Churchill regiert mit Biden in Koalition von Junger Union und Ampel und kümmert sich um Maskenbeschaffung – Vermischtes 24.03.2021

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Zum Regieren gezwungen

An dieser Stelle also zurück zur besagten Ampel-Option und der doppelten Zwangslage der Liberalen. In dem nicht ganz unwahrscheinlichen Szenario, dass nach der nächsten Wahl sowohl eine rechnerische Mehrheit für Schwarz-Grün als auch für eben jene Ampel bestünde, wäre die Lage für die FDP weniger komfortabel, als es gerade noch scheint. Denn würde sie sich abermals der Macht verweigern, liefe sie Gefahr, sich selbst auf unbestimmte Zeit die Regierungsfähigkeit abzusprechen. Wer die FDP bislang noch wählte, weil er darauf hoffte, dass sie die eigenen Interessen in der Exekutive vertritt, käme dann vermutlich schwer ins Grübeln. Andererseits: Würde die FDP mit der SPD und den Grünen eine Regierung bilden, liefe sie wiederum Gefahr, jenen rechtsmittigen Teil ihrer Wählerschaft zu verlieren, der gewiss nicht begeistert wäre, wenn der Eindruck entstünde, die FDP verhelfe zwei linken Parteien zu einer Mehrheit. Man kann sich im Übrigen fast sicher sein, dass Paul Ziemiak und Markus Blume ihre ganze Generalsekretärhaftigkeit darauf verwenden würden, diesen Umstand liebevoll herauszumeißeln, und aus der FDP einen, wie es dann vermutlich heißen würde, „Steigbügelhalter für eine Linksregierung“ oder so ähnlich zu machen. Die SPD und die Grünen sollten ihrerseits diese Lage der FDP genau kennen. Denn beide brauchen die theoretische Möglichkeit einer Ampel-Regierung noch ein bisschen dringender als die FDP selbst. Die Grünen, damit sie sich gegen den linken Vorwurf wehren können, eine Koalition mit der Union sei für sie schon ausgemacht. Und die SPD, weil es für sie überhaupt die einzig realistische Machtoption ist. Und weil Koalitionsoptionsberichterstattung ohnehin ein Geschäft des gut gelaunten Konjunktivs ist, hier noch ein weiterer: Sollte im Bund tatsächlich einmal über eine Ampel verhandelt werden, käme es für SPD und Grüne ganz besonders darauf an, der FDP ihren eigenen Raum zuzugestehen. Als Kraft der ordnungspolitischen Vernunft, der maßvollen ökologischen Reform, des habituellen Jetzt-mal-halblang. Aus den realen, sagen wir, zehn Prozent der FDP müssten machtpolitische zwanzig Prozent werden, damit der Zwang zur Macht für die FDP stärker ist als die Sorge um einen Teil ihrer Wählerschaft. (Robert Pausch, ZEIT)

Eine Ampel ist eine attraktive Option, weil sie neue Pfade beschreitet und, vor allem, die CDU nach sechzehn Jahren in die wohlverdiente Opposition senden würde. Das aber sind alles Meta-Gründe. Die große Frage, die in allen Ampel-Debatten auftaucht, ist, warum um Gottes Willen diese drei Parteien zusammengehen sollten. Was ist ihr Projekt? Haben sie genügend Themen, die sie umsetzen könnten? Die Streitpunkte sind reichlich offensichtlich, und die Gefahren für die FDP, mit SPD und Grünen eine Koalition einzugehen, sind es auch. Auf der anderen Seite würde die FDP mehr Profilierungsraum und unter Umständen sogar Gestaltungsspielraum bekommen, als dies in einer klassischen schwarz-gelben Koalition der Fall wäre. Ich verstehe jedenfalls die Bauchschmerzen, die Lindner und der Rest der FDP-Führung mit dieser Koalitionsidee hat. Genauso wie übrigens auch die der Basis der anderen beiden potenziellen Partner, aber für SPD und Grüne gilt, dass beide die Chance sofort ergreifen würden.

Ich möchte zum Thema auch auf meinen Artikel zur Ampel als verpassten Chance hinweisen; die Grundsätze daraus gelten ja noch. Ich zitiere mich einfach mal selbst: Grundsätzlich hätte sich die Ampel wohl als ein sozialliberales Bündnis begreifen müssen: die FDP hätte ihr Profil als Partei von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten hervorgehoben und sich auf der anderen Seite als Korrektiv für die SPD und Grünen inszeniert (insbesondere was Energiewende und Agenda2010 anging), während SPD und Grüne ihrerseits die damalige Marktradikalität der FDP gezügelt hätten. Die Parteien hätten sich zudem, ähnlich dem Lindner-Wahlkampf 2017 und dem SPD-Wahlkampf 1998, hinter einem generellen Modernisierungsbegriff sammeln können, der durchaus das Internet und den Bildungsbereich hätte umfassen können. Eine Art großes „Deutschland zukunftsfähig machen“-Projekt, das den Status Quo auf dem Arbeitsmarkt unangetastet lässt.

2) Why can’t Britain handle the truth about Winston Churchill?

Even before it took place, the discussion was repeatedly denounced in the tabloids and on social media as “idiotic”, a “character assassination” aimed at “trashing” the great man. Outraged letters to the college said this was academic freedom gone too far, and that the event should be cancelled. The speakers and I, all scholars and people of colour, were subjected to vicious hate mail, racist slurs and threats. We were accused of treason and slander. One correspondent warned that my name was being forwarded to the commanding officer of an RAF base near my home. The college is now under heavy pressure to stop doing these events. […] It’s ironic. We’re told by government and media that “cancel culture” is an imposition of the academic left. Yet here it is in reality, the actual “cancel culture” that prevents a truthful engagement with British history. Churchill was an admired wartime leader who recognised the threat of Hitler in time and played a pivotal role in the allied victory. It should be possible to recognise this without glossing over his less benign side. […] Even his contemporaries found his views on race shocking. In the context of Churchill’s hard line against providing famine relief to Bengal, the colonial secretary, Leo Amery, remarked: “On the subject of India, Winston is not quite sane … I didn’t see much difference between his outlook and Hitler’s.” Just because Hitler was a racist does not mean Churchill could not have been one. Britain entered the war, after all, because it faced an existential threat – and not primarily because it disagreed with Nazi ideology. Noting affinities between colonial and Nazi race-thinking, African and Asian leaders queried Churchill’s double standards in firmly rejecting self-determination for colonial subjects who were also fighting Hitler. (Priyamvada Gopal, The Guardian)

Wie bereits im letzten Vermischten angesprochen ist die britische Erinnerungskultur eine völlige Katastrophe. Eine überzogene Empire-Nostalgie, verbunden mit einer völligen Fantasieversion des Zweiten Weltkriegs, vermischt sich zu einem Mix, der Selbstzufriedenheit und Blindheit antreibt. Im Zentrum steht der vor allem in den letzten Jahren massiv angewachsene Personenkult um Winston Churchill, der inzwischen geradezu als Säulenheiliger verehrt wird. Es ist vergleichbar mit der albernen Überhöhung Ronald Reagans bei den Republicans, nur dass im Fall Churchills fast das ganze Land völlig besoffen von dieser Version zu sein scheint. Der bisherige peinliche Höhepunkt ist sicherlich die Selbstinzenierung Boris Johnsons als eine Art Westentaschen-Churchill. Die AfD kann noch so oft und laut „Schuldkult“ schreien; die deutsche Erinnerungskultur ist bei all ihren Schwächen einfach den meisten anderen Ländern um Längen voraus.

3) Die Trophäen der Jungen Union

In mehreren Landesverbänden der JU berichten Frauen über Benachteiligungen, Vorurteile, ein antiquiertes Rollenverständnis und auch über sexuelle Belästigung. Man werde gefördert, „solange man keine Meinung hat und nicht sonderlich auffällt“, sagt eine JU-Frau aus Hessen. „Sobald man den Mund aufmacht, wird’s schwierig.“ Viele in der JU hätten „ein Problem mit allen Minderheiten, die nicht weiße Männer sind“, sagt eine weitere Frau aus Hessen. Da herrsche die Meinung: „Wenn die Mädels mal mitmachen wollen, geben wir denen mal ein Pöstchen.“ Doch seien weibliche Führungsleute in der JU meist „Schaufensterfrauen“. Eine eigene Meinung zu haben werde eigentlich nicht erwartet. Wenn man als Frau aufsteigen wolle, sei meist nicht das Können entscheidend, sondern ob man mit den Jungs abends ein Bier trinken gehe. Da sei man dann gezwungen, „Körbe“ zu verteilen – was sich dann politisch bemerkbar mache. […] Mehrere noch in der JU aktive Frauen aus Hessen beklagen Sexismus in der Organisation. Es heiße, Frauen seien nicht für Führungsaufgaben geboren. Es gebe JU-Veranstaltungen, da rieten sich die Frauen gegenseitig, keinen kurzen Rock zu tragen, „sonst denkt jeder, wir sind Freiwild“. Es herrsche bei einigen in der JU die Meinung, Frauen dürfe man „nicht ins Gesicht schlagen, aber zur Züchtigung auf den Po“, sagt eine der Frauen. […] Auch Frauen aus anderen Landesverbänden schildern, dass sie die Stimmung als belastend empfunden haben. „Auf den Veranstaltungen der Jungen Union waren einfach nur Männer. Wenn man als Frau einigermaßen normal aussah, wurde man angegafft oder immer wieder angemacht”, erinnert sich eine Frau. „Viele schienen die Veranstaltungen wie den Deutschlandtag der JU als eine Art Singlebörse zu begreifen“, sagt sie. „Ein Nein wurde nicht akzeptiert.“ Mehrere Frauen schildern anhaltende anzügliche Bemerkungen von Funktionären, die erst ein Ende nahmen, als ein anderer Mann intervenierte. (Julian Steib/Timo Steppart, FAZ)

Auch hier der Verweis auf das letzte Vermischte und die Debatte über die Rolle von Institutionen und den ihnen eigenen Kulturen. Wie man in den Wald hineinschreit, so kommt es heraus; man erntet, was man sät. Das gilt für Organisationen wie die JU auch, ob sie nun stromlinienförmige Korruption in Form eines Philipp Amthor produzieren oder massiven Sexismus reproduzieren. Es ist eben alles eine Frage der Anreize. Wenn eine bestimmte Unternehmensstruktur, corporate identity oder wie auch immer man das nennen will (ernsthaft, gibt es für solche institutionellen Normen ein griffiges Wort?) vorherrscht, werden sich die jeweiligen Mitglieder danach richten. Fische stinken immer vom Kopf her, völlig egal, um welche Art von Institution es geht.

4) Bureaucrats are terrible. The alternatives are worse.

