Rezension: Isabel Wilkerson – Caste. The lies that divide us

Isabel Wilkerson – Caste. The lies that divide us

Der Umgang mit dem Holocaust war und ist für die Deutschen ein schmerzhafter und von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägter Prozess. Von der Weigerung, sich damit zu befassen, zu dem Versuch, eine klare Trennung zwischen einigen wenigen „bösen Nazis“ und dem Rest der unwissenden, unbescholtenen Mehrheit zu ziehen bis hin zu dem qualvollen Prozess der Anerkennung, dass Mitwissendenschaft und sogar Mittäter*innenschaft wesentlich weiter verbreitet waren als vorher wahrgehabt dauerte es Jahrzehnte. Der Prozess ist noch immer nicht abgeschlossen, hat seine blinden Stellen und zwingt uns ständig zur immer wieder neuen Auseinandersetzung. Ich erwähne diese Geschichte deswegen, weil solche Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit keine Selbstverständlichkeit und nicht die Regel sind. Dass die ständigen Rufe nach einem Schlussstrich bisher in Deutschland nicht verfangen konnten, ist ein kleines Wunder. Solche Auseinandersetzungen aber sind nicht exklusiv für uns. Großbritannien beginnt langsam, sich mit seiner Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, und die USA führen seit mehreren Jahren einen scharfen Kampf um das Erbe von Sklaverei und Rassismus, der noch in seinem Anfangsstadium steckt. Es ist vor diesem Hintergrund, vor dem man Isabel Wilkersons Buch „Caste. The lies that divide us“ gesehen werden muss. Es gibt zahlreiche Abhandlungen über Rassismus, die sich in einer erschreckenden Geschichte nach der anderen erschöpfen. Wilkerson hat, obwohl sie mehr als genug Geschichten in diesem Kontext zu erzählen hat, eine andere Zielrichtung vor. Sie versucht, ein neues Theoriesystem zu schaffen, um über den Rassismus in den USA, seine Natur und seine Wurzeln nachzudenken. Ihre These: es geht nicht so sehr um Rassismus, sondern um das Schaffen eines Kastensystems. Dazu weitet sie den Blick und zieht das nationalsozialistische Deutschland und das indische Kastenwesen als Vergleiche heran.

Ihre grundsätzliche These ist, dass der (amerikanische) Rassismus nicht nur verstanden werden darf als ein individuelles Element abwertender Haltungen, sondern als die Gesellschaft ordnendes und strukturierendes System. Sie verwendet dazu den Begriff „Kaste“. Die Gesellschaft ist in mehrere Kasten unterteilt, denen unterschiedliche Wertigkeiten zugesprochen werden und für die andere Rechte und Gesetze gelten, mal explizit – wie etwa während der Sklaverei oder der späteren Segregationsphase -, mal implizit bei der Benachteiligung von Jobs, den Morden durch die Polizei und vielem mehr.

Der Beginn dieses amerikanischen Kastensystems findet sich im Jahr 1619, als die ersten Sklaven amerikanischen Boden betreten. Es ist also fast so alt wie die angelsächsische Besiedlung des Kontinents selbst. Dieser lange Zeitraum von über 400 Jahren ist es auch, der zu der tiefen Verankerung dieses Kastensystems in der amerikanischen Gesellschaft führte, die zwar von den US-Konservativen harsch bestritten wird, aber geschichtswissenschaftlich eindeutig feststellbar ist. Wilkerson zeichnet die Genese dieses Kastensystems nach, das zu Beginn grundsätzlich noch rechtlich gleichberechtigte schwarze Bürger*innen der Kolonien kannte, aber unter dem vergiftenden Einfluss der Sklaverei zunehmend zu einer biologisch begründeten Kastenordnung überging, die in den 1700er Jahren fest installiert war und selbst freien Schwarzen keinen gleichen Status zuerkannte.

Aus diesem System heraus bildeten sich zahlreiche soziale Konventionen und institutionelle Normen, die zu guten Teilen bis in die heutige Zeit überdauert haben. Anhand von Praxisbeispielen führt Wilkerson eine theoretische Unterfütterung ein, unter anderem „Die Acht Säulen der Kaste“ und zahlreiche Wirkungsmechanismen. Dabei zieht sie immer wieder den Vergleich zum Nationalsozialismus einerseits heran, in dem ein neues Kastensystem aus dem Boden gestampft wurde, das auf einem übersteigerten Rassismus basierte, und das indische Kastensystem, das nicht von rassischen, sondern eher klassismischen Systemen ausgeht und religös untermauert ist.

