Verrückte Freihandelsbefürwortende besprechen Haftbefehle beim Niederbrennen von New York – Vermischtes 18.11.2025

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die „Fundstücke“ werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die „Resterampe“, in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Die Madman-Theorie

Es wird erläutert, dass viele Deutsche und Europäer Donald Trump zu wörtlich nähmen und deshalb seine provokanten Aussagen als reale Bedrohung verstünden. Im Artikel wird betont, dass Trumps Verhalten als kalkulierte Strategie gesehen werden müsse, die auf Unberechenbarkeit und Inszenierung beruhe. Diese sogenannte „Madman-Theorie“ werde von Politikwissenschaftlern als Methode beschrieben, Gegner durch gezielte Verwirrung und Drohungen zu Zugeständnissen zu bewegen. Es wird ausgeführt, dass Trump damit international Erfolg gehabt habe, etwa durch Druck auf Nato-Staaten zur Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben oder durch Einfluss auf Nahostpolitik. Während Europäer nervös reagierten, nähmen viele Amerikaner Trumps Auftritte als Show oder taktisches Bluffen wahr. Die US-Demokratie werde als stabil bezeichnet, weshalb die Furcht vor einem autoritären Machtmissbrauch übertrieben sei. Der Artikel schließt mit dem Hinweis, Europa müsse lernen, gelassener mit Trumps kalkulierter Unvorhersehbarkeit umzugehen. (Erik Kirschbaum, WELT)

Zwei Gedanken hierzu. Auf der einen Seite halte ich es nicht für sonderlich fruchtbar, bei Trump ständig versuchen zu wollen, diesem affektgesteuerten und von kurzfristigen PR-Interessen getriebenen Verhalten irgendeine tiefergehende Rationalität unterstellen zu wollen. Ich verstehe den Impuls dafür: die Vorstellung, dass der Präsident der USA effektiv nach Tageslaune und ohne irgendwelche Logik seine Festlegungen trifft, ist furchterregend. Aber es hilft nichts, da eine Methode hineinzudeuten, die schlicht nicht da ist. Nichts von dem, was wir aus der ersten Amtszeit wissen, deutet darauf hin, dass Trump in irgendeiner Weise strategisch denkt. Dazu kommt, dass die Madman-Theorie nicht funktioniert. Der Name geht auf Nixon zurück (nicht auf Politikwissenschaftler*innen), der versuchte, durch erratisches und auftrumpfendes, aggressives Verhalten die Sowjets zu erschüttern, in der Hoffnung, dass sie zu seiner Beruhigung Zugeständnisse machen würden. Inwiefern Nixon jemals überhaupt diese „Strategie“ verfolgte und inwieweit sie nur ein nachträglicher Versuch ist, das eigene erratische Verhalten zur Strategie zu adeln, ist mindestens umstritten; so oder so hat es nicht funktioniert. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass etwa ein Xi Jinping sich von so etwas beeinflussen lassen würde.

2) Haftbefehl als Unterrichtsstoff? In Deutschland leider eine schreckliche Idee

Es wird anhand der Netflix-Doku „Babo“ konstatiert, dass Haftbefehl derzeit enorme Resonanz erzeuge (Streaming-Spitze, Debatten, „Reinhard-Mey“-Effekt). Zugleich wird berichtet, eine Offenbacher Schülervertretung fordere, seine Texte als Unterrichtsstoff zu nutzen; Kultusministerien hätten abgewunken. Grundsätzlich werde geltend gemacht, Gangsta-Rap sei relevante Subkultur und Spiegel „prekären Deutschlands“; aus Haftbefehls Songs lasse sich über Ökonomie, Sozialdarwinismus und Erzähl- sowie Sprachformen lernen. Im Sinne der Cultural Studies werde gefordert, Hoch- und Popkultur zu mischen. Zugleich werde gewarnt, dass das deutsche Schulsystem dafür nicht gerüstet sei: Lehrkräfte wirkten häufig didaktisch wie digital unzeitgemäß; eine schulische Behandlung würde die subversive Kraft des Genres neutralisieren – „unsexy“ und kontraproduktiv. Pointiert werde formuliert, moderner Stoff sei nötig, noch nötiger seien jedoch moderne Lehrkräfte, die ihn vermitteln könnten. Insgesamt werde die Idee als „eigentlich selbstverständlich“, im hiesigen Kontext aber als „schreckliche“ Fehlumsetzungschance bewertet. (Dennis Sand, WELT)

