wir uns eben fragen, warum Biographien wie die des Sanel M. ueberhaupt zustande kommen. Und da greift mir ihr Ansatz einfach zu kurz.

                Wenn es aber eine Unterschicht zwingend gibt, gibt es auch Abgehängte.

                Ja, das ist leider richtig. Dennoch unterscheiden sich Systeme in Qualitaet und Quantitaet, was das „Abgehaengt sein“ angeht. Wir koennen als Gesellschaft beispielsweise darueber entscheiden, wie weit Familien und Einzelpersonen abgehaengt sind. Die Hoehe des Hartz IV-Satzes spielt hier etwa eine Rolle. „Abgehaengt sein“ ist im uebrigen auch nicht nur ein finanzielles Problem. Arme sind auch deshalb abgehaengt, weil sie nicht integriert sind, weil sie keine Teilhabe am Gemeinleben besitzen. In frueheren Beitragen war z.B. ueber freien Zugang zu Fussballvereinen oder Musikschulen oder kostenlosen ÖPNV etc. geredet worden. Auch das sind Moeglichkeiten Teilhabe fuer Arme zu schaffen ohne direkte Geldtransfers.

                Wir als Gesellschaft entscheiden auch ueber die Zahl an Abgehaengten. Ein starker Sektor oeffentlich finanzierter Arbeit in Bereichen, in denen das wuenschenswert ist, koennte z.B. viele Menschen aus der Armut in Lohn und Brot bringen. Zumindest diejenigen, die motiviert sind und gerne arbeiten wollen. Auch der Mindestlohn hebt Menschen aus der Abhaengigkeit vom Sozialamt und ermoeglicht ein menschlicheres Leben. Jede Seele, der wir deinen Weg aus Elend und Hoffnungslosigkeit bereiten koennen zaehlt. Und die, die in der Mittelschicht ankommen, und sei es in der unteren Mittelschicht, werden mit erheblich groesserer Wahrscheinlichkeit Kinder grossziehen, die ein anstaendiges Wertesystem haben. Weil Eltern in der Regel wollen, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Diejenigen Eltern, die das nicht mehr wollen, haben entweder psychische Probleme oder haben sich bereits aufgegeben. Und Armut verstaerkt psychische Probleme, macht krank und foerdert Passivitaet und Lethargie. Zugang zur Mittelschicht kann die Menschen stabilisieren, und fuehrt wohl auch zu einem gesuenderen, aktiveren Leben. Die Folge sind weniger Sanel Ms.

  • Stefan Sasse 28. November 2014, 22:56

    Das alles ist eine Erklärung, keine Entschuldigung.

  • Ralf 28. November 2014, 23:02

    Der Unterschied zwischen „Erklaerung“ und „Entschuldigung“ ist fliessend. Und letztlich ist es fuer die Zukunft auch gleichgueltig, ob wir die Erklaerung Entschuldigung nennen wollen oder nicht. Unser Streben muss doch darin liegen solche schrecklichen Faelle so gut es geht zu verhindern. Und das geht nun mal nicht mit „einfachen Antworten“ wie immer haerteren Strafen, Sanktionen und „Stoppschildern“. Auch wenn das im Volk natuerlich immer gut ankommt …

    • Wolf-Dieter 29. November 2014, 07:15

      Der Unterschied zwischen “Erklaerung” und “Entschuldigung” ist fliessend.

      Nein. Der Unterschied ist kategorisch. Auch seiner eigenen Sicht ist Sanel M. klipp und klar schuldig. (Und damit habe ich es mir keineswegs „leicht“ gemacht.)

      • In Dubio 29. November 2014, 11:02

        Sanel wird weder wegen Totschlags noch wegen Mordes angeklagt werden, weil die entsprechenden Merkmale fehlen. Außerdem wird er aller Voraussicht nach nach Jugendstrafrecht verurteilt. Dies legt nahe, dass er schon nach kurzer Haftdauer wieder in Freiheit sein wird.

        Ich glaube auch nicht, dass ihm zum Zeitpunkt der Tat und vielleicht auch heute noch nicht umfänglich klar ist, was er getan hat. Und egal, wie es strafrechtlich am Ende geahndet wird, er wird für sein Leben der „Mörder von Tuğçe“ sein.

