Ein Gastbeitrag von Erwin Gabriel
Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, fordert ein Pflichtjahr für Rentner, um „Generationengerechtigkeit“ herzustellen; wer widerspricht, betreibe „Realitätsverweigerung“. Konkrete Umsetzungsvorschläge bleibt er jedoch schuldig. Seine Ideen erscheinen hingeschludert, ohne Abschätzung von Kosten und Zeitrahmen für die Einführung eines Pflichtjahres für Alte.
Betroffene
Jährlich gehen rund 900.000 Menschen in Rente. Realistisch einsatzfähig wären davon etwa 500.000. Zum Vergleich: Der Höchststand der Bundeswehr lag bei 495.000 Soldaten (1985). Im Vergleich zu Fratzschers Vorstellungen soll diese Zahl allerdings jährlich ausgetauscht bzw. neu ins System eingeschleust werden.
Verwaltungskosten
Nach einmaliger Datenübermittlung durch die Rentenversicherung müsste die Pflichtjahr-Behörde regelmäßig eine Million Einladungsschreiben versenden. Es folgen Gesundheitsprüfung und Kompetenzfeststellung, anschließend die Zuordnung zu Einsatzstellen. Am Ende der Prüfung können vielleicht eine halbe Million eingesetzt werden.
Der Bearbeitungsaufwand pro Person läge bei 4–5 Stunden. Das bedeutet rechnerisch 2.000 bis 2.500 Vollzeitstellen, realistisch mit Overhead und Rechtsprüfung 5.000 bis 10.000 Vollzeitstellen. Bei ca. 80.000 Euro pro Stelle entstehen 400 bis 800 Mio. Euro Verwaltungskosten. Diese Zahlen sind angelehnt an Erfahrungswerte aus Jobcentern und Freiwilligendiensten.
Für die medizinische Untersuchung sind 200 Euro pro Person anzusetzen, also 180 Mio. Euro jährlich (entsprechend betriebsärztlichen Untersuchungen).
IT-Betrieb, Support, Lizenzen und Audits schlagen mit rund 100 Mio. Euro zu Buche, Versicherungen mit 10 bis 25 Mio. Euro (Schätzung nach Größenordnung bundesweiter Verwaltungs-IT-Systeme wie ElterngeldDigital, BA-IT).
Die Gesamtkosten pro Jahr für Bürokratie lägen also zwischen 0,7 und 1,1 Mrd. Euro.
Weitere Kosten / Vergütung
Für die Abdeckung von Unfall-, Haftpflicht- und Zusatzrisiken kämen nochmal 20 bis 45 Mio. Euro on top. Da „Zwangsarbeit“ ohne Bezahlung juristisch bedenklich ist, fielen bei Mindestlohn, berechnet auf durchschnittlich 30 Std/Woche (= 20.000 Euro pro Person + Arbeitgeberkosten) etwa 11,6 Mrd. Euro jährlich an.
Einarbeitung
Auch hier gibt es Vergleichswerte aus anderen Diensten. Die Einarbeitung dauert durchschnittlich 6 bis 8 Wochen, die Kosten pro Pflichtjahr-Rentner betragen rund 4.800 Euro. Bei 500.000 Teilnehmern ergeben sich jährliche Einarbeitungskosten von 2,4 Mrd. Euro.
Dies Einarbeitung bindet eine Fachkraftkapazität von 36.000 Vollzeitstellen – bevor eine Entlastung entsteht. Weiter zu berücksichtigen ist, dass wie an anderen Stellen auch durch Urlaub (30 Arbeitstage) und Krankheit (ca. 15 Arbeitstage) ein Ausfall von etwa 20 Prozent der Arbeitsleistung entstünde.
Aufbauzeit
Für Gesetzgebung und Grundgesetzänderung wären etwa zwei Jahre nötig, für Behörde und IT weitere zwei bis drei, hinzu kämen eine Pilotphase von einem Jahr und ein bundesweiter Roll-out von zwei Jahren. Realistisch wäre ein Zeitraum von sechs bis acht Jahren, bis das System zuverlässig läuft. Ein Start 2026 würde also frühestens 2030/31 wirksam – genau zum Höhepunkt der Babyboomer-Rentenwelle und entsprechend knappen Fachkräften.
Die Aufbaukosten betragen 0,6 bis 1,1 Mrd. Euro, bevor überhaupt ein stabiler Betrieb aufgenommen werden kann.
