Bücherliste August 2020


Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Winterkrieg, Teenager-Hirn, Mythen.

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Wir schaffen das, Deutsche Einheit, Die Karibik

Bücher

Hans-Ulrich Wehler – Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949
Ich habe recht lange gebraucht, um dieses Buch zu lesen, was nicht gegen seine Qualität sprechen soll. Aber wie bereits in der Besprechung des Nachfolgebands zu den Jahren 1949 bis 1990 beschrieben, ist Wehlers Schreibe unglaublich dicht und voller komplexer Sätze und tausend Fremdworte. Warum schließlich „hier und jetzt“ schreiben, wenn man „hic et nunc“ verwenden kann? Oder „wissenschaftlich“, wo „szientistisch“ zur Verfügung steht?

Aber da muss man durch, denn Wehlers Gesellschaftsgeschichte ist und bleibt der absolute Standardband zum Thema. Ich will gar nicht erst versuchen, die 1000 eng bedruckten Seiten inhaltlich zusammenzufassen; so viel ist in diesem Mammutwerk enthalten, dass ich seitenweise nur mit Inhalt zusammenfassen verbringen würde. Daher nur in aller Kürze die Grobstruktur: Wehler geht, wie immer, durch die verschiedenen Gesellschaftsschichten, dann durch verschiedene Gesellschaftsbereiche und sieht ebenfalls politische und wirtschaftliche Einflüsse an, sowie sie die deutsche Gesellschaft betreffen.

Diese Querschnittsbetrachtungen werden immer in chronologisch abgetrennte Bereiche gepackt. In diesem Buch sind das die deutsche Gesellschaft im Krieg, in Weimar, im Nationalsozialismus und, erneut, im Krieg, ehe ein kurzer Ausblick auf die Zeit nach 1949 erfolgt.

Falls es bisher nicht deutlich wurde kann ich Wehlers Buch nur empfehlen, aber die geneigten Lesenden müssen sich klar machen, dass das eine anstrengende und fordernde Lektüre ist – nichts, was man mal so eben nebenbei bewältigt.

Eric Rauchway – The Winter War

1933 war das letzte Jahr, in dem die Inauguration eines US-Präsidenten noch im März stattfand. Die Geschichte des „Winter War“ zwischen dem abgewählten, aber noch fünf Monate amtierenden Herbert Hoover einerseits und des gewählten, aber noch offiziell als „Privatmensch“ agierenden Franklin Roosevelt auf der anderen Seite zeigt deutlich, warum diese Zeit seither auf den Januar verkürzt worden ist (und möglicherweise zeigt Trump dieses Jahr, warum man sie weiter verkürzen sollte).

Spannend ist die Grundthese des Buchs, die Herbert Hoover eine zentrale Gründungsrolle für die heutige Struktur der GOP zuschreibt. In Rauchways Erzählung ist auch leicht zu sehen, woher das kommt. Hoover gilt heute zurecht als völlig gescheiterter Präsident, aber zwischen 1932 und 1933 gab er sich noch nicht unberechtigten Hoffnungen hin, 1936 Roosevelt erneut herausfordern zu können.

Diese Hoffnungen verleiteten Hoover dazu, die fünf Monate seiner verbliebenen Amtszeit zu nutzen, um die amerikanische Wirtschaft tiefgreifend zu sabotieren und seinem Nachfolger so stark wie möglich zu schaden. Dieser negative Charakterzug verlängerte nicht nur das Leiden der amerikanischen Bevölkerung unnötig, bevor der New Deal endlich greifen konnte, sondern legte die Republicans auch auf eine Obstruktionspolitik gegenüber den Democrats einerseits fest, die uns heute sehr vertraut vorkommt, setzte aber andererseits zum ersten Mal auf rassistische Exklusion als Wahlstrategie. Es sollte bis 1968 dauern, ehe die Southern Strategy unter Nixon Früchte tragen würde, aber unter Hoover verlor die GOP erstmals das Votum der schwarzen Bevölkerung.

Auch im Bereich der Policy war Hoover relevant, weil er die GOP auf die zerstörerische Wirtschaftspolitik der Austerität und der prozyklischen Wirtschaftspolitik festlegte, die seither solche Verheerungen angerichtet hat. Hoovers Einfluss hielt sich lange und wirft einen Schatten bis in die heutige Ära, und das Buch hilft, diesen Einfluss besser zu verstehen – auch wenn Roosevelt und seine Ideen deutlich von der Geschichte validiert wurden.

Frances Jensen – Teenager-Hirn

Sowohl im Hinblick auf die dräuende Pubertät meiner eigenen Kinder (noch nicht, aber absehbar) als auch für die tägliche Herausforderung im Beruf erschien mir eine Auseinandersetzung mit dem Gehirn von Teenagern und den spezifischen Irrungen und Wirrungen desselben ganz sinnvoll. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie ich auf dieses Werk gestoßen bin. Die amerikanische Neurowissenschaftlerin Frances Jensen versucht hier einen, wie der Untertitel sagt, „Survival-Guide für geplagte Eltern“ zu schreiben.

