Ostdeutsche „Reconstruction“ – ein sinnvoller Vergleich?

Man muss dankbar dafür sein, dass andere Länder andere Vergleiche benutzen und aus einem anderen Fundus an Erinnerungen und Erfahren schöpfen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, den „Aufbau Ost“ mit der amerikanischen „Reconstruction“ des Südens nach dem Bürgerkrieg zu vergleichen, aber das Fass, das Neal Ascherson in seinem grandiosen Artikel aufmacht, ist mehr als interessant:

But it was not until years later, and after visiting the ‘reunified’ East, that I began to realise that more than a ruthless severing by the Great Powers had held the two Germanies apart. In historical hindsight, the partition can be understood as a cold civil war. The two societies had slowly diverged, becoming other and alien to each other in ways which were not all propaganda. And when the West Germans won that war and annexed East Germany (the best word for it), the aftermath was uncannily like Reconstruction after the American Civil War. Here was repeated the economic collapse, the inrush of greedy carpetbaggers from the victorious West, the purging of an entire elite from management, teaching and social leadership, the abolition of institutions and, of course, the liberation of the slaves – this time, into mass unemployment. It was a long time ago now. The tall young women cycling to university lectures in Leipzig or Rostock were born after the Wall came down. But, to go by the history of the American South, the cultural bitterness, economic lag and political distinctness will last for some generations.

Was denkt ihr? Ist das ein treffender Vergleich, oder ist er völlig abwegig und hat keinen Erklärungsgehalt?

{ 8 comments… add one }
  • Kirkd 3. Juni 2013, 10:01

    Der Vergleich hinkt insoweit, als der Kommunismus ostdeutscher Prägung aufgezwungen wurde und nicht die gewünschte Gesellschaftsform der Gesellschaft war. Die unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung ist aber ein Fakt und bedingt natürlich Frustration bei Teilen der Gesellschaft. Ein Unterschied ist aber wiederum, dass dies nicht nur auf die die DDR tragenden Eliten zutrifft, sondern auch auf die innere Opposition der DDR. Die Bürgerrechtsbewegungen send ja zügig aus dem politischen Prozess wegfrustriert worden. Die antistaatliche Jugendszene der DDR hat 1989 eher als Ersatz des Zwangssystem durch fremde Kulturinvasion erfahren, und bildet heute die Basis für eine große rechte Szene.

    Insgesamt denke ich nicht, dass man 100 Jahre brauchen wird, bis ein ostdeutscher Nixon die Risse kittet. Das liegt aber daran, dass nicht die ostdeutsche Gesellschaft zusammengebrochen ist, sondern die Zwangsordnung in der sich die Gesellschaft fügen musste.

    • Stefan Sasse 3. Juni 2013, 10:29

      Man übersieht irgendwie gerne, wie tief der Graben zwischen Ost und West noch ist, finde ich.

      • Kirkd 3. Juni 2013, 13:39

        Absolut. Osten kommt ja medial auf landesweiter Ebene nicht vor. Im Fernsehen merkt man das erst, wenn ein Westdeutscher Journalist mal irgendwo in Ostdeutschland ne Reportage machen soll und man bei egal welchem Interview merkt, dass Fragen und Antworten zueinander irgendwie schief sind.

        Persönlich merke ich es bei Begegnungen sofort. Bestimmte Bewertungen, zB historische, laufen irgendwie grundlegend anders.

    • Pompeius 3. Juni 2013, 15:04

      „Der Vergleich hinkt insoweit, als der Kommunismus ostdeutscher Prägung aufgezwungen wurde und nicht die gewünschte Gesellschaftsform der Gesellschaft war.“

      Man könnte jetzt natürlich einwenden, dass auch die Sklavenhaltergesellschaft der Südstaaten der Gesellschaft von einer Elite aufgezwungen wurde.

      • Kirkd 3. Juni 2013, 15:10

        Meines Wissens war es nicht so, dass eine weiße Sklavenhalterelite weißen Nichtsklavenhaltern ihre Ordnung aufgezwungen hat. In einem demokratischen Staatswesen wäre das auch nicht so einfach gewesen. Die große Mehrheit der weißen Bevölkerung befürwortete die Sklaverei.

        Dass diese Ordnung den Schwarzen aufgezwungen war, ist klar. Aber das Problem der fortwährenden Spaltung Nord-Süd lag nicht an den Schwarzen in den Südstaaten, sondern an den Weißen.

        • Stefan Sasse 3. Juni 2013, 15:56

          Jupp, die weiße Bevölkerung stand dahinter, auch die 99%, die keine Sklaven hatten.

  • Jan Falk 3. Juni 2013, 10:59

    Ich fand den gesamten Artikel auch absolut spot on und voller interessanter Beobachtungen.

    Die These, dass die kulturelle Spaltung zwischen Ossis und Wessis subtil noch lange andauern wird, fand ich noch fast am wenigstens überzeugend. Bzw. die Aussage mag schon zutreffen, dürfte aber längst nicht die Relevanz haben wie in den USA.

    Der Grund? Von Ostdeutschland ist einfach nicht mehr viel übrig. Die jungen ziehen weg, entweder in die wenigen erfolgreichen Metropolen des Ostens oder in den Westen. Da vermute ich einfach mal, dass die kulturelle Prägung schnell überlagert werden dürfte.

    Eine langanhaltende „Opfer“-Mentalität wie in den Südstaaten der USA wird kein weitverbreitetes Phänomen sein.

    Spannend fand ich, wie er die Legitimitätsprobleme des Länderfinanzausgleichs beschrieben und auf Europa hochgerechnet hat. Da liegt er absolut richtig:

    „But when that wealth-sharing principle – Lastenausgleich – was transformed into the enormous and much resented burden of paying for the East’s ‘transition to capitalism’, the old instinct of solidarity faded. The constitution still says that ‘property entails obligations.’ But what would the public say now, if Merkel decreed a capital levy to balance the federal government’s contribution to Greek, Cypriot or Slovenian bailouts? „

  • Theophil 3. Juni 2013, 11:19

    Ich habe den Artikel noch nicht gelesen, erinnere mich aber, dass ich den Vergleich vor Jahren zuerst von Prof Michael Burda gehört habe, VWL Prof an der HU Berlin und gebürtiger Amerikaner (http://de.wikipedia.org/wiki/Michael_C._Burda).

    Er zeigte sich damals meiner Erinnerung nach überrascht, dass die Erforschung wirtschaftlicher Angleichungsprozesse in Deutschland hinterherhinke, obwohl das Studienobjekt doch vor der Tür läge. Anders sei es eben in den USA.

    Ich glaube, er warnte v.a. vor zu hohen Erwartungen an die wirtschaftliche Angleichung, die auch in den USA fast 100 Jahre gedauert hätte.

    Ich habe vor kurzem ja ein paar Sachen über die politische Kultur und die demokratischen Wertvorstellungen der Deutschen recherchiert und da waren die Wertunterschiede zwischen Ost & West auch sehr stark und seit der Wende sehr konstant. Ich würde das nicht unterbewerten.

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