Rezension: Bob Blume – Zehn Dinge, die ich an der Schule hasse: Und wie wir sie ändern können
Disclaimer: Ich bin mit dem Autor bekannt und habe ein Rezensionsexemplar erhalten.
Vor rund 20 Jahren machte ein Buch über die Schule Furore, das den Titel „Das Lehrer-Hasser-Buch“ trug. Der Name war Programm; das Pamphlet enthielt vor allem anekdotische Klagen einer Mutter über das, was sie alles ganz schrecklich fand. Die Autorin tingelte damals durch Talkshows, und für einen Nachrichtenzyklus gab sich die Republik genussvoll dem Lehrkräfte-Bashing hin. Man könnte denken, dass Bob Blumes Buch durch die Ähnlichkeit im Titel auch so ein Pamphlet wäre. Aber da wäre man weit gefehlt. Blume ist einerseits wesentlich interessierter an einer konstruktiveren Auseinandersetzung. Und er bringt dafür den Blick von innen mit. Denn Bob Blume ist nicht nur selbst Lehrer, sondern auch ein didaktischer Vordenker im Bereich der Modernisierung und Digitalisierung von Schulen.
Bob Blume hasst in seinem Buch nicht Personen, wie dies bei der unsäglichen Lehrer-Hasserin seinerzeit der Fall war. Er verwendet „Hass“ eher im Sinne einer Wut im Bauch („aber Freude im Herzen“), einem Frust mit bestimmten Umständen des Systems Schule, und mit dem Willen zur Veränderung. In allen Punkten erklärt er, auch für Laien gut verständlich, was die jeweiligen Probleme aus seiner Sicht sind.
So beklagt Blume die Bürokratie, die viele Initiativen verhindert. Nicht von ungefähr nimmt er als Beispiel dafür die Medienentwicklungspläne, die zuverlässig verhinderten, dass die vom DigitalPakt bereitgestellten Gelder abgerufen werden konnten, der Politik aber eine gute Ausrede gaben, den Schwarzen Peter an die Träger und Schulen weiterzureichen. Diese Bürokratisierung zieht sich noch in viele weitere Bereiche. Im Interesse der Struktur des Buches in die titelgebenden zehn Punkte konzentriert sich Blume hier vor allem auf den gigantischen Verwaltungsaufwand, den die Bürokratie schafft und der wertvolle Ressourcen vom pädagogisch-didaktischen Geschäft abzieht, aber diese bürokratische Logik zieht sich als Problemfaktor auch in andere Bereiche.
Ein Beispiel dafür wäre der von Blume völlig zurecht beklagte „Stofffetisch“, die Konzentration der Schule (und aller beteiligten Gruppen) auf die Erfüllung der Inhalte des Bildungsplans, auch wenn er eigentliche Lernerfolg eher bescheiden bleibt. Das liegt, so Blume, an den festgefahrenen Strukturen idealen Unterrichts mit seinen künstlichen Erarbeitungs- und Sicherungsphasen (ich hab das hier näher erklärt), der wiederum in der Lehrkräfteausbildung im Zentrum steht (die ein eigenes Kapitel verdient hat und es auch bekommt).
Diese Zusammenhänge arbeitet Blume in seinem Buch sehr anschaulich heraus. Er erspart den Lesenden nicht, jeweils eine kurze, aber fundierte Einleitung ins Thema zu bekommen. Das ist gut, denn wer nicht weiß, wie Unterricht wenigstens grundsätzlich funktioniert, kann ihn auch nicht vernünftig kritisieren (oder Blumes Kritik nachvollziehen); wer nicht weiß, nach welchen völlig intransparenten Prinzipien die Lehramtsausbildung verläuft, wird nicht verstehen, wo das Problem liegt.
Überfordert wird man damit nicht; das Buch ist insgesamt nur rund 230 großzügig dimensionierte Seiten dick und bequem an einem halben Nachmittag lesbar, zu was Blumes flüssige Schreibe nicht unerheblich beiträgt. Aber es ist mit Sicherheit der derzeit fundierteste Überblick, der gerade auch für Laien erhältlich ist (und auch für „Profis“ sehr gut lesbar, die an vielen Stellen verständig oder voll Wiedererkennung mit dem Kopf nicken werden).