Rechtlichen Aspekte
Art. 12 GG verbietet Arbeitszwang; eine Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit wäre nötig (wenn auch sehr unwahrscheinlich). Selbst dann blieben Bedenken zu Verhältnismäßigkeit (Nutzen vs. Eingriff in Freiheitsrechte) und Gleichbehandlung (Rentner vs. Jüngere).
Nutzen
Ein Pflichtjahr für Rentner könnte gesellschaftlich Nutzen bringen, indem sie Fachkräfte bei einfachen Aufgaben entlasten (Vorlesen, Begleitung, Essensausgabe) und symbolisch zeigen, dass auch Ältere zur Bewältigung von Krisen beitragen. Punktuell könnten Engpässe in Schulen oder Pflegeeinrichtungen abgefedert werden. Allerdings benötigen Rentner zwei bis drei Monate Einarbeitung und scheiden nach 9–10 Monaten wieder aus, sodass Wissen ständig verloren geht. Strukturelle Probleme wie Fachkräftemangel lassen sich damit nicht lösen, da Hilfe nur bei einfachen Tätigkeiten erfolgt.
Fazit
Der Nutzen eines Pflichtjahrs für Rentner ist vergleichsweise gering, da die geleistete Arbeit nur Hilfstätigkeit sein kann und alle aufwendig eingearbeiteten Kräfte nach einem Jahr wieder ausscheiden. Die Kosten sind dagegen sehr hoch:
Die Arbeitsleistung der dienstverpflichteten Rentner betrüge etwa 250.000 Vollzeitstellen. Auf Grundlage von Mindestlohn entspräche die Monetarisierung dieser Arbeitsleistung etwa 7,0 Mrd. Euro. Dem ständen etwa Gesamtkosten von etwa 15 Mrd. Euro gegenüber. Das Pflichtjahr wäre damit volkswirtschaftlich ineffizient, selbst bevor Qualitäts- und Koordinationsverluste berücksichtigt werden.
In meinen Augen ist das eine Phantomdebatte und zeigt auch, dass Herr Fratzscher die Realität vielerorts nicht kennt.
Fast jeder Verein den ich kenne, funktioniert, weil es eine Ansammlung von Menschen gibt, die sich statt ihre Rente zu Hause zu verbringen, sich mit ihrer Zeit in dem Verein einbringen. Sicherlich könnten es mehr sein, aber ggf. findet man bessere Wege ehrenamtliches Engagement zu fördern, als einen Plfichtdienst aus dem Boden zu stampfen.
Zitat Soeren Schmitz“
„In meinen Augen ist das eine Phantomdebatte und zeigt auch, dass Herr Fratzscher die Realität vielerorts nicht kennt.“
Wird er vielleicht schon kennen und es ist ihm offenbar auch wurscht, seine geringe Reputation als „Wissenschaftler“ noch weiter herabzusetzen. Hauptsache, der ganze Unsinn wird im „Netz“ und in herkömmlichen Medien kräftig betalkt. Aber irgendwann ist die Luft nach unten auch aufgebraucht.
Können sie ihre Behauptung, wer widerspreche betreibe ‚Realitätsverweigerung‘, belegen? Ansonsten nette Fleissarbeit und vor allem so urdeutsch, wie vor allem die Kosten «berechnet» werden. Da könnte man fast den Eindruck bekommen, sie machen sich über die Deutschen lustig.
Nicht „Ihre Behauptung“ sondern Fratschers Behauptung. Siehe
https://www.welt.de/politik/deutschland/article68b00c95d492032667a5d5ae/pflichtjahr-fuer-rentner-er-verstehe-die-komplette-realitaetsverweigerung-der-vielen-boomer-nicht-sagt-fratzscher.html
Erwin, alles richtig und verfehlt doch den entscheidenden Punkt:
Die Wehrpflicht soll uns zu den ausgebildeten Reserven verhelfen, die eine Armee im Ernstfall dringend braucht, sie überhaupt erst einsatzfähig macht. Das ist ihr einziger Sinn und Zweck. Und genau dafür ist die Einbeziehung von Rentnern völlig untauglich, das ist eine Fratzersche Gerspensterdebatte.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich lese hin und wieder, Pflege sei heute auch deshalb ein Problem, weil es keine Zivis mehr gibt. Waren die dann eigentlich von der Kostenseite her auch volkswirtschaftlich ineffizient?