Die Stärke dieser Vergleiche finden sich vor allem dann, wenn etwa aufgezeigt wird, wie sehr Amerika für die Nationalsozialisten ein Vorbild war. Die jüngere Holocaustforschung hat darauf immer wieder hingewiesen, aber Wilkerson zeigt besonders deutlich, dass die amerikanische Rassengesetzgebung den NS-Funktionären ein Vorbild war, das sie aber nicht komplett umsetzten, weil es ihnen zu radikal war (!). Diese Vergangenheit ist in den USA völlig weichgewaschen und weitgehend noch nicht aufgearbeitet. Auch die Strukturen des indischen Kastenwesens helfen, weil es wegen seiner langen Bestehenszeit das besterforschte Kastensystem ist und so ebenfalls zahlreiche Vergleiche zulässt, vor allem was den Umgang mit der niedrigsten Kaste anbelangt, zu der Wilkerson ein widerwärtiges und fürchterliches Beispiel nach dem nächsten bringt.

Diese Vergleiche finden allerdings auch deutliche Grenzen, die immer wieder die Frage aufbringen, ob Wilkerson sich wirklich einen Gefallen damit getan hat. So düster faszinierend die Traditionslinien der Nürnberger Rassegesetze gegenüber den Jim-Crow-Gesetzen sind, so fällt doch in Details immer wieder auf, dass Wilkerson nicht firm in der Geschichte ist, etwa wenn sie bezüglich der Lynchings, bei denen die Weißen Souvernirs der getöteten Afroamerikaner*innen kauften und ausstellten, behauptet, dass nicht einmal die Nazis so etwas getan hätten. Ich stand nur von einer Museumsscheibe getrennt vor einer NS-Geldbörse aus Menschenhaut, das ist leider nicht wahr. Auch die vorbildhaft herangezogene deutsche Vergangenheitsbewältigung steckt voller Detailfehler. Das alles bringt die Frage auf, ob bei der (mir nicht besonders bekannten) indischen Geschichte ähnliche Fehler sind. Wilkersons journalistische Wurzeln scheinen hier deutlich durch, die einer klaren und guten Geschichte den Vorzug vor historischer Akkuratheit zu geben scheinen.

Das allerding ist Detailkritik. Die eigentliche Argumentation besteht problemlos aus eigener Kraft, so sehr, dass sich die Frage stellt, ob der (ohnehin nicht kohärent durchgehaltene) Ansatz des Vergleichs und der Allgemeingültigkeit nicht einfach ein Sich-Übernehmen der Autorin darstellt. Denn ihre scharfsinnige Betrachtung der Geschichte und Funktionsweise des amerikanischen Kastensystems hätte ja auch mit einem einzelnen Kapitel zu den Einflüssen auf die Rassegesetze einerseits und die ähnliche Funktionsweise Indiens andererseits genügt. Aber zurück zur Substanz.

Wilkerson zeichnet das amerikanische Kastenwesen aus der Genese der Sklaverei nach. Es umfasst auch von Anfang an mehr als nur die simple binäre Ordnung Weiß vs. Schwarz. Die indigene Bevölkerung, Einwander*innen aus dem nicht angelsächsischen (und, absurderweise, skandinavischen Raum, der in einer beängstigenden Parallele zum NS-Rassenwahn laut Wilkerson in den USA höher geschätzt wird als eine Herkunft aus England!) weißen Europa, Einwander*innen aus Süd- und Osteuropa, Lateinamerikaner*innen, asiatische Einwander*innen, karibische Einwander*innen, Inder*innen – alle werden in eine differenzierte rassische Kastenhierarchie sortiert, in der nur eines beständig ist: Schwarze sind ganz unten. Und selbst die Schwarzen selbst werden, wie Wilkerson mit scharfem Blick analysiert, intern in Unterkasten sortiert.

Die Sklaverei stellt sicherlich den Höhepunkt der blutigen Ausbeutung, Unterdrückung und Ermordnung der Afroamerikaner*innen dar. Aber das in den USA so lange gehegte Narrativ, dass die Emanzipation mit Ende des Bürgerkriegs das Problem quasi gelöst habe, dass aber spätestens Martin Luther King es beseitigt habe, wird von Wilkerson klar zerlegt. Der Horror der Sklaverei wird in den Südstaaten praktisch sofort durch neue Strukturen – Stichwort Jim Crow – ersetzt, die die Schwarzen weiterhin unten halten, und durch brutalen und tödlichen Terror durchgesetzt. Es handelt sich um ein rassistisches Terrorregime, das den Vergleich mit Besatzungsregimen des 20. Jahrhunderts in Osteuropa nicht zu scheuen braucht, ein Kapitel der Geschichte, das die Hälfte des amerikanischen politischen Spektrums gerade per Gesetz totzuschweigen versucht. Die Lynchjustiz, die über mehr als 70 Jahre ungehemmt im Süden der USA herrschte und der zehntausende von Menschen zum Opfer fielen, ist einer kollektiven, bewussten Amnesie unterworfen, die erst seit den späten 2010er Jahren langsam gelüftet wird.