In den Grundsätzen bin ich völlig bei Sands Argumenten. Aus demselben Grund bespreche ich im Unterricht auch Popsongs; ich brauche dafür jetzt nicht zwingend Haftbefehl. Songs, egal welchen Genres und Interpreten, sind die heutige Form von Lyrik, und den Schüler*innen die Fähigkeit zu geben, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, ist sicherlich kein Fehler. Gleichwohl macht Sand gleich zwei typische Fehler. Zum einen ist die Idee, Haftbefehl zum verbindlichen Unterrichtsstoff zu machen, der gleiche Impuls, der ständig die Bildungsplandebatten ruiniert: warum genau der und nicht ein anderer Rapper? Warum unbedingt und ausschließlich Rap? Welche Inhalte kommen stattdessen raus? Und so weiter. Der andere Fehler ist leider Gottes das Ende des Artikels. Das Problem sind nicht moderne oder unmoderne Lehrkräfte. Allmählich dürfte sich gerne mal rumgesprochen haben, dass Bildungspläne im Kultusministerium für ein Bundesland verbindlich vorgegeben werden. Ich kann mir halt nicht frei aussuchen, was ich im Unterricht mache, vor allem in den Jahrgangsstufen nicht. Ich bin der falsche Adressat für diese Kritik. Öffnet endlich die Bildungspläne!

3) What the Left Still Doesn’t Get About Winning

Es wird beschrieben, dass der Sieg von Zohran Mamdani bei der Bürgermeisterwahl in New York City zwar als historisch und symbolisch gefeiert werde, seine Bedeutung für die nationale Politik der Demokraten jedoch überschätzt werde. Der Artikel stellt heraus, dass Mamdani in einer traditionell demokratischen Hochburg gewann, wo linke Kandidaten ohnehin gute Chancen hätten. Sein Sieg sage daher wenig über die landesweite Attraktivität sozialistischer Positionen aus. Es wird betont, dass Mamdani trotz seiner radikalen Rhetorik taktische Zugeständnisse an die politische Mitte gemacht habe – etwa durch Entschuldigungen gegenüber der Polizei und die Distanzierung von umstrittenen Parolen. Diese Anpassungen würden zeigen, dass er sich der Grenzen seiner Position bewusst sei. Kommentatoren wie Bernie Sanders lobten ihn zwar als Vorbild für eine neue Bewegung, doch der Text argumentiert, sein Erfolg sei weniger Ausdruck eines politischen Umbruchs als das Ergebnis schwacher Gegner und lokaler Dynamiken. (Jonathan Chait, The Atlantic)

Diese immer gleichen Debatten um die Deutung von Siegen von Linksaußen-Kandidat*innen sind langsam echt öde. Die Wahlen in den USA folgen einem sehr berechenbaren Schema von Mobilisierung und Gegenmobilisierung, Erfolg und Backlash: eine Partei gewinnt Wahlen, was die Opposition erregt und mobilisiert, während die eigene Seite enttäuscht wird und demobilisiert. Die Nachricht ist nicht, dass die Democrats gerade Wahlen gewinnen; es wäre eine, würden sie es nicht tun. Vorstellungen wie „The Anti-MAGA Majority Reemerges“ sind daher zum Teil eine „Mirage„. Wenn „Democrats: Falling for flawed outsiders“ wahr ist, wäre das eine ziemlich schlechte Nachricht. Denn Chait hat völlig Recht: die Wahlen gewinnen die Democrats in der Mitte, nicht an den Rändern. Mamdani und Ocasio-Cortez mögen zwar das progressive Herz schneller schlagen lassen, aber sie sind keine Modelle für das ganze Land. Dasselbe gilt für irgendwelche Rechtsradikalen, die in Arkansas gewinnen. Siehe zum Thema auch The 2025 Elections and Future of the Democratic Party: Why Spanberger and Sherrill Provide a More Plausible Model for Success than Mamdani.