For much of human history, societies have been unapologetically organized to benefit those in positions of political power. Practically speaking, this meant that patronage was the rule. Whether you and your family personally benefitted from the distribution of social and economic goods — land, work, trade, and so forth — was a function of what party, faction, or class you belonged to, and whether its members controlled the political levers of power. […] The reason that clientelism stands out to us is that the liberal democracies of the West have worked very hard over the last century or so to replace this way of organizing society with an alternative based on bureaucratic norms. Bureaucrats allocate and distribute benefits and goods based not on who you know, what class or party you belong to, or which official you’re willing to bribe, but based instead on officially sanctioned standards of fairness and merit. And the bureaucratic adherence to these standards is assured by insulating those who work in them, as much as possible, from political influence. (That’s how we get „unelected bureaucrats.“) All things being equal, this is a huge improvement over the clientelistic baseline. It institutionalizes the rule of law, regularizes what government does, makes it more likely that citizens will get treated equally, and minimizes the ability of those who win elections from using their power to benefit themselves and their supporters at the expense of other members of the political community. […] Somewhere between the extremes of bureaucratic sclerosis and the free action of unbound public officials lies the ever-elusive mean of good government. (Ryan Cooper, The Week)

Man sollte hier wie so häufig die ideologische Scheuklappen beiseite lassen und die Vor- und Nachteile von Bürokraten und Bürokratie erkennen. Es ist ja auch kein auf den Staat beschränktes Phänomen; hier haben diese Leute nur wegen der hoheitlichen Aufgaben eine Sonderstellung. Aber jedes Unternehmen hat seine eigene Bürokratie. Um nur ein Beispiel zu nennen: die internen Verwaltungsabläufe bei Bosch stehen an Komplexität, absurden Regeln und dem Beharren auf die Einhaltung zigtausender kleiner Vorschriften keinem Bürger*innenamt etwas nach. Bürokratie hat die nützliche Funktion, Abläufe zu vereinheitlichen und berechenbar zu machen. In einer Demokratie ist das essenziell; ohne Bürokratie keine Demokratie. Aber auch Unternehmen kommen ohne nicht aus. Bürokratie hat aber genau wegen dieser Vorteile natürlich den eklatanten Nachteil, in diesem einmal festgelegten System gefangen zu sein und keine Handlungsoptionen (oder -vorstellungen) außerhalb dieses Systems zu besitzen. Deswegen müssen Bürokratien immer wieder reformiert werden, was sehr aufwändig und schwierig ist und wegen der Beharrungskräfte dieser Bürokratien oft auch scheitert. Es ist quasi ein beständiger Zyklus von Erneuerung (wenn alles chaotisch ist und nichts richtig läuft) und Sklerose (wenn alles schon viel zu lange im festgefahrenen Muster läuft). Die Zeit zwischen diesen beiden Punkten entfaltet das volle Potenzial einer Bürokratie, und gute Führungskräfte müssen erkennen, welche Zeit gerade herrscht und welche Anforderungen das mit sich bringt.

5) „Niemand muss sich rechtfertigen, dass er rassistisch denkt, sondern nur, wenn er nichts daran ändert“ (Interview mit Aladdin el-Mafaalani)

Zündfunk: In Ihrem Buch „Das Integrationsparadox“ hatten Sie die These, dass wir deshalb so viel streiten, weil es schon so gut funktioniert. Das ist jetzt drei Jahre her. Ist die Integration heute noch besser geworden, weil wir noch mehr streiten?

Aladin El-Mafaalani: Ich glaube, wir sehen die Dinge jetzt deutlicher. Man sieht auch, dass meine These, die 2018 noch sowas von provokant war, heute fast schon Mainstream, fast schon langweilig ist. Und das liegt daran, dass es in einem Tempo sichtbar wurde, das ich selber nicht gesehen habe. Es liegt daran, dass Minderheiten heute ihre Interessen artikulieren können, wie sie es früher niemals hinbekommen hätten. Und dass sie das heute in einer Weise hinbekommen, wie ich das erst in fünf oder zehn Jahren vermutet hätte. Das was passiert, ist das, was passieren muss, nämlich, dass das Konfliktpotenzial steigt, weil mehr Interessen in den Diskurs eingespeist werden und weil Dinge in Frage gestellt werden. Am Anfang geht es darum mitzumachen. Und heute können die Leute schon sagen: Hey, ihr seid privilegiert. Eure Deutungshoheit stellen wir in Frage. Und das führt dazu, dass auch die anderen Widerstände leisten.

Überrascht Sie die Vehemenz, mit der das im Moment passiert?

Nein. Die Vehemenz ist ja im Übrigen noch moderat. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir eigentlich noch einen anständigen Diskurs. Einer, der ziemlich regelhaft zu sein scheint. […]

Und wie soll man dann damit umgehen? Von heute auf morgen lässt sich die Sache ja nicht mehr ändern.

Naja, man muss es akzeptieren, dass Rassismus da ist. Das haben alle empirischen Studien gezeigt. Das sollte man also nicht so schrecklich finden, es ist kein Versehen und nicht irgendwas anderes. Wenn man das begreift, dann kann man gelassen sein. Ich würde sagen, das Prinzip, womit wir am besten weiterkommen heißt: Niemand muss sich dafür rechtfertigen, dass er rassistisch denkt, sondern nur, wenn er ab morgen nichts daran ändert. Wer Ahnung hat, aus welcher Gesellschaft wir kommen, der kann doch eigentlich gar nicht mehr durchdrehen. Vor allem, wenn man ein bisschen informiert ist über die Geschichte. […]

Wie könnten wir besser diskutieren und unsere Streitkultur auch verbessern?

Das wird sehr lange dauern. Ich glaube, es gibt keine Streitkultur, die man aus dem Bücherregal holt und sich durchliest. Das muss im Diskurs entwickelt werden. (Bärbel Wossagk, DLF)

Die auch in der Überschrift hervorgehobene These habe ich ja in meinem Artikel „Rassismus ist wie Brokkoli“ auch schon prominent vertreten. Vorwürfe, jemand sei rassistisch, führen wegen der Binarität des Vorwurfs nicht sonderlich weiter. Was man braucht ist die Erkenntnis, dass einzelne Akte es sein können, die Einsicht, dass sie es sind und dass man sie begangen hat, und die selbstkritische Auseinandersetzung damit. Auch wenn Aktivist*innen gerne mal nervig sind, erfüllen sie doch die zentrale Rolle, diese Prozesse anstoßen zu können und neue Perspektiven zu bieten.

Gleiches gilt für den Begriff des Privilegs. Niemand muss sich dafür entschuldigen, in einer privilegierten Lage zu sein, aber das darf man durchaus anerkennen und entsprechende Schlüsse für die Bewertung der eigenen Position einerseits und der Position anderer andererseits ziehen. Konkret: Vielleicht bin ich in meiner privilegierten Lage nicht (nur), weil ich der geilste Typ auf Gottes weitem Erdboden bin, und vielleicht sind andere nicht nur in einer schlechten Lage, weil sie halt irgendwie Versager*innen sind. Aber dazu muss man eben manchmal aus der eigenen Komfortzone treten.

6) „Dumm und dämlich verdient“

Die Verteilaktion der FFP2-Masken über Apotheken sollte, so verkündete es Spahn, den besonders Gefährdeten über die Weihnachtstage etwas Erleichterung verschaffen. Im Januar und Februar gab es in den Apotheken gegen Vorlage von Coupons weitere Gratis-Masken – eine Aktion, die den Steuerzahler am Ende mehr als zwei Milliarden Euro kosten dürfte. Dabei hatten sich Spahns Beamte frühzeitig gegen die Verteilaktion ausgesprochen. Das geht aus internen Unterlagen hervor, die NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes erlangten. Sie zeigen, dass Spahn die Aktion gegen das Votum der Beamten persönlich durchsetzte. Bereits Anfang November warnte das Fachreferat demnach den Minister vor „gravierenden Finanzwirkungen“ und wies daraufhin, dass viele Anspruchsberechtigte „durchaus in der Lage sind“,  die Masken „selber zu finanzieren“. Acht weitere Referate zeichneten das klare Votum ausweislich der Unterlagen mit: „Verzicht auf die Verordnungsfähigkeit von FFP2-Schutzmasken“. Doch mit grünem Stift notierte Spahn handschriftlich auf die Vorlage: „Nein, bitte um kurzfristige Erarbeitung eines ÄA“. Das Kürzel steht für „Änderungsantrag“. Und das Wort „kurzfristig“ hatte Spahn extra unterstrichen. […] Stattdessen legten die Beamten einen komplizierten Weg fest: Die Abgabe von 15 Masken pro Person wurde in drei Phasen unterteilt. Im Dezember konnte jeder und jede über 60 Jahren drei Masken in der Apotheke gratis abholen. Der Bund ging davon aus, dass 27,3 Millionen Menschen in Deutschland anspruchsberechtigt seien: 491,4 Millionen Euro, die der Bund somit einfach an den Apothekerverband überwies, der das Geld wiederum an die Apotheken verteilte. Egal wie viele Masken sie abgaben, sie erhielten einen festen Anteil aus Bundesmitteln: Im Schnitt gab es mehr als 25.000 Euro für jede Apotheke in Deutschland. (Lena Kampf/Markus Grill/Moritz Börner/Arnd Henze, Tagesschau)

In dieser Episode finden sich wie unter dem Brennglas so viele Probleme der deutschen Pandemiepolitik. Das Gesundheitsministerium operiert entgegen jeglichem Expertenrat auf rein politischen Maximen, die aber wiederum dann in die Behördenlogik gegossen werden. Aus der eigentlich ja sinnvollen Einschätzung, dass Masken im Eigenkauf recht teuer sind und es wünschenswert wäre, dass große Teile der Bevölkerung geregelten Zugang haben und die Masken regelmäßig wechseln, wurde dann eine Blanko-Auslieferung auf der einen Seite – viele Betroffene könnten sie ja wirklich selbst finanzieren – die dann aber ihrerseits wieder in die bürokratische Monstrosität (siehe Fundstück 5) gegossen wurde, wie sie nur ein deutsches Ministerium produzieren kann, anstatt dass man sich eine Scheibe aus den USA abeschneidet und einfach zum gleichen Preis die Masken an alle in der Post verschickt. Schade, dass die FDP nicht an der Regierung ist, da wäre wenigstens ein müder Apotherkerwitz dabei herausgekommen.

7) Warum sich die Grünen bewusst dem politischen Gegner ausliefern

Das Programm lebt damit von Voraussetzungen, die es nicht selbst schaffen kann. Das ist mutig, weil sich die Grünen damit dem politischen Gegner ausliefern. Weil es bedeutet, in den Wahlkampf zu gehen mit einem Programm, von dem man selbst nach erfolgreicher Koalitionsverhandlung für große Teile noch nicht versprechen kann, dass sie umsetzbar wären. […] Die Parteispitze setzt darauf, dass die Schuldenbremse selbst unter Ökonominnen und Ökonomen keinen guten Ruf mehr hat, und darauf, dass die anderen Parteien sich schon darauf einlassen, wenn die Argumente nur gut genug sind und sie auch profitieren, etwa als Verantwortliche in den Kommunen, die investieren müssen. […] Damit manövrieren sich die Grünen in eine Zwickmühle: Gehen sie auf Risiko, können sie scheitern. Wenn sie auf Sicherheit gehen, wenn sie nur das Machbare versuchen, sind sie aber erst recht gescheitert. Die Analyse lautet, dass es trotzdem nötig ist. Die Wette, dass es sich lohnt. […] Vielleicht sind die Grünen nur viel besser als andere Parteien darin, eine Geschichte zu erzählen, von sich als Gestalterinnen einer neuen Epoche. Dadurch, dass sie mit einer Reform der Schuldenbremse kalkulieren, hinterlegen sie aber ein ordentliches Pfand. Sie gehen in Risikovorleistung. Genug, um vorläufig davon auszugehen, dass das Versprechen mehr sein könnte als nur Polit-PR. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Jonas‘ Wahlprogramm-Analysen sind allesamt in ihrer Gänze lesenswert; hier sind nur Auszüge. Ich finde seine Fragestellung interessant, weil ich das in diesem Framing bisher ehrlich gesagt noch nicht gelesen habe. Man könnte es ja schließlich auch einfach als eine ohnehin unerfüllbare, aber die Seele der Parteibasis streichelnde Forderung im Wahlprogramm abtun, so was wie „Deutsch ins Grundgesetz“ bei der CDU. Fordert man gerne, wird nie kommen.

