Anmerkung: Wenn im Folgenden Staaten als Akteure genannt werden, ist damit nicht gemeint, dass hier zwingend eine Mehrheit der Bevölkerung entscheidet; die Nennung der Staaten als Akteure ist synonym mit ihren Entscheidern in diplomatischen Diensten, Außenministerien und Regierungsführungen, sprich: ihrer Exekutive.
Wenn die Frage im Raum steht, wann der Umschwung zu einer instabilen Welt der Rechtspopulisten und gefühlten Dauerkrisen entstanden ist, landet man beinahe unweigerlich im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise die Schlagzeilen beherrschte und half, das Brexit-Votum und Trumps Präsidentschaftswahl 2016 zu befeuern. Aber ich halte das für verkürzt gedacht. Diese Ereignisse waren weniger der Beginn als vielmehr der Schlussstein unter einem ganzen Jahrzehnt der Verwerfungen und Krisen, das auf kuriose Weise im öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde, aber im gesellschadftlichen Unterbewusstsein hartnäckig verhaftet bleibt. Es lohnt sich, diese verdrängte Dekade aufzuarbeiten und zu untersuchen, was in ihr vor sich ging.
Im Jahr 2004 gewann George W. Bush als einziger republikanischer Präsident seit 1988 eine Mehrheit der Bevölkerung für sich. Der Irakkrieg war frisch „gewonnen“, die Steuern für Reiche radikale gesenkt und die Wirtschaft dereguliert worden. In Europa traten zehn neue Staaten der Europäischen Union bei, voller Zukunftsforderung auf die Verheißungen eines globalen Kapitalismus, unter dessen Auspizien sie sich in den vergangenen Jahren radikal reformiert hatten und an dessen Früchten sie nun teilzuhaben hofften. Unter Führung des überzeugten Europäers Giscard d’Estaigne arbeitete eine Kommission einen Verfassungsentwurf für Europa aus. In Deutschland traten die Hartz-Gesetze in Kraft und brachten die größte innenpolitische Veränderung seit der Wiedervereinigung und die tiefgreifendste Umgestaltung des Sozialstaats seit 1957 mit sich. Horst Köhler wurde zum Bundespräsidenten, was weithin als Signal für einen kommenden Machtwechsel hin zu einer noch entschlosseneren Reformriege im Geiste des Leipziger Programms interpretiert wurde. Trotz gefälschter Wahlen in Russland orientierte sich das Land in eine Integration ins Weltwirtschaftssystem, ebenso wie China, das 2001 der WTO beigetreten war und sich seither als Musterschüler zu etablieren versuchte.
2005 schwang die Stimmung in den USA und endgültig weltweit gegen den Irakkrieg, als die scheinbar so mächtige Nation von terroristischen Milizen in den Straßenschlachten Falludjas vorgeführt wurde. Gleichzeitig offenbarte die katastrophale Reaktion auf den Hurrikan „Katrina“ die Brüchigkeit des amerikanischen Staates zuhause und die tiefen Gräben, die sich durch die Gesellschaft zogen. Bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wurde die Europäische Verfassung abgelehnt und brachte das gesamte Projekt der Europäischen Union zu einem unerwarteten und plötzlichen Stopp. In Deutschland fanden vorgezogene Bundestagswahlen statt, bei denen die SPD einen Überraschungserfolg erzielte, indem sie sich gegen die USA stellte und als Verfechterin sozialer Gerechtigkeit gegen den Neoliberalismus inszenierte; die eigentlich fest geplante Wunschhochzeit des bürgerlichen Lagers fiel aus und machte einer Großen Koalition Platz. Russland führte den ersten von vielen Gasstreits mit der Ukraine.
Solcherlei Grenzziehungen sind natürlich immer etwas arbiträr. Es ist allerdings auffällig, wie sehr die Welt Anfang der 2000er Jahre noch in Richtung der „neuen liberalen Weltordnung“ unterwegs schien, geprägt von der Harmonisierung des internationalen Handelsregimes, das alle Nationen auf dieselben liberalen Werte verpflichten werde. Die Erwartung war, dass die internationalen Finanzmärkte und Handelsregulierungen der WTO Länder wie China schrittweise liberalisieren würden. Das alles ist, vorsichtig gesagt, nicht unbedingt eingetreten.
Die Gründe dafür finden sich in der Dekade zwischen 2005 und 2015. Die Krisen, die die Welt in diesen zehn Jahren erschüttert haben, sind tiefgreifend und haben nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient haben. Dabei sind sie für das Verständnis unserer gegenwärtigen Situation zentral. Die merkwürdige Amnesie dieser Ereignisse lassen mich von einem „verdrängten Jahrzehnt“ sprechen. Dies gilt nicht für den Beginn dieser Periode selbst, die man in den frühen 2000er Jahren ansetzen kann; der Terroranschlag von 9/11 nimmt im öffentlichen Gedächtnis schließlich immer noch breiten Raum ein.
Die grundsätzlichen Linien, die ich im Folgenden nachzeichnen möchte, verlaufen entlang der folgenden Fragestellungen:
- Warum verloren die USA ihren globalen Führunganspruch, und wer stieß in das entstehende Machtvakuum?
- Warum folgte aus der Finanzkrise kein grundsätzlicher Legitimitätsverlust des Kapitalismus und Aufstieg der Linken?
- Warum zerbrach die liberale Weltordnung, anstatt wichtige Teilnehmer wie Russland oder China zu integrieren, wie man das in den frühen 2000er Jahren zuversichtlich voraussagte?
- Warum gelingt es der EU bis heute nicht, als größter Wirtschaftsraum der Welt eine internationale Rolle zu spielen, und warum sind die Zersetzungserscheinungen an ihrer Peripherie so wirkmächtig?
- Warum begann in der verdrängten Dekade der Aufstieg des Rechtspopulismus zu einer weltweiten politischen Kraft?
Im Folgenden sollen all diese Fragen verhandelt werden.
Teil 1: Das kürzeste Jahrhundert aller Zeiten
Im Jahr 1997 gründeten Dick Cheney, Robert Kagan und Bill Kristol den Thinktank „Project for a new American Century“. Die Denkfabrik, die schnell auf eine prominente Mitgliederliste verweisen konnte, die zahlreiche spätere Mitglieder der Bush-Regierung sowie viele ehemalige Reaganites enthielt, formulierte in einem „statement of principles„:
As the 20th century draws to a close, the United States stands as the world’s preeminent power. Having led the West to victory in the Cold War, America faces an opportunity and a challenge: Does the United States have the vision to build upon the achievements of past decades? Does the United States have the resolve to shape a new century favorable to American principles and interests? […] We seem to have forgotten the essential elements of the Reagan Administration’s success: a military that is strong and ready to meet both present and future challenges; a foreign policy that boldly and purposefully promotes American principles abroad; and national leadership that accepts the United States‘ global responsibilities.
Bereits 2006 wurde die Denkfabrik wieder aufgelöst, nicht ohne sich den berechtigten Ruf erarbeitet zu haben, eine der einflussreichsten Lobbyorganisationen aller Zeiten gewesen zu sein. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten 2016, der eine Strategie des „America First“ und eine völlige Ablehnung wertebasierter Außenpolitik formulierte, war diese Theorie am Ende. Das „neue amerikanische Jahrhundert“ hatte also kaum zwei Jahrzehnte geschafft. Das war mehr als das tausendjährige Reich zustandebekommen hatte, zugegeben.
Aber da die USA nicht einen Weltkrieg entfesselt und verloren hatten, stellt sich durchaus die Frage, was hier passiert ist. Warum wurde das kraftstrotzende Amerika, das in den 1990er Jahren eine Stellung als „Weltpolizist“ beanspruchte und eine „unipolare Weltordnung“ durchzusetzen gedachte, innerhalb zweier Dekaden zu einer Macht, die erst ihr Heil in einem neuen Multilateralismus zu finden hoffte und dann einen radikalen Schwung zum Nationalismus hinlegte?
Die erste Ursache liegt sicherlich im „War on Terror“ begründet. Nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001 genoss Amerika eine Welle internationaler Sympathie und Solidarität, die sich sogar auf globale Rivalen wie Russland erstreckte. In schneller Folge wurde Afghanistan angegriffen, wo man die Herrschaft der Taliban beendete, die Osama bin Laden und seiner Al Qaida Unterschlupf gewährt hatten.
Dieses Kapital verschwendete die Regierung allerdings schnell, als sie mit aller Gewalt auf Krieg gegen den Irak drängte. Ohne Chance auf ein UN-Mandat entschied sich die Bush-Administration, den Völkerrechtsbruch stattdessen als Tugend zu verkaufen und sich als hemdsärmelig handelnder Weltpolizist mit einer „Koalition der Willigen“ allein an den „regime change“ zu machen. Das Ziel war ambitioniert: der Irak sollte befreit und in eine liberale Demokratie verwandelt werden, ein Modell für die Umgestaltung der gesamten Region.
Wo der Afghanistankrieg noch als Verteidigung hatte gerechtfertigt werden können (man denke an Peter Strucks berühmte Worte, Deutschland werde „auch am Hindukusch verteidigt“), war der Irakkrieg ein klar aggressiver Akt, der dazu diente, eine Nation nach dem Willen ihrer Eroberer umzuformen. Hierfür konnten die USA nicht einmal ihre Verbündeten zuverlässig mobilisieren. Frankreich und Deutschland versagten ihm die Gefolgschaft, wenngleich die Rekrutierung besonders Osteuropas aber bereits auf deutliche Defizite in der europäischen Integrationskraft hindeutete (mehr dazu in Teil 4).
Der Versuch, die fehlende Unterstützung mit umso markigerem Auftreten zu kaschieren, zerschlug weltweit eine Menge Porzellan. Das positive Image der USA erhielt innerhalb weniger Monate einen Schlag, von dem es sich bis heute nicht erholen konnte. Der Anti-Amerikanismus feierte weltweit fröhliche Urständ; 2002 sollte Gerhard Schröder damit eine Wahl gewinnen, eine Leistung, die er 2005 beinahe wiederholt hätte („Wer Frieden will, muss standhaft sein“, plakatierte die SPD seinerzeit). Es war, als hätte sich die Nation eine Maske vom Gesicht gerissen. Der „hässliche Amerikaner“ (ugly American) stand vor aller Welt als Kriegstreiber dar, wie es seit den Vietnamprotesten der 1960er Jahre nicht mehr gesehen worden war. Immerhin blieb uns eine Solidaritätswelle mit Saddam Husseins Regime erspart.
Militärisch und machtpolitisch dagegen schien sich der Zug auszuzahlen. Noch 2003 konnte George W. Bush, sich als „Kriegspräsident“ inszenierend, in Fliegermontur auf einem Flugzeugträger unter einem riesigen Banner verkünden, dass die Mission abgeschlossen sei („mission accomplished„). Selten war die Haut des Bären so offenkundig verkauft worden, bevor man ihn erlegt hatte. Zwar war das morsche Hussein-Regime unter dem Hammerschlag des geradezu lächerlich überlegenen US-Militärs schnell in sich zusammengefallen, Hussein selbst bald gefangen und hingerichtet, aber die versprochene Demokratisierung wollte sich nicht einstellen. Stattdessen begann im Irak ein Bürgerkrieg, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist und der ohne Intervention anderer Mächte wohl längst zur Auflösung des Landes geführt hätte.
Damals aber galt immer noch die Devise, dass man gegen den weltweiten Terrorismus kämpfe. Wen auch immer amerikanische Militär im Irak tötete, war genauso per Definition ein Al-Qaida-Terrorist wie in Vietnam beim bodycount nur Vietcong gezählt wurden. Diese Fiktion, die Bush 2004 noch einen klaren Wahlsieg ermöglichte, brach nur Wochen später zusammen. In der „zweiten Schlacht von Falludjah“ im Dezember 2004 kämpften die USA in den „heftigsten Stadtkämpfen seit der Schlacht um Hué 1968“, dem blutigsten Einzelgefecht des ganzen Krieges, bereits vollständig gegen Aufständische, die nichts mehr mit dem Ba’ath-Regime oder Al-Qaida zu tun hatten. Die Fiktion, dass das Land in einem überschaubaren Zeitraum befriedet werden könnte, endete für viele Beobachter*innen auf den Schlachtfeldern der Stadt.
Der Irakkrieg blieb jedoch durch die ganze Bush-Regierung hindurch ein Dauerthema. 2006 wurde die Zahl der US-Truppen massiv aufgestockt (die „surge„), wodurch die Gewalt kurzfristig ein wenig zurückging. Den Neocons gilt die „surge“ seither als Beweis, dass der Irakkrieg hätte gewonnen werden können. Im Wahlkampf 2008 versuchte John McCain, einer der stärksten Proponenten dieser Politik, damit Punkte zu machen, konnte aber bereits gegen Obamas Ablehnung des Krieges und seiner Ankündigung, im Fall seiner Wahl die Truppen aus dem Irak abzuziehen, bereits nicht mehr ausrichten. Im Wahlkampf 2012 vermied Mitt Romney das Thema bereits, während Donald Trump 2015 seinen Konkurrenten Jeb Bush offen damit angreifen konnte, den Krieg unterstützt zu haben. Das ist ein massiver Meinungsumschwung innerhalb einer sehr kurzen Zeit.
Dieser Meinungsumschwung betraf nicht nur den Irak. Die Rechtfertigung des Krieges als Projekt des „regime change„, dem Gestalten einer ganzen Region nach amerikanischen Prinzipien, wurde damit ein tödlicher Stoß versetzt. Das „neue amerikanische Jahrhundert“ war bereits 2006/2007 am Ende. Das Töten und Sterben im Irak ging weiter und zieht sich bis heute fort, wenngleich unter ständig wechselnden Vorzeichen. Aber der Legitimitätsverlust, den die Intervention mit sich brachte, zeigte bereits kurze Zeit später deutliche Konsequenzen.
So versuchte die Bush-Regierung immer wieder, im Dauerkonflikt mit Nordkorea zu irgendeiner Form der Einigung zu kommen. Kim Jong-Il, der alternde Diktator, verfolgte damals eine erratische Politik des Erwerbs von Nuklearwaffen. Immer wieder trat er aus dem Atomwaffensperrvertrag aus, wieder ein, wieder aus. Meist stand das direkt in Verbindung mit Verhandlungen mit den USA. Es war John Bolton, von Bush als Hauptunterhändler eingesetzt, der spätere Sicherheitsberater Donald Trumps und einer der schärfsten Kriegstreiber, die Washington je gesehen hatte, der hier tätig war. Er beleidigte die Nordkoreaner aufs Übelste und drohte mit Krieg, was zum Abbruch der Gespräche führte. Die USA fanden in dem Konflikt mit Nordkorea keine Verbündeten, agierten alleine und erratisch, ohne dass eine klare Strategie oder großes Vertrauen in ihre Positionierung erkennbar gewesen wäre.
Als 2011 im Rahmen des beginnenden „Arabischen Frühling“ ein Aufstand gegen den lybischen Diktator Gaddafi ausbrach, hielten sich die USA bereits merklich zurück. Obama, der die Devise des „leading from behind“ ausgegeben hatte, drängte die europäischen Verbündeten, diesen Konflikt selbst zu regeln. Dies schlug spektakulär fehl (siehe Teil 4). Anstatt beim Schutz Benghasis zu bleiben, der durch ein UN-Mandat geregelt war, setzten sich innerhalb der US-Administration aber diejenigen Kräfte durch, die eine Maximallösung begrüßten.
Der folgende Luftkrieg beseitigte zwar Gaddafi. Er schürte aber gleichzeitig neues, weltweites Misstrauen (siehe Teil 3) und fachte einen Bürgerkrieg in Libyen an, der bis heute nicht abgeschlossen ist und der das Land in einen Tummelplatz von Stellvertreterkriegen gemacht hat. Von der Türkei über Russland zu Italien haben zahlreiche Regionalmächte irgendwelche bevorzugten Milizen und verschleppen jede Auflösung des Konflikts ins Unendliche.
Das Libyen-Desaster führte zu einer endgültigen Abkehr von großen Interventionen, die sich dann 2012 in Syrien zeigte: Obwohl der syrische Diktator die „roten Linien“ der US-Regierung überschritt und in brutalen Massenmorden gegen die eigene Bevölkerung vorging, fand sich in den USA keine Mehrheit mehr für eine Intervention. Bemerkenswert ist, dass selbst die Republicans, die noch kaum sechs Jahre vorher mit Begeisterung zehntausende Soldaten in die Region mobilisierten, nun kein Problem hatten, jede Intervention zu verurteilen – ein Sinneswandel, den Kandidaten wie Jeb Bush 2015 völlig übersahen und der die Türe für Trump öffnen half.
Militärisch waren die USA immer noch die unangefochten stärkste Nation der Welt. Aber der Glaube an die Kapazitäten dieser Armee war schwer erschüttert, die Grenzen amerikanischer Militärmacht deutlich aufgezeigt. Seither ist ein klarer Strategiewechsel auszumachen. Es geht mehr um Verteidigung der eigenen Interessen, um das Eindämmen möglicher und aktueller Rivalen und das Abschrecken von Konflikten. Zwar feuert man noch den einen oder anderen Marschflugkörper in Bürgerkriege hinein, aber „boots on the ground“ finden sich dort nicht mehr.
Nebenbei bemerkt erstreckte sich dieser Statusverlust nicht nur auf die Selbstwahrnehmung der USA. Das Land, das in den 1990er Jahren noch ohne rot zu werden „humanitäre Interventionen“ durchführen konnte und einen verhältnismäßig guten Ruf genoss, ruinierte seinen Ruf unter Bush innerhalb weniger Jahre so nachhaltig, dass in vielen Ländern Europas Putins Russland (!) höhere Popularitätswerte hat als das land of the brave and the free. Das hat Langzeitfolgen, die immer noch nicht ansatzweise wieder eingefangen werden konnten und die unter Trump sofort reaktiviert wurden. Der ugly American erleidet gegenüber dem good American massive Nachteile auf dem internationalen Parkett; das nicht zu sehen, war und ist eine der größten Lebenslügen der amerikanischen Rechten.
Diese Krise des amerikanischen Selbstvertrauens (oder seine Gesundschrumpfung, je nach Sichtweise) erstreckte sich aber nicht nur auf den militärischen Bereich. Sowohl im rechtsstaatlichen als auch im Fürsorgebereich des Staates hatte er starke Konsequenzen.
Der im Oktober 2001 unter dem Eindruck der 9/11-Attentate verabschiedete und immer wieder verlängerte „Patriot Act“, der die Bürgerrechte der Amerikaner*innen massiv einschränkte, fiel durch sein obrigkeitsstaatliches Denken und seinen laxen Umgang mit rechtsstaatlichem Schutz auf. Der republikanische Sicherheitsexperte Tom Nichols etwa sieht in diesem Gesetzeswerk den Beginn der autoritären Tendenzen innerhalb der Partei. Dies trug zur Delegitimierung der USA, die sich bisher als liberale Interventionsmacht geriert hatten, ebenso stark bei wie der das explizit imperialistische framing eines Max Boot, der in den amerikanischen „wars of choice“ einen „aufgeklärten Interventionismus“ sah, wie ihn „früher Europäer im Tropenhut betrieben“ hätten und zitierte zustimmend Rudyard Kiplings „Bürde des weißen Mannes“. Die USA wurden so sowohl in ihrer Selbst- als auch in ihrer Außenwahrnehmung zu einer imperialistischen Macht.
2005 tobte dazu der Hurrikan Katrina über der amerikanischen Südostküste und verheerte besonders die Metropole New Orleans in Louisiana, einem der ärmsten US-Bundesstaaten. Dass die noch nie sonderlich funktionsfähige Infrastruktur des Bundesstaates zusammenbrechen würde, konnte niemanden überraschen. Sehr wohl dagegen die katastrophale Reaktion der Bundesbehörden.
