Christopher Leonard – Kochland. The Secret History of Koch Industries and Corporate Power in America (Hörbuch)
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Zum Ende des Narrativs kehren wir nach Wichita zurück. Koch übersah mit nunmehr 83 Jahren ein gigantisches Imperium, indem er als unumschränkter Herrscher schalten und walten konnte. In Wichita hatte er beinahe gottgleichen Status und komplette Kontrolle über sein eigenes Narrativ. Mochte er im Rest der Nation auch zum progressiven Feindbild Nummer 1 aufgestiegen sein, in der Umgebung seines Büroturms gab es keine Schule, Museum oder Schwimmbad, das nicht direkt oder indirekt auf seinen Einfluss zurückzuführen wäre – und alle wussten es. Dazu kam, das kein Unternehmer jemals so viel ideologischen Einfluss ausgeübt hatte wie Charles Koch. Seine Bücher waren (zwangsläufig) Bestseller und eine von ihm erfundene Sprache wurde von Tausenden von ihm abhängigen Angestellten täglich gesprochen. Das Unternehmen wird nur von ihm und seinem Bruder geführt; sie halten 80% der Anteile. Nie erlaubte der Patriarch es, dass jemand, und sei es ein noch so vertrauter und verdienter CEO, eigene Anteile bekommen würde, wie es in praktisch allen anderen Unternehmen gang und gäbe ist.
Das Unternehmen war mittlerweile so groß, das ist nicht mehr scheitern konnte. Einzelne Teile des Unternehmens mochten sich als unwirtschaftlich erweisen und abgestoßen werden, manche Investments sich nicht lohnen und die Fehler der 1990er Jahre sich erneut wiederholen. Während Chase Koch sich als Venture Kapitalist ausprobierte, kämpften drei Spitzenmanager um die Nachfolge als CEO – wenigstens bis Chase sich entschied, das Erbe doch anzutreten. So oder so, schließt Leonard sein Buch, ist für Charles Koch die Geschichte erst am Anfang. Er schreibt an seinem ideologischen Magnum Opus, ein Werk, das MBM nicht nur als Managmenttheorie, sondern als Gesellschaftstheorie und Grundlage für die Organisation und Verfasstheit Amerikas etablieren soll. Der Albtraum hat, wenn es nach dem alternden Patriarchen geht, erst begonnen.
Ich glaube es ist im Verlauf dieser Rezension deutlich geworden, dass ich nicht gerade ein Fan von Charles Koch bin. Ich halte ihn für einen der schlimmsten Auswüchse einen ganzen Klasse, die weltweit gigantische Schäden anrichtet. Man sollte diese Abneigung nicht damit verwechseln, dass ich seine Kompetenzen und Errungenschaften nicht anerkennen würde.
So ist für mich offensichtlich, dass der langfristige Ansatz in Kochs Unternehmensstrategie höchst bewundernswert ist, wenngleich er natürlich auf Voraussetzungen beruht, die die allermeisten Unternehmen*innen schlicht nicht haben. Die Wirtschaftsgeschichte ist aber voll von gescheiterten Söhnen erfolgreiche Unternehmensgründer, so dass man die unzweifelhaft vorhandenen Fähigkeiten und Erfolge Kochs neidlos anerkennen muss.
Dasselbe gilt für seine ebenso unbestreitbare Fähigkeit, mit chaotischen Situationen umzugehen und in volatilen Umgebungen erfolgreich zu sein. In Krisensituationen einen ruhigen Kopf zu bewahren, die langfristige Strategie nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem flexibel zu reagieren ist eine wahrlich seltene Fertigkeit.
Seine weise Selbstbescheidung ist zudem ebenfalls ein Faktor seines Erfolgs, der nicht unterschlagen werden sollte. Der Ansatz, nur so zu investieren, dass die Kernkompetenzen sowohl seine eigene Person als auch der Angestellten genutzt und nicht überschritten werden, ist mit Sicherheit einer, der zahllosen anderen Unternehmen die Pleite erspart hätte.
Auf der anderen Seite aber ist Koch eine ungeheuer zerstörerische Kraft. Von Beginn an war er ein erklärter Feind seine eigenen Arbeitnehmer*innen, deren Arbeitsbedingungen nach einer Koch-Akquise sich grundsätzlich verschlechterten, deren Gefahr, einen schweren Unfall zu erleiden oder gar den Tod zu finden sich unter ihm erhöhte und deren Einkommen unter ihm stagnierten. Planmäßig beraubte er sie jeglicher Möglichkeit, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen – während er gleichzeitig ideologische Phrasen von Freiheit in die Welt hinausposaunte.