Nur ist das eben hier kein identitätspolitisches Versatzstück (Veggieday, ich hör dich trapsen) sondern steht als Frage im Kern jeder zukünftigen Finanzpolitik. Wie in Fundstück 1 beschrieben sehe ich keine Möglichkeit, dass die FDP sich einer Abschaffung der Schuldenbremse öffnen würde. Aber auf deren Stimmen kommt es auch nicht wirklich an. Letztlich führt hier kein Weg an der Union vorbei. Warum die das machen sollte, ist allerdings nicht wirklich klar.

Die Schuldenbremse erfüllt damit genau die Funktion, vor der ihre Gegner*innen immer gewarnt haben: durch ihren Grundgesetzrang bindet sie alle zukünftigen Regierungen auf eine bestimmte politische Richtung fest. Das ist demokratietheoretisch ohnehin bedenklich, aber angesichts der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist es auch sachlich ein riesiges Problem. Es ist gut, dass die Grünen das im Wahlprogramm so explizit ansprechen. Mir ist ehrlich gesagt nicht bekannt, wie sich die SPD da aktuell positioniert, aber ich würde mal nicht annehmen, dass die einer Änderung im Wege stünden, wenn aus welchen Gründen auch immer CDU und Grüne gemeinsame Sache machten.

8) Biden Needs to Fight His Own Culture War

It is worth remembering that President Franklin Delano Roosevelt, who came to power in 1933 with a small and unflattering reputation, reshaped, during his 12 years in power, not just the politics and economy of the U.S. but its culture. FDR succeeded because he saw the birth of a spacious moral imagination as vital to his task — and recognized that his own rhetorical gifts, though impressive, were not strong enough to achieve it. […] It was not until the 1980s that the tremendous spell of the New Deal was broken by another concerted ideological and cultural effort, this time by a Republican party under Ronald Reagan committed to redistributing upwards. […] In 1996, Clinton campaigned on a promise to “end welfare as we know it.” The New Republic, once the American flagbearer of progressive liberalism, supported him with a cover depicting the welfare queen of Reagan’s dog whistle: a black woman smoking while holding a baby. It is this landscape fundamentally altered — ravaged, some might say — by nearly four decades of unchallenged right-wing hegemony that Biden seeks to reshape with an FDR-like vision of government as the protector of ordinary citizens. […] And the examples of his hegemonic predecessors — Reagan as well as FDR — confirm that Biden can win the battle for the soul of America only by waging a long culture war on his own terms. (Pankaj Mishra, Bloomberg)

Ich stimme dem Artikel inhaltlich völlig zu, aber der Begriff des „culture war“ scheint mir hier ziemlich deplatziert. Es geht ja eigentlich nur um vernünftiges Framing. Dass die Progressiven darin so schlecht sind, ist hausgemacht. Die Konservativen sind um Längen besser darin, ihre politischen Präferenzen zu kommunizieren. Ich habe über den Erfolg Reagans und Thatchers ja selbst geschrieben. Sie waren für Jahrzehnte prägend; ihr Erfolg ebenso total wie der des New-Deal-Konsens‘ zuvor.

Bezüglich Bidens progressiver Meriten mahnt Kevin Drum übrigens völlig zurecht zur Vorsicht und dämpft die Euphorie. Ich denke, Biden profitiert gerade vom Vergleich mit Trump einerseits (bei dem man echt nur gewinnen kann) und von einer deutlichen Überperformance der sehr geringen Erwartungen an ihn andererseits. Er erlebt gerade einen honeymoon. Die Herausforderungen stehen vor ihm.

9) Biden oder Bismarck

Nach der Wahl Donald Trumps 2016 erklärten einige Medien Angela Merkel vorschnell zur Führerin der westlichen Welt. Tatsächlich war sie bestenfalls eine Reichsverweserin. Merkel genoss ihre moralische Überlegenheit gegenüber Trump (und Putin), doch, wie in anderen Politikfeldern, beschränkte sie sich auf die Verwaltung des Status quo. Es ist nicht bekannt, dass die Kanzlerin sich für meinungsstarke Russlandexperten interessiert. In Deutschland wird das Amt des Russlandbeauftragten nach Parteienproporz ausgewählt und die Ostpolitik des Auswärtigen Amtes beruht nach wie vor auf den Prämissen von 1970. Aus Trägheit und Gewohnheit überließ Berlin dem Kreml in den vergangenen Jahren die Möglichkeit, seine Politik der Provokation und des Regelbruchs gegenüber Deutschland und der Europäischen Union ungehindert fortzusetzen. Auch im Ukrainekonflikt engagierte sich Berlin in den vergangenen Jahren nicht, die Protestbewegung in Belarus erfuhr nur eine lauwarme Unterstützung. Wir sollten uns eingestehen: Kein sicherheitspolitisches Problem ist in den vergangenen Jahren zusammen mit Moskau gelöst worden und es ist an der Zeit zu konstatieren, dass der Kreml auch häufig gar kein Interesse daran hat. Der demütigende Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Moskau hat gezeigt, in welche Sackgasse eine Ostpolitik im Gestus der Unterwerfung führt. […] Berlin hat sich in seiner Russlandpolitik verrannt. Tonangebend bleibt die Bundeskanzlerin mit ihrer Bismarckschen Prämisse, gute Beziehungen zu Moskau seien Deutschlands primäres Interesse. Alles andere wird diesem Ziel untergeordnet. Für die kleineren Verbündeten in Osteuropa, für Polen oder die Ukraine, hat sie nur wenig übrig. […] So könnte die transatlantische Partnerschaft wiederbelebt werden. Deutschlands Politik bekäme mit amerikanischer Rückendeckung wieder mehr Gewicht. Dazu müssten wir aber bereit sein, mit dem Merkelschen Dogma eines Primats Russlands zu brechen. (Jan C. Behrends, Salonkolumnisten)

Deutschland war noch nie wirklich ein transatlantischer Partner, nicht in dem Sinne, wie es Großbritannien ist. Deutschland geriert sich außenpolitisch eher wie Frankreich, nur ohne die Konsequenz und die Mittel, diese Ansprüche auch wirklich durchzusetzen. Sich unter den Fittichen der USA zu verstecken ist nicht dasselbe wie eine transatlantische Partnerschaft.

Davon abgesehen bin ich, wie hinlänglich bekannt, völlig auf Behrends‘ Seite. Ich halte die Idee einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West für ein absolutes Relikt. Es hat Deutschland nie gut getan, und seine machtpolitische Basis ist schon lange dahin. Aber die SPD und mit ihr ein Großteil der deutschen Bevölkerung können von dieser Illusion einfach nicht lassen.

10) „Seid vorbereitet!“ (Interview mit Olivier Blanchard)

ZEIT ONLINE: Was passiert dann?

Blanchard: Wenn alles gut läuft, dann kann die Wirtschaft diese Gelder absorbieren. Die Unternehmen können mehr Leute einstellen und mehr Waren produzieren. Die Arbeitslosigkeit sinkt auf ein sehr niedriges Niveau und allen geht es besser. Ein solches erfreuliches Szenario ist nicht völlig ausgeschlossen. Wenn es so kommt, dann wäre ich der Erste, der sich darüber freut, und ich würde einräumen, dass ich mir unnötig Sorgen gemacht habe.

ZEIT ONLINE: Sie glauben aber nicht, dass es so kommt?

Blanchard: Meine Befürchtung ist, dass die Wirtschaft zu heiß läuft: Die Arbeitslosigkeit geht so stark zurück, dass es nicht mehr genug Arbeitskräfte gibt, die bereit sind, eine Stelle anzunehmen. Dann steigen die Löhne, die Unternehmen müssen die Preise ihrer Waren anheben, um die höheren Lohnkosten aufzufangen, und im Ergebnis zieht die Inflation an. Dann muss die Notenbank Federal Reserve mit höheren Zinsen reagieren. […]

ZEIT ONLINE: In den vergangenen Jahren haben Ökonomen oft vor einer Rückkehr der Inflation gewarnt. Dazu ist es aber nie gekommen. Warum sollte das jetzt anders sein?

Blanchard: Wir haben ein solches Ausmaß an Überhitzung einfach noch nicht gesehen. Der Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Arbeitslosenquote – die sogenannte Phillipskurve – ist historisch betrachtet nicht sehr stabil. Ich befasse mich seit sehr vielen Jahren mit diesem Thema. Immer, wenn man das Gefühl hatte, man hat ihn erfasst, passiert irgendetwas und man muss wieder von vorn anfangen. […]

ZEIT ONLINE: Viele Ökonomen sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt, wenn die Inflationsrate ansteigt, dann können wir sie wieder unter Kontrolle bringen.

Blanchard: Wenn man sich Umfragen anschaut, dann sieht man: Es sind vor allem Ältere, die einen Anstieg der Inflation fürchten. Leute aus meiner Generation. Wir erinnern uns an die Zeit der hohen Inflationsraten. Wir erinnern uns daran, dass der Anstieg der Teuerung in den Siebzigerjahren zwar unter Kontrolle gebracht werden konnte, aber der Preis dafür eine schwere Rezession war, ausgelöst durch die straffere Geldpolitik. Wenn man heute unter 50 ist und in einem Industrieland lebt, hat man so gut wie keine Erfahrung mit hohen Inflationsraten gemacht. Das kann schon dazu führen, dass man die Risiken unterschätzt. (Marcus Gatzke/Mark Schieritz, ZEIT)

Ich finde dieses Interview absolut faszinierend. Es zeigt zum einen, wie unglaublich offen die Volkswirtschaft als Disziplin eigentlich ist – offen in dem Sinne, als dass offen ist, welche Prämissen, die von den Volkswirtschaftler*innen gerne im Duktus höchster Sicherheit vorgetragen werden, eigentlich richtig sind. Zum anderen enthüllt es aber auch ein sehr problematisches Mindset einiger dieser Entscheider.

Blanchard verweist auf seine Erfahrungen mit der Inflation der 1970er Jahre. Wie er völlig zurecht sagt, haben Menschen, die das Renteneintrittsalter noch nicht erreicht haben, diese Erfahrungen nicht. Das liegt eben daran, dass wir seither keine mehr hatten. Nur warnen gerade deutsche Volkswirtschaftler*innen unter dem (traumatischen) Eindruck dieser Erfahrungen permanent vor einer Inflation, die aber nie kommt.

Es mag natürlich sein, dass sie – dieses Mal wirklich! – direkt um die Ecke ist, in welchem Falle Blanchard wie ein sehr weiser Mahner erscheinen würde. Ich halte es aber mindestens für genauso wahrscheinlich, dass die Prämissen, auf denen Blanchard und viele andere ihr komplettes Weltbild aufgebaut und ihre Theorien modelliert haben, einfach nicht mehr richtig sind. Mein Eindruck ist, dass Blanchard (pars pro toto) einer jener sprichwörtlichen Generäle ist, die den letzten Krieg kämpfen und die für die gegenwärtigen Herausforderungen überhaupt keinen Blick haben.

11) What is Europe’s problem with the AstraZeneca jab?