Blume selbst ist kein Unbekannter. Schon seit Langem bloggt er auf seiner Homepage über Unterricht; unter dem Pseudonym „Netzlehrer“ ist er auf Twitter und Instragram aktiv und hat dort zusammen über 50.000 Follower*innen. Er spricht auf Kongressen und ist ein gefragter Interviewpartner. Innerhalb der „Szene“ der um Reformen im Schulsystem bemühten Lehrkräfte ist er sicherlich ein Vordenker. Ich erwähne das deswegen, weil er auch nicht unumstritten ist. Seine didaktischen Ideen zur Digitalisierung, die er in einem eigenen Buch verarbeitet hat, haben Kritik provoziert, und bei diesem Buch ergeht es ihm nicht anders.
Das liegt natürlich einerseits an den Animositäten und ideologischen Grabenkämpfen des #Twitterlehrerzimmers, aber dahinter verbergen sich zentral unterschiedliche Ansätze zur Reform von Missständen. Blume thematisiert diesen Konflikt innerhalb des Buches auch kurz, aber ich halte das für das Verständnis für zentral: er ist, was ich einen Inkrementalisten nennen würde. Er fordert keine vollständige Umwälzung des Schulsystems, sondern Verbesserungen in dem Rahmen, der aktuell vergleichsweise kurzfristig in den gegebenen Umständen und Institutionen umsetzbar ist. Das ruft Kritik vor allem bei denen hervor, die ihren Blick auf größere Änderungen gerichtet haben.
Ich rechne mich eher zu denjenigen, die wie Blume versuchen, die Freiräume des Systems zu nutzen, so eingeschränkt sie auch sein mögen. Mir liegt dieser Ansatz daher wesentlich näher, aber ich fände es unredlich, nicht darauf hinzuweisen, dass dies für andere ein Dealbreaker sein könnte. Auch teile ich nicht sämtliche Problembeschreibungen. Dass es im Lehrkraftberuf etwa vergleichsweise leicht ist, mit unterdurchschnittlichen Leistungen durchzukommen, bewegt Blume zu einer Generalkritik am Beamtenstatus von Lehrkräften. Allein, ich sehe nicht, dass ein Angestelltenstatus die Situation verändern würde; mein Gewicht liegt viel mehr auf verbindlichen Evaluationen, Kooperationen und Feedbackschleifen (auf die Blume ebenfalls verweist!).
Aber das ist Kleinkram. Insgesamt kann ich 95% der Kritikpunkte problemlos unterschreiben und meine Stimme dem Chor derjenigen hinzufügen, die wie er Reformen fordern. Blume belässt es dabei auch nicht nur an der Darstellung der Missstände im System – von wenig aussagekräftigen und den Lernerfolg behindernden Noten, von mies konzipierten Prüfungsregimen, von kritisches und demokratisches Denken nicht eben fördernden Schulalltagen, von mangelndem Respekt gegenüber den Schüler*innen und ebenso mangelnder Einbindung der Eltern -, sondern präsentiert am Ende auch zehn Ansätze, wie es besser gehen könnte.
Dazu gehört, was den Unterricht angeht, spannenderweise nicht die Liste progressiver Klassiker, von denen sich Blume explizit absetzt. Er erachtet weder vorgegebenen Stoff und Kanon noch die Fächerstruktur als grundsätzliche Probleme, vielmehr plädiert er für ihre Beibehaltung. Stattdessen plädiert er für eine Öffnung auf neue Methoden, neue Lernkonzepte und mehr Freiheit für Lehrkräfte wie Schüler*innen. Mehr Freude am Lernen, das oft eingeforderte und selten erreichte Ziel der Reformen, steht auch bei ihm im Mittelpunkt.
