Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die „Fundstücke“ werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die „Resterampe“, in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Das Verbrenner-Aus ist so verheerend wie der Ausstieg aus der Kernenergie
Das EU-Verbrenner-Aus ab 2035 birgt laut Kommentar erhebliche geopolitische und industriepolitische Risiken: Es könnte Europas Automarkt mit günstigen, stark subventionierten E-Fahrzeugen aus China fluten und die deutsche Industrie samt 3,2 Mio. Arbeitsplätzen gefährden. China plane kein generelles Verbrenner-Verbot, setze parallel auf E-Autos (inklusive stark wachsender Plug-in-Hybride) und marktwirtschaftliche Anreize – während die EU sogar PHEVs ab 2035 ausschließen will. Hinzu kommt die starke Abhängigkeit von chinesisch dominierten Vorprodukten wie seltenen Erden; in einem Taiwan-Konflikt könnten Sanktionen die europäische E-Autoproduktion abrupt treffen. Der Autor zieht die Parallele zum deutschen Atomausstieg, der in die russische Gasabhängigkeit führte, und plädiert dafür, das Verbot zu überdenken (z. B. PHEVs zulassen), um Abhängigkeiten zu mindern und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. (Adrian Geiges, WELT)
Das Faszinierende an der Argumentation ist für mich, dass die marktwirtschaftlichen Trends ohnehin in diese Richtung gehen. Einmal abgesehen davon, dass China sicherlich nicht eben die marktwirtschaftlich organisierteste Nation der Erde ist, sind die Argumente hier so seltsam deplatziert in der Welt; ginge es nicht ums Auto, würden sie nie akzeptiert werden. Arbeitsplätze werden gefährdet? Das tut jede Transformation. Die Flutung mit subventionierten Fahrzeugen lässt sich durch Zölle ausgleichen, das ist Handelspolitik 101. Von den Hybriden höre ich stark unterschiedliche Einschätzungen: hier heißt es, die seien groß im Kommen, ich habe aber auch schon genügend Bewertungen als Sackgasse gelesen; da lege ich mich nicht fest. Nur hat das mit dem Verbot recht wenig zu tun, weil dessen Ziel ja ist, die Emissionen zu reduzieren und die Hybride da meines Wissens nach nicht sonderlich gut performen; mag mich aber auch täuschen.
Was mich ebenfalls verwundert ist die Argumentation der Abhängigkeit von Importen. Mir wäre neu, dass wir Erdöl fördern, und politische Konflikte im Mittleren Osten haben ja schon das eine oder andere Mal den Erdölmarkt komplett durcheinander gebracht. Egal, was wir zur Fortbewegung und Energieerzeugung nutzen, unabhängig von irgendwelchen Autokratien sind wir nie. Natürlich liegt Geiges völlig richtig, dass wir dieses Mal überdenken sollten, von wem wir uns abhängig machen, und diversifizieren. Aber erneut, das erfordert eben auch staatliche Handels- und Wirtschaftspolitik, und darin sind wir notorisch schlecht.
