Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.
Diesen Monat in Büchern: Bush, Buschritter, Elterngespräche, Care-Arbeit, Deutschland dienend
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Familiendynastien, Erfinder
Bücher
Robert Draper – To Start a War: How the Bush administration took America into the Iraq War
Warum hat Amerika den Irakkrieg begonnen? Es ist faszinierend, dass 17 Jahre nach Beginn dieses Konflikts, der die ersten 20 Jahre des Jahrhunderts so negativ geprägt hat, immer noch nicht wirklich eine abschließende Erklärung gefunden wurde. Ich war nie ein Jünger des eher links geprägten Narrativs vom „Krieg für Öl“ oder den Einflüssen der saudi-arabischen Regierung (aus denen Michael Moore in Fahrenheit 9/11 so viel machte), aber eine wirklich befriedigende Erklärung hatte ich auch nicht gehört. Irgendwie ging der Irakkrieg als großer Clusterfuck einfach mit der Zeit unter, Teil des generellen Chaos‘ der Region.
Deswegen ist es gut, dass Robert Draper sich an eine umfassende Studie der Entscheidungsprozesse gemacht hat. Er weist nach, wie einerseits eine Reihe von ideologisch motivierten Neocons wie Wolfowitz auf einen Krieg drängte, den sie schon immer führen wollten, wie aber andererseits viele Mitglieder der Administration sich in eine Situation diskutierten, in der sie glaubten, keine andere Wahl zu haben.
Wie ich ja letzthin bereits im Vermischten habe anklingen lassen, ist gerade der Besorgnis erregende Trend zu sehen, Bush und die restlichen Neocons zu rehabilitieren. Was Draper in seinem Buch zeigt ist, wie diese Leute aus unterschiedlichsten Motiven völlig versagten. Draper stellt Bush als einen Präsidenten dar, der wenig an Gestaltung interessiert ist und den Konflikt scheut. Das führt zur Herausbildung einer Konsenskultur in seinem Beraterkreis, die Bush generell keine widersprüchlichen Informationen oder abweichenden Positionen geben – im deutlichen Unterschied zu seinem Nachfolger Obama übrigens, der solchen Widerspruch immer förderte.
Trotz dieser vielen spannenden Elemente finde ich das Buch schlicht zu lang. Draper verfolgt minutiös irgendwelche Treffen nach, und sein journalistischer Stil sorgt für die Herausbildung von Narrativen und einer starken Personalisierung. Perspektiven außerhalb des Weißen Hauses werden komplett ausgebildet. Gefühlt hätte sich das alles in maximal der Hälfte der Seitenzahlen erzählen lassen, der Rest ist hauptsächlich Fluff. So wichtig es ist, die Periode aufzuarbeiten – gerade angesichts der Rehabilitierungsversuche – so sehr scheint mir hier eine Chance verpasst.
George R. R. Martin – A Knight of the Seven Kingdoms (George R. R. Martin – Der Heckenritter)
Angesichts meiner anstehenden Unterrichtseinheit in meiner neuen elften Klasse war es wieder einmal Zeit, die Heckenritter-Geschichten auszupacken und zu lesen. Für diejenigen, die sich nicht kennen: Die drei Novellen spielen ca. 80 Jahre vor den Geschehnissen von „Game of Thrones“ und werden zwar als „die Vorgeschichte“ verkauft, aber das ist Blödsinn. Die Bezüge zur GoT-Geschichte sind ziemlich klein. Und das ist auch gut so.
Stattdessen sind die Heckenritter-Novellen großartige, eigenständige Geschichten. Der einfache Knappe Dunk übernimmt nach dem Tod seines Herren dessen Titel und Besitz und kommt durch Zufall in Kontakt mit der herrschenden Königsfamilie. Die Geschichten haben aber wesentlich intimere Kerne.
In der ersten, „Das Urteil der Sieben“, spielen Ehrvorstellungen und Ideale eine zentrale Rolle, die auf die Realität treffen – und so zeigen, dass es von Individuen abhängt, ob Institutionen und ihre Normen (hier die Ritterschaft) funktionieren oder nicht. Das Thema ist zeitlos, aber wichtig.