This kind of ass-covering can happen in less cynical ways, too: once one government has decided to pause the vaccine rollout – whether for good reasons or bad – other governments have an incentive to do the same. Making a bad decision as part of a pack is politically much safer than risking being the lone standout on a good decision. When in doubt, herd. All this is exacerbated by the high rates of vaccine hesitancy and outright anti-vaccine sentiment in many European countries. Once several countries had suspended AstraZeneca, Macron may have felt in France, with almost 50% vaccine hesitancy, he had no choice but to follow suit. Critics, though, might note that by doing so Macron has validated those rules and will make his eventual task of vaccinating the public even harder still. Pander today, pay tomorrow. A final bit of context for this is Europe’s – and especially the EU’s – supposed hyper-caution on technology and science. The bloc has a long history of framing inaction as sensible prudence, of confusing ass-covering with the precautionary principle. To take just one example – and to leave the thorny issue of genetically-modified foods out of it – the hypothetical dangers of nuclear power, especially since the Fukushima disaster ten years ago this month, were used to keep coal power plants online in Germany – indirectly contributing to thousands of air pollution deaths. Europe has a long record of prioritising hypothetical dangers over real ones. Given that history, letting people die of coronavirus to ‘save’ them from vaccines their own regulators say are safe, is grimly unsurprising. And die they will: these delays will have a measurable cost in lives. European countries are battling yet another wave of coronavirus re-emerging, and many countries are having to introduce stricter lockdown measures yet again – an inevitable result of reopening with an unvaccinated population. (James Ball, The New European)

Ich mag der rundum empfehlenswerten Kritik Balls (der Artikel ist noch viel länger und ausführlicher) vollumfänglich zustimmen. Sie ist auch deswegen relevant, wiel sowohl der New European als auch Ball überzeugte Pro-Europäer sind; wenn einer wie er zu einer solchen Generalkritik an der EU ansetzt, ist das noch einmal etwas anderes, als wenn es, sagen wir, in den Wirtschaftsseiten der Welt passiert.

Genauso wie beim deutschen Föderalismus erleben wir im Augenblick in aller Klarheit die Nachteile des institutionellen Arrangements, das zu Kompromiss und Konsens zwingt und stets auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzt. In Deutschland im Kleinen wie in Europa im Großen sorgt es dafür, dass Trippelschritte durchgeführt und vor allem aufschiebende, beinahe verwaltungstechnische Schritte genommen werden. Mit all den furchtbaren Konsequenzen, die das hat.

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  • Lemmy Caution 24. März 2021, 20:26

    zu 10) Ich finde Blanchard redet vernünftig. Das mag daran liegen, dass ich ein eher biologisches Bild von makroökonomischen Zusammenhängen habe und denke, dass viele ein zu mechanistisches Bild haben. Die Basis der Ökonomie bildet das menschliche Verhalten von vielen Einzelindividuen und das ist schwer vorherzusagen.
    Historisch verhielten sich Inflationen ähnlich wie diese Pandemie. Sie begannen anzuschwellen, verstärkten sich und es war dann sehr kostspielig sie wieder zurückzudrängen. Manche Länder konnten sehr gut mit vergleichsweise hohen Inflationsraten leben. Das erfordert dann aber bestimmte ökonomische „Tricks“ aka Flickschusterei wie vor allem die Indexierung vieler Preise gegen die Inflationsrate.
    Die in Deutschland oft angesprochene Inflation von 1923 war vergleichsweise einfach zurückzudrängen. Sie war zu einem großen Teil verursacht durch eine bestimmte Politik, nämlich der Einsatz der Geldpolitik für den Widerstand gegen die französische Besatzungspolitik.
    Ich sehe aktuell ein Verteilungsproblem, dass sich zunehmend auf die Politik auswirkt. Meine Sorge besteht darin, dass die Superreichen durch ihre onkel dagobertinische Anhäufung von Reichtümern einfach zu viel politische Macht gewinnen. Die Geldpolitik halte ich aber für ein höchst ungeeignetes Instrument, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Umverteilung über Steuern erscheint mir besser geeignet. Wenn das nicht reicht wegen mir auch Höchst- und Mindestlöhne.

    • Floor Acita 25. März 2021, 19:06

      „dass ich ein eher biologisches Bild von makroökonomischen Zusammenhängen habe“

      Oh oh, naturwissenschaftlich, das ist auf diesem blog seit einigen Tagen aber ganz verpönt, und das auch noch mit Blick auf Ökonomie??? Au weia…

      sorry für den ot, konnt ich mir einfach nicht verkneifen 😉

      • Sebastian 25. März 2021, 20:30
        • Lemmy Caution 25. März 2021, 21:50

          Nein. Das ist älter und echt kein Streitpunkt.
          Neoliberale Profs und Dozenten haben sowas in den 90er Jahren gesagt. Russ Roberts von Econtalk auch immer wieder. Vermütlich würden das auch diese New Monetary Theory Leute unterschreiben. Oder Picketty.
          Generelles Rumprangern gegen Ökonomen an sich find ich sinnlos. Vielleicht wurden sie in dem Niedergang der hohen Wachstumsraten seit mitte der 70er überschätzt und deshalb die Genervtheit über die Spezies als solche.

  • Stefan Pietsch 24. März 2021, 20:57

    1) Zum Regieren gezwungen

    Die SPD hat einen Pappkameraden aufgebaut, der Stimmen fangen soll. Doch es bleiben nicht die geringsten Zweifel, dass Kevin Kühnert und Saskia Esken Regie führen. Und beide wollen ein rot-rot-grünes Bündnis, notfalls unter Führung der Grünen. Die Grünen wiederum selbst haben sowohl ein Grundsatzprogramm als auch ein Wahlprogramm verabschiedet, das eine Zusammenarbeit mit der FDP mindestens sehr schwierig macht.

    Beide müssten erhebliche Abstriche machen für eine Partei, die vielleicht 11-14 Prozent einbringen wird. Das wäre in beiden Parteien nicht durchsetzbar. Beide Parteien haben diametral entgegen gesetzte Vorstellungen in der Steuer- und Finanzpolitik. Ich halte es für ausgeschlossen, dass bei einem grünen Wahlsieg am Ende steht, es werden keine Steuern erhöht und die Nettokreditaufnahme wieder in den verfassungsrechtlichen Rahmen zurückgeführt.

    Doch diese beiden Bedingungen sind für die Liberalen nicht verhandelbar.

    Ich halte die Alternative für kritisch. Historie und internationale Vergleiche lehren, dass Dreierbündnisse wesentlich instabiler als Zweierbündnisse sind. Die inneren Spannungen einer Koalition werden mit Geld überbrückt. Je größer die Spannungen sind, desto mehr Kitt benötigt es. Nein, mit Steinbrück wäre eine Ampel vorstellbar gewesen. Mit Olaf Scholz ist sie ausgeschlossen.

    3) Die Trophäen der Jungen Union

    Ich denke die Nachwuchsorganisationen von Grünen, SPD und Linkspartei sind heute mit ihren Gewaltphantasien weit problematischer.

    4) Bureaucrats are terrible. The alternatives are worse.

    Der Unterschied: Nimmt die Bürokratie in Unternehmen überhand, werden sie von Management und Eigentümern zerschlagen oder landen wegen Behäbigkeit in der Insolvenz. Die Verwaltung benötigt eine Eigenkontrolle mit dem Willen, Komplexität und damit Bürokratie zu reduzieren. Da sich viele Bürokraten damit überflüssig machen würden, verhält es sich wie mit dem Sumpf und den Fröschen.

    7) Warum sich die Grünen bewusst dem politischen Gegner ausliefern

    Das Programm ist an Arroganz nicht zu überbieten. Wenn wir Grünen die Bundestagswahl mit 24% gewinnen, dann sollten alle sich nach uns richten: nicht nur die Koalitionspartner, auch die 16 Bundesländer. Schließlich hat der Wähler gesprochen.

    Die Dezemberhilfen sind Ende März 2021 immer noch nicht ausbezahlt. Im Bundeshalt lagern in den Budgets hohe zweistellige Milliardenbeträge, welche nicht abgerufen werden. Das war in kleinerem Maßstab übrigens schon vor der Pandemie so. Wieso werden eigentlich immer neue Ausgabenprogramme beschlossen, wo die alten gar nicht ausgeschöpft werden können? Dass Du darin einen Sinn erkennst, verwundert mich.

    • Stefan Sasse 24. März 2021, 21:31

      1) Klar wollen die R2G, aber ich halte das für unrealistisch. Und Scholz und diverse andere wollen die Ampel.

      3) Ja und Nein. Ich denke, die Gewaltphantasien dort sind auf einen wesentlich kleineren Kreis beschränkt, aber dafür in ihrer Wirkung wesentlich gefährlicher. Weißt was ich meine?

      4) Oder auch nicht, wenn das Unternehmen groß genug ist…

      • Stefan Pietsch 24. März 2021, 21:54

        1) Aber sie kommen mit leeren Händen und sie haben keine Prokura.

        3) Ich lasse jungen Menschen einiges durchgehen. Gewalt gehört nicht dazu. Keine Ahnung wie man das vergleichen könnte. Aber die Milieus und die Unterstützergruppen sowie die Engagements dieser Jugendorganisationen gefallen mir nicht. Und das nicht aus politischen Gründen.

        4) Verwaltungsriesen gehen kaputt oder werden zerschlagen. Der Unterschied zwischen Staat und Privat liegt nämlich darin, dass es bei Unternehmen Interessen gibt, die Bürokratie klein zu halten, die Gegenspieler. Das sind Management und Eigentümer, die ein Interesse an geringen Verwaltungskosten haben. Sie verdienen daran und werden danach bezahlt.

        Die AEG ist an ihrer Überverwaltung gestorben. Enron ist wegen seiner Intransparenz implodiert. Die Deutsche Bank hat so veraltete IT-Systeme, dass das Überleben an der Modernisierung hängt. Siemens wird in kleinere Teileinheiten zerlegt, die flexibler am Markt agieren können. Wirtschaft besteht aus Wachsen und Schrumpfen. Beides hat für renditeorientierte Menschen Vorteile. Beim Staat, das wissen wir seit Wagner, liegen die Vorteile nur beim Wachstum der Ausgaben.
        https://de.wikipedia.org/wiki/Wagnersches_Gesetz

        • Hias 25. März 2021, 00:17

          zu 3.) Hm, es gibt die eine oder andere Verbindung der Jusos oder der grünen Jugend, die ich auch kritisch sehe, aber mir fällt jetzt keine Verbindung zu Gewaltfantasien ein. Welche meinen Sie da?

          zu 4.) Enron hatte ein Kriminalitätsproblem und kein Bürokratieproblem.
          Und ansonsten haben sie natürlich Recht, dass Eigentümer ein Interesse daran haben, dass die Verwaltungskosten niedrig bleiben, allerdings ist das auch immer schwierig umzusetzten, insbesondere wenn der Eigentümer nicht zugleich der Unternehmer ist (siehe auch die Prinzipal-Agenten-Theorie).

          Was den Staat angeht gibt es sehr wohl ein Interesse der Wahlbevölkerung, dass die Staatsausgaben nicht zunehmen. Und due Entwicklung der Staatsquote weist darauf hin, dass eben kein ständiges Wachstum der Ausgaben vorliegt: Lag die Staatsquote in den 90er noch im Bereich 48/49% lag sie in den 2010er Jahren im Bereich zwischen 44% und 45%.
          http://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Finanzierung/Datensammlung/PDF-Dateien/abbII39.pdf

          • Stefan Sasse 25. März 2021, 01:14

            Meine Rede.

