Rezension: Mary Robinette Kowal – The Martian Contigency

Mary Robinette Kowal – The Martian Contigency (Hörbuch)

Mary Robinette Kowals The Martian Contingency knüpft an die Vorgeschichte der Lady-Astronaut-Reihe an, in der ein Meteoriteneinschlag die Erde ins Chaos stürzte und die Menschheit gezwungen war, das All zur neuen Heimat zu machen. Nach den riskanten Anfängen auf dem Mond steht nun die Besiedlung des Mars im Zentrum. Elma York, die unter dem Titel „Lady Astronaut“ zur Symbolfigur des Programms geworden ist, tritt in diesem Band in einer neuen Rolle auf. Sie gehört zur zweiten Welle von Astronautinnen und Astronauten, die die Bradbury Base nicht nur erweitern, sondern in eine dauerhafte Siedlung verwandeln sollen. Dabei geht es nicht allein um technische Machbarkeit, sondern um den Aufbau einer Gesellschaft, die auf einem fremden Planeten bestehen kann.

Von Beginn an zeigt sich, dass der Weg dorthin von Unsicherheiten überschattet wird. Elma stößt auf widersprüchliche Protokolle und auf ein auffälliges Schweigen unter den Veteraninnen und Veteranen der ersten Marsmission. Manche Details ergeben keinen Sinn, andere scheinen bewusst ausgelassen worden zu sein. Bald wird deutlich, dass die offizielle Version der damaligen Ereignisse nicht der Wahrheit entspricht. Elma erkennt, dass Geheimnisse aus der Vergangenheit die Gegenwart belasten, und beginnt, den Ungereimtheiten nachzugehen. Was sie herausfindet, deutet darauf hin, dass Fehler verschwiegen wurden, die nun das Überleben der gesamten Kolonie bedrohen könnten.

Parallel dazu verschärfen sich die politischen Spannungen. Die Erde verfolgt das Projekt mit Argusaugen und erhebt Ansprüche, die sich in der Realität des Mars kaum umsetzen lassen. Unterschiedliche Nationen konkurrieren um Einfluss, und die Finanzierung sowie die Prioritätensetzung werden zunehmend von geopolitischen Interessen bestimmt. Für die Astronautinnen und Astronauten vor Ort bedeutet dies zusätzlichen Druck: Sie müssen mit knappen Ressourcen und überlasteten Strukturen arbeiten, während sie zugleich Erwartungen erfüllen sollen, die von weit entfernten Entscheidungsträgern formuliert werden. Elma findet sich dabei häufig in der Rolle einer Vermittlerin wieder, die einerseits die technischen Probleme lösen muss, andererseits aber auch zwischen widerstreitenden Interessen vermitteln soll.

Die eigentlichen Herausforderungen liegen jedoch im Alltag der Marskolonie. Kleinste Ausfälle entwickeln sich zu bedrohlichen Kettenreaktionen. Systeme, die das Überleben sichern, reagieren empfindlich auf die Belastungen der unwirtlichen Umgebung. Materialermüdung, Staub und unerwartete Umwelteinflüsse stellen die Stabilität des Habitats immer wieder infrage. Elma und ihr Team müssen improvisieren, Module umbauen und neue Prioritäten setzen. Je deutlicher wird, dass die gegenwärtigen Probleme auf Versäumnisse der ersten Mission zurückgehen, desto dringlicher wird die Frage nach der Verantwortung. Elma erkennt, dass die Vertuschung der Vergangenheit nicht nur moralisch fragwürdig war, sondern auch ganz konkret Menschenleben kostet.

Zugleich wird sie persönlich stärker belastet, als sie erwartet hatte. Ihre Rolle als erfahrene Astronautin verschafft ihr Respekt, aber auch Erwartungen, die kaum erfüllbar sind. Sie kämpft mit Selbstzweifeln und Ängsten, die durch die Extremsituation verstärkt werden. Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen, aber auch Freundschaften und Partnerschaften geraten unter Druck, wenn Misstrauen und alte Geheimnisse ans Licht kommen. In vielen Momenten wird spürbar, wie dünn die Grenze zwischen Zusammenhalt und Zerfall in einer kleinen Gemeinschaft auf einem fremden Planeten ist. Jede Entscheidung trägt Gewicht, jedes Missverständnis kann Folgen haben, die über das Persönliche hinausgehen.