Nicht erst seit 9/11 waren diese mit einer gewaltigen Machtfülle ausgestattet worden, die innerhalb der USA für zahlreiche Proteste gesorgt hatte. Unter Bush war eine komplett neue Mega-Behörde, das „Department of Homeland Security„, entstanden. Doch während die massiven Gelder dort der Abwehr echter oder eingebildeter terroristischer Bedrohungen investiert wurden, wurden die Budgets anderer Behörden im Einklang mit der Ideologie der Konservativen massiv zusammengestrichen – unter anderem das der Katastrophenschutzbehörde FEMA.
Der Zusammenbruch dieser Infrastruktur und die anarchischen Zustände im Katastrophengebiet enthüllten deutlich die innere Verfasstheit der USA, die eher einem Entwicklungsland als einer Supermacht angemessen schien. Ohne die Katastrophe überbewerten zu wollen zeigte sich aber exemplarisch, wie wenig die Kompetenz Amerikas dem oftmals propagierten Leitbild entsprach.
Die größten Langzeitfolgen für die Position der USA dürfte aber das fast gleichzeitige Scheitern der Handelsabkommen TTIP und TPP haben.
Das „Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership“ sollte ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA sein, das Handelshemmnisse zwischen den beiden größten Wirtschaftsräumen der Erde abbauen und die wirtschaftliche Integration stärken sollte. Dieses Abkommen stieß zunehmend auf höhere Hürden politischer Natur. Die Institution der Schiedsgerichte sorgte für Kritik, aber wesentlich stärker nahmen sich populistisch-reißerische Attacken der Boulevardpresse aus. In Deutschland besonders prominent pushte die BILD das „Chlor-Hühnchen“ und das Grünen-nahe Alternativenmileu die Ablehnung genetisch modifizierter Landwirtschaftsprodukte. Auch in den USA wurde mit solchen Ängsten Kapital geschlagen.
Die Verabschiedung des Abkommens, das durch ständig neue Verhandlungsrunden modifiziert wurde, verzögerte sich eins ums andere Jahr. Am Ende stand zunehmend in Zweifel, ob die Ratifizierung in allen EU-Staaten würde gelingen können; mehrere Regierungen waren wenigstens unsichere Kandidaten. Auch in den USA verlor es zunehmend Unterstützer*innen. Als Trump Präsident wurde, war das Abkommen dann auch klinisch tot.
Wesentlich einseitiger verlief dagegen die Entwicklung der „Trans Pacific Partnership“, die so disparate Partner wie Australien, Vietnam und Südkorea mit den USA in eine gemeinsame Freihandelszone bringen sollte. TPP war integraler Bestandteil von Obamas „pivot to Asia„, einer strategischen Neuausrichtung der USA auf den pazifischen Raum und, vor allem, der Eindämmung Chinas. Die betroffenen Staaten waren aus diesen geopolitischen Erwägungen heraus mehr als daran interessiert, sich stärker in die amerikanische Sphäre zu integrieren.
Trump zog nach seiner Wahl auch hier den Stecker. Die Tatsache, dass die anderen Staaten auch ohne die USA das Abkommen zu Ende brachten zeigt, dass – anders als bei TTIP – die TPP ein rein amerikanischer Rückzug war. Ob Biden die USA in das Abkommen zurückführen wird bleibt offen. Die Eindämmung Chinas jedenfalls ist ein Fixpunkt amerikanischer Außenpolitik seit der Obama-Ära, wird aber bislang ohne eine kohärente Strategie verfolgt. Das Bekenntnis der Supermacht zum Pazifik aber geht stets einher mit einem Rückzug aus Europa und dem Nahen Osten. Der globale Führunganspruch, der globale Machtanspruch, wie ihn noch George W. Bush mit Selbstvertrauen und Selbstverständlichkeit vertreten hatten, war bereits unter Obama einem Realismus der eigenen beschränkten Möglichkeiten gewichen.
Das Scheitern der beiden Handelsabkommen aber sollte für die USA eher Baustein des liberalen Gebäudes sein, unter dem die amerikanische Politik bis dahin selbstverständlich gehandelt hatte. Dieses Gebäude wurde 2007 von einem Erdbeben erschüttert, das es zum Einsturz bringen sollte. Von den USA als Epizentrum breitete sich zum zweiten Mal innerhalb von 80 Jahren eine Weltwirtschaftskrise über den Globus aus, die die liberale Weltordnung in ihren Grundfesten erschütterte.
Teil 2: Auf tönernen Füßen
Hellsichtige Beobachtende hatten bereits 2006 vor der sich zusammenbrauenden Katastrophe im US-Immobilienmarkt gewarnt. Aber die Verlockungen dieser Blase waren zu groß. Invrestor*innen aus aller Welt steckten Billionen und Aberbillionen in den Markt. Wie die Akteure rund um den berühmten „Big Short“ bald feststellen mussten genügte es auch nicht, diese Analyse zu treffen und gegen den blinden Markt zu wetten, denn die großen Player der Finanzindustrie waren mächtig genug, die Marktkräfte außer Kraft zu setzen und das Spiel teils durch Lobbying, teils durch illegale Geschäftspraktiken noch länger aufrechtzuerhalten. 2007 aber war das Spiel aus. Die lange Finanzkrise begann.
Ich sage lange Finanzkrise, weil, ähnlich wie bei der Weltwirtschaftskrise 1929 auch, die Jahre danach in der Betrachtung allzugerne vergessen werden. Verdrängt, gewissermaßen. Dabei ist sie das zentrale Ereignis des frühen 21. Jahrhunderts und hat ein Erdbeben ausgelöst, dessen Folgen wir heute noch spüren. Gleichzeitig gilt sie seit 2009 üblicherweise als überwunden – eine Perspektive, die ebenso falsch wie gefährlich ist.
Ich will im Folgenden nicht ausführlich auf die Mechanismen der Krise selbst eingehen. Es gibt hier Übersichten, die das besser vollbracht haben (deutsch) als ich es mit meinen begrenzten Fachkenntnissen könnte und auf die ich mich hier auch beziehe. Stattdessen soll es hier vor allem auf die Folgen der Krise und um die Krisenreaktionen gehen.
Wichtig für das Verständnis dessen, was in der Dekade nach 2006/2007 passiert ist, ist eine zentrale Erkenntnis: Die Bankensysteme praktisch aller Staaten weltweit sind miteinander zu einem Weltfinanzsystem verwoben und verknüpft. Eine Lokalisierung von Trends, Krisen und Transaktionen ist daher praktisch unmöglich. Wir nennen dieses Phänomen „Globalisierung“. Ich betone es deswegen, weil die Globalisierung als Konzept einen merkwürdigen Abstieg durchgemacht hat. Um 2004 herum, als unsere Geschichte beginnt, war sie in aller Munde. Es gab eine kleine, aber entschlossene und lautstarke Minderheit, die gegen die Globalisierung antrat. Diese „Globalisierungsgegner*innen“ oder „Globalisierungskritiker*innen“ waren links und hatten ihre Machtbasis in einigen Gewerkschaften, in attac und in den linken Flügeln der sozialdemokratischen Parteien. Einen Einfluss auf die Politik hatten sie dagegen praktisch überhaupt nicht.
Die Politik dagegen wurde von dem dominiert, was seinerzeit unter dem Begriff „neoliberal“ firmierte, ein Begriff, der mittlerweile als Kampfbegriff ungefähr jene Trennschärfe erreicht hat, die auch „Identitätspolitik“ auszeichnet und der als Analyseinstrument beinahe unbrauchbar geworden ist. Als beschreibende Kategorie mag er dagegen noch soweit taugen, dass wir zumindest wissen, was gemeint ist: ein weltweiter Konsens zur Deregulierung und Transnationalisierung der Weltwirtschaft und einem Primat der Finanzmärkte. Die Idee dahinter ist in ihren Grundzügen vergleichsweise einfach zu verstehen. Da die Weltwirtschaft global ist, entzieht sie sich der Kontrolle nationalstaatlicher Strukturen. Da solche aber der Versuchung nicht widerstehen können, sich trotzdem an Eingriffen zu versuchen, muss die Wirtschaft durch ein weltweites Regelsystem so weit wie möglich der Kontrolle der flatterhaften und den Volkslaunen unterworfenen Regierungen entzogen und einem weltweiten Regelwerk unterstellt werden. Das Regelwerk selbst kam zum einen durch zahlreiche Vertragswerke und Kontrollinstrumente (für die Finanzwirtschaft etwa Basel I), andererseits durch die 1995 gegründete Welthandelsorganisation.
Die vorherrschende Idee war, dass die Finanzmärkte eine Art (wenngleich unvollständiger und unperfekter) Repräsentation der Weltwirtschaft darstellten und die Staaten „disziplinierten“. Die praktisch unvorstellbaren Summen, die sie tagtäglich umsetzten, die fantastischen Gehälter und Boni, die sie auszahlten, und die globale Natur ihrer Elite und ihrer Tätigkeiten hatte sie zu einer Art abgekapselten Elite gemacht, die (wenngleich extrem unvollständig) die Rolle einer Weltregierung übernahm, wo finanzielle Fragen betroffen waren. Das alles ist nicht neu; dieselbe Idee hatte bereits im ersten liberalen Zeitalter geherrscht. Sie ist auch in sich durchaus schlüssig.
In der Praxis hat sich das natürlich nie so umsetzen lassen. Jede Regierung, die mit einem solchen Programm angetreten ist, scheiterte an der Demokratie, denn diese Idee ist vor allem eines: unglaublich unpopulär. Wann immer also tatsächlich gefordert war, das alles umzusetzen, scheiterte es an den geliebten Besitzständen und den Realitäten des Wählendenwillens.
Ich verweile an dieser Idee einer liberalen Weltordnung deswegen etwas länger, weil diese Weltordnung um 2004 unangefochten zu regieren schien. Die wenigen Globalisierungskritiker*innen, die dagegen aufbegehrten, waren – wie erwähnt – ohne jeden Einfluss. Selbst ihre eigentlichen Mutterparteien, von SPD zu Democrats zu New Labour, hatten sich alle emphatisch zu dieser liberalen Weltordnung bekannt. Das soll hier nicht als Kritik verstanden werden. Es ist nur wichtig zu verstehen, dass diese Ansicht auf der Welt absolut dominant war.
Wir werden uns mit den außenpolitischen Implikationen dieses liberalen Konsens‘ noch im nächsten Teil beschäfigen. Hier sei nur der Verweis gestattet, dass zu Beginn der 2000er Jahre die allgemeine Annahme war, dass dieser Konsens auch die „emerging markets“ erfassen würde, also etwa Brasilien und Indien, und dass Russland einerseits und China andererseits in dieses weltweite Regelsystem integriert würden und dadurch zuerst in der Wirtschaft, dann aber auch gesellschaftlich eine Liberalisierung und Angleichung an den Westen durchlaufen würden. Warum diese Prognosen nicht eintrafen, werden wir in Teil 3 genauer beleuchten.
Doch der Konsens ist heutzutage auch bei seinen einstigen Proponenten nicht mehr zu finden. Die Vorrangstellung es Freihandels und die Vorstellung, dass der Abbau von „Handelshemmnissen“ in Form von Regulierungen der Weg vorwärts sei, ist heute, höflich gesagt, nicht mehr so en vogue. Der Grund dafür liegt an der Finanzkrise.
Ich habe bisher einen essenziellen Machtfaktor dieses internationalen liberalen Konsens‘ außenvorgelassen: die Zentralbanken. Ihnen kommt in diesem System eine entscheidende Rolle zu. Denn wenn die Finanzmärke ein weltweit geltendes Regelsystem durchsetzen sollten, dann brauchte es dafür eine entsprechende Institution. Die Zentralbanken verstanden in dieser Zeit ihre Rolle entsprechend. In Europa atmete die neu gegründete EZB den Geist der alten Bundesbank, sehr zum Leidwesen von Paris, und besaß ein ausschließlich der Geldwertstabilität verpflichtetes Mandat.
Die Idee dahinter ist im Endeffekt dieselbe wie früher beim Goldstandard: dadurch, dass den einzelnen Staaten de facto die geldpolitische Zuständigkeit entzogen war, waren die Parameter des Systems stabil. Die WTO-Regeln verhinderten Enteignungen und andere politische Einflüsse (man denke hier nur an die Schiedsgerichte, die im Zentrum linker Kritik stehen), während die Zentralbanken dafür sorgen, dass das Geld und die Wechselkurse in einem berechenbaren Rahmen bleiben. Die Sphäre der Wirtschaft ist damit den Staaten weitgehend entzogen, weil viele Regelungen global und damit aus den Händen der nationalen Parlamente sind und das System der Finanzierung dafür sorgt, dass die Staaten nur dann Kredite bekommen, wenn die zugrundeliegende Basis nach den Maßstäben des liberalen Konsens stabil ist.
Die direkte Folge sind enge Handlungsspielräume bei der Staatsfinanzierung. Eine unkontrollierte Schuldenaufnahme ist nicht möglich, ein Weginflationieren der Schulden genausowenig. Das System zwingt zu einer staatlichen Selbstbeschränkung, zum internationalen Standortwettbewerb und zum Rückbau des Interventions- und Wohlfahrtsstaats, der als marktstörender Faktor wahrgenommen wird.
Zumindest in der Theorie. In der Praxis waren die Finanzmärkte nur zu bereit, unsichere Kantonsiten wie Griechenland mit sehr günstigen Krediten zu versorgen. Auf dem Papier funktionierte das auch; der griechische Haushalt war in den 2000er Jahren dank eines Booms nachhaltig – gerade so und mit etwas Zahlenmassage. Spielräume aber besaß die griechische Regierung keine; der kleinste Einbruch der Konjunktur würde bereits die Katastrophe bringen. Und was über die Welt hereinbrach, war kein kleiner Einbruch der Konjunktur. Aber wir werden uns mit Griechenland noch im vierten Teil beschäftigen.
Als die Finanzkrise ausbrach, war die Annahme der meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen, dass ein inflationärer Druck auf den Dollar entstehen würde, weil die (souveräne) US-Regierung, sich in ihrer eigenen Währung verschuldend, über die Fed zusätzliche Dollar ins System spülen würde (ein Weg, der der EZB in ihrem ordliberal inspirierten Aufbau explizit nicht offenstand). Das geschah aber nicht. Als die Krise begann, stieg der Wert des Dollars, anstatt zu fallen.
Die Verwirrung darüber hielt jedoch glücklicherweise nur kurz an. Was die Notenbanker*innen der Fed schnell erkannten war, dass die globale Natur der Finanzkrise für einen Nachfrage-, nicht Angebotsschub bei Dollar sorgte. Das Problem waren nicht zu viele Dollar im System. Das Problem waren zu wenige.
Das lag an der internationalen Struktur des Systems. Billionen über Billionen an Investments waren durch ausländische Banken im amerikanischen Finanzsektor getätigt worden. Die Banken, die darin verstrickt waren, brauchten für die kurzfristige Refinanzierung der langfristigen Investments, die sie getätigt hatten, Dollar, die sie nicht sebst emittieren konnten. Das war ein Problem, denn die Fed stellte zwar amerikanischen Banken Dollar zur Verfügung, aber nicht denen anderer Nationen. Dafür war der amerikanische Finanzmarkt zuständig. Der allerdings befand sich in einer Kernschmelze.
Diese Kernschmelze war zu einem guten Teil unausweichlich, wurde aber durch eine politische Fehlkalkulation der Bush-Regierung massiv befeuert: den Bankrott von Lehmann Brothers. Das Lehmann-Brothers-Managment hatte in völliger Verkennung der Situation versucht, von der US-Regierung einen mögloichst großzügigen Bailout zu erpressen. Stattdessen ließ die Regierung sie fallen. Dadurch injizierten sie das tödlichste Gift in das Finanzsystem, das dieses haben konnte: Unsicherheit.
Keine Bank vertraute mehr der anderen. Der interne Handel kam praktisch zum Erliegen, ein Bankrun und damit ein Totalzusammenbruch des Bankensystems wie 1931 schien nur noch eine Frage der Zeit, von Tagen, vielleicht gar Stunden. In dieser Situation intervenierte die Fed. Über das bereits im Vorjahr geschaffene System der so genannten „Swap Lines“ erlaubte sie ausgewählten nationalen Zentralbanken, direkt Dollar zu beziehen und an ihre eigenen Banken auszugeben und hielt somit den Finanzfluss aufrecht. Diese Entscheidung der Fed kann in ihrer Dramatik nicht überschätzt werden. Ohne die Swap Lines wäre die Weltwirtschaft gecrasht. Der Dollar war die Leitwährung der Welt. Und die USA nahmen ihre Verantwortung für das Ganze wahr und blieben nicht in ihrer nationalen Blase.
Diese Entscheidungen traf die Fed dabei im Wesentlichen, ohne ein politisches Mandat zu besitzen oder auch nur groß Rücksprache mit dem Weißen Haus oder dem Kongress zu halten. Sie legte ihr Mandat damit vergleichsweise weit aus. Die Linie der Fed war effektiv: „Wenn das weltweite Finanzsystem kollabiert, ist der Dollar nicht mehr stabil; um den Dollar stabil zu halten, müssen wir also das Weltfinanzsystem stützen.“ Das war natürlich sinnvoll und die richtige Entscheidung. Wir werden in Teil 4 sehen, welche katastrophalen Folgen das Nicht-Anerkennen dieses Umstands durch die EZB in der Eurozone haben würde.
In den USA gab es allerdings, genauso wie in Deutschland, wütende Proteste gegen diese Politik der Fed. Die Koch Brothers machten zig Millionen Dollar locker und gründeten praktisch im Alleingang die „Tea Party“, die in der republikanischen Welle des Jahres 2010 über 80 Abgeordnete in den Kongress spülte.
In der Post-Trump-Ära vergisst man leicht, dass der Extremismus der GOP und ihr offener Rassismus nicht am Beginn dieses Weges stand, sondern eine Evolution darstellt. Der Beginn war der Aufstand der republikanischen Basis gegen die Krisenpolitik der Regierung. Das bemerkenswerte ist, dass dieser Aufstand bereits begann, BEVOR Obama zum Präsidenten gewählt wurde. Die Tea Party begann als Rebellion gegen die GOP, als Kriegserklärung der Koch Brothers und ihrer Verbündeten gegen Bush und die das eigene Parteiestablishment.
Dieser Aufstand begann 2007 gegen das TARP-Projekt der Bush-Regierung, die Rettung des amerikanischen Bankensystems. Nur das erste der mit diesen Rettungen verbundenen Pakete konnte noch auf geeinte GOP-Unterstützung im Kongress bauen. Bereits bei den weiteren Paketen stimmten mehr Republicans als oppositionelle Democrats gegen die Rettung der Finanzwirtschaft und damit der US-Wirtschaft als Ganzem, ein düsterer Vorbote dessen, was bald kommen sollte. Als John McCain im Wahlkampf 2008 stand, war er gezwungen, gegen das Weiße Haus wahlzukämpfen – während Obama und die Democrats im Kongress mit Bush zusammenarbeiteten, als wären sie bereits die Regierungspartei! Seinen Höhepunkt fand dieser Irrsinn, als McCain dem Druck seiner rapide in den Populismus abgleitender Basis nachgab und sich gegen alle Rettungsprogramme aussprach, eine Konferenz in Washington mit dem Weißen Haus, Obama und der Fed verlangte, diese bekam und dann – nichts sagte. Das absurde Meeting wurde in vielen Quellen ausführlich besprochen, aber die völlige Konfusion der Anwesenden, als McCain, der das Treffen verlangt hatte, auf direkte Ansprache beharrlich schwieg, war mit Händen zu greifen. Spätestens hier war der Wallstreet klar, dass die Hoffnung auf ihr Überleben auf der politischen Linken lag, nicht der politischen Rechten. Dieser absurde Seitenwechsel wird uns in diesem Artikel noch öfter beschäftigen, aber er fußte auf dem tief eingegrabenen Gefühl staatspolitischer Verantwortung bei den sozialdemokratischen Parteien – und der praktisch völligen Abwesenheit desselben bei den Rechtspopulisten, die in den USA rapide die Republicans zu übernehmen begannen, ein Prozess, der sich in Großbritannien in den 2010er Jahren bei den Tories wiederholen sollte und der glücklicherweise in Deutschland bisher weitgehend vermieden werden konnte.