Doch das Ende der Sklaverei brachte das Kastensystem des Südens paradoxerweise auch nach Norden. Die Freiheit der Schwarzen, ihren Wohnort und ihr Glück im Norden zu suchen, brachte diesen dazu, eine jahrhundertelange Trennung aufzuheben – die zwischen Nord und Süd – und ebenfalls ein Kastensystem zu installieren, das zwar nicht so blutig wie das Terrorregime des Südens war, aber an Effektivität wenig nachstand. Systematisch wurden Schwarze am sozialen Aufstieg gehindert, diskriminiert und an ihre untergeordnete Stellung erinnert.

Wilkersons Verdient ist weniger, die Geschichte nachzuzeichnen (wobei sie das als herausragende Journalistin mit großem Geschick tut), sondern dem Ganzen durch ihre Begrifflichkeit und theoretischem Unterbau der Kaste Struktur und Erklärungsgehalt zu geben. Anstatt vor individuellen Akten des Terrors und der Unterdrückung zu stehen und kopfschüttelnd zu fragen, wie „damals“ so etwas geschehen konnte, zeigt sie die Logik eines Systems auf – und wie es sowohl Unterdrückende als auch Unterdrückte in seinen eigenen Erhalt zwingt, von der Rekrutierung armer weißer Südstaatler in Sklavenpatrouillen zu heutigen selbsternannten Vigilanten und Bürgermilizen, die den Erhalt der „Ordnung“ auf sich nehmen. Der Vergleich mit der deutschen Holocaustverarbeitung drängt sich auf, wo die Erkenntnis, dass es eben nicht einige wenige moralisch pervertierte Täter in einem mystischen „früher“, sondern ein systemischer Massenmord war, ebenfalls eines langen und schmerzlichen Prozesses bedurfte.

Wilkerson weist auch immer wieder darauf hin, dass der Erhalt dieses Kastensystems nicht nur der unterdrückten Kaste schadete, sondern auch der durchsetzenden Kaste selbst (in einer gespenstischen Parallele zu „Das Patriarchat schadet allen“). Seit 400 Jahren leben die Weißen in den USA bei Kontakt mit Schwarzen in einem ständigen Stresszustand, früher weil man stets Rebellion befürchten musste, heute wegen völlig überzogener Kriminalitätsbefürchtungen. Neben diesen gesundheitlich-emotionalen Kosten leidet die herrschende Kaste auch unter anderen sehr realen Kosten. Wilkerson geht auf diese Aspekte nicht schwerpunktmäßig ein, aber ich halte sie für mehr als diskussionswürdig. Das Ausmaß, in dem das amerikanische Kastensystem – und weniger die liberale Philosophie, die die USA ja durchaus mit Großbritannien teilen – die Struktur des Landes bestimmt, ist atemberaubend.

So etwa das lange Wehren der USA gegen auch nur den geringsten Sozialstaat. Während in Europa ein Land nach dem anderen Grundsicherungen einführte, kamen diese in den USA erst ein halbes Jahrhundert später im Rahmen des New Deal, und auch dann mit so vielen komplizierten und ineffizienten Einschränkungen, damit ja keine Schwarzen in ihren Genuss kommen konnten. Die Verabschiedung einer allgemeinen Krankenversicherungen im Rahmen dieser Reformen scheiterte an den Democrat-Südstaatlern, die verhindern wollten, dass Schwarze davon profitieren. Als ab den 1950er Jahren die Desegregierung erzwungen wurde, reagierten die Südstaaten mit einer geradezu absurden Selbstverletzung.

Diese ist übrigens glaube ich der Teil der ganzen Geschichte, der am heftigsten unterdrückt wird. So kennen heute alle einschlägig Gebildeten zwar die Geschichte von Little Rock, wo Bundestruppen schwarzen Schüler*innen den Zugang zur Schule erzwangen (spätestens die aus heutiger Sicht problematische Szene aus „Forrest Gump“ ist vielen geläufig), aber praktisch niemand, wie es weiterging. Die Schüler*innen wurden von ihren weißen „Mitschüler*innen“ systematisch ausgegrenzt und körperlich attackiert. Sie bekamen kein Essen und nachdem die Bundestruppen verschwunden waren, wurden sie aus der Schule herausgedrängt. Um der Desegregierung zu entgehen, schlossen die öffentlichen Schulen für mehr als anderthalb Jahre komplett, in denen es einfach für niemanden Unterricht gab – nur damit die Schwarzen nicht auch zur Schule konnten! Danach eröffneten die Schulen als Privatschulen wieder, denen das oberste Gericht der herrschenden Kaste, der Supreme Court, das Recht auf Diskriminierung bis heute zugesteht, und die Segregation hielt an.

