Über sieben Fehler musst du gehen

Mittlerweile ist es zweieinhalb Jahre her, dass ich die AfD als „Spiegel der Bundesrepublik“ bezeichnet habe, in dem alle das sehen, was sie jeweils sehen wollen. Kaum etwas ist so ermüdend wie die ausgelutschte Phrase, dass was immer man selbst ablehnt „der AfD hilft“ oder das, was man ohnehin schon immer wollte, als das todsichere Mittel gegen die AfD preist. Auch dass mittlerweile jede politische Maßnahme oder Diskussion durch den blauen Lackmustest muss – „Hilft das der AfD?“ – ist eine Absonderlichkeit, die, man ahnt es, nur der AfD hilft. Schließlich fragt auch niemand bei jeder Maßnahme, ob sie nun der SPD hilft. Diese Sonderstellung in allen Bereichen ist zunehmend ein gewaltiges Problem – oder besser, ein Symptom, denn das eigentlich zugrundeliegende Problem liegt tiefer. Es ist ein Mangel an ernsthafter Analyse, eine Art kollektive Weigerung, sich mit dem Gegenstand tatsächlich zu beschäftigen. Stattdessen regiert ein pathologisches Hin- und Herschwingen zwischen der Haltung des Kaninchens, das auf die Schlange starrt, und einer Dauer-Nabelschau. Hier bei Deliberation Daily machen wir das natürlich anders und gehen dahin, wo es wehtut und wagen uns an eine komplett unparteiische Analyse dessen, was der AfD hilft und was man dagegen tun kann1.

Diese Analyse muss notwendig mit der Frage beginnen, was eigentlich der Umgang mit der AfD sein soll. Rhetorisch wird die Brandmauer nämlich noch von allen Beteiligten aufrechterhalten, auch denen, die die Brandmauer verdammen. Nie darf der Hinweis fehlen, dass man ja auch nicht wolle, dass die AfD an die Macht kommt, dass man sie für grundsätzlich regierungsunfähig, vielleicht gar gefährlich hält. Nur, gefühlt wird der Satz immer weniger. Während im Mitte-Links-Lager eine gewisse Resignation einzusetzen scheint, was die Wahrscheinlichkeit von blau-schwarzen Koalitionen angeht, bleibt das bürgerliche Lager selbst Schrödingers Koalition: man schließt sie mit der vehementen Forderung aus, nichts auszuschließen. Diese Ambivalenz – die man weniger nett ausgedrückt auch als Schizophrenie beschreiben könnte – wird von Robert Pausch in einem Artikel in der Zeit treffend als „schwarz-blauen Sehnsuchtssatz“ beschrieben.

Im Artikel wird erläutert, dass CDU-Politiker zunehmend den Satz verbreiteten, „die Mehrheit in diesem Land sei rechts, bekomme aber linke Politik“. Diese Formulierung werde laut der Analyse nicht als Beschreibung, sondern als strategisches Framing genutzt, um eine politische Stimmung zu erzeugen. Der Autor weist darauf hin, dass sich die angeblich „linke Politik“ empirisch kaum belegen lasse: In der Migrations-, Sozial- und Gesellschaftspolitik verfolge die Regierung eher konservative oder restriktive Ansätze. Auch in der Finanzpolitik sei die Aufweichung der Schuldenbremse aus sachlichen Gründen erfolgt und nicht Ausdruck einer ideologischen Linkswende. Die Rede von einer „rechten Mehrheit“ diene vielmehr dazu, Union und AfD gedanklich in ein gemeinsames Lager zu rücken und den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU als Hindernis darzustellen. Dadurch werde die AfD implizit legitimiert und eine vermeintlich „betrogene“ Wählermehrheit konstruiert. Der Autor warnt, dass diese Strategie das politische Koordinatensystem verschiebe und den Weg zu einer schwarz-blauen Zusammenarbeit rhetorisch vorbereite. Der Satz sei daher weniger eine Zustandsbeschreibung als ein „Sehnsuchtssatz“ – Ausdruck einer gefährlichen Versuchung innerhalb der Union.