Für Zivildienstleistende (als Ersatz für den Wehrdienst) sah die Rechnung ein wenig anders aus:
Deren Arbeitgeber übernahmen Verpflegung, Unterkunft und Sozialversicherung, darüber hinaus gab es eine Art Taschengeld in Höhe von zwischen 9 und 11 Euro pro Tag. Erwins Rechnung ist darauf nicht anwendbar.
@ pannaKraweel
Waren die dann eigentlich von der Kostenseite her auch volkswirtschaftlich ineffizient?
Wie Thorsten sagt: nicht vergleichbar. Zivildienstleistende erbrachten einen Ersatzdienst für die Wehrpflicht. Das ist durch Art. 12 GG abgedeckt, das Rentnerjahr wäre es nicht. Da müsste eine Grundgesetzänderung her, und anschließend werden Details wie die Vergütung etc. wohl durch Bundesgerichte geklärt. Da wird eine „Taschengeldlösung“ nicht funktionieren.
Eine “Taschengeldlösung” funktioniert auch abseits des Zivildienstes. Während meiner Diplomarbeit habe ich monatlich für meine Vollzeittätigkeit + Wochenendarbeit um die 500 DM (ja, ich meine Deutsche Mark, also etwa 250 Euro) pro Monat bekommen. Während der vier Jahre meiner Doktorarbeit habe ich monatlich 1050 Euro (ja, mittlerweile waren es Euro) für Vollzeitarbeit + Wochenendarbeit, insgesamt im Schnitt etwa 60 Stunden pro Woche, bekommen. Dazu bekam man einen Vertrag für einen “normalen” Angestellten mit der halben Stundenzahl, damit man den halben Lohn bezahlen konnte. Gleichzeitig wurde sehr deutlich kommuniziert, dass Vollzeitarbeit erwartet wurde. Mit etwas Kreativität geht also alles.
@ Ralf
Hier geht es um eine nicht freiwillige Zwangsverpflichtung.
Also auf 2010 bezogen und den Mittelwert an Taschengeld angenommen, kosteten Zivildienstleistende ca. 220 Euro TG, 165 Euro Verpflegung, 250 Euro Unterbringung (grob geschätzt) und ca. 400 Euro Sozialversicherung, zusammen 1035 Euro/Monat. Das war ganz grob sehr viel weniger als die Hälfte eines ausgebildeten Krankenpflegers (Arbeitgeberkosten) und lohnte sich von 12 Monaten Dienst an (aufwärts) wegen der Einarbeitungs- und Trainingsphase. Aufgrund der natürlichen Unbeliebtheit des Wehrdienstes gab es auch genügend Zivis, zuletzt afair über 60.000/Jahr.
Gruss,
Thorsten Haupts
Danke für die Antworten!
Der Zivildienst wurde ja zuletzt immer kürzer, da wurde es doch iwann schwierig mit dem Verhältnis Einarbeitungsaufwand/Nutzen?
Ja, 2010 war mit der Verkürzung auf 6 Monate de facto Schluss.
Danke für alle Antworten!
Wenn ich mir nur die Tauglichkeitsprüfung für jährlich 900000 Neurentner vorstelle…wir sind ja schon mit einer gaaaanz eventuell wieder anstehenden Wehrpflicht überfordert. Zusammen mit der Rentenzahlung würde ein Taschengeld wohl auch steuerlich umständlich.
Habe das Gefühl, die Idee kommt a) aus der Verzweiflung und b) aus dem Wunsch, von denjenigen, die zuerst zu wenig Kinder bekommen haben, eine Kompensation zu erhalten.
Bei Ich-wünsch-mir-was hätte ich nichts gegen ganz freiwilliges, noch zahlreicheres Engagement fitter Menschen mit Tagesfreizeit in der Leseförderung zum Beispiel. (Ja, auch da braucht es etwas Verwaltungsaufwand.) Das geht auch per Zoom vom Kreuzfahrtschiff aus 😉 Unsere Grundschulen schaffen Lesenbeibringen nämlich nicht flächendeckend und das ist übel.
Kristina Schröder hat da auch eine Idee, die viel vernünftiger ist als die von Fratzscher. Ehe man ältere Menschen für Pflichtdienste heranzieht, ist es sinnvoller, Bürgergeldempfänger grundsätzlich zu sozialen Diensten zu verpflichten.
Das sehe ich schon lange ähnlich. Wüsste nicht, was dagegen spricht, schliesslich alimentiert die Solidargemeinschaft sie im Gegenzug.