Gleichzeitig begibt er sich immer wieder auf die Ebene des Alltags zurück, weg von utopischen Idealen einer ganz neuen Schule und zu so basalen Aspekten wie der Alltagskenntnis der Lehrkräfte (also dass Lehrkräfte wissen, wie der Alltag ihrer Schüler*innen eigentlich aussieht). Es ist diese sympathische wie fruchtbare Verbindung von Alltagstauglichkeit und Theorie, von großen Ideen und Verbesserungen im Kleinen, wie sie Blume sowohl einfordert als auch selbst vorlebt, die das Buch so gelungen machen. Wer wissen möchte, woran das Schulsystem heute krankt, aus der Perspektive der Praxis und mit Möglichkeiten, konkret etwas daran zu ändern anstatt nur im luftleeren Raum zu schwadronieren, für all diese Personen ist dieses Buch eine unverzichtbare Lektüre, die nur wärmstens ans Herz gelegt werden kann.
Sogar David Cameron hat es damals doch geschafft, vielen Schulen mehr Autonomie zuzugestehen. Warum ist das in Deutschland so schwierig? Eigentlich müsste es aufgrund des Bildungsföderalismus doch sogar einfacher als etwa in GB sein. Warum traut sich ein Kultusminister nicht mal was?
Eher schwieriger. Die Länder hüten ihre Kompetenzen eifersüchtig, weil es einer der wenigen Bereiche ist, in denen sie noch schalten und walten können. Dazu sind deutsche Behörden nicht unbedingt auf „Freiräume“ angelegt.
Ja, eben! Mit einer Schulliberalisierung könnte man in einem politisch überschaubaren Zeitraum – sagen wir mal: innerhalb von 5-10 Jahren – erhebliche Erfolge erzielen. Ein Land könnte sowas problemlos im Alleingang hinkriegen. Aber aus irgendeinem Grund scheuen die Bundesländer die Möglichkeiten des Föderalismus. Dasselbe Elend gibt es übrigens beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Das gilt fast überall. Eine massive Bremse haben wir aber noch nicht diskutiert: Eltern. Jede noch so kleine Änderung im Bildungsbereich ruft massive Widerstände hervor, und zwar völlig egal in welche Richtung. Deswegen sind Änderungen auch sehr schwer.
Cameron hat damals Schulen in sozialen Brennpunkten liberalisiert – eine cleverer Ansatz, finde ich. Sozial benachteiligte Schüler sind ja genau die Gruppe, die am meisten von einer Verbesserung profitieren würden. Die Situation an Gymnasien ist letztlich egal. Diese Schüler steigen ohnehin gut ins Leben ein.
Wir müssten ja erst mal zugeben, dass solche sozialen Brennpunkte existieren. Aber ja, von mir aus gerne. Ich bin ein starker Befürworter von Liberalisierungen im Schulsystem. Ich seh es nur nicht passieren 🙁
Dabei ist das offenbar auch bei uns möglich, sogar in Berlin:
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/ruetli-schule-in-berlin-neukoelln-vom-problemfall-zur-vorzeigeschule-a-1199251.html
Ja, bei so viel medialer Aufmerksamkeit geht immer viel…
Mich erstaunt etwas, dass du anders als bei der letzten Buchbesprechung nicht den Einzelpunkten des Buches inhaltlich gefolgt bist, sondern immer wieder hin- und herspringst zwischen Inhalt und Bewertung. Soweit ich es aus deiner Besprechung lesen kann, hasst Blume diese 10 Dinge:
– Bürokratie bei der Mittelbeschaffung
– Den Stoffe-tisch (ein missverständliches Wort)
– Seinen Beamtenstatus
– Die Lehrerausbildung
– Mangelnde Evaluation der Lehrer
– Noten
– Prüfungen
– Den undemokratischen Schulalltag
– Mangelnden Respekt gegenüber Schülern
– Nichteinbinden der Eltern
Erstaunlicherweise ist da kein Platz mehr für das Bildungsreformer-Lieblingsthema Digitalisierung.
Er hat zum einen ein Buch zu dem Thema geschrieben (genauso wie andere), zum anderen kommt es auch vor. Aber Digitalisierung ist, wie ich in der Rezension anreiße, auch eine verbindende Klammer. Ich habe mich strukturell dagegen entschieden, einfach nur eine Inhaltsangabe+ zu machen, sondern eher zu versuchen, eine Synthese herzustellen. Keine Ahnung, ob das gelungen ist 😀