Warum Müntefering Recht hatte

Es gibt kaum einen so billigen und allzeit verwendbaren Witz, als auf Frank Münteferings Wort von den Wahlversprechen, an denen die Politiker zu messen unfair sei. Tatsächlich hat Müntefering nämlich Recht. Aber dass die Menschen und besonders die Medien so aggressiv reagieren, wenn wieder einmal eine Partei ein ihnen teures „Wahlversprechen“ bricht, und dass dieselben Leute überhaupt nicht reagieren, wenn ihnen das „Versprechen“ egal ist zeigt, dass moralische Maßstäbe anzulegen schlichtweg wenig Sinn macht.

Ein „Wahlversprechen“ ist nämlich in Wahrheit eine „Wahlabsichtserklärung“. Die Parteien erklären, was sie tun WOLLEN, wenn sie denn nur die Macht dazu HÄTTEN. Da in einer Demokratie aber das Prinzip der Checks&Balances herrscht und zusätzlich die BRD ein föderaler Staat sind, dessen Zusammensetzung sich wegen der ineinander verschobenen Legislaturperioden in der laufenden Legislatur ändert, ist das Beharren auf der unbedingten Einhaltung jedes „Wahlversprechens“ (etwa der FDP-Forderung nach Steuersenkungen, für die sich keine Mehrheit mehr fand) eine faktische Unmöglichkeit.

Eine solche Idee vom Wahlversprechens zeugt sogar geradezu von mangelndem demokratischem Verständnis, denn ohne Rücksicht auf Koalitionspartner und Vetospieler lassen sich nur auf verfassungswidrigem Wege irgendwelche politischen „Versprechen“ wahr machen. Stattdessen muss klar sein, dass mancher „Bruch“ gar nicht in der Hand der verantwortlichen Politiker lag (etwa, als das BVerfG die CDU zur Bewegung auf dem Gebiet der Homo-Ehe zwang). Gleichzeitig kann auch nicht verschwiegen werden, wenn aus reiner Opportunität oder wegen eines bereits vorher als unhaltbar bekanntem Zustand etwas nicht umgesetzt wird (besonders die Forderungen nach Bildungsinvestitionen sind schon rein rechtlich kaum machbar, weil seit der Föderalismusreform-II praktisch alle Kompetenzen bei den Ländern liegen, nur um ein Beispiel zu nennen).

Der Begriff ist auch aus anderem Grund problematisch: Politik ist zu einem gigantischen Teil der Umgang mit Krisen und aktuellen Entwicklungen. Absichtserklärungen im Wahlkampf sind eine Momentaufnahme. Viele Wahlversprechen haben sich bereits unter dem Druck aktueller Ereignisse in Luft aufgelöst, weil die Grundlage schlicht nicht mehr gegeben war. Diese Unterscheidung wird aber weder von Medien noch vom Volk vorgenommen, wo man nur sieht, was einem persönlich gefallen hätte, nicht aber, was durchsetzbar war (Obamas Nicht-Auflösung von Guantanmo, die der Umsetzung von Obamacare zum Opfer fiel, ist nur ein Beispiel).

Die Verwendung des Begriffs ist daher zumindest mit Schuld an der negativen Wahrnehmung von Absichtserklärungen in Wahlkampf und Parteiprogramm. Dabei bieten diese so oder so nur eine grobe Orientierung.

Das Merkwürdige ist, dass die Bevölkerung Wahlversprechen üblicherweise auch instinktiv so betrachtet: reine Absichtserklärungen, die unter den Bedingungen des echten politischen Alltagsgeschäfts nicht bestehen können.

Die Rhetorik ist dagegen eine andere; gerne beschwert man sich über die lügenden Politiker, denen nicht zu trauen ist, würde sich aber sofort beschweren wenn diese auf dem Prinzip beharren, wenn dieses in den Untergang führt (wie die Tea Party gerade in den USA erfährt). Und Treue zu Versprechen der gegnerischen Partei wird ohnehin nicht eingefordert, sondern deren Einbrechen goutiert.

Was fehlt ist eine Möglichkeit, sinnvoll einzuordnen und zu überprüfen, welche Wahlversprechen warum nicht eingelöst wurden. Zugunsten reißerischer Narrative wird diese Aufgabe von den Medien weitgehend vernachlässigt, und die Politik selbst hat häufig ein Interesse an einem bestimmten Spin, der sich kaum mit den tatsächlichen institutionellen Zwängen deckt.