          • Stefan Pietsch 25. März 2021, 11:38

            ad 3) Nehmen wir Jonas Stickelbroeck von der Grünen Jugend Krefeld, der empfahl, den nächsten Parteitag der CDU im Gulag stattfinden zu lassen oder der in einem Post einen Polizeibus mit „Tiertransporte“ überschrieb.

            Oder die Grüne Jugend, welche gegen das Verbot der linksextremistischen Internetseite linksunten.indymedia kämpft, weil die ja gegen die AfD sei. Dass dabei Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails gegeben werden – nicht so schlimm.
            https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/linksextreme-website-jusos-und-gruene-jugend-solidarisieren-sich-15177600.html

            Oder nehmen wir Bengt Rüstemeier, Mitglied im Landesvorstand bei den Berliner Jusos, der in sozialen Netzwerken seine Erschießungsfantasien auslebt: „Junge Liberale erschießen, wann?“ Oder: „Ein Vermieterschwein persönlich zu erschießen kann hilfreich sein aber, aber muss nicht notwendig Voraussetzung sein.“ Kandidaten für den Landtag in Baden-Württemberg solidarisieren sich mit dem Erschießungsfantasten.

            Oder nehmen Sie die Räumungen im Hambacher Forst oder besetzter Häuser in Berlin. Julis jedenfalls waren nach aktuellem Kenntnisstand nicht darunter, unter jenen, welche das Gewaltmonopol des Staates nicht respektieren.

            ad 4) Enron kam wegen Bilanzmanipulationen zu Fall. Dabei waren viele Geschäfte in sogenannte Zweckgesellschaften ausgelagert worden, die wiederum nicht mit ihren Verlusten in den Konzernabschluss einbezogen wurden. Es ist ein extremer Auswuchs dessen, was lange in sehr großen Konzernen nicht selten anzutreffen war, nämlich Verluste des einen Bereichs unauffällig durch Verschiebungen von Kostenpositionen einem anderen Bereich aufzuhalsen.

            Wie immer geht es bei Bürokratie um Verschleierung von echten Kosten. Nehmen Sie die Legende von den geringen Verwaltungskosten der Gesetzlichen Rentenversicherung wie der Gesetzlichen Krankenversicherungen. Dabei werden nur die die wenigen Positionen gezählt, die in der Behörde als „Verwaltungskosten“ zugeordnet sind. Nicht berücksichtigt wird der wesentlich größere Kostenblock, der auf Unternehmen und Bürger ausgelagert wurde, von der Pflicht zu Selbstveranlagung über Dokumentations- bis hin zu Haftungspflichten. So lässt sich locker behaupten, etwas wäre rank und schlank, während der Bandwurm im Magen schlummert.

            Viele Unternehmen stehen heute im Private Equity-Besitz oder von Risikokapitalgebern wie Start-ups. Aus eigener Anschauung kann ich sagen, da ist großer Druck auf Ineffizienzen. Zu einer Strategie beispielsweise zählt, das Working Capital niedrig zu halten durch Vereinheitlichung von Zahlungskonditionen, Auslagerung von Zahlungsprozessen und der Reduzierung von Vorratspositionen. All das geht einher mit der Verringerung von Bürokratie. Ein Renner ist derzeit die Digitalisierung der Verwaltungsschritte, der Automatisierung von Buchungsvorgängen wie der Erfassung des Belegwesens.

            Noch eins: Zeitkonten werden online verwaltet, der Urlaubsantrag geht längst nicht mehr einher mit einem Wust an Papierkram und Genehmigungen. Das ist in öffentlichen Unternehmen noch anders.

            Das Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung war ein Besonderes. Das ist auch in den von Ihnen genannten Kurven so. Zudem traf die Ausweitung des Staatsanteils auf ein Rückgang des Wirtschaftswachstums. Ein Grund, warum linke Parteien in Deutschland weniger regieren ist ihr Hang, den Staatsanteil deutlich erhöhen zu wollen. Dafür, da gebe ich Ihnen recht, lassen sich keine Mehrheiten gewinnen.

            Bis Angela Merkel kam, war die Union immer der Gegenpol. Doch was ist von der Bundeskanzlerin zu halten, wenn sie gerade frisch verkündet, zur Bekämpfung des Klimawandels bedürfe es mehr staatlicher Beteiligung? Angeblich ist Frau Merkel in der CDU.

            • CitizenK 25. März 2021, 15:35

              „Legende von den geringen Verwaltungskosten…der GKV“

              Na ja, die PKV lagert die Verwaltung an die Ärzte und die Patienten aus: Arzt druckt Rechnung und schickt sie per Post an den Patienten. Der überweist sie an den Arzt (der den Zahlungseingang überwachen muss) und schickt sie (analog oder – gescannt – digital) an die Versicherung, wo jede Position wieder neu erfasst wird. Wie in der Steinzeit. Die GKV macht das längst elektronisch.

              „Kandidaten für den Landtag in Baden-Württemberg solidarisieren sich mit dem Erschießungsfantasten.“
              Welche Kandidaten? Dem möchte ich nachgehen.

              • Stefan Pietsch 25. März 2021, 17:17

                Sie haben wieder nicht den Punkt getroffen: es geht an dieser Stelle nicht darum, ob die GKV nun besonders günstig sei. Es geht darum, dass mit völlig falschen Behauptungen politisch für das Solidarsystem geworben wird, obwohl es sich um Kostenverschleierung handelt.

                Genauso beim Zahlungsvorgang: Kostenverursacher (Patient) wird nicht gefragt, ob die Behandlung so bei ihm vorgenommen wurde. In der PKV sehr wohl.

                Sie lagern die Kosten für Ihren Einkauf an REWE aus? Geht es noch verquerer? Natürlich muss der Leistende in Deutschland (und nicht nur dort) eine Rechnung schreiben. Und natürlich muss der den Geldfluss auch überwachen. Sagen Sie mir, wo das anders ist? Und das ist Kostenauslagern?

                Allerdings, wo ist es üblich, dass ein Leistender vom Leistungsempfänger verlangt, dass dieser selbst die Berechnung vornimmt und für die korrekte Abführung haftet? Und wo ist es üblich, dass, wenn ich zu wenig überweise, mich deswegen strafbar mache?

                Es gibt nicht die PKV. Die PKVs, die ich kenne, rechnen elektronisch ab.

                AStA der Humboldt-Universität Berlin (aus Steuer- und Studentenmitteln finanziert:
                https://www.refrat.de/article/news.solidaritaetmitbengt.html

                Solidarisch zeigte sich auch Daniel Al-Kayal aus Heidelberg:
                https://www.severint.net/2021/02/08/was-bedeutet-der-hashtag-solidaritaetmitbengt/

              • Stefan Sasse 26. März 2021, 13:41

                Kann ich bestätigen. Meine PKV betreibt eine Bürokratie, da erblasst jede staatliche Behörde. Und zahlen muss die Scheiße ich.

            • Hias 26. März 2021, 01:25

              zu 3.) Die genannten Beispiele sind indiskutabel, die jeweiligen Personen sollten in diesen Organisationen nichts mehr zu suchen haben.
              Indymedia ist eine schwierige Geschichte, da da jeder veröffentlichen kann. Daher besteht da öfters auch der Verdacht der False Flag-Aktionen: https://www.mimikama.at/aktuelles/bekennerschreiben-indymedia/
              Die Aktivisten im Hambacher Forst und in den besetzten Häusern hatte ich tatsächlich im Hinterkopf, aber meines Wissens halten die sich eher von Jusos und Grüner Jugend fern, da dies in deren Augen ja eher Verräter sind. Maximal noch Verbindungen zur [’solid].

              zu 4.) Naja, dass man versucht kriminielles Handeln zu verschleiern hat ja per se erstmal nichts mit Bürokratie zu tun. Die ist dazu ja nur ein Werkzeug, genauso wie die Liberalisierung des Strommarktes in Texas ein Werkzeug für Enrons kriminelles Handeln war. Am Ende des Tages war die Firma einfach nur kriminell.
              Ja, sie haben Recht, dass insbesondere die Sozialversicherungen viel auf Unternehmen und Bürger auslagern. Wobei ich beispielsweise bei den Krankenkassen eher den Eindruck habe, dass dies an den jeweiligen Krankenkassen hängt als daran, ob sie PKV oder GKV sind.
              Und auch bei privaten Unternehmen kommt es darauf an. Bin ich ein großes Unternehmen, eventuell noch führend in meinem Markt und hat dieser hohe Markteintrittshürden, dann ist der Druck nicht mehr ganz so groß, da man die geforderte Rendite sich eher aus dem Markt holt. Aber prinzipiell haben Sie Recht, da herrscht schon ein großer Druck. Wobei ich mich hin und wieder schon frage, ob die Kosteneinsparungen die hohen Einführungs- und Transaktionskosten überhaupt wieder reinholen. Dies ist ja zum Beispiel in den Produktionsbereichen ganz interessant, wo eine Auslagerung von Fertigungsschritten mit zusätzlichen Personal- und Einkaufskosten einherging. Oder (selbst erlebt), als meine Ex-Firma nacheinander drei komplette Teams eines Teils eines Shared-Service-Centers in einem osteuropäischen Land neu anlernen musste, weil die Vorgänger nach kurzer Zeit komplett zur Konkurrenz wechselten

              Gut, dann schauen wir uns eine längere Zeitreihe an:
              1960 32,9
              1965 37,1
              1970 38,5
              1975 48,8
              1980 46,9
              1985 45,2
              1990 43,6
              1991 46,5
              1998 48,1
              2000 47,8
              2005 46,8
              2010 48,1
              2019 45,2

              Mit anderen Worten: Seit Mitte der 70er Jahre, also seit fast einem halben Jahrhundert schwankt die Staatsquote zwischen 45% und 50%. Die rot-grüne Regierung hat die Staatsquote von 1998 bis 2005 eher verringert, trotz eines sehr schlechten Wirtschaftswachstums. Und bis 2019 hat die Staatsquote sich eher verringert.

              • Hias 26. März 2021, 01:38
              • Stefan Pietsch 26. März 2021, 13:14

                3) Nein, das sehe ich ganz anders. Das Problem ist eben nicht der Junge mit seinen Gewaltphantasien. Der Kerl ist gerade 22! Er hat niemanden umgebracht, nichts angesteckt, er hat einfach seinen Phantasien freien Lauf gelassen. Das passiert in jeder Generation zu allen Zeiten.

                Ich selbst bin zu weit gegangen und habe seinen Namen publiziert. Das ist falsch, der junge Mann wollte mit Sicherheit keine bundesdeutsche Berühmtheit und Hassobjekt werden. Zur Dokumentation bin ich auf AfD- und PI-Seiten gestoßen. Das ist ekelhaft. Da tut mir der Junge leid.

                @Stefan: Bitte den Namen kürzen. Danke

                Nein, das Problem ist sein Umfeld. Die Unterstützer. Unser Umfeld ist dazu da, uns einzunorden, uns zu helfen zu reifen und uns zivilisiert zu verhalten. Wenn das unsere Mitmenschen nicht mehr tun, versagen sie, nicht wir. Ich frage mich eher, wie oft dieser Politiker aus Heidelberg mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen ist, um Solidaritätsadressen zu posten.