In der zweiten, „Das verschworene Schwert“, über die ich jüngst einen Podcast aufgenommen habe, sieht man die Gefährlichkeit von nostalgischer historischer Erinnerung und toxischer Ideologie, die in blutige Konflikte eskaliert. Sie ist und bleibt mein absoluter Favorit unter den Dreien.
Die letzte Geschichte, „Der mysteriöse Ritter“, behandelt zentral Fragen der Identität. Wer bin ich, und was macht mich zu dem? Kann ich etwas anderes sein? Welche Rolle spielen Selbstbild und Fremdbild? Diese Geschichte ist die wohl anspruchsvollste und am schwierigsten zugängliche der drei, aber lohnt die Beschäftigung.
Wer die Heckenritter-Geschichten bisher nicht gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen. Sie sind nicht lang, sehr gut und unterhaltsam geschrieben und geben viel Nachdenkfutter.
Jesper Juul – Gespräche mit Eltern
Jesper Juul ist einer der bekanntesten Erziehungsratgeber überhaupt. In diesem Buch sind diverse Gespräche mit verzweifelten Eltern über ihre jeweiligen Probleme dokumentiert, in stark kondensierter und beinahe ritualisierter Form („Worüber möchten Sie heute mit mir reden?“). Die Probleme werden immer in einem kurzen Text eingeführt, gefolgt von einem Bericht der betroffenen Familie, wie es ihnen danach ging (immer beeindruckt, wie sehr ihnen das Gespräch geholfen hat).
Generell sind Juuls Einsichten und Philosophien durchaus gewinnbringend. Oft erkennt er mit scharfem Blick, wo die Probleme liegen, und sein unnachgiebiger Fokus auf den Erwachsenen als Problemfaktor, statt die Kinder verantwortlich zu machen, ist bewundernswert.
Das Buch selbst ist allerdings recht gewöhnungsbedürftig zu lesen. Die Übersetzung nutzt zahlreiche altmodische Begrifflichkeiten („Buben“ etc.), die sich anfühlen wie von vor 50 Jahren, und manchmal fühlt es sich arg nach Glückskeksniveau an. Trotzdem lese ich Juul immer wieder mit Gewinn.
Almut Schnerring/Sascha Verlan – Equal Care. Über Fürsorge und Gesellschaft
Almut Schnerring und Sascha Verlan habe ich hier im Blog bereits im Zusammenhang mit ihrem großartigen Buch „Die Rosahellblau-Falle“ besprochen. Die beiden sind unter dem Twitter-Handle @machmirdiewelt sehr aktiv und haben unter anderem die Auszeichnung des goldenen Zaunpfahls für das krudeste Gender-Marketing ins Leben gerufen. Umso begieriger war ich, ihr neuestes Buch zu lesen, in dem es um Care-Arbeit geht.
Dieser Begriff wird zu Beginn erst einmal definiert, und völlig zu Recht. Die englische Begrifflichkeit ist mit „Fürsorge“ nur sehr mangelhaft übersetzt und umfasst eine Fülle von Aufgaben von der Pflege von Angehörigen über Kindeserziehung bis zu mundänen Haushaltstätigkeiten. Als Mindset aber, als Weg, die Aufgabenverteilung in der Gesellschaft zu begreifen, geht das alles noch weit darüber hinaus.
Schnerring und Verlan brillieren darin, die gesellschaftlichen Dimensionen der ungerechten Verteilung von Care-Arbeit aufzuzeigen. Vieles davon ist seit Jahren in der Debatte bekannt, aber da die Debatte selbst ein Nischendasein fristet, ist die kohärente und kurze Zusammenfassung in diesem Büchlein umso willkommener. Themen sind die berufliche und gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen, auf deren Schultern die Arbeit lastet, ebenso wie die Auswirkungen auf Männer, die allzu oft kritische empathische Fähigkeiten vermissen lassen, weil sie in die Care-Arbeit nicht eingebunden werden und diese als weiblich definiert wird. Das Patriarchat, um es einmal mehr auf den Punkt zu bringen, schadet allen.