Dasselbe Spiel findet sich in Parks, Schwimmbädern und anderen öffentlichen Einrichtungen. Als die Rechtsprechung des Supreme Court ihre Desegregierung erzwang, öffneten sie nicht für alle, sondern wurden komplett geschlossen. Zahlreiche Städte gingen soweit, ihre Schwimmbäder mit Beton auszugießen, damit sie nicht gezwungen werden konnten, diese für Schwarze zu öffnen. Die öffentlichen Institutionen wurden privatisiert, geschlossen oder ihrer Mittel beraubt. Diese atemberaubende Vernichtung öffentlicher Güter geschah zur Aufrechterhaltung des Kastensystems.

Auch andere Mechanismen dieses Systems verschlagen einem die Sprache. Die berühmte amerikanische Demokratie etwa dient ebenfalls direkt der Aufrechterhaltung des Kastensystems. Die in den USA gewählten „school boards„, über die Eltern massiven Einfluss auf Unterricht, Bildungspläne und Schulen erhalten, sind bis heute deutlich weiß dominiert. In den Südstaaten stellten die weißen „school boards„, die auch für schwarze Schulen zuständig waren, immer die schlechteren Kandidaten ein – damit die Qualität der Schulen, die zudem keine Finanzmittel erhielten, mit Sicherheit schlecht war. So erhielten die guten Kandidat*innen keine Jobs, sondern nur die Schlechten, ein System, das sich auch durch die Privatwirtschaft zog und die generationenlang eingeübte Tradition schuf, auf keinen Fall gut in der Schule zu sein – was die herrschende Kaste dann wiederum zur Rechtfertigung des Kastensystems nutzte, weil die untere Kaste ja offensichtlich nichts taugt.

Auffällig ist auch die Rolle, die Gewalt spielt. Die Morde durch die amerikanische Polizei sind dank Black Lives Matter ja mittlerweile hinreichend bekannt, aber die immer wieder als „Rassenunruhen“ verniedlichten Ausbrüche von Gewalt gegen Kastenverstöße sind eine ganz eigene Kategorie. Das weiße Amerika hat immer und immer wieder mit massiven Gewaltwellen, die staatlicherseits effektiv sanktioniert wurden, auf Brüche der Kastenhierarchie reagiert. So zum Beispiel 1910, als ein schwarzer Boxer einen weißen besiegte – obwohl das Match so geplant war, dass der Weiße gewinnt. Oder wenn Schwarze beruflich zu erfolgreich wurden. Oder wenn es zu Liebe oder Freundschaft zwischen Schwarz und Weiß kam. Die Folge waren allzu oft schockierende Gewaltwellen, deren Verantwortliche praktisch nie zur Rechenschaft gezogen wurden und tausende das Leben, hunderttausende die Gesundheit und Millionen um ihren bescheidenen Wohlstand brachten.

Ich könnte endlos so weitermachen. Das Buch ist voll mit diesen Beispielen, die die Funktionsweise des Kastensystems in über 30 geordneten Kapiteln untermalen. Selbst für jemanden, der sich mit dieser Geschichte bereits recht gut auskannte, ist es voll mit Details und Analysen, die das Ganze in einen Zusammenhang setzen, der in seiner erschreckenden Allumfassenheit vorher schlicht undenkbar schien. Diese Lektüre ist schmerzhaft, aber sie lohnt.

{ 26 comments… add one }
  • Tim 28. März 2022, 08:55

    Mir fehlt die Begründung, warum das Kastensystem für die Beibehaltung der rassistischen Strukturen verantwortlich ist bzw. warum sich dieses Kastensystem ausgerechnet in den USA halten konnte. Auch in Deutschland gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein ein ausgeprägtes Kastensystem, nämlich die Spätformen des Feudalismus. Feudalismus ist eine milde Form der Sklaverei. Im Grunde verschwanden die Reste formal erst 1918. Vielleicht kann man sogar behaupten, dass Reste noch heute wirksam sind, siehe etwa implizite Privilegien für frühere Adelsfamilien.

