Rezension: Die Totengräber

Kürzlich beendete ich die Lektüre des neu erschienenen „Die Totengräber: Der letzte Winter der Weimarer Republik“ von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs. Das Buch beschreibt die Ereignisse von der Regierungsübernahme Kurt von Schleichers im November 1932 bis zur „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933. Um diese Periode zu veranschaulichen, bedient sich das Werk der für historische Betrachtungen eher ungewöhnlichen Darstellung, die Ereignisse chronologisch und Tag für Tag aus der Sicht der jeweilig handelnden Personen aufzuzeigen. Jeder Tag der Kanzlerschaft Kurt von Schleichers, der so etwas wie der Hauptcharakter dieser Schilderung ist, ergibt so ein Kapitel, und jedes dieser Kapitel wird von zwei Schlagzeilen eingeleitet, die in einer der großen Zeitungen dieser Epoche tonangebend waren, meistens die Vossische Allgemeine, der Völkische Beobachter, der Vorwärts und die Rote Fahne (Abonnenten des Zeitungszeugen-Projekts dürften zumindest einige dieser Organe durchaus bekannt sein). Das so entstehende Produkt liest sich komplett anders als praktisch jede andere Historiographie zur Epoche. Ob der Ansatz gewinnbringend ist, soll die folgende Rezension zeigen.

Zuerst einige Anmerkungen zur Struktur. Man darf sich das Buch nicht als einen Roman vorstellen, in dem die historischen Personen als Charaktere agieren. Die Schilderungen sind immer die eines distanzierten, neutralen wie auktorialen Erzählers und ziehen als Quelle sowohl Zeitungen und Dokumente der damaligen Zeit als auch in großem Maße die Aufzeichnungen der handelnden Personen selbst heran. Das führt zur Herausbildung dreier „Hauptcharaktere“, aus deren Aufzeichnungen mehr zitiert wird als aus den meisten anderen: Kurt von Schleicher und seine direkten Helfer, Joseph Goebbels und Abraham Plotkin, ein amerikanischer Gewerkschaftler, der zu der Zeit auf Besuch in Deutschland war und extensive Aufzeichnungen anfertigte.

Die Wahl dieser Sichtweisen ist eine kluge. Zum Einen vermeidet sie eine übermäßige Psychologisierung gerade Hitlers, der ein zu begreifender Fremdkörper bleibt. Von Schleicher gehört nicht gerade zu den best durchdrungenen Personen jener Ära und ist interessant genug, so dass er ebenfalls eine gute Wahl ist. Und Plotkin ist dadurch, dass er bewusst die Atmosphäre jener Tage verstehen wollte, ein Ausländer und Linker ist eine so gute Ergänzung, dass man ihn hätte erfinden müssen, hätte es ihn nicht gegeben.

Es kommt aber auch eine Serie anderer Personen immer wieder in den Fokus, ob die Kamarilla Hindenburgs, Journalisten, andere hochrangige Nazis (besonders Gregor Strasser), Kommunisten und Nationalsozialisten, Zentrumspolitiker und Sozialdemokraten oder einfache Einwohner Berlins. Auf diese Art schaffen Rüdiger Barth und Hauke Friederichs eine ungeheure Atmosphäre. Das Buch ist spannend, was man den meisten Sachbüchern nicht gerade nachsagen kann – und das, obwohl das Ende eigentlich ja bereits klar ist. Es gelingt zudem gut, das Umfeld zu schildern, in dem die Akteure jener Tage handeln, also vor allem (aber nicht ausschließlich) das rezessionsgeschüttelte Berlin des Winters 1932/33.

Hier kommen wir auch zu den ersten selbst erlegten Beschränkungen. Trotz der Informationen über den Lebensalltag, den wir besonders von Abraham Plotkin zu hören bekommen, bleibt der Fokus deutlich auf der Berliner Elite. Das ist nicht gut oder schlecht; es handelt sich nur um eine Frage des Fokus‘, über die man sich vorher im Klaren sein sollte. Das Leben der breiten Masse spielt eine untergeordnete Rolle. Positiv anzurechnen ist in jedem Falle, dass es überhaupt eine Rolle spielt.