Das heißt nicht, dass es gegen die Bankenrettung und die folgende Krisenpolitik nicht auch linke Opposition gegeben hätte, far from it. Sie war nur unorganisiert und politisch heimatlos. Nirgendwo zeigte sich das so deutlich wie bei der Occupy-Wallstreet-Bewegung. Diese entstand fast zeitgleich mit der Tea Party und kanalisierte den linken Unmut gegen die Bankenrettung. Anders als die Tea Party war sie aber komplett von jeglichen größeren Finanzierungsströmungen oder der Unterstützung politischer Akteure abgeschnitten. Kein demokratischer Funktionär, der irgendeine Hoffnung auf eine Karriere hatte, kam auch nur in die Nähe der Gruppe. Die Ängste, dass hier ein Aufstand der Massen stattfinden würde, zerstoben schnell. Die Polizei knüppelte mit bewährter Routine die friedlichen Demonstrationen nieder, und die Bewegung selbst wandte sich mit ebenso bewährter Routine dem liebsten Pläsier aller Linken zu: dem Sektierertum und inneren Richtungskampf. Innerhalb weniger Monate war Occupy auf einen winzigen harten Kern zusammengeschmolzen, der im Endeffekt in einem einfachen, wenig beachteten Polizeieinsatz beseitigt werden konnte. Das war letztlich das Ende dieses Widerstands.
Den euroäischen Ablegern von Occupy erging es nicht anders. Der deutsche Versuch Occupy Frankfurt war so armselig, dass nicht einmal die Springer-Presse oder das Handelsblatt es schafften, sie ernsthaft als Bedrohung von irgendetwas darzustellen (wenngleich es im April 2009 eine kurze, intensive Gespensterdebatte über „soziale Unruhen“ in Deutschland gab). Etwas größere Erfolge konnten in den südeuropäischen Hauptstädten verzeichnet werden, aber auch hier behielt das Establishment das Heft des Handelns in der Hand und die Proteste sich liefen schnell von sich aus tot. Eine bemerkenswerte Ausnahme, die aber gleichzeitig indikativ für das Geschehen steht, war die deutsche Debatte im Feuilleton der FAZ, wo Frank Schirrmacher, der Gottvater des Feuilletons der 2000er und frühen 2010er Jahre, eine grandiose Serie zum Kapitalismus hostete, in der unter anderem Sahra Wagenknecht (die damals mit demselben untrüglichen Sinn für Bestsellermaterial wie heute ihr Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ veröffentlichte und den Mantel Ludwig Erhardts (!) zu ergreifen suchte) eine intellektuell stimulierende Debatte in Gang setzte.
Allein, diese Debatte war zwar spannend, führte aber letztlich zu nichts. Nicht nur der Kapitalismus, auch die Linke stand in diesen Jahren auf mehr als tönernen Füßen. Wir haben uns heute daran gewöhnt, aber die natürliche Erwartungshaltung war, dass die Linke der große Gewinner einer weltweiten Finanzkrise sein musste. Hatte sie nicht jahrelang gegen die Globalisierung gewettert, Gipfel um Gipfel belagert, die geeinte Ablehnung der auf Linie gebürsteten Presselandschaft erfahren, war von der Macht praktisch komplett ausgeschlossen gewesen? Alles wahr, sicherlich. Aber die Realität beugt sich solchen Narrativen nicht. Es gibt keine Belohnung dafür, Recht gehabt zu haben. Und die Linke besaß keine Antwort auf die gewaltige Verunsicherung, die die Krise gerissen hatte.
Es ist dies die große Ironie der ganzen Finanzkrise und ihren Auswirkungen. Die Linke tat und tut sich schwer damit, sich vom liberalen Projekt zu distanzieren, weil, im Gegensatz zur Rechten, mittlerweile so viel Überlapp besteht. Es ist ein Erbe des sozialdemokratischen Zeitalters.Die sozialdemokratischen Parteien Europas und Nordamerikas hatten die liberale Botschaft aufgenommen und sich zu eigen gemacht. Sie hatten den liberalen Konsens maßgeblich mitgestaltet, waren ein elementarer Teil geworden. Ob Schröder, ob Blair, ob Clinton, diese Sozialdemokratie konnte kaum glaubhafte Alternativen anbieten, zumal sie selbst an der Regierung war! In Deutschland regierte die SPD in der Großen Koalition (wirklich noch groß in jenen Jahren) und stellte mit Peer Steinbrück den Finanzminister. In den USA waren sie mit Obama und seiner Supermehrheit an der Macht. In Großbritannien regierte Labour unter Gordon Brown. Alle drei dieser Parteien waren überzeugt, dass der liberale Konsens richtig war und dass er gerettet werden musste. In Großbritannien und den USA gab es keine, in Deutschland nur eine kleine linksradikalere Alternative.
Dazu kommt, dass Linksradikalismus für die breite Mehrheit der Bevölkerung unattraktiv ist. Deswegen gewinnen diese Parteien auch in der Krise nicht. Die Umfragewerte der LINKEn etwa bewegten sich durch die gesamte Krise hindurch kaum nennenswert. Stattdessen richteten sich die Hoffnungen auf den Erhalt des Status Quo.
Diese Hoffnungen erfüllten sich für die Reichen und Mächtigen. Die Banken wurden gerettet, das Weltfinanzsystem stabilisiert. Große Unternehmen erhielten Bailouts. In Deutschland war die Politik dank dem Einfluss der SPD insgesamt ausgeglichener; gerade das Kurzarbeitergeld, das 2009 breitflächig genutzt wurde, rettete viele Existenzen in der Mittelschicht und wirkte als zuverlässiger Dämpfer für jede mögliche Radikalisierung.
Anders war die Lage in den USA, wo die scharf ansteigende Arbeitslosigkeit und das Platzen der Immobilienkredite für unermessliches menschliches Leid sorgten. Nach der unbeliebten Rettung der Banken glaubte die Obama-Regierung nicht, die Stimmen für einen Bailout der in Not geratenen Heimbesitzenden zu haben. Stattdessen rollte eine Welle von hunderttausenden von Zwangsräumungen wertlos gewordener Immobilien durch das Land, das zahlreiche Menschen das Heim kostete. Für sie tat die Regierung nichts.
Doch auch diese himmelschreiende Ungerechtigkeit beförderte nicht eine Renaissance der Linken und sorgte auf der Linken für keine nachhaltige Radikalisierung. Der Fehler, den man daraus nicht machen sollte – und der allerdings in den letzten Jahren gemacht wurde – ist anzunehmen, dass das bedeutet, dass diese Phase der Rettungspolitik praktisch abgewickelt wurde. Doch der Unmut über die Situation im Allgemeinen, der Zorn über die Eliten, der Zweifel am liberalen Konsens – er fraß sich tief in das Bewusstsein der ganzen Welt. Der liberale Konsens hatte eine tödliche Verwundung erlitten, doch wie im Schock sollte er noch einige Jahre tapfer weitermarschieren. Seine Herausforderung kam dann nicht von links, sondern, gänzlich unerwartet, von rechts.
Bevor wir uns allerdings im fünften Teil damit beschäftigen, warum es die Rechtsradikalen waren, die von einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise profitierten, wo die Linken doch eigentlich die scheinbar natürlichen Erben eines solchen Zusammenbruchs gewesen wären, müssen wir den Blick auf diejenigen Länder werfen, die von der Finanzkrise mittelbar betroffen waren und die den liberalen Konsens bestenfalls halbherzig und opportunistisch unterstützt hatten – und die nun als dezidiert antiliberale Länder die Weltordnung herausforderten.
Teil 3: Rückkehr der Realpolitik
Im Jahr 2004 befand sich nicht nur das amerikanische Selbstbewusstsein und das der Finanzindustrie auf einem absoluten Höhepunkt. Auch im außenpolitischen Bereich schien es, als ob der Liberalismus unaufhaltsam auf dem Vormarsch wäre. Die herrschende Ansicht war, dass das System von Institutionen und Rechtsordnungen, das vor allem in der WTO, der GATT, TRIPS, der Weltbank und dem IWF etc. niedergelegt war, die ganze Welt zu einer Adoption dieses liberalen Konsens im wirtschaftlichen Bereich zwingen würde, und dass einer wirtschaftlichen Liberalisierung unweigerlich auch die gesellschaftliche Liberalisierung folgen würde.
Dabei handelte es sich allerdings von Beginn an um einen folgenschweren Irrtum. Wie Quinn Slobodian in seinem grandiosen Werk „Globalisten“ (Englisch) hervorhebt, ging es dem Neoliberalismus selbst nie um eine gesellschaftlich-politische Liberalisierung, ja, sie sahen das teils gar als unvereinbar. Die wirtschaftliche Liberalisierung war ein Ziel an sich, sie sollte die Staaten weltweit unter dasselbe wirtschaftliche Korsett zwingen und den Nationalstaat so zugunsten internationaler Organisationen entmachten.
Diese Zielrichtung allerdings war in den 2000er Jahren bereits verwischt worden. Für die USA war die Hegemonialstellung, die sie genossen, direkt verbunden mit der Herrschaft der Finanzmärkte mit ihrer Basis an der Wallstreet (und, wie wir vor allem in Teil 4 sehen werden, der City of London) und mit der beherrschenden Stellung der amerikanischen Volkswirtschaft in der Weltwirtschaft. Um 2004 sah es zwar so aus, als ob China und Russland genauso wie die „emerging states„, die Schwellenländer wie Brasilien, Indien und Südafrika, sich ebenfalls dem liberalen Konsens unterwerfen würden. Davon kann aber heute keine Rede mehr sein.
Um 2004 herum sah die Sache jedoch noch anders aus. Der exklusive Club der G7 hatte sich um Russland auf die G8 erweitert. Russlands Aufnahme in die Gruppe der höchstindustrialisierten Staaten konnte angesichts der russischen Wirtschaftsleistung kaum mehr als eine Höflichkeitsgeste sein, Ausdruck der Hoffnung, die einstige Supermacht in den liberalen Konsens integrieren zu können. Doch die Versuche einer Integration Russlands, die in solchen Maßnahmen (ebenso wie in den späten 1990ern gewährten Beobachterstatus in der NATO) zum Ausdruck kamen, wurden durch andere Maßnahmen mehr als konterkariert.
Unter George W. Bush breiteten die USA ihren Einfluss in Osteuropa ebenso massiv wie rücksichtslos aus. Die NATO-Osterweiterung, die 2004 zum Beitritt praktisch sämtlicher ehemaliger sowjetischer Satellitenstaaten führte, verschob die Grenze des westlichen Bündnisses um hunderte Kilometer näher an Russland heran. Im gleichen Jahr unterlag der von Russland unterstützte Kandidat Janukowytsch bei Präsidentschaftswahlen gegen den eher westlich orientierten Juschtschenko. Wahlfälschungen, Attentatsversuche und ähnliche Verwerfungen im Umfeld der Wahl fürten zur „orangene Revolution“ und Aufbruchstimmung in der Ukraine, die aus dem russischen Einflussbereich zu brechen drohte.
Der Tropfen, der für Russland das Fass zum Überlaufen brachte, war der plumpe Versuch der USA, Georgien für einen NATO-Beitritt zu gewinnen. Putin reagierte hart. Die inkompetente Außenpolitik von Georgiens in den USA studierten Präsidenten Saakaschwili, der der Überzeugung war, vom Westen Rückendeckung zu besitzen, tat ihr Übriges. Unter dem Vorwand, russische Staatsbürger*innen in der Region Südossetien schützen zu müssen, marschierten russische Truppen ein, besiegten spielend das georgische Militär und besetzten die georgische Hauptstadt. Putin rechtfertigte das Eingreifen kalt mit dem Verweis auf das Kosovo, das (ausschließlich von westlichen Staaten) im selben Jahr gegen den Protest Russlands diplomatisch als souverän anerkannt worden war. Die lahme Antwort des Westens, dass das Kosovo ein Einzelfall ohne Präzedenzcharakter gewesen sei, blieb in Moskau unbeantwortet.
Die Bush-Regierung hatte unbeabsichtigt einen Stellvertreterkrieg ausgelöst, der die Grenzen der liberalen Weltordnung deutlich aufzeigte. Russland war sicherlich gerne bereit, wirtschaftliche Vorteile für sich in Anspruch zu nehmen. Aber es war nicht bereit dazu, eine Rolle innerhalb des westlichen Systems zu spielen oder gar eine innere Liberalisierung durchzumachen. Während vor allem die europäischen Staaten weiterhin in rapider Geschwindigkeit ihre Armeen abrüstete, begann Russland mit einer neuerlichen Aufrüstung. Gleichzeitig schuf es eine eigene, vom liberalen System unabhängige Wirtschaftssphäre, die „Eurasische Wirtschaftsunion“, der sich Georgien nach dem verlorenen Krieg 2008 ohne viel weiteres Federlesens anschloss. Wir werden auf diese Union noch zurückkommen.
Ähnlich sah die Lage in China aus. Das Land befand sich in den frühen 2000er Jahren erkennbar im Aufschwung, aber die großen Wachstumsraten betonten damals noch seine Stellung als „Werkbank der Welt“ und bedrohten vor allem Arbeitsplätze in der Produktion in den westlichen Staaten. Die Einrichtung der so genannten „Sonderwirtschaftszonen“, in denen die ostentativ kommunistische Regierung praktisch Investitionsparadiese schuf, schien ein erster Schritt auf dem Weg zur Liberalisierung Chinas zu sein. Wenn diese Sonderwirtschaftszonen mit ihren Investitionsschutzbestimmungen, dem liberalen Unternehmensrecht und dem Schutz des Kapitals eine Erfolg wären – und das waren sie – würden sie eine Sogwirkung auf den Rest Chinas ausüben, der dann nachfolgen müsste. Auf diese Art würde das bevölkerungsreichste Land der Welt ein Stützpfeiler der liberalen Weltordnung.
Ein Teil dieser Vorhersagen traf ein. Die Sonderwirtschaftszonen waren erfolgreich, und auch der Rest Chinas folgte während der verdrängten Dekade schnell ihrem Vorbild. Eine chinesische Riesenstadt nach der anderen verwandelte sich in eine boomende Wachstumsmetropole, der ohnehin seit Maos Zeiten große Spalt zwischen Stadt und Land wuchs bald in einem gigantischen Ausmaß (eine Entwicklung, die Chinas Regierung in den 2010er Jahren zu einem entschlossenen Gegensteuern bewegte; seither ist diese Dynamik rückläufig, wenngleich die massive Spaltung weiterhin besteht).
Aber von einer gesellschaftlichen oder politischen Liberalisierung war wenig zu spüren. Vielmehr vereinte das chinesische politische System drückende politische Kontrolle mit einer boomenden, aber staatskontrollierten Wirtschaft. Bis heute verweigert sich China jedem Versuch, deine notorisch unterbewertete Währung dem freien Kapitalmarkt unterzuordnen, missachtet wo es ihm passt jegliche Schutzrechte von geistigem Eigentum oder Kapital und fördert ohne schlechtes Gewissen die eigene Industrie, während es die Unternehmen anderer Länder draußen hält oder ihnen zur Technologiegewinnung strategisch Zugang zur Produktion, nicht aber zum Markt gewährt.
Diese Entwicklungen wurden durch die Finanzkrise deutlich prononcierter. Aus den schrecklichen Erfahrungen der Asienkrise 1997 klug geworden, hatten die Staaten Südostasiens, Russland und China gewaltige Reserven gegen eine erneute Liquiditätsknappheit angelegt. Während die europäischen Staaten und andere enge Handelspartner der USA auf die Swap Lines angewiesen waren, um sich mit Dollar zu versorgen – die nur einer handvoll ausgewählter Zentralbanken gewährt wurden – griffen Russland und China auf ihre eigenen Reserven zurück und koppelten ihre Bankensysteme weitgehend von den Verwerfungen des amerikanischen Immobilienmarktes ab, wobei ihnen die autokratische Gestaltungsmacht, die sie über ihre Volkswirtschaften anders als die liberalen Demokratien des Westens besaßen, sehr zupass kam.
Dadurch erhielt besonders Russland einen außerordentlichen Handlungsspielraum, der seine Position relativ zur EU – die vom Regen der Finanzkrise direkt in die Traufe der Eurokrise rutschte – und vor allem seinen anderen östlichen Nachbarn deutlich verbesserte. In der Ukraine gewann der 2004 noch in der orangenen Revolution geschasste Janukowitsch 2010 die Präsidentschaftswahlen, während die EU und die USA mit Verweis auf die Sicherheitslage (!) ihre Unterstützung für Georgien weitgehend einstellten. Russland war auf die Weltbühne zurückgekehrt.
Auch China besaß durch die Finanzkrise plötzlich gewachsenen Handlungsspielraum, nutzte diesen aber subtiler als es Russland tat. Im Gegensatz zu der ehemaligen Supermacht war Chinas Wirtschaft eng mit der amerikanischen verbandelt; der Historiker Niall Ferguson hat dafür den Begriff „Chimerica“ geprägt. China hielt – und hält – gewaltige Dollarreserven, die, auf den Markt geworfen, das Potenzial zur schwerwiegenden Gefährung des Dollars und der US-Wirtschaft besaßen. Allein, dies würde auch die chinesische Wirtschaft, deren starke Exportausrichtung sie abhängig von der amerikanischen Konjunktur gemacht hatte, schwer in Mitleidenschaft ziehen.
Ferguson ging, wie so viele Beobachtende jener Zeit, davon aus, dass diese Dynamik „Chimericas“ zu einer weitergehenden Integration der Volkswirtschaften und einer immer weiter voranschreitenden Liberalisierung Chinas führen müsse. Das Gegenteil war der Fall. China änderte mit der Finanzkrise radikal seine wirtschaftliche Strategie. Von der „Werkbank der Welt“ und einer exportorientierten Wirtschaft wandte es seinen Blick nach innen, der Entwicklung des eigenen Binnenmarktes und dem Aufbau einer eigenen Hochtechnologie zu. Verkörpert wird dieser Wandel durch den Aufstieg Xi Jinpings zum chinesischen Staatschef 2013, als er Hu Jintao ablöste. Wo Jintao durchaus noch wenigstens teilweise dem Liberalismus zugeneigt schien, errichtete Xi Jinping eine autokratische Regierung. Seither werden die Freiheiten in China, ohnehin nie sonderlich ausgeprägt, sukzessive wieder eingeschränkt, was in den Protesten Hongkongs 2020 einen vorläufigen Kulminationspunkt fand.
Es ist an dieser Stelle wichtig festzustellen, dass die Herausforderung der liberalen Weltordnung durch China und Russland keinen Systemkonflikt wie seinerzeit im Kalten Krieg darstellt. Weder Putin noch Xi Jinping haben ein ideologisches Paket im Angebot, mit dem sie irgendjemanden zu bekehren suchen. Stattdessen haben wir es mit einer Rückkehr der Realpolitik zu tun.
Weder Putin noch Xi Jinping hatten und haben irgendeine Ideologie im Angebot. Anders als während des Kalten Krieges gibt es keine rote Fahne, unter der man sich versammeln kann. Während der Westen sich unter Banner des Liberalismus als „Wertegemeinschaft“ versteht und wenigstens rhetorisch diese Werte verteidigt (und, oft genug, auch in der Realität), argumentieren Russland und China ausschließlich mit ihren Interessen.
Besonders im Falle Chinas ist dies offenkundig, wo wesentlich mehr Wirtschaftskraft hinter diesen Interessen steht als in Russland, und wo die Wirtschaftskraft expansiv nach außen drängt. Anstatt sich in ein liberales weltweites Handelsregime zu integrieren, baut China sein eigenes, paralleles System auf, wo auch immer sich Raum dafür bietet. Und Raum bietet sich genug, denn besonders die EU zeigt sich weiterhin als völlig unfähig, außenpolitisch als Einheit aufzutreten.