    Wenn ein „Kastensystem“ für solche gesellschaftlichen Auswüchse verantwortlich ist, warum dann so stark in den USA? Wird durch den Gedanken des Kastensystems irgend etwas erklärt, was vorher nicht erklärt werden konnte? Mir kommt das wie eine Nullbegründung vor.

    • Stefan Sasse 28. März 2022, 09:04

      Weil die ganzen Strukturen da sind, das ist doch im Artikel beschrieben. Niemand hält in Deutschland die feudalistischen Strukturen nach 1945 aufrecht (bis dahin haben sie in Ostelbien in der Junkerklasse teilweise überlebt, vor allem vor 1918). Aber das wird doch in meiner Besprechung genau beschrieben?

      • Tim 28. März 2022, 09:09

        Warum wurden sie in den USA beibehalten, in Deutschland aber nicht? Die Erklärung dafür fehlt mir.

        Für mich wirkt es ehrlich gesagt wie alter Wein in neuen Schläuchen.

        • CitizenK 28. März 2022, 10:11

          Weil sie in Deutschland nicht so lange und so tief mit einem Gründungsmythos und der Religion verbunden waren?

          Die Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 60ern wurde auch durch schwarze Jazzmusiker unterstützt, die in Europa (sogar in Nach-NS-Deutschland vor der „Vergangenheitsbewältigung“!) besser behandelt wurden als „zuhause“. Auch schwarze GIs.

          • Stefan Sasse 28. März 2022, 10:45

            Schwarze GIs wurden nach ihrer Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg ermordet, weil sie ihre Uniform in der Öffentlichkeit trugen. Das ist echt Irrsinn. Wo wurden denn in Deutschland Bauern dafür von Adeligen getötet, dass sie nach 1871 vorher mal verbotene Kleidung getragen hätten?

            • cimourdain 28. März 2022, 16:54

              DU vermengst hier (meiner Meinung nach unzulässig) strukturelle und emergente Gewalt. Der Witz bei struktureller Gewalt ist doch, dass der scharze GI gar nicht auf die Idee kommt, Uniform zu tragen und wenn doch, er ganz geräuschlos rechtskräftig sanktioniert wird. In Deutschland 2022 ist die unberechtigte Verwendung von Titeln oder Uniformen mit Geldstrafe oder bis 1 Jahr Freiheitsstrafe behaftet (ohne Berücksichtigung anderer Delikte in diesem Zusammenhang, wie z.B. Schwarzfahren: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/hessen-falscher-viersterne-general-beim-schwarzfahren-erwischt-a-fe4ff9b8-dce8-414a-b6a4-1bdf45f906e9).

              • Stefan Sasse 28. März 2022, 17:04

                Ich bin mir nicht sicher, wie du „strukturell“ und „emergent“ jeweils definierst. Eventuell haben wir da nur ein semantisches Missverständnis.

                • cimourdain 28. März 2022, 23:58

                  Ein ‚funktionierendes‘ Segregationssystem ist stabil (das meine ich mit struktureller Gewalt). Erst wenn die Reibeflächen (real oder metaphorisch) zunehmen, dann wachsen die Spannungen, die sich in ‚emergenter‘ Gewalt entladen können.
                  Eine solche Reibefläche stellt der schwarze GI dar, der sich das Prestige des Soldaten aneignet und in der Sichtweise des Segregationisten damit eine Grenze überschreitet – wenn er es in der Heimat tut.
                  Für den deutschen Adel hingegen war die Aneignung von Kleidungsstil keine bedrohliche Reibefläche dar. Das entscheidende Privileg war der Besitz – insbesondere Landbesitz. Als dieser bedroht war – etwa durch Kommunisten der Weimarer Zeit, die eine Landreform forderten – dann kam es auch zu massivem Blutvergiessen, um Privilegien zu schützen.

                  • Stefan Sasse 29. März 2022, 07:39

                    Ah, verstehe. Solange die untergeordnete Kaste unten gehalten wird und nicht rebelliert, gibt es für spontane, mobartige Gewalt auch wenig Grund; stattdessen hast du die ritualisierte (wie etwa das Auspeitschen der Sklav*innen u.ä.), die die Ordnung ständig reproduzieren. Erst wenn es einen Emanzipationsanspruch gibt, eskaliert der Terror dann in diesen Formen. Ich denke aber nicht, dass der Vergleich mit den deutschen Aristokraten greift. Die sind keine Kaste, die sind nur eine Elite. Und klar versuchten die, Umverteilung abzuwehren, aber das ist eine völlig andere Kategorie als das Kastensystem der USA oder Nazideutschlands. Das sollten wir nicht vermengen.