Franz Münteferings Wort, es sei unfair, Politiker an Wahlversprechen zu messen, ist daher wahr. Es wird zwar gerne als Paradebeispiel für den Zynismus der Politiker vorbeiparadiert, ist aber tatsächlich lediglich ein Nennen des Offensichtlichen: zwischen Koalitionspartner, Bundesrat und dem Druck von Tagesereignissen lassen sich die eigenen Ziele eben nicht hundertprozentig durchsetzen. Der Anspruch selbst ist undemokratisch.

{ 8 comments… add one }
  • Lars 18. Oktober 2013, 12:56

    Bitte ändere für die BRD die Gewaltenteilung in Gewaltenverschränkung, denn wir haben hier nicht mal ansatzweise eine Gewaltenteilung.

    • Stefan Sasse 18. Oktober 2013, 14:53

      Ja, aber wir haben Checks&Balances. Ich lass einfach den englischen Begriff stehen, der ist präziser.

      • georg 21. Oktober 2013, 18:12

        haben wir wirklich ? und ist der begriff präziser , glaub ich nicht

  • CitizenK 18. Oktober 2013, 14:43

    Woran soll sich der Wähler dann orientieren, bitte schön?

    Wenn die SPD plakatiert „Merkel-Steuer – das wird teuer“ und dann statt 2 Prozent 3 Prozent MwSt mitbeschließt, nenne ich das vorsätzliche Wählertäuschung.

    Und so differenziert wie Du das darstellst, Stefan, hat Münte das auch nicht gemeint. Der Mann hat auch bei anderen Gelegenheiten gezeigt, dass er arrogant und selbstherrlich ist. Den auch noch in Schutz zu nehmen – was soll das?

    • Stefan Sasse 18. Oktober 2013, 14:52

      Ich kann Müntefering überhaupt nicht ab. Ich halte ihn für einen der Sargnägel der SPD, wenn nicht sogar einen entscheidenden. Aber mit dem Statement hat er einfach Recht.
      Und die Mehrwertsteuererhöhung ist mehr die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
      Und woran soll sich der Wähler orientieren? An dem, was er bisher auch tut. Niemand glaubt Wahlversprechen. Die Leute entscheiden bereits jetzt für sich, was realistisch ist und was nicht.

      • causb 18. Oktober 2013, 15:44

        Einspruch!
        Natürlich sind die Politiker an ihren Versprechungen zu messen, an was sonst?
        Stefan du gehst dem Müntefering auf den Leim, wenn du ihm seine Appelation an die niederen Instinkte der Fairness abnimmst.
        Es gibt exakt zwei redliche Verhaltensweisen.
        Erstens: keine Wahlversprechen abzugeben, was aber unweigerlich zu weniger Publicity führt weil es nichts gibt worüber die Medien berichten können und somit ein Nachteil für die Wahlchancen. Prinzipiell ehrenwert, aber wenig erfolgreich.
        Zweitens: vorauszusetzen dass der Wähler weiß was von diesen sogenannten Versprechen zu halten ist, und ich denke, dass fast alle Politiker wie Wähler davon ausgehen.
        Dann ist allerdings die Beschwerde Münteferings ein wenig armselig und ich kann ihm in seiner Position nicht unterstellen ein dummer Hund zu sein. Bleibt die Möglichkeit, dass er die Eingangs genannte Mitleidsnummer abzieht. In die Schlangengrube springen und sich beschweren, dass Schlangen drin sind…
        Damit weißt du, welches Personal die SPD in ihre Führung setzt.

        • Stefan Sasse 18. Oktober 2013, 17:00

          Nun, Politiker versprechen aber nicht, dass sie das garantiert machen werden. Es wird nur immer als „Wahlversprechen“ bezeichnet und ihnen so ausgelegt, das ist ja genau mein Punkt. Und natürlich spielen sie dieses Spiel auch mit (ich sage nur der ewig nervige Vorwurf „Wahlbetrug“).

  • Kirkd 18. Oktober 2013, 18:49

    Bert Brecht: Über den Verrat
    Soll man ein Versprechen halten? Soll man ein Versprechen geben? Wo etwas versprochen werden muß, herrscht keine Ordnung. Also soll man diese Ordnung herstellen. Der Mensch kann nichts versprechen. Was verspricht der Arm dem Kopf? Daß er ein Arm bleibt und kein Fuß wird. Denn alle sieben Jahre ist er ein anderer Arm. Wenn einer den anderen verrät, hat er denselben verraten, dem er versprochen hat? Solang einer, dem etwas versprochen ist, in immer andere Verhältnisse kommt und sich also immer ändert nach den Verhältnissen und ein anderer wird, wie soll ihm gehalten werden, was einem ändern versprochen war? Der Denkende verrät. Der Denkende verspricht nichts, als daß er ein Denkender bleibt.

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