2) Der Frust der anderen Migranten // Flache Islamkritik schadet unserem Land
Der Text rückt die große, gut integrierte Migrantenschicht ins Licht – Ärzte, Apotheker, Architekten, Gründer –, die als „stille Stützen“ kaum vorkommt, während Medienlogik (»Mann beißt Hund«) vor allem Clans und Gewalt sichtbar macht. Beispielhaft schildert SPD-Abgeordnete Rasha Nasr den Beitrag ihrer Eltern und zugleich deren Zweifel am Dazugehören. Datenrahmen: 25,2 Mio. Menschen mit Einwanderungsgeschichte (30,4 %), 68.102 ausländische Ärztinnen und Ärzte (über 15 % der Ärzteschaft), gleichzeitig unterdurchschnittliche Quote sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und überproportionale Kriminalitätsbelastung in der Statistik (mit Verzerrungen). Die Autorin plädiert für verbindliche Sprach- und Vorschulförderung, schnellere Anerkennung von Abschlüssen sowie strengere, sprachpraktisch überprüfte Einbürgerung – damit mehr Talente ihr Potenzial entfalten, statt unsichtbar zu bleiben. (Fatina Keilani, WELT)
Der Kommentar plädiert für Islamkritik mit Mindeststandards: Der Islam sei eine bleibende Realität in Deutschland, und oft kippe die Debatte in dumpfe Religionsfeindschaft, „alle raus“-Reflexe oder linksliberale Intoleranz. Beispiele: Gebetsräume an Schulen mit muslimischer Mehrheit entschärften Konflikte; Frauen-Taxis seien punktuelle Geschlechtertrennung wie in Umkleiden – doppelte Maßstäbe schadeten. Pauschale Warnungen vor „religiöser Infiltration“ negierten das verfassungsrechtliche Erziehungsrecht der Eltern; bürgerliche muslimische Positionen würden vorschnell als „islamistisch“ diffamiert (etwa Kritik an einer LGBTQ-Flagge im Klassenraum). Umfragen und Textzitate würden teils unredlich eingesetzt, z. B. die Aussage „Koran-Regeln wichtiger als deutsche Gesetze“ ohne nach dem angenommenen Konflikt zu fragen, oder ein Koranvers werde als Terror-Steigbügel gelesen, obwohl er religiöse Hingabe ausdrückt. Erforderlich sei informierte, menschenfreundliche Kritik, die Muslime in Verfassung und Gesellschaft beheimatet (bei gleichzeitiger Debatte über Zuwanderungsgrenzen), statt sie herauszuekeln und so Radikalisierung zu befördern. (Till-Reimer Stoldt, WELT)
Ich finde beide hier zitierte Artikel zur Integrationsdebatte absolut korrekt. Was hier auch schön sichtbar wird ist die Kreisförmigkeit dieser Debatten. Wie oft haben wir schon festgestellt, dass der Schlüssel die frühkindliche Bildung ist? Dass hier die Weichen für den zukünftigen Erfolg gestellt werden? Und doch wird nicht danach gehandelt. Stichworte wie der Ausbau frühkindlicher Betreuung und ihre stärkere Konzentration auf Bildung; eine längere gemeinsame Grundschulzeit; und so vieles mehr. Auch Stoldt hat natürlich Recht, wenn er nach beiden Seiten die Exzesse der Kritik verurteilt (wobei ich mich frage, in wie vielen Klassen eine LGTBQ-Flagge hängt, da scheinen dann doch wieder die Kulturkampf-Phantasien durchzugehen…). Auch diese Forderungen – Beiheimatung der Muslime in Deutschland – haben wir schon ewig. Es war 2010, als Christian Wulff erklärte, der Islam gehöre zu Deutschland. Und heute haben wir wieder gut ein Drittel Leute im Bundestag, die das ablehnen.
3) Chartbook 410: Malign coincidence – MAGA & the moment of hyperscaling.
Adam Tooze beschreibt eine „maligne Koinzidenz“: den Gleichklang zwischen MAGA-Politik und dem Hyperscaling der Tech-Giganten. Während Alphabet, Amazon, Microsoft, Meta (mit Nvidia) in einem historischen, billionenschweren Wettlauf Rechenzentren und KI-Kapazitäten aufbauen, sucht Trumps Team vor allem eines: Deregulierung, Anti-Kartell-Laxheit, Steuervorteile und eine Boom-Erzählung. Silicon Valleys früherer Liberallook sei nie Wesenskern, sondern Milieu und Kundschaft gewesen; nun dominiert radikale Ungeduld – sowohl politisch („jetzt oder nie“) als auch technologisch (Roadmaps in Quartalen statt Jahrzehnten). Widersprüche – etwa Trumps Anti-Erneuerbaren-Kurs, H-1B-Restriktionen oder erratische Handelspolitik – werden von den Hyperscalern umgangen (teurer Strom, Geld aus dem Golf, private Netze). Zentral sei, Washington vom „Im-Weg-Stehen“ abzuhalten; Trump sei dafür empfänglich, weil ihn große Zahlen, Lobhudelei und gute Märkte überzeugen. Für die übrige Wirtschaft fungiert KI zugleich als Ablenkung, die unangenehme politische Fragen überdeckt. Beide Projekte – MAGA-Umbau des Staates und KI-Investitionsrausch – sind riskant und kontingent verbunden; doch bis 2028 werde sich entscheiden, ob der Schulterschluss trägt. (Adam Tooze, Chartbook)