Wo das Buch sich teilweise etwas verirrt sind die Punkte, in denen Autor und Autorin Bereiche streifen, die bestenfalls peripher verbunden sind, etwa wenn sie die Videospiele beklagen, die die „Jugend von heute“ spielt oder die Wirkung der sozialen Netzwerke. Solche Nebenbemerkungen sind viel zu oberflächlich, um der Komplexität dieser Themen Genüge zu tun und wirken so eher wie Fortschrittspessimismus und Neo-Ludditentum, von dem man besser wegbleiben sollte. Glücklicherweise sind diese Passagen nur ein kleiner Bruchteil des ansonsten rundum zu empfehlenden Werks!
Narinam Hammouti-Reinke – Ich diene Deutschland
Hammouti-Reinke ist in den letzten Jahren ein wenig in die Schlagzeilen geraten, weil sie als muslimische Soldatin in der Bundeswehr nicht nur eine Exotin ist, sondern auch über ihre Erfahrungen gesprochen und sich – als Soldatin – politisch engagiert hat, unter anderem für eine bessere Sichtbarkeit von Muslimen in der Bundeswehr und in der Gesellschaft generell. Sie hat dafür wenig überraschend aus der rechten, aber – leider genauso wenig überraschend – auch aus der linken Ecke viel Kritik geerntet.
Inzwischen hat sie ein Buch geschrieben, das mit dem plakativen Titel „Ich diene Deutschland“ ihre sehr persönlichen Ansichten zu all diesen Themen und der Bundeswehr generell verarbeitet. Hammouti-Reinke beginnt mit einem eher autobiographisch geprägten Einstieg, in dem sie ihren (nicht unbedingt geraden) Weg zur Bundeswehr und ihren familiären Hintergrund beleuchtet. Ihre marokkanischen Wurzeln und ihre Erfahrungen als Deutsche mit Migrationshintergrund sind ebenso wie zeitgenössische Ereignisse – Stichworte Karfreitagsgefecht oder Flüchtlingskrise – beständiger Hintergrund.
Ich selbst habe nie Bezug zur Bundeswehr gehabt. Mir war schon immer klar, dass das kein Laden ist, in dem ich glücklich sein könnte oder der mit mir etwas anfangen könnte, und dementsprechend war ein Ableisten des Wehrdiensts für mich immer außer Frage. Es ist daher immer gut, wenn man Innenansichten bekommt, von jemandem, der dieses System liebt und in der Lage ist, die Gründe dafür in Worte zu fassen. Hammouti-Reinke vermag es, ihre Haltung und die des Behördenapparats Bundeswehr in solche Worte zu fassen und Lesenden begreiflich zu machen, was es hilft, die Bundeswehr besser zu verstehen – und ihre Probleme.
Denn die Autorin hält damit nicht hinter dem Berg. Von der Diskriminierung von Muslimen über Sexismus zur miesen Materiallage und der mangelnden Unterstützung in Politik und Bevölkerung werden alle Dimensionen der Bundeswehrkritik, sowohl an der Institution als auch derjenigen in der Institution selbst, bedient. Das ist wichtig, denn üblicherweise kommt in der Öffentlichkeit nur die Kritik von Außenstehenden zu Wort, während SoldatInnen eher selten in der Debatte stehen. Wie der Buchtitel schon verrät, ist Hammouti-Reinke aber mit Leib und Seele Soldatin. Ihre Ansichten sind daher konstruktiv für die Bundeswehr und zielen weder in Richtung einer Grundsatzkritik noch in einem white-washing der Truppe. Und genau das macht das Buch so lesenswert.
Zeitschriften
Spiegel Geschichte – Dynastien
Ich lese normalerweise den Spiegel Geschichte nicht, weil ich ihn für nicht sonderlich lesenswert halte. Mir fiel dieses Exemplar mehr durch Zufall in die Hände. Und jetzt fühle ich mich in meiner bisherigen Nicht-Leserei bestätigt. Das gewählte Thema – Unternehmerdynastien – ist zwar durchaus interessant.
Auch muss man der Redaktion zugute halten, dass sie die negativen Seiten mit einbeziehen, etwa die Verstrickung der Industriellen in Nationalsozialismus und Holocaust. Aber das Grundproblem dieser Thematik bleibt bestehen: Weil man für die Geschichte der meisten Unternehmen, Familienunternehmen zudem, letztlich auf die Mitarbeit der entsprechenden Unternehmen angewiesen ist, bleibt die Berichterstattung sehr freundlich. So auch hier.