Diese Fokussetzung macht Sinn. Im Verlauf der Lektüre wird deutlich, dass die Winkelzüge und Ränkespielereien für die breite Mehrheit keine Bedeutung hatten. Es ist faszinierend zu sehen, wie wenig bewusst den Zeitgenossen war, in welcher Umbruchszeit sie lebten. Die Kanzlerschaft Kurt von Schleichers wurde vor allem als Kontinuum zu der politischen Geschichte der zwei vorherigen Jahre gesehen, nicht als letzte Weimarer Regierung vor der Nazi-Diktatur. Dies ist der größte Vorteil, den die chronologische Struktur meiner Meinung nach mit sich bringt: die weitgehende Ausschaltung anachronistischen Denkens „vom Ende her“ und eine Konzentration auf die jeweils aktuellen Ereignisse.

Ein heimliches Leitmotiv des Buchs sind dabei die Chancen und Gefährdungen der Kanzlerschaft von Schleichers; sie spielen eine zentrale Rolle. Konnte von Schleicher Erfolg haben und eine Art neuen Mittelkurs zwischen den Extremen finden? Die weise Selbstbeschränkung der Autoren kommt hier einmal mehr zum Tragen, denn ihr chronologisch-erzählender Ansatz gibt keine Antwort. Wir erfahren von den Plänen und Hoffnungen von Schleichers und seiner Helfer, von der beißenden Kritik seiner Gegner, von politischen Ränkespielen und Machenschaften.

Der Blick, der sich unter dem mitleidslosen Auge des Erzählers dabei auftut, ist ein spannender. Zu sehen, wie völlig ahnungslos die Akteure durch diese Wintermonate stapften, ist bemerkenswert. Weder von Schleicher noch Goebbels, noch von Papen oder Hindenburg, gar nicht zu reden von Kommunisten und Sozialdemokraten, hatte auch nur die leiseste Idee, in welche Richtung sich alles entwickeln würde. Die Geschehnisse und Aussichten änderten sich Tag für Tag.

Die zentrale Erkenntnis, die der Leser aus dieser Schilderung ziehen kann, ist die ungeheure Brüchigkeit der Situation gerade in Bezug auf die NSDAP. In vom Ende gedachten Erzählungen ist die Machtübernahme immer beschlossene Sache, und man geht nur den Ursachen auf den Grund. Was eine Schilderung wie die vorliegende zu leisten vermag ist deutlich zu machen, wie gefährdet das Projekt der nationalsozialistischen Machtübernahme war, wie angewiesen auf die Parade mediokrer Intriganten um den zunehmend senilen Hindenburg, wie bedeutsam der Faktor Zeit war. Ein, zwei Wochen länger, und vielleicht wären die Nazis Episode geblieben.

Diese Stärke des Buchs ist gleichzeitig auch eine Schwäche. Denn die wenigstens halbwegs sattelfeste Kenntnis der Epoche, sowohl des vorherigen Geschehens als auch der nachfolgenden Ereignisse, sind unabdingbar um vollen Gewinn aus der Lektüre ziehen zu können. Zentrale Akteure wie Hitler, von Papen oder Hindenburg werden überhaupt nicht vorgestellt; es wird vorausgesetzt, dass ihre Bedeutung bekannt ist. Das zieht sich bis zu eher obskureren Machtverhältnissen wie der Haltung der Sozialdemokratie und der Kommunisten zueinander oder der Existenz der Kamarilla.

Wer diese Vorbedingungen jedoch mitbringt und in der Lage ist, die hier ausgebreitete Erzählung in einen breiteren analytischen Kontext einzubetten, wird eine äußerst gewinnbringende Lektüre vor sich haben. Andernfalls steht zu befürchten, dass die Zusammenhänge unklar bleiben und die Bedeutung mancher Akteure oder Ereignisse überbewertet wird. Das aber liegt in der Natur der Sache und ist den Autoren nicht wirklich anzulasten; kein Werk kann schließlich allumfassend alles darstellen. Das Buch sei daher eingeschränkt empfohlen.

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{ 3 comments… add one }
  • Ariane 3. August 2018, 07:01

    Spannend und gleich mal gespeichert. Ich hatte das auch bei „Geschichte eines Deutschen“ von Haffner, da wurde eben auch klar, dass niemand wusste, dass die Machtergreifung irgendwie der totale Umbruch war, weil Hitler eben schon mehrmals Verhandlungen geführt hat, um in die Regierung zu kommen. Und selbst dann sind erstmal (natürlich) alle davon ausgegangen, dass nach sechs Monaten eh wieder alles zusammenbricht und es Neuwahlen gibt.

    Das ist bei Geschichte oft imho auch häufig gefährlich, wenn man das Ende schon kennt, wirkt vieles vorher so unausweichlich. Dabei hätte oft schon ein kleines Rädchen ausgereicht, um doch alles anders kommen zu lassen.

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