Nirgendwo zeigte sich dies deutlicher als 2011 in Libyen. Das Land unter seinem ebenso albernen wir brutal-tödlichen Diktator Gaddhafi war lange ein Klientelstaat des Westens gewesen. Solange der Diktator Flüchtlinge für Europa internierte (und folterte, als Zwangsarbeiter missbrauchte und ermodete) und Öl lieferte, war man gerne bereit, bei den Menschenrechtsverbrechen nicht so genau hinzusehen. Doch mit dem beginnenden Arabischen Frühling und der Rebellion, die sich um Benghazi zusammenbraute, entschloss sich vor allem der stets für ein außenpolitisches Hasadeursspiel zu habende Sarkozy, für ein UN-Mandat gegen Gaddhafi zu werben. Normalerweise würde ein solches zuverlässig von China und Russland blockiert.
Diese Entwicklung wurde allerdings durch einen Faktor der russischen Innenpolitik verkompliziert. Da die russische Verfassung wie die amerikanische eine Amtszeitbegrenzung von zwei vierjährigen Präsidentschaften vorsah, konnte Putin 2008 nicht noch einmal antreten. Er fühlte sich auch noch nicht stark genug, den liberalen Konsens offen herauszufordern und eine direkte autokratische Regierung zu etablieren (nicht, dass Russland demokratisch wäre; die Wahlen 2000 und 2004 waren bereits starker Wahlfälschung und -manipulation unterlegen). Deswegen ließ er sich für vier Jahre zum Ministerpräsidenten ernennen (dem dem Präsidenten nominell untergeordneten Regierungschef ohne Einfluss auf die Außenpolitik, vergleichbar mit dem französischen Ministerpräsidentenamt) und ernannte seinen Vertrauten Medjedew zum Staatspräsidenten.
Es ist unklar, inwieweit Medjedew echte Handlungsspielräume besaß und inwieweit seine von Putin abweichende Außenpolitik Versuchsballons der grauen Eminenz im Hintergrund darstellten. So oder so allerdings sind zwei Dinge eindeutig. Medjedew war wesentlich mehr an einer Integration in den liberalen Konsens des Westens und einer größeren Zusammenarbeit interessiert als Putin, und Putin war willens, Medjedew wenigstens einen gewissen Spielraum dafür zu geben. Die Obama-Regierung ergriff die sich bietende Gelegenheit mit beiden Händen; Außenministerin Hillary Clinton präsentierte Medjedew einen großen, zeremoniellen Knopf zum „Neustart“ der Beziehungen.
Libyen zeigte jedoch schnell, wo die Grenzen des Tauwetters zwischen den Großmächten lagen. Die Hoffnungen Russlands, (wieder) als gleichberechtigte Großmacht anerkannt zu werden, erfüllten sich nicht. Niemand war bereit, die Fiktion aus dem Kalten Krieg aufrechtzuerhalten, das Land sei mehr als „Obervolta mit Atomraketen“, wie Helmut Schmidt so treffend und schneidend wie stets feststellte. Die Enthaltung im Sicherheitsrat durch Russland und China ermöglichte es der NATO, das Mandat für die Einrichtung einer Flugverbotszone zu bekommen.
Konkreter muss man sagen: das Mandat ging an Großbritannien und Frankreich, die vorrangigen Treiber der Intervention. Obama selbst war – anders als Außenministerin Clinton – nicht sonderlich begeistert und hielt sich (unter dem Trommelfeuer der Kritik der Republicans, die ihm Feigheit und ungenügende Kriegstreiberei vorwarfen) unter dem Motto „leading from behind“ zurück.
Zwei Entwicklungen wurden schnell offenkundig. Erstens waren die Europäer nicht in der Lage, einen so begrenzten Einsatz wie die Flugverbotszone um Benghasi ohne amerikanische Hilfe zu bewerkstelligen. Und zweitens waren sie nicht in der Lage, ihre Geopolitik in den proklamierten Grenzen zu halten. Innerhalb kürzester Zeit weitete sich die Flugverbotszone über Benghazi zum Schutz der Zivilisten vor einem Massaker durch Ghaddfis Armee zu einer effektiven Allianz zur Beseitigung des Diktators aus. Getrieben von der Begeisterung über den sich ausbreitenden Arabischen Frühling und die scheinbare Durchsetzung des liberalen Konsens‘ ausgerechnet im Nahen Osten sorgten die Westmächte für den Sturz Ghaddafis, der von den Rebellen gejagt und ermodet wurde.
Libyen selbst hatte davon herzlich wenig, bis heute ist das Land im Griff eines Bürgerkriegs, in dem zahlreiche Mächte von Italien zu Russland über die Türkei jeweils ihre Lieblingsfraktion stützen und dafür sorgen, dass niemand das Übergewicht bekommen kann.
Noch verheerender aber war das Signal an das Ausland.
Russland und China sahen, dass das Versprechen der NATO, einen Einsatz zu begrenzen, ungefähr so viel wert war wie ihre eigenen Absichtserklärungen, nämlich nichts. Dass das im Falle der NATO-Mächte aus hehren Motiven geschehen war machte es nicht besser, eher im Gegenteil. Für Russland und China bestätigte Libyen die Überlegenheit des eigenen, unideologischen Ansatzes, der sich um „westliche Erfindungen“ wie die Menschenrechte nicht scherte und gar nicht erst versuchte, irgendeine Rechtfertigung für die eigene Position zu finden.
Es war aber auch ein verheerendes Signal für die Westentaschendiktatoren der anderen Staaten. Dem Westen zu vertrauen war töricht. Es dürfte eine solide Annahme sein, dass Assads beharrliche und tödliche Weigerung, der syrischen Oppositionsbewegung zu weichen, auch mit den Ereignissen aus Libyen und Ägypten zusammenhängen dürfte. In letzterem Fall hatten die USA einen jahrzehntelangen Verbündeten ohne Wimpernzucken dem Mob preisgegeben. Für andere Diktatoren war die Lektion ziemlich klar: Tiananmen statt Glasnost. Die Resultate beschäftigen uns bis heute.
Doch zurück zu den durch Europa und die USA geöffneten Handlungsspielräumen für China. Das Land hatte unter seinem neuen Präsidenten Xi Jinping 2013 die so genannte „Neue Seidenstraße“ („One Belt, One Road Initiative“) verkündet, eine Art industriepolitisches Projekt, das Handelswege sowohl nach Europa als auch Südostasien und Afrika öffnen sollte.
In Südostasien stieß China auf den entschlossensten Widerstand. Die dortigen Länder hatten keinerlei Interesse, in eine chinesische Interessenssphäre absorbiert zu werden und taten sich zusammen. Wir haben bereits im ersten Teil darüber gesprochen, wie sehr die Obama-Regierung versucht hatte, durch ein pazifisches Handelsabkommen diese Interessenlage mit der der USA zu verbinden. Obwohl Trump aus destruktiver Gehässigkeit das TPP-Abkommen verließ, wurde es von den anderen beteiligten Ländern weitergeführt.
Gleichwohl wird der Einfluss Chinas hier immer drückender und tritt auch am aggressivsten auf, was man etwa im Aufschütten künstlicher Inseln im Südchinesischen Meer, um so durch die im internationalen Seerecht anerkannten 12-Meilen-Zonen quasi ein chinesisches „Mare Nostrum“ zu schaffen, gut beobachten kann, eine Strategie im Übrigen, die durch massive militärische Aufrüstung und Stationierungen begleitet wird und die Region deutlich destabilisiert. In den letzten Jahren haben vor allem Frankreich und Großbritannien ihr Gewicht ebenfalls in die Waagschale geworfen und treten den chinesischen Ansprüchen entschlossener gegenüber.
Mit offenen Armen empfangen wurde China dagegen in Afrika, wo das Versagen der Westmächte und ihres liberalen Konsens am offenkundigsten ist. Die seit der Dekolonialisierung der 1960er betriebene Entwicklungspolitik geht von einem mittlerweile ebenso grotesk veralteten wie rassistischen Weltbild aus, nach dem in Afrika hungernde Kinder vor Lehmhütten sitzen und auf die Lieferung von Getreide durch westliche Entwicklungshelfende warten. Dieses Bild ist gerade in den Bevölkerungen der westlichen Länder noch weit verbreitet.
Dass die Entwicklungshilfe in der Realität nur allzu oft örtliche Diktatoren stützte, die heimische Wirtschaft zerstörte und in Kombination mit der verheerenden Wirtschaftspolitik von IWF und Weltbank Armut und Verzweiflung wenn nicht schuf, so doch zumindest reproduzierte, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Der liberale Konsens schlug hier gleich doppelt zu: einmal in Form einer missionarischen Überlegenheit, in der die westlichen Werte zu einem ignoranten Kontinent gebracht werden sollten, und einmal in Form der wirtschaftlichen Ideologie, die „Strukturreformen“ nach neoliberalem Vorbild erzwang.
In diese vor allem durch Desinteresse geprägte Lücke stießen die chinesischen Unterhändler*innen der „Neuen Seidenstraße“. Sie boten direkte Investitionskredite, die an keinerlei Bedingungen geknüpft waren und brachten Geld für die örtlichen Regierungen, ohne den Umweg über „Strukturreformen“ oder sonstige Lektionen von Experten zu bedürfen. Wesentlich hilfreicher war das oftmals nicht. Die chinesischen Projekte wurden von chinesischen Fachkräften aufgebaut und betrieben, und die Kredite haben hohe Zinszahlungen und machen die Empfängerländer wirtschaftlich von China abhängig. Alles, was China tut, ist darauf zu verzichten, seine Interessenpolitik in ein Klimborium von herablassenden Lektionen zu kleiden – und seine Interessen durchzusetzen.
Denn auch Europa und die USA hätten durchaus Interesse an den (überwiegend) rapide wachsenden Volkswirtschaften Afrikas. Es sind alte koloniale Instinkte und Bindungen (vor allem im Fall Italiens, Großbritanniens, Belgiens und Frankreichs) sowie eine generelle ignorante Herablassung, die solche Chancen bisher verhinderten. Mittel- und langfristig dürfte dieses Verschlafen des Aufstiegs Afrikas und ein Investment in die aufstrebenden Volkswirtschaften des Kontinents sowohl die EU als auch die USA noch teuer zu stehen kommen.
Der letzte Bereich, in dem Chinas „Neue Seidenstraße“ ihre Wurzeln schlägt, ist Europa selbst. Auch hier haben die Europäer in geradezu haarsträubender Blindheit und Ignoranz selbst einem Einfluss Tür und Tor geöffnet, der sich für sie noch als verhängnisvoll herausstellen dürfte.
Es waren Staaten wie Ungarn, Polen, Griechenland und Italien, in denen chinesische Investoren offene Türen vorfanden. Mit den Gründen für diese Entwicklung, die ein selbstgemachtes europäisches Problem ist, werden wir uns im nächsten Teil ausführlich beschäftigen. Es sei an dieser Stelle nur betont, dass es für die EU nicht als positiv betrachtet werden kann, dass der dem Suezkanal am nächsten liegende große europäische Hafen, das athenische Piräus, mittlerweile de facto eine chinesische Dependance ist.
Der letzte Schlag für die Fiktion, dass Russland und China irgendwie in das westlich-liberale Staatensystem integriert werden könnten, kam mit der Ukraine-Krise 2014. Wir wollen uns an dieser Stelle vor allem damit beschäftigen, was diese Krise auslöste und welche Rückschlüsse sie uns auf Russland erlaubt; der europäische Teil dieser Tragödie wird im nächsten Teil verhandelt.
Die Ukraine war 2010 unter die Herrschaft Janukowitschs geraten, einem Russland-nahen Autokraten. Die Ukraine war und ist ein armes, unterentwickeltes Land im Griff plutokratischer Familienclans, die sich gegenseitig erbittert bekämpfen, aber weitgehend Einigkeit in der Ausplünderung des ukrainischen Staates finden. In der westlichen Lesart war Janukowitsch dabei der „Böse“, während seine nicht minder kleptokratische Gegnerin Timoschenko, die er unter zwar sicherlich zutreffenden, aber zutiefst heuchlerischem Doppelstandard unterliegenden Vorwürfen von Wirtschaftskriminalität verfolgte, absurderweise als Heldin liberaler Werte gefeiert wurde. Diese Episode ist weniger in sich bedeutsam als für die verschobenen Perspektiven des Westens, der immer noch in den Systemkonflikt-Kategorien des Kalten Krieges dachte; eine Sichtweise, von der Russland und China sich bereits seit Langem emanzipiert hatten und die den Westen eins ums andere Mal für die Realitäten vor Ort blendete.
Janukowitsch selbst hatte eine Art Schaukelpolitik zwischen der EU und Russland betrieben. Beide boten die Assoziierung mit ihrem eigenen Wirtschaftsbündnis; die Ukraine konnte kein Interesse daran haben, zum Ausschluss des einen Mitglied des anderen zu werden. Während Russland mit der vergleichsweise lockeren „Eurasischen Wirtschaftsunion“ warb, die keinerlei Aufnahmebedingungen auch nur annähernd vergleichbar mit dem acquis communitaire der EU kannten, führte die EU Verhandlungen für ein „Asoziierungsabkommen“, eine Art Vorstufe zur EU-Mitgliedschaft, die allerdings durchaus langfristig angelegt war. Niemand gab sich der Illusion hin, die Ukraine könnte absehbar zu einem Mitglied der EU werden.
2013 beging die EU in den seit Jahren andauernden Verhandlungen jedoch eine strategische Neuausrichtung, die die komplette Situation umwarf und Janukowitsch zum Offenbarungseid zwang: sie erklärte ein Asoziierungsabkommen für unvereinbar mit einer Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Janukowitsch war nicht bereit, unter diesen Umständen ein solches Abkommen zu unterzeichnen. Damit trat er eine wütende Protestbewegung los, die als „Euromaidan“ bekanntwerden sollte (nach dem Maidan-Platz in Kiew). Obwohl die Bewegung ihre Anhänger*innen vornehmlich in den Städten der Westukraine fand, übte sie genügend Druck aus, um das Regime Janukowitschs zum Einsturz zu bringen. Die EU bot sich als Vermittlerin bis zum Abschluss von Neuwahlen an, aber unter Eindruck des Schicksals von Ghaddafi in Libyen gab Janukowitsch wenig auf westliche Garantien und floh nach Moskau. Die Ukraine hatte von einem Tag auf den anderen keine Regierung mehr.
Die neugebildete, aber demokratisch (noch) nicht legitimierte Regierung wandte sich denn auch praktisch als erstem Amtsakt der Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommen zu. Putin reagierte entschlossen und schnell. Unwillig, erneut den Verlust einer strategischen Position zur Beschwichtigung des Westens hinzunehmen und voll seiner neuen relativen Stärke gegenüber den anderweitig gebundenen USA und der durch die Eurokrise ohnehin abgelenkten und nie sonderlich einheitlich agierenden EU, brach er flagrant das Völkerrecht und besetzte die Krim. Das dort abgehaltene „Referendum“ war mehr als ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung Westen, als ein bewusstes Spiegeln seiner Werte und seines eigenen Vorgehens etwa im Kovoso so werten denn als ernstgemeinte Maßnahme.
Kurz darauf begann der von Russland zwar unterstützte, aber nicht durch formalen Einmarsch sanktionierte Bürgerkrieg, der sich bis heute in wechselnder Intensität fortzieht, als Seperatistengruppen in der Ostukraine sich von der Zentralregierung lossagten. Russland hatte damit, welche Politik Kiew auch weiter verfolgen mochte, seine strategische Pufferzone beibehalten und mit der Krim sogar einen Gewinn verzeichnet. Die EU dagegen stand vor dem Scherbenhaufen ihrer tapsigen Geopolitik. Das Opfer war die Ukraine, die zudem von der EU schmählich im Stich und ihrem Schicksal als zerrissener Pufferstaat zwischen Ost und West gelassen wurde, wie wir im folgenden Teil näher beleuchten werden.
Teil 4: Die vielen Gesichter der europäischen Krise
In denJahren 2004/2005 war die Europäische Union auf einem Höhepunkt ihrer Euphorie auf einem rapiden Weg zur „immer engeren Union“. 2002 war erfolgreich die Umstellung auf den Euro als gemeinsame Währung von (mittlerweile) 19 Mitgliedsstaaten vollzogen worden. 2004 erfolgte dann, parallel zur NATO-Osterweitung, auch die EU-Osterweiterung. Zehn neue Mitgliedsstaaten vergrößerten die Union von 15 auf 25 Mitglieder, mit zwei weiteren mit vorgesehenem Beitrittsdatum 2007. Es war offensichtlich, dass die Strukturen, die einmal für eine EWG von sechs Ländern geschaffen und seither mehrfach grundreformiert worden waren, einer weiteren Änderung bedurften.
Dieses Fakt stand für alle Beteiligten außer Frage. Die EU tat sich bereits mit 15 Mitgliedern schwer, die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder unter einen Hut zu bringen. Die Übernahme zahlreicher weiterer Kompetenzen, nicht zuletzt des Euro (der, mit Ausnahme Großbritanniens und Dänemarks, perspektivisch ja alle EU-Staaten umfassen sollte), erforderte Umsetzungsinstrumente, die schlicht nicht gegeben waren.
Viel problematischer aber war die Bandbreite an unterschiedlichen Systemen und Lebensverhältnissen, die durch die Osterweiterung bedingt war. Die Aufnahme der drei Südländer Spanien, Portugal und Griechenland hatte die EU vor allem durch eine Ausweitung der Transferzahlungen abfedern können. Bereits damals war die Teilhabe am mit Abstand größten EU-Fördertopf, der Gemeinsamen Agrarpolitk (GAP), ein hoch problematischer Zankapfel gewesen; eine Aufnahme besonders des landwirtschaftlich starken Polens in dieses System war undenkbar. Ein erster Reformvorstoß mit dem Vertrag von Nizza war im Jahr 2000 mehr oder weniger deutlich gescheitert. Diese Ereignisse habe ich detailliert in Teil 4 und Teil 5 meiner Geschichte der Europäischen Union nachgezeichnet; sie sollen hier daher nicht weiter ausgeführt werden.
Relevanter für unsere Geschichte ist der Verfassungsvertrag, den sich die EU daraufhin geben wollte. 2004 arbeitete eine Kommission an einem gemeinsamen Vorschlag für eine Europäische Verfassung, geleitet vom über alle Zweifel erhabenen konservativen Über-Europäer Giscard d’Estaigne. Der entstehende Vertrag würde die EU zwar nicht in einen Bundesstaat verwandeln, aber deutlich über die supranationale Organisation hinausführen, die sie zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon war. Der Verfassungsvertrag jedenfalls war dem allgemeinen Verständnis nach eine Vorstufe auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ und sollte die EU handlungsfähiger machen.
Doch 2005 folgte der Schock. Nach Ratifizierungen in den meisten EU-Ländern lehnten die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande das Vertragswerk ab; weitere Abstimmungen wurden nicht mehr abgehalten. Wie bereits 1954 war es ausgerechnet Frankreich, das eine im Kern französische Initiative abwürgte. Das europäische Einigungsprojekt kam zu einem quietschenden Halt.
Bereits vorher hatte es deutliche Risse in der Fassade neuer europäischer Einigkeit gegeben. 2003 hatten Frankreich und Deutschland in der EU die Machtfrage gestellt und die Mitglieder zum Offenbarungseid gezwungen, als sie sich offen gegen die USA stellten und den Irakkrieg rundherum ablehnten. Die Bush-Regierung hatte gehofft, ein Lippenbekenntnis zu bekommen und damit eine scheinbar geeinte Front präsentieren zu können. Umgekehrt hofften Deutschland und Frankreich darauf, eine außer Großbritannien geeinte EU gegen die USA präsentieren zu können und forderten Gefolgschaft ein.
Sie erhielten sie nicht. Spanien etwa warf sich mit derselben Verve hinter die USA wie Großbritannien. Wesentlich dramatischer aus Sicht der Deutschen und Franzosen aber dürfte die Reaktion in Osteuropa gewesen sein. Die Beitrittskandidaten unterstützten praktisch durch die Bank die USA, der Irakkrieg spaltete den Kontinent in zwei Hälften.