Das bürgerliche Lager macht gerade, kurz gesagt, denselben Fehler wie das progressive Lager zwischen 2005 und 2013. Eine rechnerische Mehrheit von Rot-Rot-Grün wurde damals auch zu einer grundsätzlich linken Mehrheit in Deutschland hochgejazzt, beständig die Idee wiederholt, dass hier quasi gegen den Mehrheitswillen regiert werde („Kurt Beck könnte morgen Kanzler sein“). Ich erinnere mich gut, ich war dabei und hab selbst mitgemacht; das Onlinearchiv des Oeffinger Freidenkers legt davon beredtes Zeugnis ab. Nur macht es das nicht richtiger. Und die Autosuggestion, dass dem so sei, ist für die bürgerlichen Parteien Gift.

Aus ihr entspringen mehrere strategische Fehlentscheidungen, die den eigenen Zielen im Weg stehen. Und ich möchte das betonen: mir geht es nicht darum, dass die CDU progressive Politik machen soll. Es ist eine konservative Partei, und ich bin kein Konservativer. Ich werde die nicht wählen, auch wenn sie mir entgegen kommen. Daher geht es mir auch nicht darum, dass die Unionsparteien Mehrheiten für ihre Politik gewinnen (ich bevorzuge progressive Mehrheiten), sondern darum, dass sie nicht von den Rechtsextremen zerstört und übernommen werden. Denn ich akzeptiere leichter einen Kanzler Merz als eine Kanzlerin Weidel. Der eine macht Politik, die ich nicht gut finde. Die andere bedroht mich im Kern. Das ist ein Unterschied, den man nie aus dem Blick bekommen sollte.

Was also sind die strategischen Fehlentscheidungen?

Die erste besteht darin, Narrative und Framings der Rechtspopulisten zu übernehmen. Das ist explizit etwas anderes, als sich um dieselben Themen zu kümmern. Ein Beispiel: sowohl SPD als auch LINKE können die Ungleichheit der Gesellschaft kritisieren, aber die SPD sollte sich davor hüten, Narrative zu übernehmen, denen eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus zugrunde liegt, wie sie bei der LINKEn häufig genutzt werden. Sie müssen stattdessen ein eigenes Framing entwickeln.

Denn tun sie das nicht, führt dies zur zweiten Fehlentscheidung: die Abgrenzung von der extremen Partei ohne eigenes Framing funktioniert nicht. Wenn man das Konzept aufstellt, dass man die grundsätzlichen Problembeschreibungen und Problemlösungen der Extremisten übernimmt, aber beides in etwas moderierter Form, bestätigt man nur die jeweiligen Gegner. Eine SPD, die erklärt, dass Frieden in Europa nur mit Russland in Verhandlungslösung zu haben ist und dass Aufrüstung falsch ist, sich dann aber für ein bisschen Waffenlieferungen und eine Wehrpflicht light einsetzt, sitzt zwischen allen Stühlen. Sie bestätigt das Narrativ etwa des BSW, wird aber deren Anforderungen nicht erfüllen und als Verräter an der Sache wirken, während sie umgekehrt all denjenigen, die die andere Position vertreten, als zu russlandfreundlich erscheinen. Niemand, dem das Thema wichtig ist, wird daher die Position der SPD gut finden; stattdessen bestätigen sie nur das Verhandlungsnarrativ und verwässern den Rest. Der Postillon hat das in eine recht gute Persiflage verpackt.

Die dritte strategische Fehlentscheidung ist es, die eigenen Wählenden zu vergraulen. Denn ein Positionieren zwischen den Stühlen treibt die Wählendenschaft zu den jeweiligen Alternativen. Wer sich für die radikale Politik ausspricht, wählt das Original. Wem das in die falsche Richtung geht, wird zu einer moderateren Alternative greifen. Nicht umsonst hat etwa die SPD Wählende an Grüne, CDU/CSU und LINKE verloren (und jüngst auch an das BSW): allzu oft war die Position der Partei nur ein „Ja, aber“, mit dem man immer eine Wählendengruppe beleidigte, ohne dafür eine andere gewinnen zu können.