Ich glaube nicht, dass die Frage, wie weit der Schulterschluss trägt, eine ist, die sich durch Ideologie oder Ähnliches deuten lässt. Wie die vorherige Nähe zu den Liberalen ist die jetzige Nähe zu den Rechtsextremisten Teil derselben Medaille. Letztlich sind die Leute ideologisch sehr flexibel, weil sie komplett von den Folgen ihres politischen Engagements isoliert sind. Ihr Reichtum schützt sie. Und diesen Reichtum zu erhalten und zu mehren ist der alles überstrahlende Prärogativ, der jede Ideologie überstrahlt. Wenn sich diese Leute mehr von der Unterstützung von Trump-Gegnern versprechen als von Trump, dann werden sie ihre Unterstützung entsprechend umschichten. Da hängt auch ein natürliches Ablaufdatum dran: wenn die entsprechende Skalierung erreicht, die notwendigen Ressourcen gesichert und die staatlichen Kapazitäten zerstört sind, haben sie alles, was sie von Trump wollten, und Trump hat umgekehrt nichts mehr, was er ihnen geben kann. Aber so ein Business-Genie wie der amerikanische Präsident wird das sicherlich auch verstehen…
4) Die Sprachpolizei steht rechts
Maurin kritisiert die neue Fixierung konservativer und rechter Parteien auf Sprachverbote bei Lebensmitteln als Fortsetzung ihres Kulturkampfs: Nach Maßnahmen gegen genderinklusive Schreibweisen solle nun auch „Veggie-Burger“, „vegane Wurst“ oder „Schnitzel“ für pflanzliche Produkte untersagt werden. Das sei ideologisch motiviert und entbehre jeden Verbraucherschutznutzens, weil „vegan/vegetarisch/veggie“ längst klar und groß gekennzeichnet werde; niemand verwechsle solche Produkte mit Fleisch. Im Gegenteil böten vertraute Gattungsbegriffe Orientierung zu Geschmack, Textur und Zubereitung, weil viele Ersatzprodukte bewusst an bekannte Kategorien anknüpfen. Ein Verbot würde daher nur künstliche, alltagsferne Bezeichnungen erzwingen, die Konsument:innen verwirren und Hersteller gängeln. Maurin erinnert daran, dass die vermeintliche „Sprachpolizei links“ ein Zerrbild sei – tatsächlich kämen die Verbote von rechts, wie Bayern beim Gendern. Wer religiöse oder kulturelle Empfindlichkeiten vorschiebe, instrumentalisiere Sprache politisch statt reale Probleme zu lösen. Sinnvoller Verbraucherschutz liege in transparenter Inhalts- und Nährwertkennzeichnung, nicht in der Umetikettierung etablierter Begriffe. Insgesamt sei die Debatte ein Nebenschauplatz, der weder Klima- noch Ernährungsfragen voranbringe, sondern lediglich Ressentiments bediene und den Alltag unnötig verkompliziere. (Jost Maurin, taz)
Das einzig Positive an dieser Posse ist die völlige Entlarvung der ganzen vorgeschützten Argumente gegen das Gendern. Verständlichkeit: die neuen Sprachregeln, die die Konservativen verordnen wollen, stehen Verständlichkeit im Weg und erfordern die Erfindung neuer Kunstworte. Freiheit: es werden Regeln vorgeschrieben und Eingriffe vorgenommen. Tradition und Natürlichkeit: bereits vorhandene Sprachregeln werden künstlich aufgebrochen, um ein ideologisches Projekt durchzubringen. Notwendigkeit: es besteht keinerlei Notwendigkeit für die Eingriffe; niemand wird „Hafer-Milch“ mit Kuhmilch verwechseln oder bei einem „Veggie-Burger“ Hackfleisch erwarten. Marktwirtschaft: die Konservativen wollen massiv in den Markt eingreifen und Unternehmen vorschreiben, wie sie ihre Produkte zu vermarkten haben. Letztlich offenbart sich wie so oft, dass die Argumente letztlich nur Munition im Kampf um die Deutungshoheit sind, aber die zur Schau gestellte Überzeugung von Prinzipien dahinter nicht besteht. Unabhängig von der politischen Ausrichtung, übrigens.