4) Soziologe Oliver Nachtwey: „Es gibt eine Lust, alles niederzubrennen“

Es wird dargelegt, der gegenwärtige Liberalismus habe sich „moralisch, normativ, kommunikativ“ überfordert und nur „marktvermittelte Buntheit“ zugelassen, während Verteilungsfragen verdrängt würden. Beschrieben wird eine illiberale Verengung: Alternativen würden als „Sachzwang“ präsentiert, nicht-akademische Lebensentwürfe symbolisch abgewertet. Die vielbeschworene „Cancel Culture“ wird als Chimäre bezeichnet; problematisch sei vielmehr, dass Dissens politisch-ökonomisch eingehegt werde. In der Ökonomie wird skizziert, der Neoliberalismus schütze Eigentum vor demokratischer Kontrolle, fördere Ungleichheit und besitze autoritäre Affinitäten (Pinochet, Milei). Am Niedergang öffentlicher Infrastruktur wird ein Vertrauensverlust illustriert, der das Gefühl nähre, der Staat sei „nur noch für die anderen“ da. Als Folge wird eine „Lust, alles niederzubrennen“ diagnostiziert: Zerstörungsenergie speise sich aus Abstiegsängsten, Nullsummendenken und kulturellen Konflikten – ein Nährboden für „demokratischen Faschismus“ innerhalb funktionierender Demokratien. Gefordert wird, den Liberalismus sozial zu öffnen, reale Alternativen zuzulassen, Infrastruktur und Gerechtigkeit zu stärken und zivilgesellschaftliches Engagement zu mobilisieren. (Michael Hesse, FR)

Ich finde es super wichtig, Krisenanalysen aus einer Perspektive her zu entwickeln, die nicht entweder die Existenz der Krise verleugnet oder unpassende Schemata verwendet. Ich habe selbst ja auch immer wieder auf die Problematik der Handlungsfähigkeit hingewiesen; nicht umsonst heißt unsere rechtsextreme Partei ALTERNATIVE für Deutschland. Es war ja eine direkte Reaktion auf die oft propagierte Alternativlosigkeit. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das bisherige Ignorieren der Ungleichheitsfrage, die beständig in den Rankings der wichtigen Themen aufkommt, aber in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielt. Der rechte Vorwurf, die Migrationsdebatte sei stets verhindert worden, schlägt hier zurück, weil diese Debatte unterdrückt wird. Zuletzt ist die „Lust, alles niederzubrennen“ ja auch ein treibender Faktor hinter den Wahlen von zunehmend radikalen Kandidat*innen: wenn der Glaube daran, dass das System für einen selbst funktioniert, immer weiter erodiert, wird die Alternative des „alles Zerschlagens“ immer attraktiver.

5) How to Fix Free Trade

Es wird unterschieden zwischen ausgewogenem Handel zur Effizienzsteigerung und politisch erzeugten Dauerüberschüssen, mit denen Länder „Kosten ins Ausland“ verlagern. Beschrieben wird, wie Staaten durch billiges Kapital, Währungsdämpfung und Infrastruktursubventionen Produktion verbilligen und Partner zu Defiziten, Schulden oder Arbeitslosigkeit zwingen. Anhand Deutschlands (Hartz-Reformen, Lohnzurückhaltung, Euro-Rahmen) und Chinas (negative Realzinsen, Reserven in US-Anleihen) werde illustriert, wie Überschüsse anderswo Industrieabbau bewirkten. Kritisiert wird, dass Mainstream-Modelle ausgeglichenen Handel voraussetzen und so diese Dynamiken verkennen. Gefordert wird eine „neue globale Zollunion“, in der Mitglieder „Handel relativ frei und balanciert“ halten und Überschuss-/Defizitgrenzen einhalten; gegenüber Nichtmitgliedern würden variable Zölle oder Kapitalsteuern Ungleichgewichte abfangen. Begründet wird dies damit, dass „geteilte Integration geteilte Beschränkungen“ verlange: Staaten dürften interne Ungleichgewichte nicht exportieren, sondern müssten deren Kosten selbst tragen. Andernfalls seien „beggar-thy-neighbor“-Spiralen und Fragmentierung unvermeidlich. (Michael Pettis, Foreign Affairs)