        • Stefan Sasse 28. März 2022, 10:27

          Erneut: weil die herrschende Kaste in den USA erhalten blieb und das System erhielt. In Deutschland wurde dieses System einerseits reformiert und verlor zunehmend Legitimation, andererseits zerstörten zwei Weltkriege sein Fundament. In den USA trifft beides nicht zu.

          • Tim 28. März 2022, 11:54

            @ Stefan Sasse

            Du so: In den USA blieb das Kastensystem erhalten.
            Ich so: Ja, aber warum blieb es erhalten? Zum Beispiel im Gegensatz zu Deutschland?
            Du so: Weil es erhalten blieb.

            Du siehst mein Problem? Da fehlt einfach die Begründung.

            CitizenK hat auf den Gründungsmythos verwiesen. Das könnte möglicherweise die Erklärung sein. In Deutschland gab es einen Gründungsmythos vielleicht 1871, aber der wurde 1918 und 1945 gründlich zerstört.

            • Stefan Sasse 28. März 2022, 17:00

              Ja aber das habe ich erklärt? Niemand hat das Kastensystem zerstört. Die herrschende Kaste bleibt durchgehend dieselbe: weiße Menschen nordwesteuropäischer Abstammung. Daran wird nicht gerüttelt, die strukturellen Faktoren wandeln sich, bleiben aber erhalten (wenngleich natürlich graduelle Verbesserung herrscht; Sklaverei < Jim Crow < 1950er < Civil Rights Era < BLM). Also mir ist einfach unklar, welche zusätzliche Erklärung du brauchst. Es fragt doch im Jahr 1400 auch keiner, warum wir immer noch Feudalismus haben. Weil er nicht abgeschafft wurde!

              • Tim 28. März 2022, 17:38

                Niemand hat das Kastensystem zerstört. Die herrschende Kaste bleibt durchgehend dieselbe: weiße Menschen nordwesteuropäischer Abstammung.

                Ich verstehe einfach nicht, welche Erklärungsbeitrag das neue Konzept „Kastensystem“ hier liefert. Es wird einfach mit einem neuen Begriff etwas erklärt, was schon vorher erklärt war.

                Klar ist doch allen: Die Machtstrukturen haben sich nicht geändert. Weiße Menschen nordwesteuropäischer Abstammung führen das Land. Eine etablierte und von niemandem bestrittene Erklärung. Damit kann ich problemlos leben.

                Nun wird aber gesagt: Hey, lasst uns das mit dem Kastensystem erklären. In der Statistik würde man nun fragen: Welche zusätzliche Varianz wird durch diesen Faktor erklärt? Ich finde: gar keine. Du hast keinen einzigen Hinweis geliefert, worin nun der zusätzliche Erklärungsbeitrag besteht.

                Das ist nicht Wissenschaft, sondern Kosmetik.

                • Stefan Sasse 29. März 2022, 07:30

                  Verstanden was du meinst. Vielleicht hilft es so: wir haben in Deutschland auch Rassismus. Weiße Menschen haben höheren sozialen Rang als Nicht-Weiße. Aber wir haben kein Kastensystem. Unsere Gesellschaft ist nicht auf der Basis von Rasse durchstrukturiert und hierarchisiert. Das ist in den USA anders. Wilkerson nutzt diesen Begriff, um allgemeingültige Prinzipien ableiten zu können – also von der Frage des Rassismus selbst wegzukommen, der in der Debatte dann immer zu demselben ermüdenden Argument führt, ob jemand nun rassistisch ist oder nicht. In ihren Worten: „Caste and race can and do coexist in the same culture and serve to reinforce each other. Race, in the United States, is the visible agent of the unseen force of caste. Caste is the bones, race the skin.“

                  • Thorsten Haupts 29. März 2022, 14:23

                    „Caste and race can and do coexist in the same culture and serve to reinforce each other. Race, in the United States, is the visible agent of the unseen force of caste. Caste is the bones, race the skin.“

                    Steile These. Leicht zu belegen (wenn wahr) – welche Gesetze, Verordnungen und Budgets erklären sich (nur) über die Erhaltung eines Kastensystems und würden in einem rein rassistischen System keinen Sinn machen? Bis dahin ist das nur ein weiterer HotTake, die sich ja in Soziologie, Politologie und verwandten Fächern (Journalismus) nicht grundlos höchster Verehrung erfreuen.

                    Gruss,
                    Thorsten Haupts

                    • Stefan Sasse 29. März 2022, 15:00

                      Redlining etwa.