Dabei machten die neuen Beitrittskandidaten ebenso wie etwa Spanien eine strategische Grundkalkulation: sie gingen davon aus, dass die Freundschaft zu den USA für ihre Sicherheit und weitere Prosperität wichtiger sein würden als die EU. Dass dies in Berlin und Paris nicht gesehen worden war – vor allem in Bezug auf Osteuropa – ist frappant und erscheint im Rückblick als Vorbote der Ukrainekrise 2014, über die wir im letzten Teil gesprochen haben. Länder wie Polen konnten keinerlei Vertrauen in die Fähigkeiten – und Bereitschaft! – Deutschlands und Frankreichs haben, ihre Sicherheit gegenüber einem zunehmend aggressiveren Russland zu garantieren. Dieses Dilemma bildet noch heute das Fundament der Zerrissenheit der europäischen Sicherheitspolitik.
Gleichzeitig aber würde sich die Anbindung an die USA für einige der EU-Länder noch als Problem herausstellen, denn die USA würden sich zwar bereit zeigen, ihre Sicherheit gegenüber Russland durch substanzielle Engagements zu garantieren (etwa den hochumstrittenen Raketenabwehrschirm, den die Bush-Regierung in Polen einzurichten gedachte). Sie waren aber ganz und gar nicht bereit dazu, diesen Ländern in einem Konflikt mit Deutschland beizuspringen. Dies sollte sich, wie wir sehen werden, für diese noch fatal auswirken.
Doch vorerst musste die EU sich von dem Desaster der gescheiterten Verfassung erholen. Statt die Einheit mit größeren Schritten voranzubringen, entschied man sich für eine deutlich weniger ambitionierte Version, die das Wort „Verfassung“ vermied und dafür ohne Volksabstimmungen durch die nationalen Parlamente ratifiziert werden konnte. Der resultierende Lissabonner Vertrag war denn auch genau das, ein Kompromiss und um Ambitionen und größere Entwicklungen stark gekürzter Rumpfvertrag. Seine Verabschiedung drohte dennoch zu scheitern, weil eine Volksabstimmung in Irland ihn ablehnte; ein weiteres Referendum kurz darauf fand bereits unter der massiven Drohung statt, Irland angesichts seiner schwerwiegenden Probleme in der Finanzkrise im Regen stehen zu lassen. Wie Griechenland in einer vergleichbaren Situation fast ein Jahrzehnt später beugte man sich den Realitäten. Der Vertrag wurde angenommen.
Lissabon war das erste große europapolitische Projekt der Regierung Merkel. Der Verfassungsvertrag stammte noch aus einer vorherigen Epoche, wurde unter Schröders Kanzlerschaft mitverhandelt. Die schwierige Konsensfindung für Lissabon fiel in die deutsche Ratspräsidentschaft 2007 und beanspruchte alle europapolitische Energie der neuen Administration. Das hatte schwere Folgen, denn 2007 begann einerseits auch die internationale Finanzkrise, für die entsprechend weniger Aufmerksamkeit zur Verfügung stand, doch andererseits fiel die Fertigstellung 2009 gerade in den Beginn des eigentlich europäischen Teils der Finanzkrise. Just in dem Moment, als nach einer Dekade nervenzerfetzender Verhandlungen endlich ein neues Vertragswerk stand, das die nächsten ein, zwei oder gar drei Dekaden Bestand haben sollte und man sich dem schwierigen Alltagsgeschäft hinwenden wollte, war alles Makulatur, und die EU erforderte neue, tiefgreifende Reformen, über die sich niemand einigen konnte. Es war der perfekte Sturm.
Als die Finanzkrise 2008/2009 auf Deutschland durchschlug, war die regierende Koalition Segen und Fluch für das Land zugleich. Segen, weil es keine schwarz-gelbe Koalition unter Merkel und Westerwelle war, wie sie das „richtige“ Ergebnis von 2005 gewesen wäre. Diese hätte mit Sicherheit Flurschäden angerichtet. Fluch, weil das deutsche Handeln in der Finanzkrise nicht nur den Regierungs- und Entscheidungsstil von Angela Merkel in all seinen Schwächen offenlegte, sondern auch den der SPD, die wie im Stockholm-Syndrom die furchtbarsten Instinkte Merkels verstärkten. Letztlich zeigt die deutsche Reaktion in der Finanzkrise dieselben Dynamiken wie die deutsche Reaktion auf die Covid-Krise, nur dass seinerzeit andere den Preis bezahlen mussten.
Was ist damit gemeint? Die Doppelspitze von Merkel und Steinbrück erklärte von Beginn der Krise an quasi hauptamtlich, dass es sich um eine amerikanische Krise handelte, die mit Europa nichts zu tun hatte. Allenfalls war man das unschuldige Opfer, das durch windige amerikanische Geschäftspraktiken in den Strudel gezogen wurde, aber selbst dieses Szenario galt wegen der angeblichen europäischen Tugenden – die, wie sich bald zeigte, deutsche Tugenden sein sollten, die man hier noch gegen den Nationalismusvorwurf europäisch verbrämte, eine bewährte deutsche Kommunikationsstrategie – als unwahrscheinlich. Wir haben in Teil 2 gesehen, wie falsch diese Ansicht war. Das Finanzsystem war ein atlantisches Finanzsystem, in dem schon das Konzept von „amerikanisch“ oder „europäisch“ albern war.
Entsprechend musste eine Antwort auf die Krise auch gesamtatlantisch erfolgen. Während in der Downing Street und Pennsylvania Avenue längst erkannt worden war, was sich da zusammenbraute, und die Fed zusammen mit der britischen Notenbank fieberhaft an Lösungen arbeitete, schlief man in Berlin den Schlaf des Gerechten und wies erst die Angebote, dann die flehenden Bitten der Angelsachsen um eine koordinierte Antwort hochmütig ab. Um fair zu bleiben kann man das nicht nur Merkel und Steinbrück anlasten; die EZB selbst war von der gleichen Betriebsblindheit geschlagen und unfähig, über ihren ideologischen Tellerrand hinauszublicken.
Als die Krise dann 2009 tatsächlich, wenngleich mit Verspätung, auf Deutschland und Europa überschlug, war es zu spät. Irland, dessen neoliberales Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre sich nun als Albtraum entpuppte, war de facto bankrott. Mit der Weigerung der Eurogruppe zu irgendeiner Zusammenarbeit hatte die irische Regierung ihrerseits dazu auch wenig Veranlassung gesehen und in einem geradezu atemberaubenden Hasardeursspiel die Schulden der irischen Banken garantierten, die zu diesem Zeitpunkt praktisch das irische Nationaleinkommen überstiegen. Anders ausgedrückt: Irland war bankrott, es war nur noch nicht offiziell.
Nun könnte man Irland als Land der grünen Hügel und Bauernhöfe abtun, nur hatte es sich im 21. Jahrhundert in eine gewaltige Steueroase verwandelt. Im liberalen Konsens war diese Entwicklung viel beklatscht und bewundert worden und hatte zu großen Wachstumsgewinnen geführt, zumindest auf dem Papier. Jetzt floh das scheue Reh des Kapitals, und es zeigte sich, dass von Bankenbilanzen noch niemand satt geworden ist. Die irischen Banken waren überschuldet und das Land praktisch unfähig, sie im Alleingang zu retten. Too big to fail mochte ein Schlagwort der Finanzkrise sein, aber für Irland galt es ganz emphatisch nicht.
Es war nur ein Symptom, ein Vorbeben dessen, was kommen sollte. In Spanien war der Boom der vergangenen Jahre des liberalen Konsens‘ hauptsächlich durch die Immobilienbranche verursacht worden. Dieser Boom entpuppte sich nun als Blase; zig Hotels standen effektiv leer, die Naturverwüstung der Strände war auch wirtschaftlich verheerend gewesen.
Noch wesentlich ärger aber wirkte sich die Finanzkrise auf Osteuropa aus, wo der Aufschwung seit 1990 auf zwei Faktoren beruhte: einer radikalen Reformpolitik im Sinne des liberalen Konsens‘, der den betroffenen Staaten viel Lob der Ökonomenzunft und einschlägigen Meinungsmachenden wie dem Economist oder dem Davos-Jetset eingebracht hatte, und Investitions- und Kreditlinien in die Wallstreet und City of London. Beide trockneten innerhalb von Tagen praktisch völlig aus.
Wie der Rest des atlantischen Finanzsystems waren all diese Staaten auf Devisen angewiesen. Denn der große Boom der Ära des liberalen Konsens war, wie jeder Boom, mit Krediten finanziert worden. Nur beliefen sich diese Kredite nicht auf Zloty oder Forint, sondern Dollar, Euro, Pfund und Schweizer Franken. Auch die Euro-Länder brauchten aufgrund der in Teil 2 beschriebenen Dynamiken ständigen Nachschub an Pfund und Dollar, nur um das System am Laufen zu halten – geschweige denn, neue Investitionen zu tätigen.
Nun bekam eine ganze Reihe starker Volkswirtschaften durch die „Swap Lines“ direkten Zugang zur Fed und konnte sich mit Dollar versorgen, und auch die britische Notenbank finanzierte bereitwillig die jeweiligen nationalen Notenbanken. Allein, die „Swap Lines“ liefen nicht über die EZB; sie liefen über die nationalen Notenbanken jener ausgewählten Volkswirtschaften, die an ihnen teilhaben durften, und die die Dollarkredite direkt an ihre jeweiligen nationalen Großbanken weiterreichten. Dazu gehörte natürlich Deutschland. Dazu gehörten emphatisch weder Polen noch Ungarn.
An dieser Stelle war die EU handlungsunfähig. Die deutsche Krisenpolitik war eine, deren Schema allzuschnell vertraut sein sollte: sie wollte die betroffenen Volkswirtschaften zur Anpassung zwingen. Für die deutsche Politik wie für die deutsche Ökonomik – und die von ihr stark beeinflusste EZB unter ihrem damaligen Vorsitzenden Trichet – war die Ursache für die Probleme nicht die Finanzkrise per se, sondern strukturelle Unwuchten, sprich: Teile der Wirtschaft waren nicht wettbewerbsfähig. Die deutsche Krisenpolitik verfolgte einen langfristigen Ansatz struktureller Reformen, ein Ansatz, der immer wieder durch die Notwendigkeiten einer extrem kurzfristigen Krise konterkariert wurde, in seinem Kern aber stets erhalten blieb. Damit setzte sie auf ein völlig anderes Konzept als Großbritannien und die USA, die die Finanzkrise als exakt das sahen: eine Krise, der schnell und mit maximalem Einsatz begegnet werden musste, damit man zum Status Quo zurückkehren konnte. Diese Politik verfolgten London und Washington, und sie taten es mit Erfolg. Demgegenüber versuchte Berlin die Krise als Chance zu begreifen, einige ungeliebte Elemente der Konstruktion der EU nach den eigenen Vorstellungen zu verändern.
Mit dieser Absicht waren die Deutschen keineswegs allein; auch Frankreich hoffte, die Krise nutzen zu können, um die EU umzugestalten, und selbst die Briten sprangen – wenngleich, wie wir noch sehen werden, erst sehr spät – auf diesen Veränderungszug auf. Insgesamt gab es vier große Richtungen, in die die EU gezerrt wurde:
1) Die USA, die vor allem eine neue Welle von Bankenpleiten verhindern wollten, die dann wiederum auf sie selbst überschwappen würde. Diese Angst war, wie wir gesehen haben, wegen der engen Verflechtung der transatlantischen Finanzsysteme sehr real. Eine Implosion des europäischen Bankensystems würde auch die mit viel Mühe geretteten amerikanischen Banken (die zu der Zeit gerade unter dem „Stresstest-„Regime krisensicher gemacht werden sollten) sofort mit sich in den Abgrund reißen. Es waren keine Reserven mehr verfügbar, um eine solche weitere schwere Krisenwelle aufzufangen, und, für die Obama-Regierung noch entscheidender, das politische Kapital war aufgebracht. Zwischen Tea Party und Occupy Wallstreet gab es in den USA keine Aussicht, irgendwelche weiteren Mittel für Bankenrettungen zu mobilisieren (die TARP-Fonds waren praktisch ausgeschöpft). Käme eine weitere Bankenkrise, würde die US-Regierung ihnen nicht mehr helfen können. Es war daher blankes, kurzfristiges Selbstinteresse der USA, für eine schnelle wirtschaftliche Erholung in Europa und eine Rettung des europäischen Bankensystems zu sorgen.
2) Frankreich, das sich seit jeher eine engere Verzahnung der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik wünschte. Das französische Interesse lag – und liegt – klar darin, die Europäische Union in einen eigenständigen und unabhängigen Wirtschaftsraum zu verwandeln. Gerade die starke Verflechtung mit dem angelsächsichen Finanzsystem war den traditionell eher nationalistisch denkenderen Franzosen ein Dorn im Auge, die die EU von Beginn an auch als Gegengewicht zu den USA konzipiert hatten, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Die Krise bot für Paris die Chance, Integrationsschritte auf diesem Weg voranzubringen.
3) Deutschland, das einen starken Exportfokus verfolgte und diesen auf die gesamte EU zu übertragen gedachte. Die deutsche Analyse war, dass die Kostensenkungen durch die Steuerreformen, Deregulierungen und Agenda-Reformen (die zu sinkenden Reallöhnen, einem großen Niedriglohnsektor und wachsenden Unternehmensgewinnen geführt hatten) zu einer Gesundung der Wirtschaft beigetragen hatten. In dieser Lesart gab es weltweit eine große Nachfrage an europäischen Produkten, die leicht durch eine europaweite Reduzierung des Preisniveaus zu stimulieren war und für ganz Europa den Ausweg aus der Krise bot. Die deutsche Austeritätsvision war daher nicht so sehr eine des Wettbewerbs der EU-Staaten untereinander – obwohl das natürlich auch eine Rolle spielte – sondern eher der EU als gemeinsamem Exportblock in den Rest der Welt. Um das zu erreichen, sollte der Einfluss der Staaten auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik so weit wie möglich zurückgestutzt werden. Der liberale Konsens erlebte hier einen letzten Höhepunkt, mit dem wir uns gleich noch detaillierter beschäftigen werden.
4) Die weniger entwickelten EU-Staaten, die vorrangig an der Süd- und Ostflanke der EU positioniert waren, sahen sich der Krise schutzlos ausgeliefert. Ihre Bankensysteme hatten keine Chance, die Wucht einer weltweiten Finanzkrise aus eigener Kraft abzufangen. Exemplarisch konnte man dies an Irland beobachten, aber dieselbe Krise stand auch den anderen Staaten ins Haus. Ihr Interesse war auf ein Offenhalten der Kapitalflüsse gerichtet, also auf irgendeine Form von gemeinsamer finanzpolitischer Abwehr der Krise. Dies setzte eine aktivere Rolle der EZB voraus, die in die Lage versetzt werden musste, ähnlich der Fed oder der Bank of England als „lender of last ressort“ zu dienen und so das Schreckgespenst eines Staatsbankrotts zu bannen.
Es ist offenkundig, dass diese divergierenden Interessen kaum unter einen Hut zu bringen waren. Zu Beginn der europäischen Krise – Griechenland spielte immer noch keine Rolle – arbeiteten Sarkozy und Merkel Hand in Hand. Die Interessen beider Länder überlappten sich dergestalt, dass die beiden Staats- und Regierungschefs als „Merkozy“ bezeichnet wurden. Der Grund für diese Gemeinsamkeit ist trotz der scheinbaren Unvereinbarkeit der strategischen Visionen leicht ersichtlich. Frankreich war, aller antiamerikanischen Rhetorik zum Trotz, tief in die Bankenkrise verwickelt. Seine Großbanken hatten faule Kredite in gigantischer Höhe in ihren Bilanzen liegen. Gleichzeitig versuchte die deutsche Politik mit aller Kraft zu vermeiden, dass eine finanzpolitische Intervention wie in den USA durchgeführt werden würde, die man als ersten Schritt in die unbedingt zu vermeidende Finanzunion der EU sah. Die Gemeinsamkeit beider Staaten lag darin, dass sie eine gesamteuropäische Antwort suchten, und nur eine europäische, ohne Beteiligung der USA und am besten auch ohne Beteiligung Großbritanniens.
Die deutsche Haltung war dabei kaum übersehbar. Die SPD und CDU, die 2009 – wie man heute gerne vergessen kann – noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament in ihrer wahrhaft „großen“ Koalition besaßen, einigten sich im letzten Jahr ihrer Regierungszeit auf eine der tiefgreifendsten und schädlichsten Verfassungsänderungen seit dem Asylkompromiss Anfang der 1990er Jahre: die Schuldenbremse. Das Faszinierende an diesem Akt ist aus politischer Sicht, dass beide Parteien von einer tiefsitzenden Angst gedrängt waren. Die CDU befürchtete, dass eine neue Regierung mit massiven Schulden den liberalen Konsens aufkündigen und den Grundstein für ein neues Wirtschaften legen könnte, das eher den amerikanischen oder französischen Vorstellungen entsprach. Ihr ging es darum, die in der liberalen Theorie prominente Trennung von Politik und Wirtschaft so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Die SPD dagegen befürchtete, dass eine (wahrscheinliche) schwarz-gelbe Koalition den Geist des Leipziger Programms wieder aus der Flasche lassen und den Wohlfahrtsstaat nach amerikanisch-britischem Vorbild stark beschneiden würde. Die Schuldenbremse sollte aus Sicht der SPD verhindern, dass Steuersenkungen auf Pump betrieben würden, wie sie ein Markenzeichen konservativ-liberaler Regierungen waren, ob während der Kohl-Zeit, unter Reagan oder Thatcher. So wurde dieses Instrument verabschiedet und schrieb den liberalen Konsens in der Verfassung fest – scheinbar geschützt vor den Stürmen einer sich stetig ändernden politischen Landschaft.
Damit haben wir sämtliche Spielsteine auf dem Brett, die 2009/2010 in die eigentliche europäische Krise übergingen. Während die USA in ihre lange Phase der langsamen, aber stetigen wirtschaftlichen Erholung eintraten, die sie sich mit einer teuren Rettung der Banken und einer Wiederherstellung des Status Quo erkauft hatten – unter extrem hohen politischen Kosten, wie noch einmal betont sein sollte – begann in Europa erst die eigentliche Krise, in der ein gänzlich anderes Krisenkonzept zur Anwendung kommen sollte: die tief greifende Umgestaltung und Reformierung praktisch der gesamten Eurozone nach deutschem Vorbild. Deutschland griff nach der Dominanz in Europa, ein Zug, der bis heute noch nicht wirklich anerkannt und noch weniger verarbeitet worden ist.
Teil 5: Eurosklerose, die zweite
Im Sommer 2009 war die deutsche Position, wonach die Krise ein angelsächsisches Phänomen wäre und Deutschland im Speziellen und Europa im Allgemeinen nichts anginge, endgültig unhaltbar geworden. Es ist unklar, ob Merkel und Steinbrück das je wirklich geglaubt haben oder ob sie nur der Überzeugung war, es sei etwas, das sich politisch gut verkaufen lassen. Grundsätzlich spielt das auch keine Rolle. Die Wirkung der deutschen Ignoranz war dieselbe: Während das Ausland die Deutschen bestürmte, sie mögen doch ihre Verweigerungshaltung aufgeben, die Realitäten anerkennen und etwas gegen die drohende Implosion des europäischen Teils des transatlantischen Finanzsystems unternehmen, steckte sich Berlin die Finger in die Ohren und tat nichts.
Dies ging so weit, dass der britische Premierminister Gordon Brown verzweifelt versuchte, Peer Steinbrück zu erreichen und sogar persönlich (!) im Willy-Brandt-Haus und im Ministerium anrief. Steinbrück ließ sich am Telefon verleugnen. Man könnte diese Episode als eine Groteske abtun, wenn sie nicht so emblematisch für das Geschehen einerseits und so konsequenzenreich andererseits wäre. Die deutsche Politik weigerte sich beharrlich, sich den Realitäten zu stellen, und sie weigerte sich auch, irgendetwas gegen das drohende Debakel zu unternehmen.