Welche Tätigkeitsbereiche für Pflichtarbeit für BG-Bezieher stellen Sie sich dabei vor, die idealerweise a) nützlich sind und b) keine regulären Jobs verdrängen?
(Ehrliches Interesse.)
Auch nur Effizienzgedanken, glaube ich. Weil das Rotationsargument gilt da ja doppelt und dreifach: wenn die Leute Jobs finden, sind sie weg. Du kannst ja null planen mit denen, weil die jederzeit einen Job kriegen könnten.
Ich denke soziale Dienste erfordern auch, eine gewisse Bereitschaft sich auf andere Menschen einlassen zu können. Einen völlig demotivierte Person würde ich nicht auf Menschen loslassen – es gibt aber Hilfsttätigkeiten in sozialen Einrichtungen, z.B. bei der Essensausgabe, in der Küche, in der Haustechnik wo diese Menschen ihren Beitrag leisten könnten.
Grundsätzlich halte ich Arbeitseintze in der Gemeinde für Bürgergeldempfänger für durchaus sinnvoll. Ich meine mich aber erinnern zu können, dass die Einführung daran scheiterte, dass Unternehmen befürchteten, diese Hilfsarbeiter würden Aufträge wegnehmen.
Fratzscher und seine Unterstützer stellen die Frage doch auch nicht. Kristine Schröder hat recht: Man muss die Motivationsstruktur von Bürgergeldempfängern ändern. Mit ein paar Euro Kürzung geht das nicht. Wir müssen uns mal die Rahmenbedingungen vor Augen halten: Ein Drittel hat noch n.i.e. gearbeitet, weitere 20 Prozent und mehr (genau weiß ich es nicht aus dem Kopf) hat seit 10 Jahren und mehr nicht mehr gearbeitet. Das ist nicht erklärbar und unterscheidet sich erheblich von anderen OECD-Ländern. Dazu finden sich bei Razzien unter den Schwarzarbeitern viele Bürgergeldempfänger.
Die Ein-Euro-Jobs wurden nicht auf Druck der Wirtschaft weitgehend beendet, sondern aus politischen Gründen.
Laut Jobcenterwebsite gibt es zumindest noch die Möglichkeit zu ‚Arbeitsgelegenheiten‘, aka 1-Euro-Jobs.
Gibt es. Hat nur praktisch keine Bedeutung mehr. Aber warum daraus nicht einen Pflichtdienst machen?
Ich habe die damalige Debatte nicht präsent, war noch zu klein.
Welche nützlichen Tätigkeiten wären es, die nicht gleichzeitig durch die viel billigere Arbeit durch BG-Bezieher sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse (z.B. Stellen in öffentlichen Grünanlagen, Kantinen, Pflegehelfer) zerstören? Wenn wir gleichzeitig den Mindestlohn abschaffen, haben wir wieder das Aufstockungsproblem und alles wie vorher.
Der von E. Gabriel unter der Überschrift „Rechtliche Aspekte“ ganz richtig beschriebene Sachverhalt müsste demnach so ergänzt werden: Soll nicht für Bürgergeldempfänger gelten. Logischerweise müsste diese Ausnahme für die Bösen dann aber auch bei Grundsicherung im Alter angewendet werden.
Die Frage ist, ob man wirklich jeden Kandidaten einer Gesundheitsprüfung unterziehen muss. Die Tätigkeit könnte man sich als Betroffener ja zumindest teilweise mit aussuchen, wobei nicht notwendigerweise körperlich anstrengende Arbeiten anfallen müssen. Dabei denke ich z.B. an soziale Dienste wie das Gehen in Alten- und Pflegeheime sowie in Krankenhäuser, um mit den Menschen dort zu sprechen, zu spielen, um zuzuhören. In meiner Zivildienstzeit habe ich das bei Hausbesuchen gemacht. Eigentlich sollte ich die Wohnung putzen oder einkaufen. Aber das haben die alten Leute meistens selbst gemacht. Was diese Menschen wirklich wollten, war mal mit jemandem reden. Mal jemanden haben, der ihnen zuhört. Jemanden haben, dem sie von ihrer Jugend erzählen können. Und dafür muss man nicht besonders fit sein. Wenn man das ganze über die sozialen Träger koordiniert, die früher auch den Zivildienst organisiert haben, dann hält sich auch der Verwaltungsaufwand in Grenzen. Und der Bedarf für diese sozialen Tätigkeiten ist enorm. Die Einsamkeit der alten Menschen hat mich schon damals in den 90ern schockiert. Und das ist sicher nicht besser geworden.