                    • Thorsten Haupts 29. März 2022, 23:11

                      Komisch, es gibt gegen Redlining Bundesgesetze:

                      In the United States, the Fair Housing Act of 1968 was passed to fight the practice of redlining. According to the Department of Housing and Urban Development, „The Fair Housing Act makes it unlawful to discriminate in the terms, conditions, or privileges of sale of a dwelling because of race or national origin. The Act also makes it unlawful for any person or other entity whose business includes residential real estate-related transactions to discriminate against any person in making available such a transaction, or in the terms or conditions of such a transaction, because of race or national origin.“[44] The Office of Fair Housing and Equal Opportunity was tasked with administering and enforcing this law.

                      The Equal Credit Opportunity Act (ECOA) is a United States law (codified at 15 U.S.C. § 1691 et seq.), enacted 28 October 1974,[1] that makes it unlawful for any creditor to discriminate against any applicant, with respect to any aspect of a credit transaction, on the basis of race, color, religion, national origin, sex, marital status, or age (provided the applicant has the capacity to contract);[2] to the fact that all or part of the applicant’s income derives from a public assistance program; or to the fact that the applicant has in good faith exercised any right under the Consumer Credit Protection Act. The law applies to any person who, in the ordinary course of business, regularly participates in a credit decision,[3] including banks, retailers, bankcard companies, finance companies, and credit unions.

                      The part of the law that defines its authority and scope is known as Regulation B,[4] from the (b) that appears in Title 12 part 1002’s official identifier: 12 C.F.R. § 1002.1(b) (2017).[5] Failure to comply with Regulation B can subject a financial institution to civil liability for actual and punitive damages in individual or class actions. Liability for punitive damages can be as much as $10,000 in individual actions and the lesser of $500,000 or 1% of the creditor’s net worth in class actions.[6]

                      The Community Reinvestment Act, passed by Congress in 1977 required banks to apply the same lending criteria in all communities.[45]

                      https://en.wikipedia.org/wiki/Redlining

                      Dagegen gibt es keine Gesetze und Regulierungen, die Redlining mandatorisch machen würden. Ich hatte aber ausdrücklich nach Gesetzen, Verordnungen und Budgets gefragt – und nicht nach der Einstufung der Kreditwürdigkeit in einer privaten Bank.

                      Gruss,
                      Thorsten Haupts

    • Thorsten Haupts 28. März 2022, 10:39

      Mir kommt das wie eine Nullbegründung vor.

      Ja. Erklärungswert liegt bei 0. Stört mich auch – eine neue Theorie sollte entweder kürzer und eleganter sein oder eine deutlich bessere Erklärung für ein beobachtbares Phänomen lieferm, als ihr Vorgänger. Kann ich hier beides
      nicht erkennen.

      Hinzu kommt, dass Sklaverei, Feudalismus, Rassismus und Kastensystem nicht einmal annähernd deckungsgleich sind – Rom war eine nicht-rasistische Sklavenwirtschaft, Indien hat ein nicht-rassistisches Kastensystem etc. Was den Erklärungswert von „Kaste“ im Falle des euro-amerikanischen Rassismus noch einmal deutlich entwertet.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

  • cimourdain 28. März 2022, 15:37

    Der Grundgedanke, dass das Kastenwesen eine Art ‚Bindeglied‘ zwischen rigiden Klassensystemen und strukturellem Rassismus darstellt, ist sicher nicht falsch. (Der Hindi-Ausdruck „Varna“ für Kaste bedeutete im Sanskrit ursprünglich “Farbe“ und bezog sich auf den Unterschied zwischen hellhäutigen Nord- und dunkelhäutigen Südindern).
    Leider stellt Wilkerson (oder Sasse??) nicht deutlich genug klar, dass es sich bei diesen drei Systemen um konkurrierende Methoden mit der gleichen gesellschaftlichen Funktion handelt: ‚Sortiersysteme‘, die die Menschen nach gesellschaftlicher Wertigkeit segregieren.
    Da hätte sich die Autorin ein Vorbild bei den ‚Die-neolithische-Revolution-erklärt-alles‘ Erklärbüchern nehmen und andere Gesellschaften außer ihren drei Datenpunkten betrachten können. Tim und ThorstenHaupts haben Gegenbeispiele geliefert, ich möchte noch das feudale Japan zugeben, wo ein Kastenwesen ohne rassistische Komponente existierte.
    Das in meinen Augen ärgste Versäumnis ist diesbezüglich, dass auf die spanischen und später neuspanischen Wurzeln des Rassismus auf dem amerikanischen Kontinent nicht eingegangen wird. Die Idee der ‚limpieza de sangre‘ wurde bereits während der Reconquesta für die eroberten Gebiete eingeführt und führte in der neuen Welt zu einem System, das die Bevölkerung nach den Anteilen spanischer, indianischer und afrikanischer Herkunft in ‚castas‘ (Fächer) einordnete. (Die indischen ‚Kasten‘ wurden erst danach von den Portugiesen nach diesem System benannt.)
    Warum dieser fließende Übergang zwischen ‚Klassen-Kasten-Rassen‘ Systemen wichtig ist ? Wir haben auch hierzulande eine starke Verquickung zwischen einer verfestigten ‚neuen Unterschicht‘ und einer segregierten ‚Migrationshintergrund‘-Gruppe. Und auch hier gibt es Bestrebungen dies als eine festen ‚Kaste‘ zu deuten (beispielhaft: Sarrazin).