Dazu erklärt sie grundsätzliche Struktur des Teenagerhirns und wie es sich von dem Erwachsener unterscheidet (leider nicht in Betrachtung zu dem von Kindern, das wäre auch ein interessanter Kontrast gewesen), ehe sie in detaillierte Herausforderungen geht. Die grundsätzliche Betrachtung enthielt wenig Neues für mich, was für die Qualität der LehrerInnenausbildung in Baden-Württemberg spricht. Besonders relevant sind die Aspekte des Lernens auf der einen Seite und die Probleme mit langfristigem Denken auf der anderen Seite.

Wesentlich problematischer sind die anderen zwei Drittel des Buchs, in denen Jensen sich etwa mit Schlaf, Alkohol, Marijuana und anderen typischen Teenagerproblemen beschäftigt. Nicht nur wirken die Betrachtungen immer reichlich oberflächlich; sie hat zudem die sehr unattraktive Neigung, permanent Extremfälle zu betonen und diese dann rhetorisch als repräsentativ hinzustellen, was dem Buch einen alarmistischen Ton gibt. Dass sechs Joints am Tag nicht besonders gut sind, muss mir keine Neurowissenschaftlerin erzählen; die relevante Frage aber, wie problematisch ein Joint in der Woche ist (oder drei am Wochenende), das geht demgegenüber unter und betrifft alle Probleme. Man ist versucht, es als typisch amerikanische Marotte abzuhaken, eine Horrorvision völlig von den Verlockungen der modernen Welt zerstörten Jugendlichen zu zeichnen. Ich halte das aber weder für zutreffend noch erleuchtend.

Stephen Fry – Mythos. The Greek Myths Retold (Stephen Fry – Mythos. Was uns die griechischen Mythen heute sagen)

Die griechischen Sagen sind in ihrer Faszination einerseits und in ihrer fundamentalen Bedeutung für den größeren Kanon westlicher Kultur andererseits bis heute ungebrochen relevant. Zwar ist ihre Sichtbarkeit im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten deutlich in den Hintergrund gerückt; in den schulischen Bildungsplänen etwa kommen sie nicht mehr so prominent vor wie einst, vor allem, wenn man kein Latein belegt. Ich halte das aber für einen Fehler, weil gerade in der Kunst und Literatur ungemein viele Werke auf ihnen aufbauen und ohne ihre Kenntnis in wesentlichen Aspekten unlesbar bleiben.

Deswegen ist es gut, wenn ein lesbares Prosa-Werk die Mythen für ein zeitgenössisches Publikum zusammenfasst. Stephen Fry ist nun nicht jemand, dessen Zielgruppe Jugendliche wären; meine SchülerInnen müssen daher vermutlich auf andere Vermittlungswege hoffen. Der Mann ist aber ohne Zweifel ein begnadeter Erzähler; ich kann nur raten, das englische Hörbuch zu kaufen, das er selbst liest.

Uneingeschränkt positiv kann ich mich allerdings auch nicht äußern. Die erste Hälfte, die sich vor allem mit den Mythen um die Entstehung der Welt und des Götterpantheons beschäftigt, ist noch packend genug, aber im hinteren Teil des Buchs werden doch sehr viele Einzelmythen erzählt, die in ihrer Fülle irgendwann erschlagend wirken und von Fry auch schon zu thematischen Sub-Gruppen gegliedert werden. Die Masse an Mythen, die sich die Griechen erzählt haben, ist tatsächlich wahnsinnig groß.

Bedauerlicherweise sind viele dieser Geschichten dann recht kurz, und ihre Moral verschließt sich dem modernen Leser. Fry tut sein Bestes, diese Hintergründe zu erhellen, aber letztlich sind Zeus‘ zahlreiche Eskapaden und Heras brutale Racheaktionen am Ende dann doch arg repetitiv. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, bekommt aber eine großartige Erzählung. Und ich denke, ich werde den Nachfolger (deutsch), der sich dann mit den eher menschlichen Heldengestalten beschäftigt, auch kaufen…

Zeitschriften

Aus Politik und Zeitgeschichte – Wir schaffen das

Merkels Satz von „Wir schaffen das“ ist inzwischen ein Symbol der Flüchtlingskrise geworden. Diese Aufsatzsammlung beschäftigt sich vorrangig mit seiner Genese und seinen Auswirkungen. Spannend ist, wie mehrere Beiträge nachverfolgen, dass Merkels Satz – genauso übrigens wie ihre Selfies mit Geflüchteten – zuerst keine größere Resonanz hatte und diese erst in der Nachbetrachtung bekam, quasi zugeschrieben. Daran hatte Merkel auch selbst Anteil, die ihn als politisches Kommunikationstool entdeckte, ehe sie ihn dann unter dem Eindruck des Stimmungswandels aufgab und sich seither von ihm distanziert hat. So geht es solchen Sätzen ja oft.

