Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die „Fundstücke“ werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die „Resterampe“, in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) So werdet ihr es nicht schaffen!
Der Leitartikel stellt dar, dass die schwarz-rote Koalition aus CDU und SPD mit Kanzler Merz und Finanzminister Klingbeil in „falscher Aufstellung, Einstellung, Kommunikation und Philosophie“ regiere. Kritisiert wird, dass das Kabinett unerfahren sei und viele Minister kaum bekannt oder eigenständig profiliert seien. Die SPD wirke nach Jahrzehnten des Regierens erschöpft, die Union sei durch Rivalitäten und Kulturkampfrhetorik geschwächt. Die Folge seien handwerkliche Fehler und fehlende Geschlossenheit. In der Einstellung werde ein ständiges Schwanken bemängelt: Reformen würden groß angekündigt, dann aber verwässert, widersprüchliche Signale prägten das Bild. Auch bei der Kommunikation gelinge es weder Kanzler noch Kabinett, Vertrauen oder Klarheit zu vermitteln, stattdessen dominiere ausweichendes Reden und politische Blasenrhetorik. Philosophisch werde festgehalten, dass die Strategie, allein durch Problemlösungen die Mitte zurückzugewinnen, scheitere, weil politische und gesellschaftliche Widerstände größer seien als die Kapazitäten der Regierung. Gefordert wird, stärker die emotionale Seite der Menschen anzusprechen und einen Kulturwandel zu wagen. Andernfalls bleibe die Regierung unfähig, die großen Krisen zu bewältigen und die AfD einzudämmen. Fehler müssten als „ungeborene Utopien“ verstanden werden, aus denen neue Politik erwachsen könne. (Bernd Ulrich, Die Zeit)
Neben dem Fehlen einer positiven Zukunftserzählung (siehe letztes Vermischtes) halte ich es für ein weiteres Defizit der demokratischen Parteien, dass sie zwar versuchen, durch konkrete Handlungen Verbesserungen zu erreichen, aber das nicht vernünftig kommunizieren. Das ist quasi die andere Seite der Medaille: was gesagt wird, ist viel zu negativ (keiner wählt die Blut-Schweiß-und-Tränen-Fraktion, fragt mal Winston Churchill), und das Positive wird nicht gesagt. Wenn man etwas erreicht, muss man es auch rauströten. An und für sich müssten überall, wo durch das Sondervermögen jetzt Sachen gebaut werden, riesige Schilder hin: „Powered by Sondervermögen“ oder so. Quasi ganz unironisch „Ihre Steuergelder bei der Arbeit“, oder so. Die EU hat übrigens seit jeher dasselbe Problem. Die hätten auch von Anfang an mandatieren sollen, dass überall, wo mit den Strukturfonds was gebaut wird, ein Schild mit den gelben Sternen auf blau hinkommt. Da könnte man etwa in Ostdeutschland oder Osteuropa mal sehen, wer eigentlich das Brot buttert, statt sich in ressentimentgeladene Phantasien zu flüchten.