Was die Lage änderte war die Pleite der Hypo, diverser Landesbanken und der KfW. Sie alle waren – selbstverständlich, möchte man hinzufügen – mit dem transatlantischen Bankensystem verknüpft und deswegen entgegen aller anderslautender Aussagen aus Kanzleramt und Finanzministerium sowohl Beteiligte als auch Opfer der weltweiten Verwerfungen. Diese Welle kam in Deutschland nur etwas später an als in vielen anderen Staaten (auch eine auffallende Parallele zur Corona-Pandemie, wo deutsche Selbstgefälligkeit die ersten Reaktionen regierte).
Das Duo Merkel-Steinbrück, das sich bislang jeglicher Aktion verweigert hatte, geriet nun in Panik. Ohne Absprache mit den europäischen Nachbarn, den Mitgliedern der Euro-Gruppe oder sonst irgendwem traten sie vor die Presse und verkündeten eine Garantie der deutschen Spareinlagen. Innenpolitisch war das ein durchaus sinnvoller Zug, um einen Bankrun zu verhindern. Außenpolitisch war das Signal verheerend. Denn Deutschland machte damit unmissverständlich klar, dass es keinerlei Verantwortung für den Euroraum als Ganzes sah und sich nicht mit anderen Ländern abzusprechen gedachte.
Dieses Stricken mit der heißen Nadel war allerdings nicht in der gesamten deutschen Politik verbreitet. Es war vielmehr ein typisches Feature des Merkel’schen Regierungsstils. Als 2009 die SPD krachend die Bundestagswahlen verlor und eine mit 14,9% ausgestattete FDP triumphal in die Regierung einzog, wurde Wolfgang Schäuble Finanzminister. Er sollte in dieser Rolle in den kommenden vier Jahren gewaltigen Einfluss haben, und anders als Angela Merkel hatte er einen sehr langfristigen Plan – einen Plan, der in bestimmten Teilen der bürgerlichen Intellektuellen schon seit Jahrzehnten gehegt wurde und für den Schäuble nun Morgenluft witterte.
Es ist faszinierend, dass Schäuble insofern mit Sarkozy und der traditionellen französischen Außenpolitik auf einer Linie lag, als dass er zur Lösung der Krise eine stärkere europäische Integration befürwortete. In der Ausgestaltung dieser verstärkten Integration unterschieden sich seine Vorstellungen wenig überraschend deutlich von den französischen Ideen, aber er hatte einen starken Präzedenzfall vor Augen: Schäuble war nicht nur Zeuge, sondern ein zentraler Akteur in den Maastricht-Verhandlungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gewesen, in denen die Deutschen die Zustimmung zur gemeinsamen Währung gegen die Übernahme der Bundesbankpolitik in die neue EZB tauschten, wozu auch die stringenten Haushaltsrichtlinien – 60% Maximalverschuldung, 3% Neuverschuldung – gehörten, die in der Griechenlandkrise problematisch werden würden, wie wir bald sehen werden.
Ein alternatives Europa, in dem Deutschland entlang dieser Linien – einer Entmachtung der Politik zugunsten dem harschen Urteil der internationalen Finanzmärkte – eine tiefere europäische Integration durchsetzte ist mit Sicherheit eines, das in der Eurokrise eine lange Leidensphase der Austerität durchgemacht hätte, wesentlich härter, als es in der tatsächlichen Krise der Fall war. Aber Schäubles Vorschlag ging nirgendwohin.
Der Grund dafür lag in Angela Merkel. Sie zeigte hier ihre Grundlinie, von der sie die gesamte Eurokrise nicht abrücken würde und die letztlich einen Großteil ihrer Kanzlerschaft bestimmt hatte: nur keine großen Änderungen. Merkel hatte gerade erst den schwierigen Lissabon-Vertragsprozess zur Verabschiedung des Vertrags in allen 27 Mitgliedsstaaten zu Ende gebracht. Das letzte, was sie wollte, war, das komplexe Vertragswerk erneut aufzuschnüren und Revisionen des Vertrags zu verhandeln. Ihre Maßgabe war, dass die Krise im bestehenden System gelöst werden müsste. Es kam also nicht zur Verschärfung der Regeln, wie Schäuble sie wünschte, oder zur Änderung der Richtung, wie sie etwa Sarkozy forderte. Stattdessen schallte aus Berlin ein entschlossenes „Weiter so“.
Es zeigte sich hier ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der deutschen Krisenpolitik, die effektiv die europäische werden sollte, und der angelsächsischen. Wo es London und Washington darum ging, möglicht schnell die Krise abzufedern und zur Tagesordnung zurückzukehren – die Rezession v-förmig zu gestalten und einen raschen Aufschwung herzustellen – hatte die deutsche Politik einen wesentlich größeren Bezugsrahmen. Akteure wie Wolfgang Schäuble oder Jens Weidmann, die effektiv die Große Koalition zumindest im Finanzbereich im schwarz-gelben Kabinett fortführten, dachten im Horizont eines Jahrzehnts. Für sie war die Krise nicht ein kurzfristiger Einbruch ins business as usual, sondern ein Symptom tiefgreifender Ungleichgewichte in Europa, die es auszumerzen galt.
Die Analyse war im Endeffekt dieselbe, wie sie bereits die europäischen Regierungen zur Weltwirtschaftskrise umgetrieben hatte. Die europäischen Lohnstückkosten waren zu hoch, europäische Produkte auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Im deutschen Narrativ hatte man selbst das Problem durch die Agenda2010 und die Hartz-Reformen überwunden. Dieselben Kürzungen musste Europa nun auf breiter Ebene durchführen; die gesamte EU sollte Deutschland nachmachen und auf Export in die restliche Weltwirtschaft setzen. Es war eine typisch deutsche Politik, und für Berlin bestand hier nicht nur die Chance, sondern auch die Pflicht, den Rest Europas am deutschen Wesen genesen zu lassen.
Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, diese Politik rein als Austerität zu beschreiben. Auch andere deutsche Kriseninstrumente wurden auf ganz Europa ausgerollt, am prominentesten das Kurzarbeitergeld. Dadurch sollten scharfe Anstiege der Arbeitslosenzahlen vermieden und die direkten Krisenfolgen so abgefedert werden, dass möglichst viele Menschen in Lohn und Arbeit blieben. Die Resultate waren insgesamt überzeugend; die Arbeitslosenzahlen erreichten nie die Höhe, wie sie sie etwa in Großbritannien und den USA erreichten. Viel Elend konnte auf diese Art vermieden werden. Der starke Sozialstaat, wie er besonders in Deutschland, aber eigentlich in ganz Westeuropa etabliert war, ist geradezu die Grundlage und Voraussetzung für die deutsche Strategie. Diese europaweite Fokussierung auf Kurzarbeitergeld als Krisenbewältigung trug merkliche Früchte in der Covid-Pandemie 2020/21.
Doch galt dies genauso für die Swap-Lines nicht für alle europäischen Staaten. Denn eine gemeinsame Finanzierung oder gemeinsame Haftung gab es explizit nicht. Stattdessen bestand Deutschland darauf, dass alle Euro-Staaten sich weiterhin an den Kapitalmärkten refinanzierten. Es war die Peitsche dieser Politik: Wer von den Finanzmärkten als zu schwach gesehen wurde, konnte sich nicht refinanzieren; als einziger Ausweg blieb Austerität. Griechenland sollte bald schmerzlich erfahren, was das bedeutete.
Die korrupte christdemokratische Regierung (ND) wurde 2009 von einer nicht minder korrupten sozialdemokratischen Regierung (Pasok) abgelöst, die 2012 wiederum von der ND ersetzt wurde. Keine der beiden Volksparteien war in der Lage, die traditionellen griechischen Klientelnetzwerke zu durchbrechen, die für eine Reform notwendig gewesen wären – egal in welche Richtung. Das führte 2012 zur Implosion der Pasok – eine Entwicklung praktisch aller sozialdemokratischer Parteien in der verdrängten Dekade. Stattdessen stieg die linkspopulistische Syriza auf, die 2015 schließlich an die Regierung gelangte. Ihre harsche Kritik der Europolitik versprach einen alternativen Weg, wie er vor allem durch den auffälligen Finanzminister Yannis Varoufakis verkörpert wurde.
Die Griechen rannten dabei jedoch beständig gegen die Mauern der europäischen Realpolitik. Denn Athen war isoliert. Obwohl Spanien, Italien, Irland und Portugal sehr ähnliche Probleme hatten und Frankreich, in dem seit 2012 der sozialdemokratische Francois Hollande regierte und einen wesentlich konfrontativeren Kurs gegenüber Berlin zu fahren versuchte, der Haltung Syrizas grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstand, war gegen die deutsche Blockadehaltung nichts zu machen.
Diese Blockadehaltung genoss in Deutschland umfassende Unterstützung. Keine der vier etablierten Parteien besaß irgendwelche Sympathien gegenüber Syriza; einzig die LINKE war glühender Fan, was sie jedoch außenpolitisch nur einmal mehr ins Abseits stellte. Doch abgesehen von der Überzeugung, dass es keine Vergemeinschaftung der europäischen Schulden oder gar Wirtschaftshilfen an Athen geben sollte, gab es wenig Einigkeit, weder im Bundestag im Allgemeinen noch in der Koalition im Speziellen.
Wolfgang Schäuble, der rechte Flügel der CDU und die FDP waren dafür, Griechenland pleitegehen zu lassen. Ihre gesamte Politik war darauf fokussiert, das Land aus dem Euro hinauszudrängen. Auf eine merkwürdige Art waren Schäuble und sein Intimfeind Varoufakis in dieser Beziehung wie siamesische Zwillinge, denn auch Varoufakis legte es auf den Austritt Griechenlands aus der Eurozone an (was dann ja auch zu seinem Ausscheiden aus der Syriza-Regierung führte, die zu diesem Schritt genauso wenig bereit war wie Angela Merkel). Wo sich die deutschen Konservativen und Ordoliberalen die Umsetzung ihres langfristigen Plans erhofften, glaubte Varoufakis an die Wiedergewinnung der griechischen Souveränität.
Hierfür gab es mehrere verschiedene Ansätze.Varoufakis versuchte zuerst, Unterstützung in den USA zu gewinnen. Diese wünschten nichts sehnlicher, als dass die EU eine Art Marshallplan für Griechenland auflegte, aber das Weiße Haus gab unmissverständlich zu verstehen, dass man sich in dieser Sache nicht gegen den Verbündeten Deutschland stellen würde. Hier war keine Hilfe zu erwarten. Varoufakis versuchte es dann an anderer Stelle. Mit Tsipras‘ Rückendeckung versuchte er, Kredite in Russland und China zu bekommen und die Drohkulisse eines sich in die Nähe dieser Länder orientierenden Griechenlands aufzubauen. Überraschend erhielt er auch hier Abfuhren: Beijing und Moskau erklärten den Syriza-Politikern, dass sie Griechenland als in der deutschen Interessenssphäre liegend betrachteten und sich nicht einzumischen gedachten.
Für Griechenland musste diese Nachricht als ein Schock gekommen sein. Sie waren Berlin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gab nur noch eine Möglichkeit, und Varoufakis drängte Tsipras, sie zu nutzen: sich die Waffe an den Kopf zu halten und zu drohen, abzudrücken. Die Idee war, dass die Troika nicht in der Lage sein würde, einen unilateralen Schuldenschnitt durch die griechische Regierung und unkontrollierten Austritt aus dem Euroraum zuzulassen und verhandeln müsse (eine Illusion, der sich nur ein Jahr später auch die Briten hingeben sollten). Doch gerade die Troika hatte dafür gesorgt, dass diese Drohung ein stumpfes Schwert war.
Die USA hatten Griechenland nicht vollständig aufgegeben. Die Obama-Regierung erzwang nämlich im Verbund mit Frankreich und anderen Gegnern der deutschen Politik eine Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IMF), der ein Drittel der berühmt-berüchtigten Troika bildete. Es war das erste Mal, dass der IMF in Europa aktiv wurde. Bislang hatte die Institution die Zuständigkeit gehabt, Entwicklungsländer auf den Washington Consensus zu pressen und für westliche Kapitalgeber attraktiv zu machen (mit, sagen wir, gemischtem Erfolg). Nun wurde er benutzt, um die deutsche Politik zu konterkarieren und eine Pleite Griechenlands zu verhindern. Man sollte das nicht auf irgendeine aufgeklärte Haltung jenseits des Atlantiks schieben wollen. Das letzte, was die Obama-Regierung wollte, war eine von Europa ausgehende Welle von Bankenpleiten, die die gerade erst stabilisierten US-Banken mit sich riss – eine Haltung, die den Deutschen herzlich egal war.
Doch die Troika-Politik hatte zumindest einen Effekt gehabt: über die Jahre der christdemokratischen ND-Regierung waren tranchenweise, Notkredit für Notkredit, die griechischen Schulden aus dem privaten in den staatlichen Sektor gewandert. Als Syriza 2015 an die Macht kam, waren die toxischen griechischen Papiere weitgehend nicht mehr in den Bilanzen der großen Player wie der Deutschen Bank, die sich hier verzockt hatten, sondern in den Bilanzen der EZB. Das öffnete zwar theoretisch die Tür zu einer politischen Lösung; praktisch aber hielt die deutsche Blockadehaltung diese geschlossen. Tsipras weigerte sich, Varoufakis‘ Vabanquespiel zu unterstützen und akzeptierte stattdessen das Ultimatum der EU. Seither leidet Griechenland zwar weiter und ist von einer Gesundung immer noch weit entfernt – eine Krisengefahr geht von dem Land nicht mehr aus, an dem ein Exempel statuiert wurde.
Doch auch Schäuble und die FDP konnten ihre Ziele nicht umsetzen. Ihr Plan war gewesen, das Exempel Griechenlands als Brechstange zu benutzen, um den neoliberalen Traum der Entkopplung von Politik und (Finanz-)Wirtschaft umzusetzen. Doch weder war Merkel bereit gewesen, die europäische Krisenpolitik zugunsten einer größeren Einheit der Wirtschaftspolitik zu ändern, noch war sie bereit, die radikalen Wünsche der CDU-Konservativen und FDP mitzutragen.
Dies führte zu der merkwürdigen innenpolitischen Situation, dass Merkel für ihre Krisenpolitik ab 2012 im Bundestag keine eigene Mehrheit besaß. Konnte sie 2010/2011 mit nationalistischen Tönen (besonders ekelhaft im Wahlkampf Nordrhein-Westfalen, der wie kaum etwas anderes die Linien ihrer Griechenlandpolitik bestimmte) und Appellen zur Einheit noch eine „Kanzlermehrheit“ erzwingen, brauchte sie im späteren Teil des Kabinetts die Stimmen der eigentlich oppositionellen SPD, um überhaupt noch Außenpolitik betreiben zu können. Da die SPD hierzu bereit war – ebenso wie weite Teile der schwarz-gelben Koalition – war es möglich, eine große Kontinuität der bisherigen deutschen Krisenpolitik zu wahren. Für die FDP wirkte sich das fatal aus. Sie musste als Regierungspartei eine ungeliebte Politik mittragen, was sie – wie wir im nächsten Teil ausführlicher betrachten werden – 2013 aus dem Bundestag fegte.
Es sei in diesem Zusammenhang übrigens erwähnt, dass ausgerechnet die britische Regierung eine dritte Reformoption für die EU – neben der französischen und Schäuble’schen – auf den Tisch legte, als Premier David Cameron 2015 einen umfassenden Reformkatalog vorschlug, der die EU deutlich in eine Richtung Freihandelszone geschoben hätte. Es war ein schlecht vorbereiteter und wenig durchdachter Versuch Camerons, innenpolitischen Rückenwind zu gewinnen, der zudem gegen Merkels Abneigung einer Grundsatzreform ohnehin keine Chance hatte. Wie Schäubles eigene Vorstellungen gehört es aber zu den faszinierenden „Was wäre wenn“ der Eurokrise, sich eine Reformbewegung unter britischer Führung vorzustellen.
Die von Berlin ausgehende Stasis, die eine Neuauflage der „Eurosklerose“-Krise der 1970er und 1980er Jahre brachte, als bereits einmal die Entscheidungsmechanismen der Union gelähmt waren und erst ein deutsch-französisches Rapprochement den Durchbruch brachte (und der Zusammenbruch des Ostblocks), erstreckte sich nicht nur auf die Europolitik. Die bis heute anhaltende Handlungsunfähigkeit der Union zeigte sich auch in anderen Bereichen.
Einer davon war Libyen, das wir bereits in anderem Zusammenhang gesehen haben. Es ist augenfällig für die Schwäche der europäischen Außenpolitik, dass es hier nicht einmal den Versuch gab, eine gemeinsame Lösung zu finden. Stattdessen entschied sich Deutschland aus innenpolitischen Motiven zu der taktlosen Enthaltung im Sicherheitsrat und fiel seinen Verbündeten Großbritannien und Frankreich (und den USA) in den Rücken, ohne dass klar war, welche Strategie hier eigentlich verfolgt werden sollte – wohl, weil es keine gab.
Doch nicht nur Libyen zeigte eine Konfusion und Ziellosigkeit der europäischen Außenpolitik. Mangelnde Globalpolitik zeigt sich überall, besonders aber in Afrika und Osteuropa. So entschloss sich Deutschland zur Teilnahme an einer Mission in Mali, die keinerlei sinnvoll erreichbare strategischen Ziele besaß. Im Resultat sitzen Bundeswehrsoldaten heute noch in Mali in ihren Camps, während um sie herum mittlerweile zwei Putsche stattgefunden haben und die eigentliche raison d’etre der Ausbildung der malischen Streitkräfte seit mittlerweile fast zwei Jahren ausgesetzt ist.
Ein noch viel größerer Sumpf stellt das Engagement in Afghanistan dar, wo die Missionsparameter 2004 – direkt zu Beginn der verdrängten Dekade – von der Bekämpfung der Taliban aufs Nation Building verschoben wurden, ohne klare Ziele oder auch nur annähernd angemessene Mittel. Die EU-Mächte begaben sich ziellos in unendliche Konflikte, die irgendwelchen äußeren Einflüssen entsprangen – Attacken auf transatlantische Verbündete hier, politische Interessenverteidigung in Frankreichs ehemaligen Kolonien dort.
Am augenscheinlichsten aber war das Versagen der EU in der Ukraine. In ihrer Selbstwahrnehmung und Außendarstellung betont die EU gerne, dass sie keine Geopolitik betreibe. Das ist allerdings nicht korrekt. Ihre Geopolitik ist nur furchtbar unkoordiniert und undurchdacht. Nirgendwo wurde das so deutlich wie in dem halsstarrigen Bestreben, die Ukraine in ein Assoziierungsabkommen zu bewegen.
Es war von Anfang an völlig klar, dass das Land keine Aufnahmeperspektive besaß. Die proklamierte Unvereinbarkeit mit der Mitgliedschaft in Russlands „Eurasischer Wirtschaftsunion“ hatte so nicht wirklich eine realpolitische Grundlage. Andererseits hatte aber anscheinend auch niemand in Brüssel – oder einer der anderen Hauptstädte – einen Gedanken darüber verschwendet, was geschehen würde, wenn man diese Entscheidung erzwang.
Man sieht diese strategische Ziellosigkeit bereits in der geradezu grausamen Unbedarftheit, mit der die Ukraine behandelt wurde. In der Finanzkrise war das Land, abgeschnitten von Finanzströmen und nicht unbedingt ob seiner krisen- und weltmarktstauglichen Wirtschaft gerühmt, bereits schwer gebeutelt worden. In den 2010er Jahren warben nun Russland und die EU um die Ukraine, die sich schließlich nach dem Euromaidan für die EU entschied.