Zudem neigt der Schreibstil sehr zum klassischen Geschichtenerzählen mit eindeutigen Protagonisten und klar definierten Rollen entlang tradierter Geschichtsverständnisse. Die Brechung von Erwartungen, wie sie etwa GEO Epoche kennzeichnen, fehlen hier weitgehend.
GEO Epoche – Denker, Forscher, Pioniere
Diese Ausgabe der GEO Epoche ist aus mehreren Gründen beachtenswert. Einerseits deutet der Titel bereits auf ein Problem hin, das sich durch den kompletten Band zieht: DenkER, ForschER, PionierE. Männer. Zwar gibt sich die Redaktion alle erdenkliche Mühe, so viele Frauen wie möglich mit einzubeziehen. Aber die Geschichte macht ihr da zum Teil einen Strich durch die Rechnung, weil die Frauen konsistent um ihre Möglichkeiten auf der einen Seite oder um ihre Meriten auf der anderen Seite gebracht.
Aber das ist eben nur die eine Seite. Denn grundsätzlich spricht nichts dagegen, dem gescheiterten Naturwissenschaftler Hooke, dem ein achtseitiges Feature gewidmet wird, nur die eine Seite zu geben, die etwa Olympe de Gouges bekommen hat. Oder ihrem Landsmann Lavoisier. Hier hätte der Redaktion noch ein Stück mehr Mut gut getan.
Aber: Die Zeitschrift ist konzeptionell ansonsten absolut großartig. Nicht nur wird ein Mix an bekannteren Personen (Darwin) und unbekannten (Hooke, Lavoisier) gegeben, sondern auch stets Wert darauf gelegt, die jeweiligen Umstände ihrer Entdeckungen genau zu besprechen. Was diese Ausgabe der GEO Epoche brillant schafft, ohne auch nur ein einziges Mal Bezug auf die unsägliche Statuendebatte zu nehmen, ist zu zeigen, wie man mit problematischen Aspekten herausragender Persönlichkeiten umgeht, ohne ihre Errungenschaften zu vernachlässigen.
In jedem Feature schafft es die Redaktion, sowohl die problematischen Aspekte von Persönlichkeiten herauszuarbeiten als auch in den Kontext der jeweiligen Zeit zu setzen. Lavoisier konnte ein brillanter Ahnherr der Chemie sein und eine ausbeuterische Stütze des Ancien Regime. Indem man beidem seinen Raum gibt, ohne in Hagiographie oder Schauprozess abzurutschen, schafft man ein balanciertes, abgewogenes historisches Bild. Sina ira et studio. So sollte es sein. Unbedingte Empfehlung!
Zum Irakkrieg: https://theweek.com/speedreads/947135/former-rubio-spokesman-says-trump-may-gops-iraq-war-critics-note-iraq-war-gops-iraq-war
Zur ‚Verteidigung‘ von Geo Epoche muss auch erwähnt werden, dass es kein Kanon sein will und die Feature-length Artikel i.d.R. aus dem Hauptheft übernommen werden; im Fall Robert Hooke ist der Artikel aus Geo 08/2010. [dem Mann tust du im übrigen mit dem Prädikat ‚gescheitert‘ bitteres Unrecht an, ebenso wie ich nicht nachvollziehen kann, dass du Lavoisier als ‚unbekannt‘ bezeichnest]
Ein großer Lesetip von mir, weil vor kurzem hier Mongolen und Osmanen angesprochen wurden: Peter Frankopan: „Licht aus dem Osten“. Das Buch entwickelt die Weltgeschichte aus der Sicht von Zentralasien/Mittlerer Osten, auch und gerade mit Blick auf 20.Jahrhundert und Gegenwart. Für mich war es ein Augenöffner, vergleichbar mit ‚The Columbian Exchange‘
Das wusste ich gar nicht, schau mal an. Danke!
Hooke und Lavoisier kannte ich vorher halt nicht 😐
Hab das Ding auf meinen Wunschzettel.