                Und genau darum ging es mir: Viele bei der Grünen Jugend, den Jusos und Solid teilen solche Phantasien ungehemmt oder sehen in solchen Spätpubertierenden nützliche Idioten für das eigene Anliegen. Dann findet keine Erziehung mehr statt, sondern die Bildung von Filterblasen. Proficlubs haben da längst einen reiferen Umgang. Sie schützen ihre jungen Spieler, gerade wenn sie Dummheiten gemacht haben. Dann werden sie eine Weile aus dem öffentlichen Verkehr genommen, aber nicht verstoßen. Die Jusos Berlin dagegen haben den jungen Mann inzwischen verstoßen.

                Wenn junge Leute Probleme mit dem Darmtrakt haben, sollten sie zum Arzt gehen und nicht den Polizisten ihres Vertrauens damit belästigen. Früher hätt’s dafür ein paar hinter die Ohren gegeben bei solchen Flegeln. Ich denke, das würde auch heute noch nutzen.

                4) Kriminelles Verhalten war aber nicht die Intension, sondern zum Schluss die Steigerung. Das Finanzproblem ist über den Kopf gewachsen.

                Die PKVs haben kein großes Interesse mehr an dem Geschäft, vor allem solche nicht, die sehr breit aufgestellt sind. Das Geschäft ist aus verschiedenen Gründen nicht mehr besonders lukrativ. Nach meinem Eindruck ist das Werbeaufkommen deutlich zurückgegangen.

                Sie wissen, warum 2004 die Staatsquote gesunken ist? Stichwort UMTS-Lizenzen.

                Für die Maximalpunkte gibt es Gründe, wobei überhaupt nur zweimal die 49% gerissen wurden. Das lässt sich nicht als den typischen Rahmen annehmen. Der Pfad liegt zwischen 44 und 48 Prozent.

                Ende der Neunziger-, Anfang der Nullerjahre gab es die Mode mit Shared Service Centern. Die Versuche wurden unisono als nicht erfolgreich gewertet, zu unterschiedlich waren doch noch die Rechtsverhältnisse in Europa als auch die Mentalitäten. Nach meiner Beobachtung läuft seit ein paar Jahren eine neue Welle, ich selbst habe in den letzten 3, 4 Jahren zweimal Anfragen bekommen, ein SSC aufzubauen. Ich halte solche für nicht sehr erfolgversprechend. Und mit Standard-Buchhaltern in Rumänien und Polen lässt sich auch nicht problemlos kommunizieren.

        • Stefan Sasse 25. März 2021, 01:12

          1) Gilt umgekehrt ja auch. Ist ja nicht so, als ob R2G je eine vernünftige Antwort auf die außenpolitische Frage gegeben hätte, von dem neuen Spitzenduo der LINKEn mal ganz abgesehen.

          3) Ich lasse es ihnen auch nicht durchgehen. Das war der „ja“-Teil meiner Antwort. Ich denke nur, dass Sexismus in der JU verbreiteter ist als Gewalt in den Jusos. Das macht weder das eine noch das andere besser, aber wir müssen bei direkten Gleichsetzungen vorsichtig sein, das ist alles.

          4) Innerhalb von Unternehmen hat jede eigene Abteilung auch ein riesiges Interesse am Wachsen der Ausgaben und ihrer Bürokratie. Wie beim Staat auch hat das GESAMTunternehmen kein Interesse daran, aber das gilt eben auch für den Staat als Ganzes. Jede einzelne Behörde und Institution, ob privat oder staatlich, will grundsätzlich wachsen, ob es Rendite bringt oder nicht, weil es Macht und Einfluss für die Mitglieder der Institution bringt. Korrekt ist natürlich, dass Unternehmen anfälliger für die negativen Effekte solchen Wachstums sind, aber man sollte nicht so tun, als unterlägen die staatlichen Bürokratien nicht auch ihren eigenen Zwängen und Verantwortlichkeiten und könnten nicht gegebenenfalls radikal umstrukturiert werden.

          • Stefan Pietsch 25. März 2021, 10:37

            1) Deswegen habe ich vor Wochenfrist geschrieben, Saskia Esken habe die SPD in eine strategische Sackgasse manövriert. Koalitionen, das lehrt die Geschichte, müssen vorbereitet werden. Die SPD bereitet seit Jahren R2G auf Bundesebene vor ohne zu fragen, geht das überhaupt? Aber man kann sich nicht gleichzeitig für ein sehr linkes Bündnis und für eine sozialliberale Zusammenarbeit ausrichten. Einen Tod müssen wir sterben. Die SPD hat sich entscheiden, gleich zwei zu nehmen.

            Die Äußerungen von Armin Laschet dieser Tage sind interessant. Mehr Marktwirtschaft im Klimaschutz und eine Unternehmenssteuerreform sind klare Signale an die Liberalen, die lange nicht zu hören waren. Laschet ist hier taktisch geschickt in der Strategie flexibel. Schwarz-Grün nimmt man ihm unbesehen genauso ab wie Schwarz-Gelb. Warum also nicht Jamaika?

            3) Manchmal ist der Sexismus bei den Grünen auch unerträglich, wenn der Co-Vorsitzende Habeck im deutschen Fernsehen verkündet, er würde auf Kandidatenambitionen verzichten, wenn Annalena Baerbock ihre Ansprüche als Frau geltend machen würde. An diese Art von Sexismus haben wir uns traurigerweise gewöhnt. Wohlgemerkt: Habeck wird seit Jahren in Umfragen als der klar beliebtere Politiker gesehen, dem eher Kanzlertauglichkeit zugebilligt wird.

            4) Es besteht beim Staat ein Interesse an Bürokratie. Bürokratie exkulpiert von Verantwortung. Dies lässt sich in der Pandemie wieder par excellence studieren. Der Finanzminister versprach im Oktober 2020, man wolle schnell und unbürokratisch Hilfen an die Unternehmen zahlen. Das wäre auch problemlos möglich gewesen. Doch die Botschaft war nur an das Wahlvolk gerichtet. Wie wäre auch eine Rede angekommen, in der angekündigt worden wäre die Dinge möglichst bürokratisch und fälschungssicher zu erledigen?

            Tatsächlich machte der Bundesfinanzminister mit Zugriff auf die Finanzämter des Landes (ja, ich weiß, nicht völlig unkompliziert) keine Anstalten, die Dinge unbürokratisch zu erledigen. Nicht die Finanzämter, welche über alle steuerrelevanten Daten der Unternehmen und Unternehmer dieses Landes verfügen, wurden mit der Auszahlung beauftragt, sondern erst ein umfangreicher Prozess installiert. Gipfel des Ganzen: Kein Antragsteller darf einen Antrag direkt einreichen, sondern muss hierzu einen Steuerberater beauftragen. Hintergrund: Steuerberater sind verpflichtet, Aufträge abzulehnen, wenn sie Gesetzen widersprechen. Das oberste und einzige Ziel war offensichtlich, Betrug zu verhindern. Hilfe zu gewähren war nur ein sehr nachrangiger Nebenaspekt.

            Das Gleiche bei der Impfreihenfolge: Wie in anderen erfolgreichen Ländern hätte die Möglichkeit bestanden, die Verimpfung dezentral vorzunehmen. Doch das hätte die Politik entmachtet. Deswegen war Bürokratie erforderlich, um die Obersten zu schützen.

            Das sind nicht die Mechanismen in Unternehmen. Kein Manager, der so vorgehen würde, könnte sich halten.

            • Stefan Sasse 25. März 2021, 11:26

              1) Halte ich zusammen mit Schwarz-Grün für das wahrscheinlichste Ergebnis. Ansonsten Zustimmung.

              3) Ich fand das auch nicht so pralle, ehrlich gesagt. Aber ich bin kein Grüner, ich hab genauso wenig Einblick in die parteiinternen Dynamiken wie bei Merz. Schaue da immer als Außenstehender drauf…

              4) Widerspreche ich dir ja gar nicht. Aber jedeR Manager*in versucht auch, ihr eigenes Ding groß zu machen. Und leider halten sich eine ganze Menge miese Führungskräfte, so wie sich auch eine Menge mieser Politiker*innen oder Verwaltungsfachkräfte halten. Es gibt einfach nicht genug gute…

              • Stefan Pietsch 25. März 2021, 12:02

                1) Für mich gibt es einige Gründe, auf Jamaika zu hoffen, und das nicht nur aus parteipolitischer Sicht.

                3) Es war die Offenbarung des Sexismus bei den Grünen, nur eben in anderer Form. Die Bevorzugung oder Benachteiligung wegen des Geschlechts soll (und darf es aus gesetzgeberischer Sicht) nicht geben. Bei den Grünen ist es Common Sense. Ich will damit nicht den Ausgangspunkt kleinreden. Und auch in der FDP gibt es Sexismus, keine Frage. Aber, beides wird heute zu oft vermengt. So war der Umgang mit Linda Teuteberg bei den Liberalen absolut schäbig. War ist aber auch: sie war für den Posten nicht geeignet und besaß nicht die Erfahrung. Sie wurde (auch) wegen ihres Geschlechts befördert und das ist (leider) daneben gegangen.

                4) Das muss aber nicht mit mehr Bürokratie einhergehen. Wenn der Vertrieb zusätzliche Stellen bekommt, dann werden oftmals einfach nur mehr Kundenberater im Feld eingesetzt. Das allein ist noch nicht Bürokratie. Funktioniert es nicht, werden Ziele über einen überschaubaren Zeitraum deutlich verfehlt, wird das Wachstum wieder zurückgenommen. Etwas anderes kann man sich oftmals nicht leisten.

                • Stefan Sasse 25. März 2021, 12:13

                  1) Weil es die größte Verwässerung der Grünen bedeutet? Wäre gespannt auf deine Gründe. Für mich ist die Hoffnung Ampel, weil R2G einfach unrealistisch ist. Ich bin mir unsicher ob ich Schwarz-Grün oder Jamaika bevorzugen würde ehrlich gesagt.

                  3) Teuteberg kann ich nicht beurteilen. Eine Äquivalenz würde ich auch nicht herstellen wollen. Aber unproblematisch finde ich es auch nicht.

                  4) Das gilt ja aber für den Staat auch. Würde ich mehr Finanzbeamte einstellen, hätte ich auch nicht mehr Bürokratie.

                  • Stefan Pietsch 25. März 2021, 12:55

                    1) Nein. Erstens denke ich so nicht. Ich sehe den Sinn demokratischer Politik nicht darin, den Gegner möglichst zu neutralisieren. Grüne Ansichten haben genauso ihre Berechtigung wie wirtschaftspolitische der FDP.

                    Mit Union und Grüne würde Deutschland in der Folge der Pandemie von zwei etatistisch denkenden Parteien regiert. Dahingehend hat Angela Merkel die CDU verändert. Die Partei Ludwig Erhards denkt heute in der Dominanz des Staates. Früher galt das nur für die Innenpolitik, weshalb das Korrektiv der Rechtsstaatspartei immer von Vorteil war. Doch heute gilt dieses Denken in den meisten Politikbereichen. Wenn Peter Altmaier, entgegen der besonderen deutschen Wirtschaftsstruktur und der Geschichte des Landes Leuchttürme der (gelenkten) Wirtschaft definieren will, so hat das nichts mehr mit dem ordnungspolitischen Erbe der Partei zu tun.