Das Heft befasst sich außerdem mit einer historischen Einordnung des Asylrechts, die mehr als willkommen ist. Hier wird etwa darauf hingewiesen, dass es erst Gerichtsurteile in den 1980er Jahren waren, die das Asylrecht in die Form brachten, die wir heute kennen – also als Recht, das auch Nicht-Deutsche Verfolgte in Anspruch nehmen können. Dies ist auf den Einfluss der Amerikaner zurückzuführen; wäre es nach den Deutschen gegangen, hätte das GG nur einen Asylanspruch für Deutsche enthalten. Man kann glaube ich mit Fug und Recht sagen, dass die BRD dann eine andere wäre.

Ebenfalls spannend sind die Aufsätze, die die Flüchtlingskrise aus der Verwaltungsperspektive betrachten, einmal aus der der Bundesbehörden und einmal aus der der Kommunen. In beiden Fällen gibt es Erfolgstories und solche von eklatantem Versagen oder Apathie. Interessant fand ich hier besonders, wie das BAMF in den letzten Jahren seine Ausrichtung auf Arbeitsmarktintegration änderte (unter BA-Chef Weisse) und dann später unter der Ägide des Innenministeriums auf Innere Sicherheit umschwenkte und die Geflüchteten vorrangig als Gefahr begreift. Geradezu erschreckend dagegen ist die Willkür, die den Asylentscheidungen zugrunde liegt, was sich auch an der hohen Zahl (18%) der erfolgreichen Widersprüche ablesen lässt. Dies aber wenigstens zeigt einen funktionierenden Rechtsstaat.

Aus Politik und Zeitgeschichte – Deutsche Einheit

Anlässlich des Jubiläums der Deutschen Einheit stehen viele Retrospektiven auf dem Plan. Sonderlich empfehlenswert ist diese ApuZ-Ausgabe leider nicht. Während die Betrachtung der Soli und seiner Geschichte aus finanzverwalterischer Sicht durchaus interessant ist, vor allem, weil wir die Debatte ja schon mehrfach im Blog hatten, und das Porträt der Viet-Deutschen als einer von der Einheit besonders durchgerüttelten Minderheit ungewohnte Einblicke ermöglicht, sind die Betrachtungen zur Ost-West-Identität eher im seichten und belanglosen Spektrum zu verorten.

Auch die anderen Themensetzungen erscheinen reichlich willkürlich. Es ist zwar spannend, wie der BND die Ost-Besuche Brandts begleitete und (korrekt) als propagandistische Inszenierung der SED wertete (die gleichwohl nicht sonderlich erfolgreich war), aber die Meta-Betrachtungen der Historiographie der deutschen Teilung und Einheit sind so trocken wie drei Wochen altes Brot. Diese ApuZ ist daher allenfalls zur selektiven Lektüre angeraten.

GEO Epoche – Die Karibik

Einer der Aspekte, den ich an der GEO Epoche wirklich mag, ist, dass die Themenwahl abseits der ausgetretenen Pfade der meisten anderen Geschichtszeitschriften verläuft. In diesem Fall geht es um die Geschichte der Karibik, und damit vor allem die europäische Kolonisation (da wir über die Zeit vor 1492 nur sehr wenig Informationen haben, unter anderem, weil die Europäer die Urbevölkerung praktisch komplett ausgerottet haben). Diese Zeit ist gerade in Deutschland sehr populär, vor allem im Spielesektor, und die Behandlung der Karibik als eine Spielwiese für Ausbeutung und Entwicklung in Spielform in Ausgrenzung der problematischen Aspekte – eine Art Kolonial-Romantik also – ist in letzter Zeit vermehrt in die Kritik geraten (siehe etwa hier).

Die GEO Epoche vermag diese Hürde überwiegend zu umschiffen und gibt der furchtbaren Realität der Kolonialära ausreichend Raum, nicht ohne auch die Schönheit der Region und die Kultur der Kolonisierenden gebührend zu berücksichtigen. Ich finde den Kompromiss zwischen beiden Polen grundsätzlich gelungen.

Vom Aufbau her geht das Heft in der gewohnten schlaglichtartigen Form vor, die, chronologisch, bestimmte Aspekte anhand konkreter Ereignisse hervorhebt. Diesen Ansatz wählt die Zeitschrift meist, und er bewährt sich auch hier. Man kann nicht erwarten, eine tiefgreifende Geschichte der Karibik zu bekommen, aber jede Insel wird wenigstens einmal hervorgehoben, die Redaktion widersteht der Versuchung, Klischees überzubetonen (Che Gueverra und Fidel Castro auf der einen, die Piratenrepublik auf der anderen Seite) und am Ende steht ein ordentlicher Überblick. Mehr kann so eine Zeitschrift auch nicht leisten.

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