Die vierte strategische Fehlentscheidung ist es, ein Narrativ zu pflegen, nach dem der Aufstieg der Extremisten eine Art unveränderliches Naturgesetz wäre. Die AfD kann auch verlieren. Sie ist nicht auf dem Weg zu einer absoluten Mehrheit. Die Verluste der Partei bei den jüngsten Kommunalwahlen bestätigen dies. Man sollte seinen Gegner nicht großreden und aufblasen. Die Erinnerung an 2019 hilft hier: die damalige Welle der Klimaproteste beförderte ein Hochjubeln der Grünen, die sogar das Kanzleramt in Reichweite sahen – ein Umfragenhoch, das vor allem dem Glauben an das Umfragehoch geschuldet war. In dem Moment, in dem der Glauben an die „neue Volkspartei“ zusammenbrach, taten dies auch die Umfragewerte. Dasselbe gilt für die AfD. Sie ist eine Projektionsfläche und ein Brennglas, aber das ist bei weitem keine so stabile Basis, wie etwa die Unionsparteien sie noch besitzen.

Die fünfte strategische Fehlentscheidung ist der Versuch, aus der Regierung heraus die Opposition machen zu wollen. Die Rhetorik der Unionsparteien wirkt, als ob Deutschland in den letzten 20 Jahren von einem grünen Bundeskanzler regiert worden wäre. Nur ist das nicht der Fall. Ob bei der Eurorettung, der Geflüchtetenpolitik oder bei Corona, stets war das Kanzleramt von der CDU besetzt. Das beständige Schlechtreden im Oswald Spenglerschen Weltuntergangsstil mag zwar dem Empfinden mancher Konservativer entsprechen, aber es ist keine Botschaft. Die SPD macht beständig denselben Fehler. Seit fast einem Jahr ist Friedrich Merz an der Macht, aber er redet ständig von Deutschland, als sei er Oppositionsführer. Als Kanzler hat er aber die Verantwortung für den Laden. Dadurch entsteht ein Gefühl der Handlungsunfähigkeit des Staates, dem sowohl die LINKE als auch die AfD in einer klaren Gemeinsamkeit das Narrativ einer sehr großen Handlungsmacht des Staates gegenüberstellen: in der Erzählung der Ränder kann der Bundestag problemlos die Reichen besteuern oder alle Ausländer ausweisen, alles, was fehle, sei der Wille. Dieses Narrativ befeuern sowohl SPD als auch CDU/CSU unfreiwillig immer wieder.

Die sechste strategische Fehlentscheidung ist die der Aufgabe der Brandmauer, vorausgesetzt man akzeptiert, dass die AfD eine Partei ist, die nicht an die Regierungsmacht gelangen darf. Mittlerweile besteht weitgehende Einigkeit, dass eine Brandmauer gegenüber der LINKEn nicht aufrechterhalten werden muss; auf Landesebene gibt es problemlose Kooperationen, ohne dass die demokratische Verfassung der Partei in Frage stehen würde. Auf Bundesebene bleibt die Partei koalitionsunfähig, weil ihre außenpolitischen Positionen nicht mit der Staatsräson vereinbar sind, aber das ist das Problem der Partei, nicht der Republik. Die Frage ist aktuell, ob es sich mit der AfD ähnlich verhält: kann die Union mit ihr koalieren, weil sie eine zwar radikale, aber im Rahmen der FDGO verortete Partei ist, oder ist sie das nicht? Wenn letzteres gilt – und die offiziellen Aussagen der Union wie etwa die Martin Hubers bestätigen dies -, dann muss die Brandmauer aufrecht erhalten werden. Denn sonst begibt sich die Union in dieselbe Lage, in die sich die SPD in den 2000er Jahren manövrierte: die stimmte der LINKEn auch ständig inhaltlich zu, arbeitete dann aber nie mit ihr zusammen, was ihre Glaubwürdigkeit permanent untergrub.

Man sollte übrigens nicht auf die aktuelle rhetorische Strategie der Konservativen hereinfallen, die Brandmauer als ein ihnen von den Linken aufoktroyiertes Konzept zu begreifen. Friedrich Merz hat den Brandmauer-Vergleich selbst eingeführt; er war es, der die Metapher etablierte und die passende Strategie ausgab. Es gibt mittlerweile auch genug politikwissenschaftliche Empirie, die die Wirksamkeit dieser Strategie und die Wirkungslosigkeit der Übernahme extremer Narrative belegt. Dass es trotzdem passiert, spricht für einen tiefsitzenden Wunsch, der eigenen Ideologie zum Durchbruch zu verhelfen. Die Idee ist, dass die Zusammenarbeit mit den Extremisten hier helfen könnte, weil diese die eigene Partei wieder „auf Kurs“ bringen würde (im Einklang mit einer mythisch verklärten, mittlerweile aufgegebenen Vergangenheit, die so nie existierte oder doch wenigstens nicht wiederkommen kann).

