Die Geschichtswissenschaft ist, verglichen etwa mit den Naturwissenschaften, keine besonders alte Disziplin. Zwar gab es immer wieder einzelne Personen, die historische Abhandlungen schrieben – man denke etwa an Tacitus, Thukydides oder Polybios in der Antike -, doch diese erfüllten keinesfalls die Standards, die die Geschichtswissenschaft prägen und waren eher große Erzählungen, häufig mit direkter politischer oder moralischer Zielrichtung. Erste methodische Zusammenstellungen tauchten im 18. Jahrhundert auf – Schiller etwa war ein begeisterter Hobby-Historiker-, doch erst im 19. Jahrhundert entstanden vor allem in Deutschland die Geschichtswissenschaften mit der expliziten Zielsetzung „zu zeigen, wie es gewesen“, um das berühmte Wort Leopold von Rankes zu benutzen.
Dieser Anspruch purer Objektivität wird heute als Irrtum angesehen, nicht wegen der Intention, sondern wegen seiner Unmöglichkeit. Wir können Geschichte zwangsläufig immer nur durch die Brille unserer eigenen Zeit wahrnehmen und haben keine Möglichkeit, ein „objektives“ Geschichtsbild zu erstellen. Objektive Geschichte existiert nicht, und seit diese Erkenntnis auch Eingang in die Lehrpläne gefunden hat, stöhnen die Schüler über diese Komplexität.
Im Deutschland des 19. Jahrhunderts war Geschichte ein unglaublich populäres Feld, vergleichbar nur mit der Physik zwischen den Weltkriegen und der Ökonomie seither. Keiner dieser Disziplinen ist das Schlaglicht des Ruhms gut bekommen. Der plötzliche Ruhm, den die Vertreter der jeweiligen Disziplin dadurch genossen, stieg einigen nicht nur zu Kopf sondern weckte Erwartungen an ihre Arbeit, die diese unmöglich erfüllen konnte – ein Irrtum, der aus der erwähnten Eitelkeit nicht aufgedeckt wurde. Die Geschichtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts sahen ihre Aufgabe hauptsächlich darin, eine Meistererzählung der deutschen Geschichte zu schreiben.
Der junge Nationalstaat, der vor kurzem noch aus kleinen Nationen wie Hessen-Nassau oder Baden bestanden und nicht über ein übermäßiges, schon gar nicht ethnisches, Zusammengehörigkeitsgefühl verfügt hatte, verlangte nach einer solchen. Die Historiker lieferten sie und zogen eine direkte Linie von Arminius, den man flugs „Hermann“ taufte, und nahmen dankbar Tacitus Zivilisationskritik für bare Münze, um eine in den germanischen Urwäldern herumstreifende, edle Stammesgesellschaft als Urgrund der Deutschen zu konstruieren. Urwüchsige Natur, eine natürliche Ordnung und große Männer, die ihre Stammesbrüder für Großtaten wie den Kampf gegen die Römer zusammenschmiedeten – gerne erkannten sich die Deutschen darin wieder.
Über Karl den Großen konstruierte man direkt einen Zusammenhang ins Mittelalter, wo die diffizile Machtpolitik der Lehensfürsten flugs zu einer Kulturmission der deutschen Sendung umdefiniert wurde. Der Dreißigjährige Krieg wurde so zu einem Grundübel, das von außen heraufbeschworen worden war, von Böhmen, Österreichern und Schweden, vor allem aber den Franzosen. Die „Erbfeindschaft“ konnte so auch hier auf eine lange Ahnentradition zurückblicken, die sich mit der Aufspaltung von Karls Großreich auch beliebig bis ins Mittelalter verlängern und gegebenenfalls mit Verweis auf Kämpfe zwischen Kelten und Germanen nicht zuletzt während der Völkerwanderung auch in die mystische Urgeschichte ziehen ließ.
Echten Erklärungsgehalt für zeitgenössische Phänomene besaß das alles natürlich nicht, aber der Mantel der Geschichte wurde mit all seinem Gewicht gerne jeglicher Politik umgehängt, die einer solchen Rechtfertigung bedurfte. Wer konnte etwa das Kolonialisierungsprogramm kritisieren wenn man sich vor Augen hielt, dass die Bekehrung und Zivilisierung der Barbaren seit Karl dem Großen deutsche Tradition und deutsche Sendung war? Zu versuchen, gegen die Geschichte zu argumentieren, war praktisch aussichtslos, und es verwundert nicht, dass auch die entschiedenen Gegner auf die Geschichte zurückgriffen: Karl Marx postulierte nicht umsonst geschichtliche Gesetzmäßigkeiten, die seiner Theorie die Aura einer religiösen Offenbarung verliehen.
Sein Ende fand all diese Geschichtsklitterei mit den Weltkriegen. Bereits der Erste Weltkrieg sorgte für eine schwere Erschütterung in der Vorstellung, die Deutschen seien alle durch ein mystisches Band des Nationalstaats miteinander verknüpft, und spätestens die Brachialvulgarisierung historischer Ereignisse im Nationalsozialismus trieb jeglichen Anspruch an eine gesamtgesellschaftliche Deutungshoheit aus der Geschichtswissenschaft. Sie verlegte sich auf bescheidenere Ziele, die auch in ihrem Vermögen lagen: ein möglichst detailliertes und aussagekräftiges Modell zu entwickeln und gegebenenfalls der Vereinnahmung der Geschichte durch Laien vor allem in der Politik eine differenzierte Analyse gegenüberzustellen.
Die Wissenschaft ist dadurch reicher geworden, reicher an Interpretationen, an Erklärungsmustern, an Ansätzen und an Erkenntnissen. Ohne den Anspruch, eine Meistertheorie bieten zu können, die dem Leben und Streben der Menschen Struktur und Sinn bietet. Für die Hybris der Geschichtswissenschaft musste bitter gebüßt werden. Die Physik hatte Glück; der Kalte Krieg bewahrte sie vor diesem Schicksal, und sie zog sich still wieder auf ihr Fachgebiet zurück. Der Ökonomie ist dieses Glück nicht beschieden, und die aktuelle Debatte um Rogoff und Reinhard zeigt, auf welch fatalen Irrwege die Verabsolutierung von Theorien und Modellen führen kann.