                    Beide Parteien denken zu ähnlich. Da fehlt das Korrektiv, das in einer Regierung immer notwendig ist. Dass dieses Korrektiv die FDP als einzige verbliebene staatskritische Partei im Deutschen Bundestag ist, wurde bei erstmals bei den Jamaika-Sondierungen 2017 deutlich. Während sich die Taktgeber der Union (Merkel, Kauder, Altmaier) und der Grünen sich prächtig verstanden, war der einzige Wahlgewinner unter den potentiellen Partnern das häßliche Entchen. So dachte die CDU-Spitze darüber nach, das der FDP zustehende Finanzministerium zuvor in seinen Kompetenzen zu entkernen.

                    Auch in dieser Legislatur waren die Liberalen die einzige bürgerliche Stimme, die das Unbehagen am Tun der Exekutive regelmäßig artikulierte, während sich die Grünen gemein machten mit Merkels Regierung, so als wären sie Teil davon.

                    Nach dem Anstieg der Staatsquote auf 51,3% in 2020 und dem Verharren auf diesem Niveau in 2021 und möglicherweise 2022 sowie dem Aussetzen der Schuldenbremse in den gleichen Jahren werden Union und Grüne kaum selbst den politischen Willen aufbringen, die Verhältnisse wieder in den Kanon der langfristigen bundesrepublikanischen Politik zu bringen.

                    4) Das ist richtig, da haben wir uns missverstanden. Mehr Personal bedeutet nicht per se mehr Bürokratie. Meistens, gerade im Verwaltungsbereich jedoch schon.

                    Der Staat baut Bürokratie zur politischen Rechtfertigung auf. Wenn die Bauvorschriften (DIN Normen) vor 20 Jahren noch gut 700 waren und heute 3700 ausmachen, dann deshalb, weil die die Politik damit dokumentieren will, dass bestimmte öffentliche Ziele erreicht werden.

                    In Unternehmen gibt es Bürokratie dagegen vor allem aus zwei Gründen: Organisation komplexer Einheiten und Erfüllung gesetzgeberischer Pflichten. So hat im Finanzbereich der Detaillierungsgrad der IFRS in den vergangenen 20 Jahren stark zugenommen. Die IFRS haben mit ihrem Genauigkeitsanspruch das deutsche Handelsgesetzbuch getoppt, dass ich zu meiner Studienzeit im 3. Buch noch auswendig konnte. Daneben erfordern die IFRS wesentlich mehr Berichtspflichten als sie allein nach den deutschen Regeln erforderlich wären.

                  • Stefan Pietsch 25. März 2021, 13:46

                    1) Etwas Interessantes von Dir habe ich überlesen: warum würdest Du eventuell eher Jamaika als rein Schwarz-Grün den Vorzug geben? Worin lägen für Dich die Vorteile?

                    • Stefan Sasse 25. März 2021, 15:05

                      Ich denke dass die CDU aktuell ein Problem in Deutschland ist. Ich denke, dass die einzigen beiden Parteien, die das Land modernisieren wollen, FDP und Grüne sind. Beide haben sehr unterschiedliche Vorstellungen, sicher, aber ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Der von CDU und SPD dagegen ist im Hier und Jetzt, der von LINKEn und AfD eher nach hinten. Ich würde aus diesem Grund in BaWü auch eine Spinat-mit-Ei-Koalition bevorzugt haben. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass ich denke, dass die beiden Modernisierer (FDP und Grüne) die SPD eher zu ihrem Glück zwingen können als die CDU, weswegen ich der Ampel noch mal den Vorzug gebe. Aber daher die Idee mit Jamaike: Es gäbe mehr Druck auf die CDU, endlich aus dem Weg zu gehen.

                      Vielleicht.

                      Danke für die interessierte Nachfrage.

                    • Stefan Pietsch 25. März 2021, 17:22

                      Ich hatte schon 2017 hier geschrieben, dass aufgrund des Dramas wiederholter großer Koalitionen gleich beide Lagerführer ausgebrannt seien. Diese Ansicht finde ich längst bestätigt. Aber: ich sehe eben auch die SPD als völlig ermattet, noch mehr als die Union.

                      Ansonsten stimme ich Dir absolut zu. Ich denke auch, dass FDP und Grüne trotz ihrer sehr unterschiedlichen Ansichten zusammenarbeiten könnten. In einer Ampel glaube ich das aber weniger. Schade, dass es nicht für ein Zweierbündnis Grüne / FDP reichen wird. 🙂

                    • Ariane 26. März 2021, 16:02

                      Sehe ich ähnlich wie Stefan, weswegen ich Dreierkoalitionen aktuell auch begrüßen würde, zur Not auch Jamaika, obwohl ich denke, mit der Ampel wäre mehr möglich.

                      Dann hätte man zwei zukunftsgerichtete Parteien, die der jeweils konservativeren die Veränderungen abringen könnten.

                      Ich denke, bei der Ampel wäre es noch einfacher, weil die SPD sich da eher treiben lassen würden, die sind halt einfach eine gute Verwaltungspartei. (Würde hier auch noch den Vorteil nennen, dass man dann eine recht gut geschmierte, erfahrene Truppe zu zwei Neulingen an der Regierung hätte, was sicher auch nicht verkehrt ist. Wenn man an die Jamaika-Verhandlungen denkt, könnte es bei einer Ampel eventuell sogar harmonischer ablaufen. Naja vielleicht^^)

                      Die CDU hat das Problem, dass die gerade in ihrem Inneren durcheinander sind und deutlich mehr konservative Beharrungskräfte laufen. Gerade weil es da einen gewissen Backlash gibt, noch irgendeinen konservativen Markenkern zu behalten, deswegen sehe ich da zb wenig Hoffnung für Änderungen im Familienrecht. (die dringend nötig wären)

            • Floor Acita 25. März 2021, 20:11

              „Manchmal ist der Sexismus bei den Grünen auch unerträglich, wenn der Co-Vorsitzende Habeck im deutschen Fernsehen verkündet, er würde auf Kandidatenambitionen verzichten, wenn Annalena Baerbock ihre Ansprüche als Frau geltend machen würde. An diese Art von Sexismus haben wir uns traurigerweise gewöhnt.“

              Mal im Ernst und völlig losgelöst von der konkreten Entscheidung. Die Selbstunterwerfung eines Mannes unter eine Frau ist nicht Sexismus. Bei tatsächlichem Sexismus hat eine Seite normalerweise keine Wahl und unterwirft sich nicht selbst. Sonst wäre jede Form einvernehmlichen BDSM ebenfalls Sexismus…

              • Stefan Pietsch 26. März 2021, 12:43

                Ich bin ja immer begeistert, wen Menschen ihre eigenen Definitionen bringen. Es zeigt nämlich dann die Substanz eines Arguments. 😉

                Nein, Sexismus hängt nicht von der „Freiwilligkeit“ ab. Wenn ich zu einem Freund sage, Frauen sind weniger leistungsfähig als Männer, dann ist das auch dann sexistisch, wenn das keine Frau hört und keine Aktion daraus erfolgt. Die Benachteiligung allein aufgrund des Geschlechts bleibt auch dann Sexismus, wenn das Opfer einwilligt in die Benachteiligung. So sagen es Studien, so wird es von der Mehrheit der Gesellschaften bewertet, so steht es im Grundgesetz.
                Der markanteste Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt in der Definition von Sexismus. Die meisten befragten Frauen waren sich einig: Verhalten und Denkweisen, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts benachteiligen oder herabwürdigen – das ist Sexismus.
                Die meisten befragten Männer hingegen meinten, ein anzüglicher Spruch kann nur als Sexismus bezeichnet werden, wenn dieser von der adressierten Person bemerkt wird. Abfällige Bemerkungen und Zoten unter Männern, die die gemeinten Personen nicht hören, seien demnach kein Sexismus. Diese Einstellung sei vor allem unter Männern ab mittlerem Alter und aus bestimmten Milieus (Traditionelle und Bürgerliche) üblich.

                https://www.emotion.de/leben-arbeit/gesellschaft/sexismus-studie

                Sie haben nun eine Definition gesucht, die die von Ihnen präferierte Partei schützt und eine Verhaltensweise, die sie goutieren, „rein“ lässt. Das geht nicht.

                Bei BDSM wird niemand aufgrund des Geschlechts benachteiligt. Es ist ein Spiel der Unterwerfung, keine Realität. Wenn Habeck, obwohl weit populärer, aufgrund seines Geschlechts zurückzieht, weil es die Parteinormen so vorsehen, dann sind die Parteinormen explizit sexistisch.

              • Stefan Sasse 26. März 2021, 13:44

                Guter Punkt; Diskriminierung erfordert ein Machtgefälle.

            • Hias 26. März 2021, 01:36

              Tatsächlich machte der Bundesfinanzminister mit Zugriff auf die Finanzämter des Landes (ja, ich weiß, nicht völlig unkompliziert) keine Anstalten, die Dinge unbürokratisch zu erledigen.

              Vorsicht, das vertrackte am deutschen Föderalismus ist, dass der Bund fast keinen Verwaltungsunterbau hat. Dies gilt auch für die Finanzbehörden. Der Bundesfinanzminister hat nur Zugriff auf das Bundeszentralamt für Steuern, alles darunter inklusive der ausführenden Finanzämter vor Ort sind Landesbehörden! Und wenn die Ländern nicht wollen, dann kann der Bundesfinanzminister da nichts machen.
              Aber ansonsten bin ich bei Ihnen, die Finanzämter wären die einzig sinnvolle Option für eine schnelle Auszahlung gewesen.

              • Stefan Pietsch 26. März 2021, 12:45

                Ich weiß um die Komplexität, deswegen habe ich vorsichtig formuliert. Aber in diesem besonderen Fall wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Problem gewesen, die Hilfen über die Finanzämter zu organisieren.

                • Hias 26. März 2021, 18:39

                  Natürlich wäre es kein Problem gewesen, das über die Finanzämter zu organisieren. Und es wäre auch die bessere Wahl gewesen. Nur denke ich nicht, dass der Bundesfinanzminister daran Schuld ist.

          • Erwin Gabriel 26. März 2021, 12:03

            @ Stefan Sasse 25. März 2021, 01:12

            Ich denke nur, dass Sexismus in der JU verbreiteter ist als Gewalt in den Jusos.

            (Schau, ich kann genauso abstrus schreiben wie Du:)

            Ich denke, dass Sexismus bei der Grünen Jugend und den Jusos verbreiteter ist als Gewalt bei der JU.

            • Stefan Sasse 26. März 2021, 13:47

              Finde nicht abstrus, das anzunehmen. Würde ich dir unterschreiben.