Das aber ist ein Irrtum. Denn auch, wenn es sich so anfühlt, sind die Extremisten weder eine irregeleitete Abspaltung, die man zurückgewinnen könnte, noch haben sie dieselben Ziele. Die Remigrationsfantasien der AfD haben nichts mit schärferer Abschiebung und Migrationskontrolle zu tun. Es handelt sich um kategoriale Unterschiede. Diese Abgrenzung nicht vorzunehmen und sich stattdessen auf die – natürlich leichtere – Abgrenzung zum ideologischen Gegenstück zu konzentrieren (in diesem Kontext etwa gegen die open-borders-Idee zu kämpfen, die ohnehin keine Partei vertritt), ist die siebte strategische Fehlentscheidung.

Beispielhaft lässt sich dies an der Stadtbild-Debatte aufzeigen. Ein unzweifelhaft vorhandenes Problem – Kriminalität in den großstädtischen Kernen, vor allem rund um Bahnhöfe oder Einkaufsmeilen – und ein Unwohlempfinden der autochthonen Bevölkerung über die Ansammlung junger migrantischer Männer an diesen Orten verbinden sich zu einer permanenten Unzufriedenheit, die unzureichend mit dem Schlagwort „Migration“ umfasst wird. Das ist schon deswegen ein Problem, weil Deutschland Migration und ein sinnvolles Migrationsregime braucht, und unzweifelhaft jene Form höherqualifizierter Migration, die man volkswirtschaftlich haben will, nicht eben die ist, die man aktuell bekommt, gleichzeitig aber die Migrationsdebatte in ihrer geführten Form Kollateralschäden mit sich bringt. Es schafft aber auch ein Problem, weil das Unbehagen hier den Extremisten zupass kommt. Die Union kann und will keine Ablehnung einer offenen, toleranten Gesellschaft vertreten. Sie begibt sich daher in eine unlösbare Position.

Jonas Schaible hat dies, treffend wie immer, analysiert. Er machte aus, dass bisher drei Deutungen vorgeherrscht hätten: eine Überforderungsthese („zu viele in zu kurzer Zeit“), eine Kontrollverlust-These („Staat setzt Regeln nicht durch“) und eine Medienthese („Problemwahrnehmung wird eingeredet“). Letztere ist die beliebteste Erklärung der Progressiven. Wir sollten uns kurz mit ihr beschäftigen, bevor wir zur Union zurückkehren. Denn während die linke Seite des politischen Spektrums ohnehin nicht mit der AfD koalieren kann und will, ist doch auffällig, dass der „Beitrag der Linken„, wie Ralf Neukirch im Spiegel schreibt, allzu bequem in einer reinen Abgrenzung besteht und selbst keine Problemlösungsansätze beinhaltet; allzu oft wird die Existenz des Problems selbst geleugnet. Im schlimmsten Fall, wie in Olaf Scholz‘ Abschiebeankündigung, machen die linken Parteien denselben Fehler wie die Unionsparteien und fügen der eigenen Untätigkeit noch die Stärkung des Extremistennarrativs hinzu.

Aber zurück zur Union. Laut Schaible deute die neue, von Merz angedeutete „Stadtbild-Theorie“ auf ein tieferliegendes Unbehagen hin – nämlich auf die Ablehnung sichtbarer Vielfalt im öffentlichen Raum. Dadurch werde suggeriert, Migration sei selbst dann ein Problem, wenn sie gesetzlich geregelt und gesellschaftlich integriert sei. Der Text weist darauf hin, dass Politik zwar Zuzug steuern könne, aber nicht bestimmen könne, wie „Heimat“ aussehe oder sich anfühle. Eine Politik, die Homogenität wiederherstellen wolle, könne dies nur mit autoritären Mitteln erreichen. Demokratische Politik stoße hier an ihre Grenzen – sie müsse mit einer vielfältigen Gesellschaft leben und dürfe keine Erwartungen wecken, die Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit untergraben.