Die Handlung steuert auf eine Zuspitzung zu, als mehrere Krisen gleichzeitig eintreten. Technische Ausfälle häufen sich, Kommunikationsprobleme mit der Erde verschärfen die Lage, und die Stimmung innerhalb der Kolonie droht zu kippen. Inmitten dieser Bedrohung gelingt es Elma, die Zusammenhänge zwischen den damaligen Vertuschungen und den aktuellen Problemen aufzudecken. Die Wahrheit offenbart, dass die erste Expedition schwerwiegende Fehler gemacht hat, die verschwiegen wurden, um den politischen und öffentlichen Rückhalt nicht zu gefährden. Diese Enthüllung zwingt die Kolonie, ihre Prioritäten neu zu setzen und Entscheidungen auf einer ehrlicheren Grundlage zu treffen. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, als die Gemeinschaft erkennt, dass ihr Überleben nur durch Zusammenarbeit, Offenheit und Verantwortungsübernahme gesichert werden kann.

Der neueste Band der „Lady Astronaut“-Reihe setzt die Geschichte an einem logischen Punkt fort und befasst sich mit der ersten Mars-Kolonie (die, in einer Geste Richtung der unterdrückten Minderheiten, bald in „Habitat“ umbenannt wird, um Rücksicht auf die Opfer des Kolonialismus zu nehmen). Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1970, und die Erde wird immer stärker unbewohnbar. Diese Plotlinie verläuft, weil Kowal wie üblich nur einen personalen Blickwinkel im Weltall hat, im Hintergrund und wird vor allem über die jedes Kapitel einleitenden Zeitungsmeldungen erzählt, die von Naturkatastrophen berichtet, die mehr und mehr Opfer fordern. Der größte, gesichtslose Gegenspieler bleibt die „Earth First“-Bewegung, die Terroristen, die das Weltraumprogramm stoppen wollen, damit die Ressourcen auf die Erde konzentriert sind. Im vierten Band kommen sie gar nicht mehr vor, werden nur erwähnt und anfangs kurz befürchtet. Der eigentliche Gegner sind die unwirtlichen Bedingungen und teilweise die habitans selbst, aber dazu später mehr.

Ich möchte, bevor ich mich mit dem konkreten Band auseinandersetze, den politischen Aspekt der „Earth First“-Bewegung ansehen. Dass diese Terroristen sind, macht sie natürlich nicht satisfaktionsfähig, und zudem stehen sie natürlich den Absichten unserer Charaktere, die Weltbevölkerung auf den Mars zu evakuieren, im Wege und sind deshalb stets die Antagonisten. Aber sie haben einen Punkt.

Die Internationale Raumorganisation kann schließlich auch nicht sicher garantieren, dass der Mars tatsächlich ein realistisches Ziel bleibt. Am Ende der Romanhandlung befindet sich eine kleine dreistellige Zahl Menschen in einem komplett von der Erde abhängigen Habitat, in dem jedes kleine Materialversagen lebensgefährliche Folgen für alle Beteiligten haben kann (wie das CO2-Leck in der Handlung zeigt) und das noch so neu ist, dass Materialversagen weitgehend keine Rolle spielt. Die Marsbasis ist nicht skalierbar, und eine ernsthafte Übersiedlung steht noch Jahrzehnte in der Zukunft – sollte sie überhaupt möglich sein, denn bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit ignoriert Kowal Probleme wie das Fehlen eines Magnetfelds und die Strahlung aus dem All bislang völlig.

Demgegenüber ist die Wissenschaft sich zwar einig, dass der „runaway greenhouse effect“ die Erde unbewohnbar machen wird, aber „unbewohnbar“ ist ein Attribut, das diese Zukunfts-Erde mit dem Mars teilt. Die Forderung von „Earth First“, die Ressourcen in Terraforming ZUHAUSE statt auf dem Mars zu stecken, ist da nicht so absurd: die Erfolgsaussichten jedenfalls sind bei weitem nicht so eindeutig verteilt, wie der Roman das gerne darstellt – zumindest meinem begrenzten Verständnis eines fiktiven naturwissenschaftlichen Problems nach. So macht mir die Lektüre deswegen ein wenig ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube, weil auch ein gewisser Elitismus darin zum Ausdruck kommt: die professionellen, gut ausgebildeten Astronauten finden hier ihr berufliches Mekka, was die entsprechende Verzichte leicht macht. Aber das Degrowth- und Verzichtsmindset, das das Raumprogramm und der potenzielle Umzug zum Mars erfordern, werden noch etwas arg auf die leichte Schulter genommen.