5) Die Tilo-Jung-Alice-Weidel-Connection
Blanken kritisiert in seinem Kommentar, dass sowohl Alice Weidel als auch Tilo Jung mit Geschichtsdeutungen operierten, die letztlich Geschichtsrevisionismus darstellten. Weidel habe Hitler zum Linken erklärt, Jung dagegen die DDR als „rechts“ bezeichnet, da eine Diktatur seiner Ansicht nach nie links sein könne. Beides sei, so Blanken, „furchtbarer Unfug“. Historisch müsse die NSDAP als Erscheinung der extremen Rechten und die SED als Erscheinung der extremen Linken eingeordnet werden. Gemeinsam sei beiden Systemen die Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der bürgerlichen Gesellschaft, der massive staatliche Eingriff in die Wirtschaft sowie die systematische Entrechtung des Individuums. Während die Nazis die „Rasse“ vergöttert hätten, habe die SED die „Klasse“ zum Fixpunkt gemacht. Beide hätten voneinander gelernt, etwa im Bereich antisemitischer Propaganda oder kulturpolitischer Abgrenzung. Dass sowohl Ulbricht wie auch Hitler Elemente der jeweils anderen ideologischen Seite aufgenommen hätten, ändere nichts an der grundlegenden politischen Verortung. Blanken schließt mit der Bemerkung, Jung und Weidel sollten vielleicht „ein Bier trinken“, da sie in ihrer Geschichtsverdrehung mehr Gemeinsamkeiten hätten, als sie selbst zugestehen wollten. (Tobias Blanken, WELT)
Blanken hat völlig Recht: beides ist Unfug. Der gefühlte Bedarf, die Vergangenheit nachträglich mit Labeln zu bedenken, um in der Gegenwart irgendwelche politischen Punkte zu machen, ist völliger Unsinn. Götz Alys Herumlavieren in dem Versuch, Hitler irgendwelche „linke“ Politiken anzudichten, ist genauso Quatsch wie Thilo Jungs Ansinnen, die DDR als „rechts“ zu labeln, weil sie eine Diktatur war. Diktaturen gibt es links wie rechts, deswegen wollen wir ja eine liberale Republik. Auch sind sozialstaatliche Maßnahmen nicht automatisch „links“, wie implizit selbst Blanken hier behauptet; nicht umsonst wurde er maßgeblich von Bismarck vorangetrieben, dem Sympathie für linke Ideen eher fremd sind, und in seiner spezifisch deutschen Ausprägung von der SPD zuerst bekämpft. Das alles ist reichlich unterkomplex, hat aber mit Geschichte ohnehin nichts zu tun, sondern mit dem billigen Punktemachen im politischen Meinungskampf.
Resterampe
a) Wehrpflicht auch für Frauen? Aber selbstverständlich! (Welt)
b) Manchmal wären 2 Minuten nachdenken gut. (Twitter)
c) Die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik (Welt). „Könnte“, „bis zu“ – meine Güte, ist das unseriös.
d) Keir Starmers Versuch, mit rechter Migrationspolitik zu punkten, ist völlig gescheitert. (SZ) Mir scheint, dass die dänischen Sozialdemokraten die Ausnahme sind, die die Regel bestätigt. Hat das für irgendeine andere sozialdemokratische oder konservative Partei funktioniert? Zu Starmer siehe auch hier.
e) Die AfD und konservative Christen. (Deutschlandfunk)
f) Die ICE-Leute sind echt ein reiner Schlägertrupp. (Twitter)
g) Großbritannien unternimmt (kleine) Schritte zur Eindämmung ungesunder Ernährung. (ZEIT)
h) How Democrats Backed Themselves Into a Shutdown (The Atlantic).
i) Frank Stauss nochmal zur deutschen Industrie.
j) Sehr lesenswertes Interview mit dem Chef der Bundespolizei zu Grenzkontrollen (Welt). Danke an Stefan Pietsch für den Link.
k) Sehr guter Kommentar zur Trennung von Meinung und Bericht. (SZ)
Fertiggestellt am 05.10.2025