Am schlimmsten jedoch ist seine komplette Leugnung der Auswirkungen seines Handelns auf Klima und Umwelt und seine aktiven Maßnahmen, alles noch viel schlimmer zu machen, nur um den gigantischen Haufen von Milliarden noch einige Millionen zusätzlich hinzuzufügen. Es widert mich einfach nur an. Kochs Vorgehen ist sicherlich legal; es steht allerdings zu offen, dass er und seinesgleichen irgendwann in Zukunft in der Reihe der großen Bösewichte der Menschheitsgeschichte stehen werden.
Eher kurios ist für mich seine ideologische Ausrichtung. Ich habe in der Rezension immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ähnlichkeiten zum real existierenden Sozialismus verblüffend sind. Koch schuf eine Ideologie und gemeinsame Sprache, die es locker mit den linguistischen Verirrungen der DDR-Bürokratie aufnehmen kann. Diese Ideologie wurde verbindlich und wird in Indoktrinationsmechanismen an alle Angestellten weitergegeben. Ähnlich totalitären Staaten verlangt Koch nicht nur ein öffentliches Bekenntnis in Form des Einhaltens von Sprachregeln und der Teilnahme an Ritualen, sondern tatsächliche Überzeugung und investiert massiv darin, diese Überzeugung zu generieren. Ich sage nicht, dass das schlechte Geschäftspolitik wäre; vielmehr liegen die Vorteile auf der Hand und werden durch Leonard ja auch gut herausgearbeitet. Aber es ist etwas, das sich in praktisch keinem anderen Unternehmen so findet.
Zudem fällt die klare Unternehmenshierarchie mit schlagkräftigen Abteilungen für „innere Sicherheit“ auf. Die Angestellten werden überwacht und durchleuchtet, Regeln werden kodifiziert und von oben nach unten durchgegeben. Es existiert ein Führerkult, der sich gewaschen hat und dem sich alle zu unterwerfen haben: das Genie Charles Kochs wird beständig beschworen und ein Bekenntnis zu ihm und, für sozialistische Regime typisch, seiner Ideologie und seinen heiligen Texten abverlangt. Seine Bücher haben eine riesige Auflage, weil sie erzwungener Lesestoff im Unternehmen sind – die Maobibel des Kapitalisten. Dazu kommt der Kontrollanspruch auf alle relevanten Teile der Gesellschaft, der mit massiver Lobbykraft nach außen getragen wird. Die Strukturen sind undurchdringbar und nach außen vollkommen abgeschottet; Kontakt zwischen der Bürokratie und der Gesellschaft existiert praktisch nicht.
Das soll nicht heißen, dass Koch Industries ein Staat wäre; die Staatsfeindlichkeit Kochs steht außer Frage, und der Laden ist dezidiert ein Unternehmen. Vielmehr ist hier ein bisschen Hufeisentheorie fällig. Der extreme Kapitalismus und der extreme Sozialismus sind einander ähnlicher, als es beide Seiten gerne wahrhaben wollen.
Dazu kommt, dass Kochs ideologisches Fundament genauso anfällig für Abgleiche mit der Realität ist wie sozialistische Regime. Diese versprachen das Arbeiterparadies und waren bestenfalls graue Unglücksproduzenten. Koch verspricht die Freiheit und schwingt das Wort von der absoluten, unbegrenzten Marktwirtschaft, war aber Zeit seiner unternehmerischen Existenz immer abhängig vom Staat. Ohne Subventionen und Regulierungen wäre Koch niemals so reich geworden, wie er ist, und wäre es nicht geblieben – der fundamentale Widerspruch der gesamten Struktur direkt im Fundament.
Doch auch in anderen Elementen steht Kochs Ideologie in ständigem Widerspruch zur Realität. Es ist kein Wettbewerb vorstellbar, ohne dass beide Seiten Gestaltungsmacht haben. Und das heißt für die überwiegende Mehrheit der Angestellten: Gewerkschaften. Koch sieht diese als seinen großen Feind. Dabei ist die einzige Möglichkeit, wie Angestellte realistisch im Wettbewerb mit Unternehmer*innen stehen könnten – und selbst dann mit großem Startnachteil – die Organisation. Koch weiß genauso wie bei der Beeinflussung und Nutzung des Staates sehr genau, warum er die Gewerkschaften von Anfang an zerstören wollte, und natürlich bediente er sich hierzu massiv des Staates. Das Streikbrechen von Pine Bent in den 1970er Jahren wäre ohne gewogenen Richter und entsprechendes Urteil so nicht möglich gewesen.