    • Stefan Sasse 28. März 2022, 17:03

      Das spanische Kastensystem ist sicherlich für Mittel- und Südamerika total relevant, aber halt nicht für die USA. Dort fußt das Kastensystem auf dem Sklavenhandel, nicht der incomienda.

      • cimourdain 28. März 2022, 23:45

        Der Transatlantische Sklavenhandel war für Brasilien, die Karibik und Spanisch Amerika ein viel größerer demographischer Faktor als in Nordamerika. Und der spanisch kolonisierte Teil schloss ja auch Florida, Texas und den gesamten Südwesten bis Kalifornien ein.
        Sprachlich hat sich das castas-System jedenfalls in den Begriffen Metize, Mulatte oder Kreole niedergeschlagen – letzterer über französisch-Louisiana, das mit Creoles, Cajun und Melungeon ähnliche Kategorisierungen kannte.

        • Stefan Sasse 29. März 2022, 07:35

          Ja, ich weiß. Aber Wilkerson schreibt über die USA und die Verhältnisse dort. Und das hat halt eine andere historische Traditionslinie.

  • Ariane 29. März 2022, 01:22

    Hm, nach dem Lesen der Kommentare bin ich selbst nicht mehr sicher, ob ich das nun richtig oder falsch verstanden habe^^ Geht es hier um ein Kastensystem allgemein und man nimmt für ganz unten halt das „was sich anbietet“ – also Schwarze oder Juden. Oder geht es hier besonders um die rassistische Komponente?

    dass es sich bei diesen drei Systemen um konkurrierende Methoden mit der gleichen gesellschaftlichen Funktion handelt: ‚Sortiersysteme‘, die die Menschen nach gesellschaftlicher Wertigkeit segregieren.

    Hier würde ich unbedingt zustimmen, das ist insgesamt in verschiedenen Gesellschaften sehr beliebt. Mir würden da auch noch Tutsi und Hutu einfallen, aus denen von Deutschen einfach plötzlich zwei gesellschaftliche Schichten gemacht worden sind.

    Dazu kommt, dass oft ein Teufelskreis entsteht, woran man übrigens sieht, dass es durchaus einen Legitimationsdruck gibt, um Kasten/Sortiersysteme für Menschen zu erschaffen. Das wird dann rationalisiert, mit rassistischen, religiösen oder sonstwie Gründen und schon reproduziert sich das weiter und weiter. Man ist dann nicht mehr weiter unten angesiedelt aus Pech, sondern weil man dümmer oder sündenbehafteter ist (das betrifft auch Frauen). Indien übrigens in vielen Dingen wirklich extrem gruselig brutal, bin da auch keine Expertin aber weil ich gerade von Frauen schrieb: dagegen ist der Islam oft feministisch.

    Als die Rechtsprechung des Supreme Court ihre Desegregierung erzwang, öffneten sie nicht für alle, sondern wurden komplett geschlossen.

    Ja. Allerdings wundert mich das nur so mäßig, das ganze ist von rationalen Erwägungen oft weit weg, genauso wie häufig die Opfer dieses Systems direkt mit an der Erhaltung und Durchsetzung arbeiten. Btw halte ich das in den USA tatsächlich für ein Problem, dass eine Stunde Null fehlte, in der man quasi alles mal neu machen musste wie 45 in Deutschland (und wir haben selbst echt noch viele bekloppte Uralt-Gesetze drinnen). Das ist ja sehr stabil, aber das ist eben nicht immer gut und die USA haben dadurch sehr sehr mühsam errungene, evolutionäre Schritte, wo es eigentlich einen revolutionären Durchschlagen des Knotens gebraucht hätte.

    • Stefan Sasse 29. März 2022, 07:40

      Vielleicht helfen die Anmerkungen in der Diskussion.

      Oh, Vorsicht mit dem „Stunde Null“-Mythos, die gab es in Deutschland nie.

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