Und das ist genau das Problem. Miriam Vollmer legte den Finger in die Wunde, indem sie feststellte, dass kein politisches Projekt vorstellbar ist, das die Union nur mit der AfD erreichen kann und das gleichzeitig den Ansprüchen an die Rechtsstaatlichkeit genügt: jedes solche Projekt würde bestehendes Recht brechen. Da die Extremisten immer in einem ungefähren, nicht konkret ausformulierten und ambivalenten Bereich bleiben – quasi Schrödingers politische Position -, besitzen sie nicht nur einen großen Handlungsspielraum in der Eskalationsspirale. Diese ist noch einfach zu verstehen: egal, wie weit nach rechts die Union oder nach links die SPD und Grünen rücken, ihre radikaleren Gegenstücke können immer einen drauflegen. Nie war dies so offenkundig wie in den Mindestlohnforderungen des Wahlkampfs 2017, als die LINKE einfach einen Euro auf den Vorschlag der SPD agierte. Das Prinzip des „immer eines mehr als du“ funktioniert nicht nur im Kindergarten.

Aber die bislang unterschätzte Gefahr ist eine, die sich gerade bei den britischen Tories zeigt: in ihrer Furcht davor, von Nigel Farage und seiner Reformpartei ausgebootet zu werden, eskalierten sie ihre Rhetorik soweit, dass sie Farage jüngst rechts überholten: sie forderten so umfassende Migrationskontrollen und Abschiebungen, wie sie in Deutschland auch die AfD formuliert – und sich damit in der europäischen Rechten immer wieder als zu extrem isoliert. Das führt zu dem absurden Effekt, dass im Vergleich Farage und seine Reform-Partei moderater erscheinen als die Konservativen! Dieser Effekt ist auch nicht neu. Bereits 2016 zeigten Wählendenumfragen, dass Donald Trump als moderater wahrgenommen wurde als Hillary Clinton – und, entscheidend, auch als seine republikanischen Konkurrenten. Diese Ambivalenz ist eine von den der demokratischen Rechten selbst geschaffene. Denis Yüzel hat über diese strategische Dummheit einen Thread geschrieben, in dem er darauf hinweist, dass die CDU mit ihrer Rhetorik dafür sorge, dass mittlerweile 10-15% der türkischstämmigen Bevölkerung für die AfD optieren: angesichts der Bedrohung, die die AfD-Positionen für diese Menschen bedeuten, ist das eigentlich absurd, aber es wird verständlich, wenn man sich die Rhetorik ansieht.

Auch in Deutschland ist dieser Effekt zu beobachten, etwa an der Debatte um „Neutralität“, wie sie von den Unionsparteien in ihrem fehlgeleiteten Kreuzzug gegen die Öffentlich-Rechtlichen betrieben wird. Die Forderung ist eine grundsätzlich vernünftige, erlaubt es aber schlecht kommuniziert den Extremisten, den Begriff selbst zu besetzen. „Neutralität“ ist mittlerweile ein Kampfbegriff der AfD geworden, ohne dass es der Union aufgefallen zu sein scheint, die mit der Nutzung dieses Begriffs den Rechtsextremen in ihrem Windschatten die Legitimation für Angriffe auf die Demokratie gibt. Ich sehe dies in meinem eigenen Berufsfeld. Die AfD hetzt in einer Sprache gegen Lehrkräfte, die nicht wirklich von manchen Unionsabgeordneten unterscheidbar ist. Ihr Ziel ist es, Lehrkräften „politische“ Aussagen im Unterricht verbieten, wobei „politisch“ meint: die Demokratie verteidigend. Unpolitische Lehrkräfte wären, ebenso eine unpolitische Polizei oder Bundeswehr, eine Katastrophe. Hinter der Forderung nach Neutralität und unpolitischer Haltung steht in Wahrheit weder das eine noch das andere. Wer glaubt, dass Medien oder Lehrkräfte in einem AfD-geführten Land neutral oder unpolitisch sein könnten, dem habe ich einen Palast in Venedig zu verkaufen. Oder man nehme die AfD-Fraktion Brandenburg, die ein Meldeportal schaltet, um Gewalt “gegen deutsche Schüler” zu erfassen. Das wichtige Anliegen, Gewalt an Schulen zu reduzieren, wird so zu einer rassistischen Hetze umprogrammiert.