@ Ralf
Wenn es nach Fratzscher geht, ist jeder frischgebackene Rentner fällig; er hat keine Ausnahmen für Kranke oder eingeschränkt taugliche vorgesehen. Ich muss aber, wenn ich jemanden per Gesetz zur Arbeit verpflichten will, sicherstellen, dass er die physisch bewältigen kann. Kann der Betreffende nicht und kriegt auf dem Pflichtjob einen Herzkasper, hat der Staat ein Problem.
Mach z.B. ein Waiver-Programm. Wer auf die Gesundheitsprüfung verzichtet, ist einen Monat früher fertig.
Hätte man mir das damals vor dem Zivildienst angeboten, hätte ich dankend angenommen und mir die lästige Musterung gespart. Ich konnte mir ja an zwei Fingern abzählen, dass ich – leider kerngesund – nicht für untauglich erklärt werden würde.
Es war auch ein ZEIT-Artikel und kein Policy-Paper.
Okay, da sind wir beim Kern.
Dann wäre „ZEIT-Artikel“ ein anderer Begriff für:
Dummes Dahergequatsche für gelangweilte Bildungs- und Besitzbürger, die sich irrtümlicherweise für irgendwie „links“ halten. 🙂
Etwas freundlich könnte man sagen: Denkanstoß. Warum nur Bürgergeld-Empfänger und nicht auch gesunde („rüstige“, sagte man früher) Ältere motivieren?
Ich hab schon ein bisschen das Gefühl, dass da jeweils das Ressentiment mitschwingt, wer sich der Meinung der jeweiligen Autor*innen nach zu wenig einbringt.
Der Unterschied zwischen Bürgergeldempfänger und Älteren ist die Bezahlung und damit der gesellschaftliche Nutzen.
Langzeitarbeitslose werden bereits von der Gesellschaft bezahlt, leisten aber im Gegenzug nichts. Wenn jemand ein hohes Einkommen bezieht, daraus hohe Steuern und Sozialabgaben zahlt, hat es keinen gesellschaftlichen Nutzen, ihn zur unentgeltlichen Zwangsarbeit heranzuziehen. Fratzscher geht es um die Alten, die an der Grenze zum Renteneintritt stehen, bzw. diese Grenze gerade überschritten haben. Sie erhalten von der Gesellschaft Renten, aber leisten nichts (mehr). Allerdings hätte die Verlängerung der Lebensarbeitszeit um ein Jahr einen deutlich höheren Effekt als das Pflichtjahr.
Allerdings hätte die Verlängerung der Lebensarbeitszeit um ein Jahr einen deutlich höheren Effekt als das Pflichtjahr.
Exakt!
Wozu ein Pflichtjahr in einem Arbeitsfeld, wo jemand sich mit weit über 60 erst einarbeiten muss, anstatt ihn einfach ein Jahr länger auf dem Gebiet arbeiten zu lassen, auf dem er sein ganzes Arbeitsleben Erfahrung gesammelt hat.
Gilt ja für Kristina Schröders Vorschlag genauso, nur mit „Welt-Artikel“ und „irgendwie rechts“. So what? Das sind Debattenbeiträge. Ich verstehe nicht, warum die keine Berechtigung haben sollten und welche Maßstäbe da angelegt werden. Ich will kein Paper lesen, in dem die rechtliche Situation auf drölfzig Seiten analysiert wird.
Ich verstehe nicht, warum die keine Berechtigung haben sollten …
Die Frage kann ich Dir beantworten: Weil sie a) ablenken und b) bei evtl. Umsetzung erst einmal verzögern würden. Die ganze Debatte hat genau einen sinnvollen Ursprung: Die Frage, wie man seine Streitkräfte kriegsfähig bekommt. Dafür gibt es noch einen passenden Grundgesetzartikel, auf dessen Grundlage die Wiedereinführung der Wehrpflicht rechtlich geräuschlos möglich wäre. Rentner sind by and large für den Wehrdienst untauglich, was die sinnlose Debatte beenden sollte. Würde sie ernsthaft geführt.
Genau das ist nicht der Fall. Wir leisten uns nach wie vor jenen spielerischen Unernst und die Sorglosigkeit, die dem Ernst der aussen- und sicherheitspolitischen Lage schon seit 2014 nicht mehr angemessen ist.
Degenerationserscheinungen, offenbar sind wirklich zivilisierte Staaten nicht nachhaltig.