2) Wer wenig hat, ist in ihren Augen selbst schuld
Der Artikel untersucht die verbreitete Annahme, der Aufstieg der AfD sei vor allem mit sozialer Benachteiligung zu erklären und durch einen Ausbau des Sozialstaats zu bremsen. Die Auswertung der German Longitudinal Election Study zeige jedoch, dass AfD-Anhänger klassischen wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen skeptisch gegenüberstünden. So sei ihre Zustimmung zu höheren Steuern für Wohlhabende oder zu mehr staatlicher Umverteilung geringer als bei allen anderen Wählergruppen. Stattdessen forderten sie überdurchschnittlich häufig Kürzungen beim Bürgergeld und stünden einem starken Sozialstaat distanziert gegenüber. Zwar sei die Angst vor ökonomischem Abstieg in dieser Gruppe hoch, doch übersetze sich dies nicht in den Wunsch nach mehr Absicherung, sondern in die Erwartung einer sozialen Ordnung, die bestehende Privilegien garantiere. Studien legten nahe, dass Unterschiede bei Einkommen oder Bildung von AfD-Anhängern als verdient betrachtet würden und Armut als selbstverschuldet gelte. Ein „universalistischer Wohlfahrtsstaat“ könne daher eher ihre Ablehnung verstärken. Das Fazit lautet, dass ökonomische Sorgen zwar eine Rolle spielten, die Wahlentscheidung aber stärker von ideologischen Überzeugungen geprägt sei. (Julius Kölzer & Mark Schieritz, Zeit Online)
Es ist immer dieselbe Erzählung bei den Rechtsradikalen. Das fing bei Hitler an, dem man auch ständig unterstellte, von den Arbeitslosen gewählt zu werden (was bereits 1930 widerlegt wurde!) und zieht sich bis heute durch, jedes Mal, wenn irgendwo Rechtsradikale im Aufwind sind. Es stimmt aber nie. Erstens wählen Arbeitslose und die Ärmsten im Schnitt sowieso viel weniger und oft gar nicht als andere Bevölkerungsschichten, und andererseits eben nicht diese Parteien. Deren Wählendenschaft ist von Abstiegsängsten geprägt, nicht von realem, bereits passierten Abstieg. Zweitens übersetzt sich weder Abstiegsangst noch realer Abstieg in eine Unterstützung für einen universalen Sozialstaat. Vielmehr greifen klassische psychologische Muster. Es gibt eine tiefe Aversion dagegen, scheinbar oder real Unterstützung nicht „verdienenden“ Personen diese abzusprechen, während gleichzeitig niemand jemals sagen würde, selbst darunter zu fallen. Man selbst verdient die Unterstützung immer, ist immer unverschuldet in der Situation, während es die bösen anderen sind, die unverdient Leistungen erhalten, die gefühlt einem selbst zustehen würden. Diese Dynamik lässt sich bei rechten Parteien überall behaupten, in Reinform wohl bei den Republicans in den USA.
3) Should Democrats Nominate Anti-Abortion Candidates?
Kurzfassung: Die Idee, Demokraten sollten in roten Bundesstaaten „pro-life“-Kandidaten nominieren, taugt weder strategisch noch empirisch. Abtreibungsrechte sind in Kansas, Ohio und (per Volksentscheid) Missouri mehrheitsfähig, während Republikaner dort trotzdem gewannen—Parteibindung überwiegt Policy-Positionen. Historische Beispiele „pro-life“-Demokraten liefern keine tragfähige Erfolgsserie (Ausnahmen: John Bel Edwards; Cuellar hält sein House-Distrikt). Siege roterstaatlicher Demokraten hängen meist an schwachen/eskalierenden GOP-Gegnern (Bevin, Kobach, Mourdock/Akin, Moore) statt an moderateren Positionen. In Swing States gewinnen pro-choice-Demokraten regelmäßig. Fazit: Prinzipienverzicht auf Abtreibung bringt keine nachhaltigen Zugewinne; erfolgversprechender sind starke, profilierte Kandidat:innen, klare Angriffe auf einen unpopulären Präsidenten und Fokus auf winnable races—selbst dann bleiben rote Staaten zumeist verloren wegen Polarisierung. (Michael A. Cohen, Truth and Consequences / Substack)
Diese fixe Idee von einer Moderation als Antwort auf alle Probleme werden Leute wie Ezra Klein einfach nicht los. Zwar spricht alle Evidenz dagegen, aber nichts bringt so zuverlässig Kolumnenplatz in den großen liberalen Medien wie diese Position. Es ist auch auffällig, dass diese Debatte sich immer auf die progressive Seite kapriziert. Während unzweifelhaft wahr ist, dass die aktivistische Basis mit ihren „woken“ Ideen oder Vorstellungen sozialistischer Umverteilung oder postkolonialer Kritiken nicht eben im Mainstream befindet, gilt das ja für die rechte Seite ebenso. Nur wird man auf FOX News sicherlich niemanden finden, der beste Sendezeit freigestellt bekommt, um Republicans in Kalifornien zu empfehlen, doch für Abtreibung einzutreten. Davon abgesehen ist die Position eines demokratischen Kandidaten in Arkansas völlig wurscht: ein Staat, den Trump mit +30% gewinnt, wird nicht wegen einer Policy-Position den Kandidaten wechseln. Anders ausgedrückt: ein grüner Spitzenkandidat könnte in Bayern noch so viel Weißwurst fressen, es würde Söder nicht gefährlich werden, und es wäre absurd anzunehmen, dass ein CDU-Kandidat in Kreuzberg mit Besuch in der Sisha-Bar oder Prideflagge am Balkon plötzlich gewinnen würde.