Doch ähnlich wie in Griechenland sollte es ein rüdes Erwachen geben. Bis heute weigern sich die EU-Länder, die Ukraine mit Waffen zu beliefern (man darf sicher sein, dass Russland gegenüber der Unterstützung der Separatisten keine solchen Skrupel hat). Aber auch im weniger der öffentlichen Debatte unterworfenen Finanzbereich zeigte sich die EU knausrig. Das Versprechen von Hilfen und ökonomischer Integration, dass die ukrainischen Führungspersönlichkeiten ihrem Volk gemacht hatten und auf das man illusionäre Hoffnungen gelegt hatte, zerstieb mit dem ersten konkreten Hilfsplan der EU.
Die angebotenen Kredite für die Ukraine bewegten sich im niedrigen einstelligen Milliardenbereich und umfassten nicht einmal ein Zehntel der Summe, die das Land brauchte. Es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel, und es kam wie üblich mit einer Reihe drakonischer Reformforderungen – Forderungen, die die kleptokratische Elite des Landes nicht berührten – die ihre Milliarden längst außer Landes geschafft hatte, in sichere Finanzhäfen in der EU – aber dafür die Bevölkerung, die nun offiziell von der EU geforderte Einschnitte in ihren ohnehin geringen Lebensstandard ertragen sollte und sich dazu das den Griechen bestens vertraute Lied anhören durfte, dass sie über ihre Verhältnisse gelebt hätten und wettbewerbsfähig werden müssten. Was in Griechenland zumindest noch debattierfähig war, war angesichts des Zustands der Ukraine geradezu lächerlich.
Natürlich gibt es keine Verpflichtung der EU, Stützkredite – die ohnehin nie zurückbezahlt werden, was allen Beteiligten klar ist – an ein Land zu vergeben, das von einer kleptokratischen Elite heruntergewirtschaftet und in einem Bürgerkrieg mit starker russischer Beteiligung gefangen ist. Nur sollte man solche Entscheidungen vielleicht treffen, bevor man aggressiv mit exakt solchen Krediten wirbt und versucht, die von Russland als seinen Hinterhof betrachtete osteuropäische Peripherie in die EU zu locken.
Es ist diese strategische Ziellosigkeit, gepaart mit den starken Beharrungskräften, die die EU in der verdrängten Dekade auszeichnet. Am Ende waren sie alle unzufrieden. Die Konservativen und Liberalen beklagten die Reformen wie den ESM, die Deutschland widerstrebend durch Sachzwänge aufoktroyiert worden waren, während für die solcherart beglückten Empfängernationen das ganze liberale europäische System als blanker Hohn erscheinen musste. Die Folge war eine Entwicklung, die zu Beginn der verdrängten Dekade wohl noch niemand auf dem Radar hatte. Anstatt einer Bedrohung durch die lang befürchtete Revolution von links kam der Aufstand von rechts.
Teil 6: Die Nationalisten
Selbstverständlich war dieser politische Richtungswechsel nicht.
Als in Deutschland 2004 eine Protestwelle gegen die Agenda2010 losbrach, war es die radikale Linke, die davon profitierte. Die PDS, bis dahin eine ostdeutsche Regionalpartei, die 14 Jahre lang vergeblich versucht hatte, einen Fuß in die Tür westdeutscher Wählerschaften zu bekommen, setzte sich geschickt an die Spitze der Bewegung und kooptierte die disparaten westlichen Protestgruppen (was durch Lafontaines Entscheidung, seine eigenen nicht unerheblichen politischen Talente zur Einigung dieser disparaten Strömungen einzusetzen, stark erleichtert wurde). In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre war die LINKE ein permanenter Stachel im Fleisch der etablierten Parteien, trieb sie vor sich her und war der Schrecken des Establishments. Die Befürchtung von „sozialen Unruhen“ wurde in den Leitmedien debattiert und fand ihren Weg in Interviews, Reden und Talkshowauftritte von Spitzenpolitiker*innen.
Die beginnende Finanzkrise ab 2008/2009 gab den Linken, ohnehin durch den Um- und Abbau des Sozialstaats im Aufschwung, dann scheinbar neuen Rückwind. Doch etwas Merkwürdiges geschah: nichts. In Deutschland war es das Gespann Merkel-Steinbrück, das den deutschen Teil der Finanzkrise abwickelte; die außenpolitischen Folgen beschäftigten dann die Nachfolgeregierung, die von den bürgerlichen Parteien gebildet wurde – mit einem Rekordergebnis für die FDP, die Partei, die am stärksten mit der den Agenda-Reformen zugrundeliegenden Geisteshaltung identifiziert war. Eine verbreitetes Interesse an der linken Revolution war jedenfalls nicht erkennbar; die LINKE erreichte zwar fast 12%, aber sie verlor ihr oppositionelles Alleinstellungsmerkmal. Bereits 2013 war sie praktisch auf demselben Stand wie 2005, während Angela Merkel ein triumphales Ergebnis für die CDU einfuhr und die absolute Mehrheit nur um Haaresbreite verfehlte.
Auch in anderen Nationen sah es nicht anders aus. In Italien übernahm eine Technokratenregierung die Macht. Das langsam rollende Dauerdesaster in Griechenland wurde von einem Wechselspiel der beiden klassischen sozial- und christdemokratischen Parteien verwaltet. In Spanien und Portugal bot sich das gleiche Bild. In Frankreich siegte 2007 der konservative Hardliner Sarkozy über die progressive Herausforderin Royal. In Großbritannien wurde die amtierende Labour-Regierung 2010 von den Tories (in Koalition mit den Liberalen) abgelöst. Klassisch liberale Politiker regierten in Polen und Ungarn. Kurzum: in den Jahren der beginnenden Finanzkrise waren es gerade die Vertreter*innen des liberalen Projekts, die die Zügel in der Hand behielten.
Während sich diese Lage in Deutschland nicht änderte – auf die Erschütterung des Parteiensystems durch den Aufstieg der AfD kommen wir noch zu sprechen – war der Rest Europas wesentlich stärker von den Stürmen des Antiliberalismus betroffen. Das muss nicht überraschen, denn Deutschland überstand die Krise wesentlich unproblematischer als viele seiner Nachbarn – unter anderem, weil die Struktur der Europäischen Union und der Eurozone seine Aufstellung stark begünstigten – begann im Rest Europas das Gefüge deutlich zu wacken.
Der Grund dafür liegt in den politischen Kosten der Finanzkrise. Diese gestalteten sich je nach Land unterschiedlich.
Gerade in den Staaten Südeuropas waren die Auswirkungen besonders stark spürbar. Die etablierten Parteien waren gezwungen, radikale Austeritätsprogramme aufzulegen, mit all den schwerwiegenden Folgen, die das für die Menschen hatte. In praktisch all diesen Ländern führten diese Programme zu einer Erosion der bestehenden Parteiensysteme. Am härtesten getroffen waren die „klassischen“ Linksparteien, die praktisch überall massiv an Zustimmung verloren. Dieser Prozess ging nicht von heute auf morgen, sondern fand mit Verzögerung statt. An ihre Stelle traten populistische Parteien, von Syriza in Griechenland über Podemos in Spanien zu M5S in Italien. Nicht immer handelte es sich um linkspopulistische Parteien.
In anderen Ländern kam die Herausforderung von links innerparteilich. In Großbritannien war dieser Aufstand sogar erfolgreich; 2015 übernahm Jeremy Corbyn in der Labour-Partei das Ruder, eine weite Unzufriedenheit in der Partei gegen den „New Labour“-Konsens von Blair und Brown signalisierend. In den USA erwies sich Bernie Sanders als unerwartet schwerwiegende Herausforderung.
Die Erfolgsbilanz dieser linken Aufstände gegen die Verantwortlichen der Finanzkrise und die Austeritätspolitik ist bestenfalls durchmischt. Syriza scheiterte krachend an den machtpolitischen Realitäten, wie wir bereits dargestellt haben. M5S wandelte sich mehrfach und beteiligte sich auch an der Regierung. Melenchon scheiterte 2017 im Vierkampf gegen Fillon, Macron und Le Pen. Die größten Erfolge erzielten sie in Spanien und Portugal, doch selbst hier ist ihr Halt an der Macht bestenfalls brüchig.
Doch in allen Nationen wesentlich nachhaltiger und erfolgreich war die gleichzeitige Herausforderung von rechts. Berlusconi fand seinen Weg zurück an die Macht. Le Pen geriet zur formidablen Herausforderin der Demokratie in Frankreich. UKIP begann in Großbritannien zu wachsen. In den USA war es nicht das kurzlebige und wenig ernstzunehmende Occupy Wallstreet, sondern die Tea Party, die sich als populistisches Sammelbecken inszenierte. Und die größten Erfolge verzeichneten die Rechtspopulisten in Osteuropa, wo die autoritäre Fidesz-Partei unter Orban 2010 und die ebenso autoritäre PiS unter Kaczinsky 2005 bis 2007 und dann wieder ab 2015 die Regierung übernahm. In Großbritannien gewann UKIP zwar nicht die Wahlen, aber das Votum zum Brexit, und in den USA errang mit Donald Trump der letzte große Rechtspopulist eine Wahl, die gleichzeitig als eine Art Weckruf der liberalen Demokratie fungierte – bezeichnenderweise hat seither kein weiterer solcher Umschwung stattgefunden.
Die größten Erfolge dieser rechtspopulistischen Aufstandswelle erforderten den Doppelschlag der langen Erosion durch die Finanzkrise – die heute praktisch verdrängt ist – und der Flüchtlingskrise 2015, für die das sehr emphatisch nicht gilt.
Die Katalsystorwirkung der Flüchtlingskrise für den Aufstieg der Rechtspopulist*innen dürfte unbestreitbar sein. Die Brexit-Kampagne hat sie massiv zur Schürung irrationaler Ängste genutzt, Trump versprach keine Syrer*innen ins Land zu lassen, Le Pen drosch politisches Heu mit der Beschwörung der ins Land drängenden Horden, die Goldene Morgenröte und die Lega Nord konnten bereits auf eine längere Erfahrung mit Flüchtlingen zurückblicken: spätestens seit 2011/12 hatten sie um Hilfe gerufen.
Und das ist, wo die Lage kompliziert wird. Denn die Ressentiments, auf denen diese Erfolge erzielt wurden, haben tiefere Wurzeln als die Flüchtlingskrise. Sie reichen bis weit in die Anfänge der verdrängten Dekade zurück. Gerade für die südeuropäischen Länder ist die Flüchtlingskrise kein Phänomen vom 2015. Sie hatten bereits Jahre zuvor mit tausenden von Neuankömmlingen an ihren Stränden zu kämpfen. Ihre Hilferufe an die EU stießen auf taube Ohren. Angeführt von Deutschland stellten sich die nördlichen und östlichen Länder auf die Dublin-Konvention, nach deren Buchstaben sie jede Verantwortung von sich weisen konnten. Das war natürlich formal korrekt, aber schaffte über Jahre massive Ressentiments gegenüber dem liberalen Regime der EU.
Dieses Ressentiment kam zu dem bereits vorhandenen aus der Eurokrise hinzu, als die süd- und osteuropäischen Volkswirtschaften hart getroffen wurden und vorrangig aus Berlin moralisierend-überhebliche Ratschläge und Überlegenheitsbekundungen kamen.
Und das war, ungeachtet der wirtschaftlichen Lage – ich möchte an dieser Stelle überhaupt nicht in die Debatte gehen, wie sinnvoll die deutsche Haltung aus der nationalistischen Brille heraus war – für die Außenwirkung verheerend. Nicht nur kommunizierte die deutsche Regierung unmissverständlich, dass sie bestimmte Länder aus dem Euroraum drängen wollte, sie weigerte sich auch, überhaupt ihre eigene Rolle in dem Drama anzuerkennen und gab stattdessen die Schuld den betroffenen Nationen, denen sie moralisierende Vorwürfe machte. Nicht, dass es den Nationalstaaten je schwer gefallen wäre, für innenpolitische Probleme die EU verantwortlich zu machen, aber die deutsche Haltung servierte den Populisten die Vorlage auf dem Silbertablett.
Wir sehen diese Dynamik am deutlichsten nicht in Griechenland, wo die größte Überraschung eigentlich ist, wie lange die etablierten Parteien sich halten und eine Erfüllungspolitik gegenüber der EU durchziehen konnten, sondern in Ungarn. Budapest ist der Ground Zero des Aufstands von rechts, und nichts davon hat mit Flüchtlingen zu tun, sondern mit der Finanzkrise.
Der Grund dafür liegt in der Struktur des ungarischen Wohlfahrtsstaats. In den 1990er Jahren waren Polen, Tschechien und mit Abstrichen auch Ungarn unter den großen ehemaligen Ostblockstaaten die Musterknaben der neoliberalen Reformära gewesen. Anders als die DDR, deren Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion sowohl Regelwerk als auch Sozialstaat des westlichen Nachbarn übernahm und wegen der furchtbaren Lage der Industriesubstanz nicht wettbewerbsfähig war (mit den bekannten Folgen), was durch die großzügige Milliardentransfers des „Aufbau Ost“ ausgeglichen wurde, konnten sich die osteuropäischen Staaten nicht auf Hilfen von außen verlassen. Ihre nicht minder verrottete Industrie konnte nicht durch eine Treuhand abgewickelt werden, der Absturz für die Bevölkerung nicht durch ein großzügiges Sozialsystem aufgefangen werden. Der „system shock“ kam abrupt und schmerzhaft für alle außer einer kleinen Elite Gewinner.
Der Vorteil dieses abrupten Systemwechsels aber war, dass Ende der 1990er Jahre die Wachstumszahlen steil nach oben zeigten (während Ostdeutschland einer der entscheidenden Faktoren für Deutschlands Dauermalaise war). Osteuropa war wegen seiner geringen Regulierungsdichte, kaum vorhandenen Arbeitsschutzgesetze und niedrigen Löhne für Investoren attraktiv. Die vergleichsweise geringen sozialstaatlichen Sicherungen, die diese neuen liberalen Regime installierten, waren demzufolge auf maximale Marktnähe strukturiert: so wurde etwa das Rentensystem durch an den Kapitalmärkten aktive Rentenfonds aufgebaut.
In der Finanzkrise gerieten diese Fonds in schweres Fahrwasser. In Ungarn sahen sich 2009/10 Millionen Menschen vom völligen Verlust ihrer Alterssicherung bedroht. Auf diese existenzielle Krise hatten die Liberalen keine befriedigende Antwort; ihr Mantra war dasselbe wie in den Staaten Südeuropas auch: es kommen harte Zeiten, wir müssen den Gürtel enger schnallen, aber irgendwann wird es wieder besser. Inspirierend war das nicht. Aber mit Fidesz stand eine Alternative bereit.
Das Versprechen Orbans war eine Absicherung der Bevölkerung. In seiner Erzählung war das Problem nicht, dass die Rentenfonds kapitalistisch waren (was die klassisch linke Kritik war), sondern dass die ausländisch waren. Orban verstand sich darauf, nationalistische, rassistische und antisemitische Ressentiments in eine respektable Hülle zu kleiden und damit durchschlagend die Wahlen zu gewinnen. Seine Grundbotschaft 2010 war dieselbe, die 2016 auch in Großbritannien und den USA widerhallen sollte: „Let’s take back control.“
Orban sollte in der Flüchtlingskrise zu einem der zentralen Gegenspieler Merkels werden. Seine Politik war von Anfang an eine klare Alternative zu der der liberalen EU, von der Betonung eines globalen, verflochtenen Finanzhandels (den er ablehnte und dämonisierte) zur freien Bewegung von Menschen über Grenzen (deren Dämonisierung keiner besonderen zusätzlichen Anstrengung bedurfte). Eine solche Alternative fehlte in vielen europäischen Ländern. Es ist daher wenig überraschend, dass Akteure in dieses politische Vakuum stießen.
In Deutschland war dies die AfD. Gegründet 2013 war bereits der Name eine Kampfansage gegen den liberalen Konsens, der sich in Merkels Diktum von der „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik widerspiegelte. Es ist heute kaum mehr zu glauben, aber die AfD gründete sich als eine Anti-Euro-Partei, rebellierte gegen die Europäische Union. Doch wo etwa die südeuropäischen populistischen Parteien gegen das „Diktat“ der EU und ihre eigene Machtlosigkeit gegenüber der oktroyierten Austeritätspolitik anrannten, attackierte die AfD von der anderen Seite: die Befürchtung war nicht, dass die EU Deutschland ein Austeritätsprogramm aufzwingt; die Befürchtung war, dass die EU Deutschland die Kosten der Vermeidung eines solchen Programms bei anderen aufbürdet.
Die Wurzel des Erfolgs der AfD lag aber nicht nur im Aufstand gegen den Euro. Es ist etwas widersinnig, wenn man bedenkt, wer die Partei gegründet hat und was ihr Programm war – ich habe das seinerzeit analysiert – aber auch hier waren die Schockwirkungen der Finanzkrise nicht zu vernachlässigen. Diese These wird etwas klarer, wenn man den Vergleich mit dem zuvor erfolgten Aufstieg der Tea Party in den USA vergleicht.
Die Tea Party entstand aus einer radikalen Ablehnung des liberalen Konsens‘ 2009/10 und war ebenso wie Orbans Fidesz und später die AfD, UKIP oder Le Pen wesentlich besser in der Lage, die entsprechenden Stimmungen aufzufangen als die Linkspopulisten (erneut, die Lage ist in Südeuropa eine andere). Auch wenn sehr schnell rassistische Strömungen überhand nehmen und die Bewegung transformieren sollten – auch hier eine deutliche Parallele zur AfD – so lagen ihre Ursrpünge doch in der Unzufriedenheit über den liberalen Konsens in der Finanzkrise.
Das wird am amerikanischen Beispiel besonders deutlich, weil die Kosten der Bankenrettung über das TARP-System von Anfang an unglaublich unbeliebt waren, bei beiden Parteien. Der Obama-Regierung war dies auch klar, sie betrachtete ihr Handeln nur als alternativlos. Aber wo die Anhängerschaft der Democrats zu einem kleinen Teil die Politik von links zu radikalerem Handeln anzutreiben versuchte – Occupy Wallstreet – und zum größten Teil ihren Frieden mit der Politik ihrer Regierung machte, fehlte der Anhängerschaft der Republicans der Trost, dass die ungeliebte Politik wenigstens von einem eigenen, beliebten Präsidenten durchgeführt wurde. Ihr Protest war genauso unorganisiert und klein wie der von Occupy Wallstreet, aber im Gegensatz zu ihrem linken Pendant besaßen sie mächtige Verbündete: die Koch Brothers steckten Milliarden in den Ausbau der Tea Party und versammelten diese mit dem wohl erfolgreichsten Astroturfing der Geschichte zu einer schlagkräftigen politischen Macht, die am Ende der Kontrolle ihrer Schöpfer entgleiten und sich in Rekordgeschwindigkeit radikalisieren sollte.
Auch in Deutschland hielt der Versuch, eine Protestbewegung unter dem Banner GRÖSSERER sozialer Einschnitte, Privatisierung und Deregulierung zu versammeln, nicht lange an. Innerhalb kürzester Zeit stellten sich Nationalismus und Rassismus als wesentlich tragfähigere Basis heraus, dieseits wie jenseits des Atlantiks. Der fruchtbare Boden, der hier vorbereitet wurde, wurde dann von der Flüchtlingskrise ab 2015 erfolgreich bestellt.
All diese populistischen Bewegungen, die zwischen 2010 und 2016/17 ihren Höhepunkt erreichten, war gemein, dass sie sich als Aufständische gegen das liberale Projekt inszenierten. Es gehört zu den großen Ironien, dass gerade die linken Parteien eng mit diesem Projekt identifiziert waren. Ob New Labour oder Schröders SPD, ob Clinton oder Obama, Pasok oder PSOE, ob PO oder Parti Socialiste, sie alle hatten die Deregulierung der Finanzmärkte, den Umbau der Sozialsysteme (meist synonym mit Leistungskürzungen) und die Bildung der zugehörigen, supranationalen Instutionen (mit-)verantwortet. Darin liegt sicherlich einer der größten Gründe für die ausbleibende „linke“ Revolution.