Pettis weist in meinen Augen auf einen wichtigen Punkt hin, wenn es um Freihandel geht: die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen. Man könnte quasi analog zu dem etwas naiven Einlösen der Friedensdividende, wo es um Verteidigungshaushalte ging, auch eine spiegelbildliche Naivität im liberalen Lager sehen, das die eher apolitische Hochzeit der liberalen Welthandelsordnung in den 1990er Jahren, mit der Gründung der WTO und dem Beitritt aller relevanten Staaten bis 2011, als eine naturgegebene ansah, die sich reproduzierend fortschreiben lassen würde. Aber dieser Institutionalismus funktioniert eben nur, wenn alle Beteiligten ihn auch tragen. Das ist etwa in der EU der Fall, die von der Freihandelsintegration her sehr gut funktioniert – und auch zum Gewinn aller Beteiligten. Mit Böckenförde gesprochen lebt der Freihandel von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das Problem scheint mir, dass die Kritik am liberalen Konsens lange nicht tragfähig war: weder konnte die „Globalisierungskritik“ von links je eine Alternative aufbauen, noch, wie sich gerade zeigt, die radikale Rechte.

Resterampe

a) Senate Democrats Just Made a Huge Mistake (The Atlantic). Was für Idioten.

b) Deutschland braucht nicht eine FDP, sondern zwei (Spiegel). Was für ein hanebüchener Unsinn. 

c) Fireside Friday, November 7, 2025 (On the Roman Strategy Debate) (ACOUP) Für Thorsten 🙂

d) Merz ist der neue Habeck (Welt) „Die Eingriffe gehen sogar über die Planwirtschaft von Robert Habeck hinaus“, Alter…das ist so ein Extremismus mittlerweile bei diesen Leuten, völlig abgeschossen.

e) FOX News mal wieder lustig. (Bluesky)

f) Doppelstandard. (Bluesky)

g) Doppelmoral bei der FDP. (Bluesky) Ich sag das immer wieder: es ist nie eine Prinzipienfrage. Das war bei Cancel Culture genauso.

h) Warum fact checking nutzlos ist. (Bluesky)

i) Linnemann warnt vor Verunsicherung durch Debatte um Erbschaftsteuer (ZEIT). Nicht so schlimm hingegen ist Verunsicherung durch Kürzungen bei Gesundheit, Pflege, Rente und Bürgergeld…

j) Lackmustest für Labour. (Twitter)

k) Leitartikel von Ruprecht Polenz zur „CDU der Mitte“. (T-Online)

l) The Moral Cost of the Democrats’ Shutdown Strategy(The Atlantic). Das Problem, wenn du die Guten bist.

m) Das dürfte für Ralf ein ordentlicher Beleg sein. (Twitter)

n) Sehr ausführlicher Bericht über Antonin Scalia und den Originalismus. (The Atlantic)

o) Zum Problem mit dem Moralisierungsvorwurf. (Twitter)


Fertiggestellt am 17.11.2025

{ 2 comments… add one }
  • VD 18. November 2025, 08:13

    1) Die Madman-Theorie
    Man sollte etwas nicht mit Verschwörungs- oder anderen Theorien erklären, was sich einfach durch Dummheit oder Blödheit erklären lässt.

  • DerDieDas 18. November 2025, 09:55

    zu 5) Das Problem wird in Deutschland nicht ansatzweise verstanden, weil es in Deutschland kaum Makroökonomen jenseits der neoklassischen Ideologie gibt und das große Publikum VWL für «BWL in groß» hält.
    Die deutschen Unternehmen mach sich seit Jahrzehnten auf Kosten seiner Nachbarn und der arbeitenden Bevölkerung im eigenen Land die Taschen voll, denn von dem Leistungsbilanzüberschuss profitiert lediglich ein winziger Anteil der Bevölkerung. Während der größte Teil der Bevölkerung die Zeche in Form des Niedriglohnsektors wortwörtlich zahlt.
    Und die Politik und deutsche «Spitzenökonomen» entblöden sich dann auch nicht, beispielsweise Italien seine Staatsschulden vorzuwerfen ohne zu verstehen, dass es gerade diese Staatsschulden sind, die die deutsche Leistungsbilanzüberschüsse erst ermöglichen.

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.