Gruss,
Thorsten Haupts
„Degenerationserscheinungen, offenbar sind wirklich zivilisierte Staaten nicht nachhaltig.“
Sie wären es, wenn alle anderen Staaten drumrum ebenso zivilisiert wären und lieb blieben und/oder man mit Geld Probleme wegschaffen/rauszögern kann. Tja.
Welcher Staat ist/war denn nachhaltig?
@ Ralf
Was diese Menschen wirklich wollten, war mal mit jemandem reden. Mal jemanden haben, der ihnen zuhört.
Den Punkt verstehe ich. Aber die meisten Menschen, die ich kenne, wollen selbst viel lieber reden als zuhören. Und die eher wenigen, die nicht unbedingt reden wollen, wollen anderen auch nicht zuhören.
Ich interessiere mich z.B. recht wenig dafür, was die Schwiegermutter etwa meiner Kollegin von 20 Jahren an diesem besonderen Tag, als Onkel Alfred vom Stuhl rutschte, zum Frühstück gegessen hat.
Nur als Beispiel …
Klar. So hab ich auch gedacht, bevor ich den Zivildienst begann. Dann habe ich die Einsamkeit der Menschen gesehen. Dann habe ich gesehen, wie man mit ein bisschen Empathie Freude bereiten kann, wie die Menschen aufgelebt sind in den 60 Minuten, die ich einmal in der Woche für sie da war. Wenn Zivildienstleistende mit 19 oder 20 Jahren dienen können, dann kann ein rüstiger Rentner das sicher auch.
Sehr gut, wenn du das kannst. Gilt nicht für alle.
Galt damals sicher auch nicht für alle Zivildienstleistenden. Trotzdem haben es alle gemacht. Die einen besser. Die anderen schlechter. Weshalb sollte das bei Rentnern anders sein?
Ist es nicht, ich sage nur dass man das nicht romantisieren sollte. Und viele Leute hören dann eben nicht zu und haben eben keine Empathie, sondern starren während so Erzählungen ausdruckslos vor sich hin und reagieren nicht. Ist halt so.
Ich habe wie oft erwähnt gedient. Allerdings hatte ich gut ein Jahr davor ein unfreiwilliges Pflichtprogramm von 10 Arbeitsstunden in einem Altenheim eingelegt. Mit 17 fing ich an, regelmäßig Auto zu fahren, allerdings wurde mir der Führerschein vorenthalten – zugegeben, die Führerscheinbehörde hatte keine Kenntnis. 🙂 Wie dem auch sei, exakt einen Monat vor meinem 18. Geburtstag hielt mich die Polizei nach einem Tipp des Nachbarn nach dem Kirchgang an.
Seit dieser Zeit habe ich höchsten Respekt vor der Arbeit der Altenpfleger. Das ist nicht nur körperlich, sondern auch emotional ein Knochenjob. Sie sehen Menschen beim Sterben. Ich weiß nicht, ob das für mich die ideale Beschäftigung wäre, da ich immer versuche das Thema zu vermeiden.
Danke, dass Sie das gemacht haben. In meinem Bekanntenkreis gibt es eine kinderlose Witwe ü80, die ich sehr dafür bewundere, wie sie ihr soziales Netz aufrechterhält, welche Energie das erfordert. Es ist nicht leicht, im Alter nicht irgendwann zu vereinsamen.
Danke für Ihre Erwägungen.
Ich möchte noch zwei Überlegungen anmerken
1) Verschwendung: Anders als 19-jährige sind Menschen am Ende ihres Berufslebens voll ausgebildet. Diese Fähigkeiten dann brachliegen zu lassen und stattdessen die Menschen auf einfache Arbeiten, die zu keinem Verdrängungseffekt auf dem Arbeitsmarkt führen, zu beschränken, wäre ein Schildbürgerstreich.
2) Konkurrenz zu sozialem Engagement. Tatsächlich sind Rentner überdurchschnittlich oft in Ehrenämtern tätig. Deshalb wäre es – anders als Fratzschers Vorschlag – ein politisch und rechtlich gangbarer Weg, dieses Potential auszubauen, indem die vorhandenen Optionen Bundesfreiwilligendienst und FSJ gezielt auf Senioren ausgeweitet werden.
1) und 2) widersprechen sich argumentativ etwas. Niemand hat etwas gegen Freiwilligkeit (warum auch?), aber es geht ja explizit um einen Pflichtdienst.