Cass Sunstein verteidigt in seinem neuen Buch „On Liberalism“ eine breite Auslegung des Liberalismus, die er als „großes Zelt“ beschreibt. Gemeint seien die Prinzipien Freiheit, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit, die für ihn sowohl New-Deal-Liberale wie Barack Obama als auch Vertreter des Marktliberalismus wie Hayek, Nozick oder Ronald Reagan umfassen. Die bewusste Auslassung aktueller Politiker wie Donald Trump erklärte er damit, dass er keine tagespolitische Streitschrift verfassen, sondern Grundgedanken erläutern wolle. Er betonte, dass er frühere Gegenspieler aus dem wirtschaftsliberalen Lager heute als Verbündete sehe, auch wenn viele Figuren – etwa Hayek oder Rothbard – durch rassistische oder illiberale Äußerungen auffielen. Auf die Frage nach den Wurzeln der gegenwärtigen Rechten führte er aus, dass Angriffe auf „Political Correctness“ oder „Wokeness“ eine Rolle gespielt hätten, dass aber die US-Geschichte insgesamt von unvollständiger Treue zu liberalen Prinzipien geprägt sei. Zum Supreme Court äußerte er die Einschätzung, dass alle neun Richter in ihrem Kernverständnis liberal seien, auch wenn ihre Auslegung – etwa bei Originalisten wie Clarence Thomas – kritisch zu sehen sei. Das Erstarken Trumps erklärte er teils mit der Angst vieler Republikaner um Mandat und Sicherheit. Menschenrechte verstand er als Teil des liberalen Kanons, wobei es unterschiedliche Auffassungen gebe, welche Rechte dazugehören. Auffällig zurückhaltend blieb er beim Thema Henry Kissinger, den er trotz kontroverser politischer Vergangenheit als großzügigen Freund beschrieb, ohne dessen Handeln politisch zu bewerten. Insgesamt zeichnete Sunstein ein optimistisches Bild, das auf eine breite Allianz liberaler Denktraditionen setzt, um aktuellen Illiberalismen zu begegnen (Isaac Chotiner, The New Yorker).
Dieses Interview ist wirklich die Lektüre wert. Man fragt sich, auf welchem Planeten Sunstein lebt. Einerseits ist die Argumentation so breit angelegt, dass sie fast beliebig ist. Ein Liberalismusbegriff, der von Reagan bis Bernie Sanders reicht, ist so umfassend, dass er als Beschreibung kaum von „demokratisch“ (mit kleinem „d“) unterscheidbar ist. In Deutschland würde er einfach alle Parteien inklusive der Hälfte der AfD umfassen. Isaac Chotiner selbst ist ja manchmal auch völlig ungläubig ob dessen, was Sunstein ihm da erzählt. Der Mann ist ein großartiger Interviewer. Ich frage mich, wie er es hinbekommt, dass Leute sich dermaßen selbst in ein schlechtes Licht stellen. Und ich hab Sunstein früher echt geschätzt…
5) Left-Wing Terrorism Is on the Rise
Eine Studie des Center for Strategic and International Studies wertete 750 Terroranschläge und -pläne in den USA seit 1994 aus und kam zu dem Befund, dass 2025 erstmals seit mehr als 30 Jahren linksextreme Vorfälle die von rechts übertreffen. Angemerkt wurde, dass linke Gewalt nach Trumps Aufstieg 2016 wieder zugenommen habe, meist mit anti-regierungs- oder parteipolitischen Motiven. Dennoch sei sie deutlich seltener und weniger tödlich als rechtsextreme Gewalt, die in den vergangenen Jahrzehnten mehr Opfer forderte. Unter Biden habe es eine stärkere Bekämpfung rechter Netzwerke gegeben, was die Zahl rechter Angriffe reduzierte. Mit Trumps Rückkehr ins Amt scheine der Mobilisierungsdruck für Rechte geringer, da sie politische Erfolge bereits erreicht hätten. Die Ermordung des rechten Aktivisten Charlie Kirk könne jedoch eine neue Eskalation begünstigen, da von konservativer Seite nun die These vom „Krieg der Linken“ verbreitet werde. Forscher warnten, dass solche Übertreibungen und selektive Verurteilungen Gewaltspiralen verstärken könnten. Nötig sei, jegliche politische Gewalt klar abzulehnen, auch wenn sie aus den eigenen Reihen komme, um Extremisten zu isolieren und Vertrauen in demokratische Auseinandersetzungen zu stärken (Daniel Byman, The Atlantic).