  • Hias 25. März 2021, 00:00

    zu 1.) Vor zwei Monaten hätte ich noch müde gelächelt, aber aufgrund der letzten Wochen ist da alles meiner Meinung nach alles offen, auch was die Koalitionen angeht. Wenn das so weitergeht, dann werden Grüne und FDP nicht nur nach den politischen Gemeinsamkeiten mit Union oder SPD fragen müssen, sondern auch, ob man mit z.B. mit dem Spitzenpersonal der Union überhaupt eine funktionsfähige Regierung bilden kann.

    zu 4.) Das ist übrigens auch mit ein Punkt, warum man gerne mal Beraterfirmen reinholt: Aufscheuchen der Belegschaft und auf den Kopf drehen der Prozesse. Auf einmal müssen die Mitarbeiter begründen, warum man etwas genauso macht und da reicht kein „haben wir schon immer so gemacht“ mehr aus.

    zu 5.) Muss man für einzelne Akte unbedingt die Begrifflichkeit „Rassismus“ benutzen? Wäre es nicht besser, da mit Wörtern wie Vorurteile oä zu hantieren? Bei Rassismus denke ich immer an Nazis und Ku Klux Klan und dann geht man doch automatisch in eine Abwehrstellung („Ich bin dich nicht wie die“).

    zu 10.) Auf der einen Seite geht es mir wie Blanchard, zu unglaublich sind einfach die Geldsummen, auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass man das Thema Inflation zu sehr mit der Welt der 70er Jahre betrachtet. So ist mein Eindruck, dass ein guter Teil der zusätzlichen Geldmenge schlicht und einfach in den Finanz- und Immobilienmarkt fließt, die sich beide mMn gerade ziemlich aufheizen.
    Und dass man einfach nicht so richtig Digitalisierung und Globalisierung mit einpreist. Inflation bedeutet ja, dass einer bestehenden Warenmenge eine steigende Geldmenge gegenübersteht. In den 70er wollten dann halt doppelt so viele den Grundig-Fernseher und sie konnten ihn entweder im lokalen Elektroladen oder bei Quelle kaufen. Heutzutage kaufen sie den Fernseher bei Amazon oder Chinagadet.com oder gleich bei Alibaba (viel größere Warenmenge). Oder man kauft sich eine teurere Urlaubsreise oder vermehrt digitale Angebote. Diese Dienstleistungen haben den Vorteil, dass sie skalierbar sind. Einen Grundig-Fernseher konnte ich nur einmal verkaufen, eine Reise kann ich deutlich öfter verkaufen und E-Books oder Apps kann ich so oft verkaufen wie ich will, die „Waren“menge geht gegen unendlich und verhindert so mehr und mehr eine Inflation.

    11.) Nun, ich denke mal, das größte Problem mit AstraZeneca ist, dass man den Eindruck hat, dass sie die EU übers Ohr hauen und systematisch UK bevorzugen.

    • Stefan Sasse 25. März 2021, 01:14

      1) So krass ist es nicht, aber die CDU hat viel Glanz verloren in den letzten Wochen.

      4) Genau. Aber auch das macht der Staat mittlerweile ja.

      5) Ja, aber diese Abwehrhaltung ist ja gerade das Problem. Ich kann einzelne rassistische Akte haben, ohne dass mich das zum Rassisten macht. Das ist der zentrale Denkfehler dieser ganzen bescheuerten Debatte

      11) Sicher EIN Problem, aber das GRÖSSTE?

      • CitizenK 25. März 2021, 11:04

        1) Es ist krass: Ein Minister, der Test ankündigt, die er nicht hat. Weil er sich mehr um die Abwehr von Journalisten kümmert, die den Kaufpreis seiner Villa recherchieren? Der Apothekern Milliarden zuschustert, die von einigen Anständigen in der Branche indigniert zurückgewiesen werden? Eine „TaskForce“ für die wichtigste aktuelle Frage, die aus demselben Minister und einem anderen Versager besteht? Ein Wirtschaftsminister, den selbst die „Wirtschaft“ für eine absolute Fehlbesetzung hält? Zwar, die Verantwortliche wird in einem halben Jahr weg sein – während die Krise sich weiter verschärfen wird. Der wahrscheinliche Nachfolger wenig überzeugend. Das ist mehr als nur „Glanz verloren“.
        Anmerkung für Protokoll: Das sind alles keine „Linken“.

        • Stefan Sasse 25. März 2021, 11:27

          Nicht so geil, ja.

        • Ariane 25. März 2021, 13:33

          Das ist mehr als nur „Glanz verloren“.

          Sehe ich ähnlich, da ist gerade schon ein ziemlicher Meltdown im Gange. Der auch nicht aufhört:
          https://www.zeit.de/amp/politik/deutschland/2021-03/haftbefehl-in-der-maskenaffaere-erlassen

          Das bröckelt ja auf zwei Seiten, auf der einen Seite funktioniert in Sachen Pandemiebekämpfung quasi nix, auf der anderen Seite wird immer mehr ausgegraben. Das ist wie eine Flutwelle, ähnlich wie die Spiegel-Spahn-Geschichte, die vermutlich gar nicht so bedenklich war. Ein bisschen wie Wulffs Bobbycar.

          Es gab irgendwo auf Twitter eine Diskussion, ob das für die Union sogar gefährlicher ist als die Spendenaffäre damals, zum Einen weil es viel dezentraler ist und zum Anderen, weil halt nebenbei noch eine Pandemie herrscht. Das ist auch echt fies, da gibt es ja nicht einen einzelnen Befreiungsschlag, den man machen kann.

          Und als Nachfolger hat man den Laschet, was ja nun auch wenig Hoffnung macht.

      • Hias 26. März 2021, 00:36

        1.) Doch es ist krass, es hat mMn richtig großes Sprengpotential. Der wichtigste Punkt ist, dass praktisch alle auf Bundesebene bekannte Pandemie-Politiker Unionisten sind (Spahn, Merkel, Laschet, Söder). Andere Politiker, selbst Scholz kommen da irgendwie nur am Rande vor. Dann kommt hinzu, dass bei der Union die Kanzlerkandidatur noch offen ist (zusätzliche Unsicherheit in einer Krisensituation ist auch nicht so dolle). Und wenn ein Nachfolger kommt, dann einer von denen, die sich gerade nicht mir Ruhm bekleckern. Und dazu die ganzen sonstigen Probleme, wie die Korruption, die unfähigen Minister, die inzwischen selbst als Karikaturen zu überzeichnet wären. Aber er mMn entscheidende Punkt ist, dass die Union gerade erfolgreich die fundamentale Grundüberzeugung der Deutschen zerstört, dass sie die natürliche Regierungspartei ist. Wenn die Default-Einstellung schon so katastrophal ist, warum sollte ich vor einer anderen Partei Angst haben. Kann Annalena Baerbock jemals soviel kaputt machen wie Andi Scheuer? Aktuell ist die Union in einer Abwärtsspirale und ich sehe da kein Ende. Und mit zunehmender Nervosität und sinkenden Umfragewerten wird das nicht besser werden (als Sozialdemokrat spreche ich da doch auch aus Erfahrung).

        5.) Ja, da gebe ich Dir Recht. Aber ist es sinnvoll mit dieser Dialektik anzukommen, wenn ich damit erst Abwehrhaltung auslösen und diese dann auch noch überwinden muss? Finde ich persönlich etwas kompliziert und ob man dann damit noch durchkommt?

        11.) Das war falsch formuliert. Ich meinte, damit, dass man schlicht und einfach den Eindruck hat, dass Astrazeneca ein Betrügerverein ist. Und keiner traut einem Betrügerverein.

        • Stefan Sasse 26. März 2021, 13:45

          1) Hoffen wir dass du Recht hast!

          5) Ich sehe keine Alternative.

  • Ariane 25. März 2021, 13:13

    1) Ich denke, es ist eher eine strategische Frage und ob es wirklich zu einer Ampel-Koalition kommt, erstmal zweitrangig. (Vor einigen Monaten war btw nicht mal sicher, ob die FDP noch in den Bundestag kommt).
    Und für die FDP ist es gerade vorteilhaft, nicht als Anhängsel der Union wahrgenommen zu werden, sonst geraten sie noch mit in den Abwärtsstrudel.

    Und klar hätten sie ein gemeinsames Projekt, das sich gerade gut verkaufen würde: Modernisierung. Ob nun gesellschaftlich, Digitalisierung, Verwaltungsstrukturen etc. pp. Würde ihnen gerade auch helfen, selbst vom raffgierigen Geldmacherimage wegzukommen, das die Union gerade recht exklusiv hat.
    Btw: die FDP hat bei den jungen Wählern bei den Landtagswahlen auch sehr gut abgeschnitten, ich glaube zweiter Platz hinter den Grünen.

    Ich denke auch, dass es ihnen in einer Koalition entgegen kommen würde, dann automatisch als DIE Wirtschaftspartei wahrgenommen zu werden, sie hätten da vermutlich mehr Spielraum als in einer Koalition mit der Union. Natürlich müssten sie Kompromisse eingehen, aber ich denke man müsste auch darauf schauen, dass dann endlich mal Dinge angepackt werden können, die mit der Union absolut nicht zu machen sind und seit zig Jahren verschleppt werden.

    3)
    Ich denke, dieses Zitat spielt auch eine große Rolle:
    Sie glaubt, es ändere sich erst etwas, wenn mehr Frauen in die Junge Union kämen – dass es dazu kommt, glaubt sie aber nicht. „Das wirkt total abschreckend auf Frauen.“

    Das führt ja auch zu einem Teufelskreis, ähnliches hört man ja auch häufig aus FDP- und AfD-Kreisen. Denn wer geht und trägt die Konsequenzen? Die Frauen. (Logischerweise, absolut kein Vorwurf, ich hätte da auch keine Lust drauf). Während sich die Männer vermutlich auf die Schultern klopfen, erzählen Frauen können doch, sind aber nicht hart genug.
    (hier Rant über Julian Reichelt mit dazudenken).

    Das zieht sich dann durch, bei den Grünen sind sie annähernd bei 50% glaube ich, das verändert ja auch das ganze innere Gefüge. Alleine schon, weil das Exotische an Frauen in der Politik wegfällt und das selbstverständlicher wirkt.

    Ich glaube, das zu durchbrechen ist auch deswegen schwer, weil es von innen kommen muss. Wenn ich die JU als Macho-Sauhaufen bezeichne, interessiert das logischerweise keine Sau. Da muss schon die Selbsterkenntnis irgendwann kommen, dass sie sich damit selbst schaden.

  • Ariane 25. März 2021, 13:19

    Aso zu 5) noch. Würde das nicht nur auf Rassismus beziehen, sondern auch auf Sexismus. Da hat sich schon viel getan in den letzten Jahren und es gehört ja auch irgendwie dazu, dass die Abwehrdebatten dann häufig mit steigen.

    Ich denke, das Wichtigste, ist den ersten Schritt „Gibt es Rassismus/Sexismus in XYZ?“ zu überspringen, damit man nicht jedes Mal wieder von vorne anfängt. Solche Debatten langweilen mich meistens fürchterlich und führen auch nicht weiter, die fangen einfach immer wieder von vorne an.

    Ich fand diesen Artikel hier ganz gut, der dreht sich eher um Sexismus, notallmen, etc:
    https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2021-03/femismus-sexismus-mordfall-sarah-everard-belaestigung-maenner/seite-2

    Und das passt eben gut zu Selbstreflektion und mal aus seiner Komfortzone heraustreten. Weil das eben oft so unterschiedliche Welten sind. Als Frau sclhägt man mit dem Kopf auf den Tisch, wenn er sich fragt, warum alle Frauen mitten in der Nacht am Handy hängen 😉

    Den Titel finde ich übrigens nicht gut. Es geht nicht darum, sich zu schämen. Das halte ich für Quatsch, außerdem setzt sich dann ja erst recht niemand hin und versucht ne andere Perspektive, wenn das mit negativen Gefühlen wie Scham zusammenhängt. Hier geht es ja nicht zwingend um Schuld, sondern mehr um einen Perspektivenwechsel.

  • CitizenK 25. März 2021, 18:08

    „Zweierbündnis Grüne / FDP“
    Die Liberalen und die „Verbotspartei“? Feuer & Wasser? Interessant.

    • Stefan Sasse 26. März 2021, 13:44

      Gott, vor überschaubar kurzer Zeit galt die Idee einer schwarz-grünen Koalition als absurd. Hier die Polizeipartei, da die Steineschmeißer.

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