Eine Auffälligkeit bezüglich der Konstruktion Kochs, auf die Leonard immer wieder verweist – die „Firewall“ aus legalistischer Vernebelung, die ihn von jeder Konsequenz abschirmte und das Anhäufen des Reichtums ermöglichte, indem es ihn von den negativen Folgen von Krediten, Fehlspekulationen etc. abschirmte, also erneut staatlicher Schutz! – ist, wie effektiv diese ist. Ich habe das Hörbuch gehört und für diese Rezension immer wieder die Namen von Firmen oder zentralen Figuren nachrecherchieren wollen. Das war fast unmöglich. Nicht einmal die Namen der aufgekauften Unternehmen lassen sich vernünftig finden, selbst auf Wikipedia nicht! Die Geschichte des Futtermittelherstellers Purina etwa findet sich quasi nicht; die Wikipedia-Seite der Firma hat, obwohl die Firmengeschichte bis 1883 zurückreicht, keine Informationen über die 1990er Jahre. Auch hierin gleicht Koch Industries den realsozialistischen Regimen und ihrer manischen Kontrolle der eigenen Geschichte, dem Retuschieren von Misserfolgen (man denke nur an das Canceln Trotzkis!) und den Sprechverboten über die Vergangenheit.
Zum Abschluss möchte ich zum Buch selbst kommen. Ich habe im Verlauf der Rezension immer wieder deutlich gemacht, dass ich die Haltung Leonards sehr merkwürdig fand. Einerseits ist sein nüchterner Ton und seine von jedem progressiven Aktivismus freie Berichterstattung für das Subjekt gut geeignet. Es ist leicht vorstellbar, wie meine Rezension einen anklagenden, wütenden Text zu schreiben, der die Person Kochs dämonisiert (nicht schwierig, der Mann ist ein Dämon). Aber Leonard tut dies nicht, was vor allem dem Aspekt des Buchs hilft, der den Anspruch hat, die Geschichte von Koch Industries als Teil oder gar Spiegel der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte generell zu schreiben. Das gilt insbesondere auch für die Verbindungen zur politischen Geschichte; die Geschehnisse vor allem ab 2008 sind ohne Koch praktisch nicht verständlich.
Das funktioniert insofern, als dass Leonard die Elemente der Koch’schen Firmengeschichte sehr gut in den wirtschaftshistorischen Kontext einbettet. Es funktioniert insofern weniger gut, als dass Koch so anders ist als praktisch alle Unternehmer und Unternehmen, dass er immer als Phänomen sui generies dasteht. Dieses Spannungsfeld kann Leonard nie vollständig auflösen, was sicher auch daran liegt, dass es eine unmögliche Aufgabe darstellt.
Am meisten irritiert aber hat mich der hagiographische Tonfall. Praktisch sämtliche vorgestellten Personen – mit zwei oder drei Ausnahmen – sind glühende, beinahe fanatische Koch-Fans. Der Verdacht liegt nahe, dass Leonard bei seinen Recherchen zwar beispiellosen Zugang zu internen Informationen und dem inneren Zirkel bekommen hat, der Preis dafür aber eine Aufgabe der Distanz zum Gegenstand war. Während Leonards Analysen des Unternehmens selbst vom erwähnten objektiv-nüchternen Ansatz profitieren und die Dinge neutral darstellen, fehlt diese Distanz völlig, sobald es um die Personen geht, vor allem bei der Kochfamilie. Die Klischees von harter Arbeit, bescheidener Erziehung und Werten des „Heartlands“ im Vergleich zur Küstenelite sind unerträglich und werden in einer gleichförmigen Penetranz abgespult, die schon fast an Parodie grenzt, aber mit völliger Ernsthaftigkeit betrieben wird.
Das war für mich das größte Minus an dem Werk: trotz seiner beträchtlichen Länge und dem Fokus auf den Biografien bleiben die handelnden Personen Chiffren. Was wir sehen ist, was sie sehen wollen; eine künstliche Projektion nach außen, die nie durchdrungen wird und ihre artifizielle Natur nicht ablegen kann. Es ist wie als würde man Mark Zuckerberges Selbstdarstellung ernstnehmen, anstatt sich über seine Augusts-Allüren lustig zu machen.
Trotz diesen Schwächen kann ich das Buch nur empfehlen. Nicht nur erfährt man, wie eines der wichtigsten Unternehmen der USA entstand und wie es arbeitet, sondern auch, wie es die modernen USA prägte. Und das ist immer relevant.