      • Ralf 30. November 2014, 00:44

        @ Wolf-Dieter

        Wenn ein Kind aufgrund eines katastrophalen Umfeldes eine schreckliche Entwicklung nimmt, dann mindert das die Schuld. Ein Kind hat keinen Einfluss darauf, in welche Familie es geboren wird, welcher Gewalt es dort ausgesetzt wird etc.. Wer das Glueck hatte in einem liebevollen Elternhaus aufzuwachsen, sollte nicht unterschaetzen welchen Einfluss das Fehlen eines solchen Elternhauses auf die betroffenen Kinder hat.

  • A. M. 28. November 2014, 23:40

    Viele sind betroffen und es ist tröstlich, dass Sie das so schildern.

    „Feige, weil sie getan haben, was sie nicht hätten tun dürfen: betrunken, tief in der Nacht auf der Straße als Minderjährige. Nicht ein Minimum an Mut bringen sie für ihre Retterin auf.“

    Wir wissen nicht, wieviel Mut das bedeuten würde. Wir wissen nicht genau, was ihnen in dieser Nacht getan wurde oder wie sehr es sie getroffen hat. Oder wie ihre Familien denken. Es gehört jedenfalls mehr als minimaler Mut dazu, sich nach dieser Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen.

    Und um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Die beiden hätten vielleicht nüchterner sein sollen, sich vielleicht melden sollen, aber sie haben keine Verantwortung für Tuğçes Tod. Kein bisschen.

    Ich finde nicht, dass die beiden der Öffentlichkeit etwas schulden.

    • In Dubio 29. November 2014, 11:07

      In dem Alter steht den sehr jungen Mädchen der volle Schutz und die Anonymität der Öffentlichkeit zu. Sie müssten sich lediglich gegenüber ihren Eltern outen, diese wiederum sind mit dafür verantwortlich, dass ihre Sprößlinge erstens alkoholisiert waren und zweitens zu einer Zeit unterwegs, wo sie laut Gesetzgeber nur an einen Ort gehören: ins Bett.

      Hätten nicht so viele Menschen – Sanel, seine Eltern, die Eltern der Mädchen, die Teenager selbst – so viel falsch gemacht, wären so mutlos und so wenig bereit, für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen, wäre Tuğçe in dieser Nacht nichts passiert. Sie ist die einzige, die nichts falsch gemacht hat.

  • Stefan Sasse 29. November 2014, 18:42

    Volle Zustimmung.

  • Merlin 1. Dezember 2014, 11:59

    Nach Durchlesen dieser Beiträge sehe ich erstmals bei mir die Bereitschaft, mich in die Welt eines Sanels hineindenken zu wollen. Wie war seine frühe Kindheit, was trug dazu bei, dass er wurde wer er heute ist? „Die Gesellschaft zieht sich ihre Kriminellen selbst heran“ – ein Satz, den ich nicht ausblenden kann. Und doch bleibt die Verantwortung eines Menschen für das was er tut. Auch „verfehlte Integrationspolitik“ rechtfertigt nicht die Tötung eines anderen Menschen. Ich verstehe die Wut vieler Bürger sehr gut, finde es hilfreich, dass an dieser Stelle auch Aspekte aufgezeigt werden, die geeignet sind, größere Zusammenhänge aufzuzeigen.

    • Stefan Sasse 2. Dezember 2014, 15:12

      Absolut. Ich will das auch überhaupt nicht kleinreden. Für mich bleibt nur eine wesentliche Sache bestehen: tausende, zehntausende, wenn nicht hunderttausende andere sind in der gleichen Situation wie Sanel. Und sie töten niemanden. Egal, wie schlecht die sozialen Umstände einer Person sind, diese Selbstkontrolle muss ich als Gesellschaft erwarten können. Und wo die nicht da ist steht mit Recht die Härte des Gesetzes. Wir würden eine völlig andere Debatte führen, wenn es um eine betrunkene Kneipenschlägerei oder einen Ladendiebstahl gehen würde.

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