Die allgemeine Unzufriedenheit war jedoch so groß, dass sie ein politisches Vakuum schuf. Da die Linke nicht hineinstieß, nutzte es die Rechte. In manchen Ländern führte das neben der Erosion der Sozialdemokraten auch zu einem Abstieg der Konservativen. Dies war etwa in Großbritannien und den USA der Fall, wo die Tories und Republicans effektiv von den Rechtspopulisten übernommen wurden (während die Übernahmeversuche der Linken gegenüber Labour und den Democrats beide scheiterten). In Ländern wie Frankreich, Polen oder Ungarn gelang es den Rechtspopulisten, die Konservativen zu beerben und als politischen Faktor deutlich zu reduzieren. Doch in vielen Ländern bewiesen die konservativen Parteien eine erstaunliche Beharrungskraft, die ihren linken Konkurrenten völlig abging.
Wir sollten zuletzt die Rolle der Eliten nicht vergessen. Das liberale Projekt, wie es in den 1990er Jahren vorangetrieben worden war und das um 2004 seinen Höhepunkt erreicht hatte, war von einer globalen Elite aufgestezt worden. Global meint hier nicht im Sinne einer weltweiten Verschwörung, wie es der linke und rechte Rand gleichermaßen gerne insinuieren, sondern in ihrer Haltung und Ausrichtung. Quinn Slobodian bezeichnete sie als „Globalisten“, Anhänger einer weltweiten Herrschaft von Regeln und Gesetzen, die Nationalstaaten bewusst entmachtete, um die liberale Agenda zu sichern. Ihre Biographien sind sich zum Verwechseln ähnlich, bis hin zur Arbeit bei Goldman Sachs, die ein geradezu absurd großer Anteil von ihnen in ihrer CV stehen hat.
Genau hiergegen regte sich der Widerstand der Rechtspopulisten. Nur Orban inszenierte sich bewusst als antiliberal, sprach ja von einer „illiberalen Demokratie“, die er in Ungarn errichte, aber inhaltlich waren das Aussagen, die von Gauland über Le Pen zu Salvini, Trump und Farage wohl alle unterschrieben hätten. Die Finanzkrise legte die Grundlage, ohne dass die Ablehnung, Enttäuschung und Frustration über den liberalen Konsens ein Ventil gefunden hätten. Es fehlte gewissermaßen eine Master-Erzählung. Einzig Syriza gelang es, eine solche zu entwickeln, aber sie war zum einen Griechenland-spezifisch – das kleine Hellas, unterdrückt vom übermächtigen Deutschland, das die EU als Waffe nutzte – und zum einen nicht tragfähig, weil sie einen Konflikt heraufbeschwor, der zu einer Auflösung führen musste – einer Auflösung, die Griechenland nicht gewinnen konnte.
Es war die Flüchtlingskrise, die den Rechtspopulisten mit Verschwörungstheorien wie dem „Großen Austausch“ das notwendige narrative Werkzeug an die Hand gab, um die in der Finanzkrise ausgesäten und in der Flüchtlingskrise aufgeblühten Ressentiments zu vereinen und in einen Quell elektoralen Erfolgs zu verschmelzen. Ironischerweise konnten auch die Konservativen – und im Fall Dänemarks selbst die Sozialdemokraten – an diese Erzählung andocken, indem sie gerade die supranationale, den Staat entmachtende Regelwut, die sie in den 1990er und 2000er Jahren mit Verve durchgedrückt hatten, nun plötzlich als Gegner ausmachten. Es ist schon ein wenig heuchlerisch, gerade die CDU sich darüber beklagen zu sehen, dass die EU die nationale Souveränität beeinträchtige, nachdem man die Entmachtung des Staates zugunsten des (liberalen) internationalen Regimes der Finanzmärkte drei Jahrzehnte mit Macht befördert hat. Wirksam allerdings ist es allemal.
Fazit
Ich habe die Zeit zwischen 2004 und 2015/16 als „verdrängte Dekade“ bezeichnet. Ich denke ich konnte klarmachen warum: Die Finanzkrise und ihre Erschütterung sowohl der internationalen Ordnung als auch des weltweiten liberalen Konsens‘ ist gegenüber der frischeren und narrativ eingängigeren, einschneideren Flüchtlingskrise in den Hintergrund geraten. Beide aber bilden ein Amalgam. Ohne die Ereignisse 2005 bis 2014 ist es unmöglich zu verstehen, was seit 2015 geschehen ist und wie es die Welt, in der wir heute leben, prägen – und warum die Demokratie so stark gefährdet ist wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Die Liberalen haben ihre einstige Vormachtstellung verloren. Der Nachfolgekampf tobt erbittert. Die antiliberale Rechte ist die erste Gruppierung, die eine klare neue Ordnungsvorstellung entworfen und als Alternative etabliert hat. Ob es den grünen Parteien gelingen wird, ihre Erfolge der letzten Jahre in eine dauerhafte und kohärnte Vision zu verwandeln, bleibt abzuwarten; bislang sind diese Erfolge zu flüchtig und regional begrenzt. Die Linke hat ihre Bewältigungsprozesse des harten Absturzes seit 2005 noch immer nicht abgeschlossen, aber der Linkspopulismus scheint von der Wählerschaft der meisten Nationen abgelehnt worden zu sein und taugt nicht als Gegenentwurf. Größte Nutznießer dieser Stasis und unsicheren Verhältnisse sind die Konservativen, die in den meisten Ländern einen zwar wenig inspirierenden, aber sicher scheinenden Anker in einer rapide unsicher und unübersichtlich werdenden Welt bieten.
Es ist meine Überzeugung, dass wir in einem Sortierungsprozess stecken, an dessen Ende neue, miteinander wetteifernde Visionen für die Gestaltung der Welt stehen werden. Welche das sein werden, ist aktuell nicht absehbar. Die Hoffnung wäre, dass diese Visionen allesamt demokratisch, rechtsstaatlich und im weitesten Sinne liberal sind. Aktuell aber muss man befürchten, dass es auf einen grundsätzlicheren Kampf zwischen Freiheit und Autoritarismus hinausläuft. Hoffen wir, dass es nicht so kommen wird.
Eine immense Übersichts- und Fleissarbeit, zu der ich den Autoren ausdrücklich beglückwünsche!
Im Grossen und Ganzen teile ich die vorgelegte Bewertung, mit einigen Anmerkungen zu bestimmten Passagen:
Bankenkrise 2008/2009
Es gibt zwei „autoritative“ Bücher von Nobelpreisträgern zu dem Thema, von denen ich eines ausdrücklich empfehle: Joseph Stiglitz „Im freien Fall“ fokussiert sich zum Schaden des Werkes sehr stark auf Banker als Kriminelle, was zur Erhellung wenig beiträgt- Während Roubini/Mihm in „Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft“ die systematischen Ursachen der Krise sehr gut, wenn auch mit Überlängen durch Widerholungen, herausarbeiten. Zum lesen empfohlen.
Was mir bei der Beschreibung der Finanzkrise durch Stefan Sasse etwas aufstösst, ist die unkritische Übernahme des (aus meiner Sicht) Hauptfehlers dieser Krise bzw. der politischen Reaktion darauf: Die scheinbare Alternativlosigkeit der Rettung der Finanzakteure. Ich hätte sie (ja, mit allen vorhersehbaren Folgen) schlicht pleite gehen lassen, notfalls auch im Dutzenderpack. Politisch war nicht, absolut gar nichts, verheerender, als der korrekte Eindruck der Völker auf der Welt, man könne als Angehöriger der Finanzelite jeden denkbaren Mist bauen und würde gegen eines der Grundprinzipien von Marktwirtschaft trotzdem mit Steuergeldern rausgehauen. Das war (und bleibt) ein gigantischer politischer Fehler, der die beiden Grundprinzipien liberaler westlicher Gesellschaften gleichzeitig diskreditierte – Marktwirtschaft UND Demokratie.
Griechenlandkrise:
Mir fehlt, wie bei allen scharfen Kritikern des deutschen Krisenhandlings, die Herausarbeitung einer Alternative. Ich wurde damals aus ZEIT-Foren rausgeschmissen, weil ich Schieritz wegen seines Rumeierns in dieser Frage polemisch scharf anging. Denn die Alternative – auch von Sasse natürlich nicht ausbuchstabiert – war im Kern sehr einfach: Dauerhafter gegenleistungsloser Transfer eines zwqeistellligen Milliardenbetrages an Griechenland zur Aufrechterhaltung eines von seiner Wirtschaftsleistung nicht gedeckten Lebensstandardes aus europäischen, zum Grossteil deutschen, Steuergeldern. Nur dafür trauten sich die Kritiker (verständlicherweise) nicht zu werben.
Scheitern der europäischen Verfassung
Das wird zwar gestreift, aber auch hier war der Schaden für das Ansehen der Demokratie unüberschätzbar hoch: Mit den hastig als Ersatz aufgelegten, im Kern fast deckungsgleichen, Lissabon-Verträgen zeigten die europäischen Regierungen ihren Völkern den Stinkefinger und machten unübersehbar klar, dass sie auch gegen Mehrheitsvoten durchziehen würden, was sie für richtig erachteten. Danke, zur Kenntnis genommen …
Was mich ein wenig wundert, ist die im Artikel für mich implizit enthaltene Überraschung, dass es die Rechte war, die von den Krisen profitierte, und nicht die Linke. Ich fand (und finde) das eher logisch: Die Linke und die Rechte haben (rhetorische!) Übereinstimmungen in ihrer Ablehnung von Globalisierung und Finanzkapitalismus. Danach hat die Linke zwei wesentliche Minuspunkte wettzumachen – ihr (rhetorisches!) Beharren auf internationaler Solidarität und ihre akademische (Eliten-)Sprache. Demgegenüber kann die politische Rechte auf den bei Menschen angeborenen Tribalismus sowie ihre offene Grobheit zurückgreifen, die einen Resonanzboden in der Umwelt von Nichtakademikern findet (man setze sich öfter mal in Kneipen/Strassencafes in gemischten Wohnumgebungen).
Gruss,
Thorsten Haupts
Danke schön! Allerdings klingt Fleißarbeit immer nach einer Beleidigung im Gewad eines Lobs 😉 Vielleicht bin ich da zu sehr Lehrer.
Banker: Rein von meinen Überzeugungen hätte ich die auch gerne bankrott gehen lassen. Aber ich spiele nicht mit dem Schicksal von Milliarden vabanque.
Griechenland: Effektiv brauchen wir einen Länderfinanzausgleich auf EU-Ebene, falls du das meinst.
Verfassung: Ich glaube, du überschätzt die Bedeutung hier. Die meisten Leute dürften sich für das Thema nicht interessieren.
Gewinner: Stimme dir zu.
@ Stefan Sasse 27. Juli 2021, 18:30
Griechenland: Effektiv brauchen wir einen Länderfinanzausgleich auf EU-Ebene, falls du das meinst.
Was m ich an dem Gedanken stört, ist, dass dadurch schlechtes Wirtschaften gefördert wird.
Würde umgekehrt das Ausbleiben für eine bessere Wirtschaft sorgen, wäre ich bei dir. Aber wenn ich Länder anschaue, in denen diese Instrumente weniger stark vorhanden sind – etwa die USA – bin ich sehr skeptisch, dass das hilft. Außerdem müssen wir ja auch unterscheiden zwischen der Qualität der griechischen Wirtschaft – die mWn so schlecht nicht ist – und der Qualität des griechischen Staates, die wir glaube ich nicht diskutieren müssen.
@ Stefan Sasse 28. Juli 2021, 07:17
Würde umgekehrt das Ausbleiben für eine bessere Wirtschaft sorgen, wäre ich bei dir.
In den frühen Jahren der Bundesrepublik hat das damals sehr landwirtschaftlich ausgerichtete Bayern Länderfinanzausgleich erhalten und klug zu Investitionen genutzt; inzwischen ist Bayern größter Zahler. ALLE anderen Bundesländer bzw. Stadtstaaten (allen voran Berlin), die Länderfinanzausgleich erhielten, verkonsumier(t)en ihn.
Solange das Hauptinteresse der PolitikerInnen darin besteht, wiedergewählt zu werden, ist der Weg, Versprechen zu machen und von anderen finanzieren zu lassen, der einfache Weg. Solange schlechtes Wirtschaften damit belohnt wird, dass es noch mehr Geld gibt, ist das der einfache Weg; Bayern wird die herausragende Ausnahme bleiben.
Was wäre in Europa anders?
Wie so oft ehrt Dich Dein Idealismus, aber das reale Leben schert sich nicht drum.
Das spricht ja aber eher FÜR einen Länderfinanzausgleich. Im Übrigen ist dasselbe auch in BaWü passiert. Ich weiß aber nicht wie viel davon auch schlicht das Glück ist, dass hier halt die Industrien angesiedelt waren, die ab den 1950er Jahren die Zukunft gestaltet haben. Wenn BMW und Konsorten irgendwann untergehen, dann werden BaWü und Bayern den Weg von NRW und Niedersachsen gehen. Ich hab darüber schon vor Jahren geschrieben: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjVzbrZm4XyAhXn1uAKHS_5AqcQFjAAegQIBRAD&url=http%3A%2F%2Fwww.deliberationdaily.de%2F2017%2F07%2Ffinis-baden-wuerttembergiae%2F&usg=AOvVaw328uuutC_fUqR9nRXbdhsp
Aber grundsätzlich zum Länderfinanzausgleich: er hat halt auch die Funktion, das Gemeinwesen zu legitimieren und zu stützen. Das sollte man nicht vernachlässigen. Er schafft gemeinsame Interessen und bindet zusammen.
@ Stefan Sasse 28. Juli 2021, 09:14
Aber grundsätzlich zum Länderfinanzausgleich: er hat halt auch die Funktion, das Gemeinwesen zu legitimieren und zu stützen. Das sollte man nicht vernachlässigen. Er schafft gemeinsame Interessen und bindet zusammen.
Du kommst immer wieder von der Seite, dass einer für wen anders zahlen muss, und der zu nichts verpflichtet ist. Damit kann ich mich einfach nicht anfreunden.
Verstehe ich.
Bitte „mein“ Hessen nicht vergessen. Hessen ist das EINZIGE permanente Geberland seit 1949, anders als Bayern^.
Nur als Hinweis, falls jemand dem Irrtum unterliegen sollte, diese Chose hätte was mit den Sozen (die in Hessen langjährig am Ruder waren) bzw. neuerdings Grünens versus Konservative, die angeblich irgendwie besser mit Geld „umgehen“ könnten, zu schaffen.
Zitat:
„ALLE anderen Bundesländer bzw. Stadtstaaten (allen voran Berlin), die Länderfinanzausgleich erhielten, verkonsumier(t)en ihn.“
Etwas schlicht gedacht. Hamburg z.B. war auch i.d.R. langjährig Geber, momentan auch.
Zuzüglich „Bundesergänzungszuweisungen“ und überhaupt die Steuerverteilung ist das Ganze ein hochkomplexer, mehrfach geänderter Salat, den in allen Einzelheiten außer ein paar Fachleuten eh keiner durchschaut. „Politische“ Rückschlüsse geben IMHO nichts her.
@ Dennis 28. Juli 2021, 10:52
Bitte „mein“ Hessen nicht vergessen. Hessen ist das EINZIGE permanente Geberland seit 1949, anders als Bayern^.
Stimmt, war nicht bös gemeint …. Erbarmen …. 🙂
Etwas schlicht gedacht. Hamburg z.B. war auch i.d.R. langjährig Geber, momentan auch.
Wenn, dann aber nur „etwas“ …
Griechenland: Effektiv brauchen wir einen Länderfinanzausgleich auf EU-Ebene, falls du das meinst.
Damit wäre die EU dann auch unter ihren befürwortern tot, fürchte ich. Dafür zu werben wäre – selbst in Deutschland – politischer Selbstmord.
Gruss,
Thorsten Haupts
„Selbst“ in Deutschland? Deutschland ist eines der Länder, die das am schärfsten opponieren. Woher kommt denn immer dieser Mythos, dass Deutschland begeisterter Zahlmeister wäre?
@ Stefan Sasse 28. Juli 2021, 07:17
Woher kommt denn immer dieser Mythos, dass Deutschland
begeisterterZahlmeister wäre?So, jetzt passt’s.
Deutschlands EU-Anteil Anteil liegt bei 22 %; de facto werden es mehr sein. Wenn also Deutschland allein etwa ein Viertel der EU-Kosten trägt – die EU hat immerhin 27 Mitgliedsstaaten, von denen uns einige heftig auf der Nase herumtanzen, dann gibt es keinen Grund für Begeisterung.
Das deutsche BIP ist ja auch entsprechend groß (21%). Was ist denn das für eine Argumentationsweise?
@ Stefan Sasse 28. Juli 2021, 09:16
Das deutsche BIP ist ja auch entsprechend groß (21%). Was ist denn das für eine Argumentationsweise?
Eine logische.
Du steckst einen Schwachen und einen Starken zusammen und verpflichtest den Starken zur Hilfe. Schön für den Schwachen, aber warum sollte das dem Starken stets gefallen?
Den zweiten Aspekt hast Du wie immer ausgeklammert: von denen uns einige heftig auf der Nase herumtanzen
Ich meine, Deutschland dominiert Europa. Es ist nicht so, als wären wir Opfer.
@ Stefan Sasse 28. Juli 2021, 15:58
Ich meine, Deutschland dominiert Europa.
Ja, nee, is‘ klar …
An welcher Stelle?
• Finanzpolitik? EZB agiert für Südeuropa.
• Recht? Bürger, wehrt Euch – dDas EuGH will uns unser Grundgesetz wegnehmen 🙂
• Zukunft der EU? Da fragt man im Zweifelsfalle Macron statt Merkel, oder vielleicht doch Boris Johnson?
• Menschenrechte? Schau nach Osteuropa …
• Nur bei den Flüchtlingen konntenwir uns durchsetzen; die wollten wir, und die macht uns keiner streitig.
Rechnen mit relativen Zahlen. Das ist immer ein Problem. Relationen sind dafür da, absolute Zahlen in eine Beziehung zu setzen. Wer nur mit relativen Zahlen rechnet, verliert aber die Beziehungen aus dem Blick. Und verrechnet sich meist.
Du beziehst die relative Zahl Anteil des deutschen BIP am gesamten EU-BIP auf den Beitragsanteil Deutschlands an den Gesamtbeiträgen. Wo ist der Fehler? Du übersiehst, dass mit dem Ausscheiden eines Mitglieds (UK) die absolute Höhe des deutschen Beitrags (wie auch aller anderen) steigt, wenn nicht mit dem Ausscheiden des einen Mitglieds auch die Gesamtausgaben gesenkt werden.
Das ist ja nicht der Fall. Und somit muss Deutschland von seinem BIP deutlich mehr an die EU abgeben, obwohl es nicht reicher geworden ist. Die Belastung steigt. Relativ und absolut.
Siehst Du nicht, weil Du nur nach (relativen) Zahlen malst.
Bezog sich nicht auf die Zahlung an sich, sondern auf den in Deutschland traditionell hohen Anteil an EU-Befürwortern.
Ein europäischer Länderfinanzausgleich würde Deutschlands EU-Beitrag in enorme Höhen treiben, die EU wäre selbst bei Gegenrechnen des Absatzmarktes DANACH sehr wahrscheinlich ein Verlustgeschäft. Und das kriegt mangels einer europäischen Identität niemand verkauft, ein DEXIT wäre die unausweichliche Folge.
Gruss,
Thorsten Haupts
Glaub ich ehrlich gesagt nicht.
Das ist Unsinn. Finnland, Niederlande, Österreich, die baltischen Staaten und Dänemark zählen sie den heftigsten Gegnern der Transferunion.
Also, um DEM Eindruck entgegenzuwirken: Als Faulpelz ist grosser Fleiss für mich ein dickes Kompliment, weil ich mich zu solchen Arbeiten echt überwinden muss.
Gruss,
Thorsten Haupts
Danke 🙂 Für Kontext: Fleißarbeiten sind bei Hausarbeiten, Projekten etc. die reproduzierenden Arbeiten, die keine große Eigenleistung vollbringen, daher war ich da kurz unsicher. 🙂