Damit stellt sich die Frage, wie sich CDU/CSU, wenn sie sich als konservative Partei erhalten und nicht quasi progressive Positionen übernehmen möchten, gegenüber der AfD aufstellen müssten.

Ich bin unsicher, inwieweit die Strategie sinnvoll ist, das Label „rechts“ für die Union zu normalisieren und zu beanspruchen, wie das vor allem in den Kommentarspalten der Welt jüngst versucht wurde (wir haben das im Vermischten diskutiert). Grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden; die Ablehnung des Rechts-Begriffs ist ein deutsches, auf die NS-Vergangenheit zurückgehendes Phänomen und war eine Strategie der frühen Unionsparteien, durch die Nutzung der Begriffe „konservativ“ und „bürgerlich“ eine unbelastete Alternative zu schaffen. Es ist auch auffällig, dass die AfD selbst das Label auch nicht für sich reklamiert; zu toxisch ist es wohl. Abseits dieser Semantik aber birgt die Übernahme dieses Labels ein anderes Problem: sie schafft zwei Lager, die einander gegenüberstehen, was die Union rhetorisch gerade mit bestenfalls sehr gemischten Erfolg bereits versucht: auf der einen Seite stehen dann die „Linken“ – SPD, Grüne und LINKE – alle zusammen in einen als radikal gelesenen Topf geworden. Nur, was steht auf der anderen Seite? Zwangsläufig „die Rechten“, was aktuell die Union und die AfD ist. Mit der AfD will die Union aber nicht koalieren, und eine absolute Mehrheit oder eine schwarz-gelbe Mehrheit stehen nicht in den Sternen. Damit stellt sich die CDU selbst die Falle, in der Wahlkampfrhetorik eine Abgrenzung zu betreiben, die sie danach für Koalitionen mit SPD und/oder Grünen aufbrechen muss, eine Falle, deren Effekte in den zahlreichen „Friedrich Merz hat uns verraten“-Klagen der härteren Konservativen sichtbar sind.

Ich halte die Alternative, die etwa Nathanael Liminski, Chef der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalens und CDU-Vordenker, formuliert („Als Partei der Mitte führen wir keine Kulturkämpfe“) für tragfähiger. Die Union hat ihre größten Erfolge immer mit einem möglichst breiten Zelt, dem Anspruch auf die Besetzung der politischen „Mitte“, erzielt. Definierte sie sich als rechts, so würde diese Mitte ein Vakuum werden. Die Union kann diesen Raum besser als alle anderen Parteien besetzen, das zeigte die Kanzlerschaft Olaf Scholz‘ eindrucksvoll.

Die Union braucht Gegennarrative, die zwar ihre spezifischen Themen abdecken (sie sind schließlich konservativ und bürgerlich!), die aber gleichzeitig eine Alternative statt einer moderierten Version der AfD-Positionen bieten. Worin diese bestehen können, ist es nicht wirklich an mir zu sagen, dafür sind meine eigenen Positionen und Interessen zu divergierend. Es ist aber eine sichere Annahme, dass „Sicherheit und Ordnung“ eine große Rolle spielen. Handlungsfähigkeit zu beweisen ist zentral, aber eine substanzielle Handlungsfähigkeit. Reine Symbolpolitik wird durchschaut – und hat allzu oft eben genau den oben beschrieben Effekt, nur zu bestätigen, was die Extremen behaupten.

Gleichzeitig bleibt aber eine andere Möglichkeit unbeantwortet: die Bildung eines Rechts-Lagers zusammen mit der AfD in Abgrenzung zu SPD, Grünen und LINKEn. Ich habe eingangs geschrieben, dass ich das für eine gefährliche Idee halte, weil die AfD dadurch als der natürliche Koalitionspartner der CDU/CSU gesehen werden wird – übrigens egal, ob als Junior- oder Seniorpartner. Das ist aber natürlich nur solange relevant, wie die Brandmauer eine Realität sein soll. Wenn es keinen Grund gibt, die AfD von der Macht auszuschließen, dann gibt es auch keinen Grund, die Brandmauer aufrechtzuerhalten und damit auch keinen, nicht Koalitionen einzugehen und einen weiteren Versuch zu unternehmen, eine „Entzauberung“ durch Machtbeteiligung zu erreichen. Das hat zwar noch nirgendwo funktioniert, aber ich bin da natürlich auch etwas biased.