Das sieht man auch an der Entwicklung zweier zentraler Plotstränge, nämlich der Übernahme der Raumagentur durch Stetson Parker, die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Präsidentin (!) Nicole Wargen und dem Plot um die Abtreibung eines ungewollten Babys auf dem Mars.

Zuerst zu Parker und Wargen. Zwar behandelt Kowal politische Probleme durchaus als solche und akzeptiert die Notwendigkeit politischer Ränkespiele und Kommunikation, wenngleich unsere Heldin Elma York die genretypische Aversion dagegen hat. Aber das alles gelingt viel zu leicht, die Öffentlichkeit tritt de facto als Monolith auf, der sich durch eine emotionale Radio-Ansprache vom Mars komplett steuern lässt. Eine politische Opposition gegen Wargen scheint auch nicht zu existieren, und die Zusammenarbeit aller Nationen hat auch ein Flair von Kumbaya. Das mag der Begrenzung der Perspektive mitgeschuldet sein, weil Elma viele Millionen Meilen von der Erde entfernt und nicht bewandert ist, aber andere Autor*innen können solch gesellschaftliches Storytelling geschickter.

Besonders auffällig ist es um die Handlung der ungewollten Schwangerschaft der indischen habitans, die wegen der indischen Rechtslage illegal ist (alle Astronaut*innen unterliegen den Gesetzen ihrer Heimatländer) und die dann, als Elma während eines 22-tägigen Funklochs die Entscheidung für die Abtreibung trifft, nicht nur akzeptiert wird, sondern in Indien und Pakistan auch zu einem massiven Aufschwung feministischen Protests und Reformen führt. So sehr ich das inhaltlich begrüße, so unrealistisch erscheint mir die Wirkung dieses Signals hier zu sein.

Eher eine Kuriosität sind die Dynamiken im Habitat: da dort nur verheiratete Ehepaare sind, gibt es überraschend viel Sex für eine solche Geschichte, aber gleichzeitig gibt es kein Beziehungsdrama: kein Fremdgehen, keine Trennungen, nichts. Das ist mehr eine Beobachtung als eine Kritik und innerweltlich problemlos mit der hohen Professionalität der Beteiligten und rigoroser Vorauswahl der Agentur zu erklären. Es ist auf jeden Fall eher selten, dass man so viele Beschreibungen harmonischen Ehelebens in einem Roman hat – eine Abwechslung, die durchaus willkommen ist.

Aber das sind letztlich eher Details, Kowals Stärken liegen woanders. Ihr gelingt es auch im vierten Band herausragend, realistisch wirkende Raumfahrtgeschichten zu schreiben, in denen alle Beteiligten Profis sind und die auf die üblichen Klischees verzichten. Die Gefahren und Herausforderungen kommen aus einer wohlrecherchierten Logik der Herausforderungen des Lebens im Weltall und auf dem Mars, die schlichtweg extrem hohe Herausforderungen stellen. Ich kenne nur wenige Autor*innen, die wie Kowal das Festdrehen einer Schraube zu einem Nervenkitzel erster Güte gestalten können – weil das im Weltall an einem sich drehenden Schiff über den Mars in klobigen Anzügen eben ziemlich hart ist.

Ich bin gespannt, wie Kowal die Serie weiterentwickelt. York ist bereits 48 Jahre alt; viel länger dürfte es schwierig werden, sie als Protagonistin zu erhalten, auch wenn das „wir leben jetzt permanent auf dem Mars“ natürlich ein hilfreiches Framing ist. Ich würde es sehr bedauern, wenn die Reihe in die Falle der Serie „For All Mankind“ fiele, die wesentlich zu sehr auf persönlichem Melodrama und dem Erhalt des Kerncasts an Charaktern beruht, oder Kim Stanley Robinsons ehrlich gesagt etwas faulen Ausweg wählen und den Marscharakteren ein ungewöhnlich langes Leben gönnen würde. Wir werden sehen.

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