Man kann den Democrats wahrlich nicht vorwerfen, dass sie Gewalt nicht verurteilen würden; das unterscheidet sie auch klar von der GOP. Dasselbe trifft allerdings für die linke Basis zu, und das ist das Problem an der Sache. Denn dort ist Gewalt tatsächlich deutlich auf dem Vormarsch, oder – und darauf geht Byman ja auch aus – ihre Akzeptanz. Das hat leider auch der Fall Charlie Kirk gezeigt. Es ist zugegeben auch sehr schwierig, in diesen Fällen nicht sofort in „ja, aber“ zu verfallen; dazu braucht es nicht mal Gewalt. Die Cancel-Culture-Debatte hat das auch immer wieder gut illustriert. Umgekehrt ist genauso schwierig, der Verführung zu widerstehen, den jeweiligen Fall als Knüppel in der innenpolitischen Auseinandersetzung zu nutzen und zu versuchen, Punkte zu erzielen, die dann auch vom jeweiligen Fall wegführen. Die gute Nachricht an dieser Stelle ist, denke ich, dass politische Gewalt in Deutschland zwar ebenfalls zunimmt, aber bei weitem nicht das Niveau der USA hat. Im Übrigen empfehle ich Michael Butters Interview von der Resterampe a) als Ergänzung mit seinen Hinweisen zur Ideologie der Täter.
Resterampe
a) Michael Butter im Interview zu Trump und Verschwörungstheorien. (ZEIT)
b) Cancel culture: Now coming from the Right (The Week). Always did.
c) Democrats: Harris and Biden’s blame game (Washington Monthly). Das Gute ist: interessiert keinen.
Fertiggestellt am 27.09.2025
„An und für sich müssten überall, wo durch das Sondervermögen jetzt Sachen gebaut werden, riesige Schilder hin: „Powered by Sondervermögen“ oder so.“
Das Schild müsste heißen: „Normalerweise wäre das hier mit den normalen Einnahmen gebaut werden, aber die verwenden wir lieber für Wahlgeschenke und machen das hier über Schulden – Mit freundlichen Grüßen an die Nachfolger, die das dann ausbaden dürfen“.
Aktuell dürfen wir alle ausbaden, dass früher nicht genug Schulden gemacht worden sind. Als da wären eine heruntergewirtschaftete Bahn, marode Infrastruktur, eine bedingt einsatzbereite Bundeswehr, klamme Kommunen, die ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen können etc. pp., die Liste ist beliebig verlängerbar.
Deutschland wird den Rechtsextremen ausgeliefert, aber Hauptsache die Schuldenbremse wurde eingehalten!
„Früher“ (wann auch immer) wurden schon Dinge mit Schulden finanziert, die uns heute auf die Füße fallen, während Andere Dinge allenfalls notdürftig repariert (im besten Falle) oder auf die lange Bank geschoben wurden.
Im Übertitel steht das falsche Datum, 02.09 statt 02.10. Nicht dass da das Archiv durcheinanderkommt.