Grundsätzlich ist es nicht so, dass Rechtsextreme für alle Zeiten gebrandmauert werden müssten. Nicht umsonst bemüht vor allem die konservative Presse sehnsüchtig den Vergleich mit dem Front Nationale oder den Fratelli d’Italia, die als gemäßigte Rechte geframed werden. Ich würde dieser Einschätzung zwar widersprechen, aber eine AfD, die entlang der Linien Melonis oder (mutmaßlich) des FN agieren würde, wäre mir zwar zutiefst zuwider, vermutlich aber keine so elementare Gefahr, die das die AfD darstellt. Dasselbe ist mit der LINKEn ja auch passiert, ein solcher Wandel ist also grundsätzlich möglich. Die Frage ist, wie wahrscheinlich das ist. Die aktuelle AfD jedenfalls, da kann kein Zweifel bestehen, ist nicht so weit. Frederik Schindler etwa schreibt in der Welt dazu, dass Woidkes Szenario einer AfD ohne Extremisten „realitätsfremd“ sei. Denn die Abgrenzung zu den extremen Elementen in der Partei ist elementar. Carlo Masala etwa hat dies ebenfalls formuliert: die Union kann die AfD mit den Extremisten in ihren Reihen vor sich hertreiben. Hier muss man sie zu klaren Bekenntnissen zwingen. Solange Leute wie Höcke in der Partei das Bild bestimmen, wird das ohnehin nicht passieren. Und wenn die Partei sich tatsächlich soweit moderiert, dass sie unzweifelhaft demokratisch ist, dann fällt auch das Argument der Brandmauer weg. Ob das der Union so viel hilft, sei mal dahingestellt; vielleicht ergeht es ihr wie den Konservativen in den Ländern, auf die so gerne bewundernd geschaut wird: ob Italien, Frankreich oder die Niederlande, die Normalisierung der radikalen Rechten hat den Konservativen dort überall den Niedergang gebracht.

Aktuell allerdings, und das sei gesagt, ist die AfD eine Partei, die den Grundkonsens der BRD ablehnt. Nicht umsonst kann Alan Posener in der Welt schreiben, dass ein syrischer Asylbewerber, der „geflüchtet vor der Regenbogenfahne“ sei, in seiner Argumentation genauso gut von der AfD hätte sein können. Anders als bei Menschen mit einem streng islamisch geprägten Migrationshintergrund wird diese Radikalität und Ablehnung der bundesrepublikanischen Werte aber häufig übersehen, weil der so viele Rechtsradikale einen bürgerlichen Habitus pflegen, auf den Konservative hereinfallen – ähnlich wie manche Linke gerne Gemeinsamkeiten bei Linksradikalen zu finden glauben, die aber kategorial auf einer anderen Ebene unterwegs sind. Diese Falle müssen die Konservativen vermeiden, wobei eben klare inhaltliche Abgrenzungen helfen – die aktuell nicht gemacht werden.

Es ist sicher unfair, dass die Verantwortung für den Umgang mit der AfD so stark bei der Union liegt. Ich habe hier die Fehler der progressiven Parteien auch nur angerissen. Es ist aber auch natürlich. Für die Union war auch der Umgang mit der LINKEn immer einfach, weil es praktisch keinen Überlapp gibt. Die Verantwortung für den Umgang mit dieser Partei trugen immer SPD und Grüne. Umgekehrt gilt dasselbe für die AfD: es sind immer die ideologischen Nachbarn, die sich verantwortlich zeigen müssen. Das heißt: eigene Narrative setzen und Handlungsfähigkeit beweisen.


1 Ich hoffe einfach, man kann die Selbstironie erkennen. Natürlich ist das genauso subjektiv wie alle anderen Positionen auch.

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