Die Überforderung des Sozialstaates

Der Sozialstaat ist den meisten Deutschen lieb und vor allem teuer. Da sie seit Jahrhunderten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Markt, dem Unternehmertum und der individuellen Freiheit pflegen, legen sie die Vor- und Umsorge für die Risiken des Lebens (und noch mehr) in die Hände des Staates. Die Bürger des Landes zeigen auch wenig Neigung, die Qualität der staatlichen Leistungen zu hinterfragen. Mit einer gewissen Distanz betrachtet wirkt es oft wie bei der alten Oma: So wie es ist, ist es gut. Und wenn es nicht gut ist, dann braucht der Staat mehr Geld. Die Deutschen sehen dabei ihre Zahlungen an Steuern und Sozialbeiträgen wie eine Eintrittskarte. Wer zahlt, hat Anspruch auf eine gut ausgestattete Rente, umfangreiche Gesundheitsvorsorge, Familienzahlungen und ein weiches Kissen bei Arbeitslosigkeit. Da lässt sich auch nachvollziehen, dass die millionenfache Migration in die Sozialsysteme durch Flüchtlinge große Störgefühle hervorruft. Das ist in anderen Ländern nicht anders. Besonders ist die stetig wachsende Anspruchshaltung and die Leistungsanforderungen des Sozialstaates. Er soll zu viel leisten, was er nicht leisten kann.

Sozialstaat ist ein sehr umfangreicher und diffuser Begriff. Die politische Linke bezeichnet damit gerne alles, was sie will, weswegen der Abriss des Sozialstaates droht, wenn Maßnahmen der meist regierenden Konservativen gegen ihre Zielvorstellungen gehen. So kann der bloße Verzicht auf Enteignungen von Vermietern schnell mal zu sozialer Kälte führen. In Wirklichkeit sprechen wir zumindest in Westeuropa seit den Siebzigerjahren von aufgeblähten Wohlfahrtstaaten, wo der Staat nicht nur einen Mindestschutz für die Sorgen des Alters, der Gesundheit und Arbeitslosigkeit übernimmt, sondern möglichst weite Bereiche des Sozialen abdeckt. Das beginnt nicht beim Kindergeld und endet nicht bei pauschalen Zuschüssen für öffentliche Verkehrsmittel.

Doch relevanter ist, wie sich die Entwicklung des gesellschaftlichen Gefühls für soziale Gerechtigkeit und die Ausgaben für Soziales zueinander verhalten. Die Sozialausgabenquote misst eigentlich, wie mit der Umverteilung von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft ein sozialer Ausgleich, mithin „soziale Gerechtigkeit“, geschaffen werden soll. Selten hatte der Spruch, Geld schafft keine Gerechtigkeit, mehr Berechtigung. Denn tatsächlich empfinden die Deutschen ihr Land umso sozial ungerechter, je mehr der Staat umverteilt. Inzwischen sind zwei Drittel der Befragten der Ansicht, in Deutschland ginge es sozial besonders ungerecht zu.

Solche Umfragen zeigen wenig Realitätsbezug. Die Deutschen leben in einer eigenen Blase mit wenig Kenntnis und Interesse, was auf dieser Welt typisch und üblich ist. Und auch, wie die Leistungen des Staates einzuschätzen sind. Denn wenn in Umfragen negativ auf die soziale Frage geblickt wird, dann meinen die meisten eine aus ihrer Sicht ungerechte Einkommens-und Vermögensverteilung. Immer mehr Menschen fühlen sich zu kurz gekommen. Sie geben dafür jedoch nicht dem Staat die Schuld, der in hohem Maße Einkommen, Vermögen und damit auch Lebenschancen umverteilt, sondern Unternehmen und der Marktwirtschaft.

Im Social Social Justice Index der EU belegt Deutschland jedenfalls einen der führenden Plätze. Die internationale Kennzahl misst nach sechs Bereichen und 46 Kriterien die sozialen Verhältnisse in einem Land: Armutsbekämpfung, Bildung und Erziehung, Arbeitsverhältnisse, intergenerationelle Gerechtigkeit, Gesundheit und soziale Inklusion. Wenig überraschend liegen die skandinavischen Länder an der Spitze. Deutschland befindet sich jedoch auch in Gesellschaft von Staaten, die deutlich weniger Steuern und Abgaben von ihren Bürgern einfordern. Mit anderen Worten: Wir schaffen vergleichsweise wenig soziale Gerechtigkeit mit zu viel staatlicher Fürsorge. Auch dieser Indikator signalisiert kein besonders gutes Verhältnis für die Effizienz des sozialen Gemeinwesens made by Germany.

1990 im Jahr der Wiedervereinigung, lag die Sozialleistungsquote bei 24 Prozent. Dreieinhalb Jahrzehnte später hat sie sich um ein Viertel höher auf ein stabiles Niveau von 30 Prozent eingependelt. Schon bei subjektiver Inaugenscheinnahme ist zu konstatieren: Für mehr Ausgaben bekommen die Bürger nicht mehr Leistungen. Die Sozialabgaben für Rente und Gesundheit haben sich in dieser Zeit gravierend erhöht und zumindest bei der Rente sind die relativen Ausgaben pro Kopf gesunken. Die Pflegeversicherung ist neu zum Leistungskatalog hinzugekommen, aber dieser wird von den Betroffenen als ungenügend eingeschätzt. Auch die Ausgaben für Langzeitarbeitslose, in den vergangenen Jahrzehnten wahlweise als Sozialhilfeempfänger, Hartzer und Bürgergeldempfänger tituliert, sind in relativen Preisen deutlich gestiegen. Der Personenkreis der Begünstigten hat sich jedoch gravierend verschoben. Nutznießer sind heute weit mehr als früher Ausländer und Migranten mit deutschem Pass, die tatsächlich nie in die Systeme eingezahlt haben. Ein wesentlicher Teil der Antragsberechtigten hat über Jahrzehnte oder nie sozialversicherungspflichtig gearbeitet.

Das Geld verrinnt, aber die Ansprüche an das, was das soziale Gemeinwesen leisten kann, sind unvergleichlich hoch. Dazu bieten sich drei typische Beispiele an: Die Rente, das Bürgergeld sowie der Mindestlohn. Alle drei Bereiche stehen in ständigen und immer wiederkehrend aktuellen politischen Debatten und damit Gegenstand der folgenden Teile zur Überforderung des Sozialstaates.

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  • Erwin Gabriel 26. Juli 2025, 19:06

    @ Stefan Pietsch

    Da hast Du die Mentalität des deutschen Spießbürgers gut eingefangen.

  • Soeren Schmitz 28. Juli 2025, 09:08

    Dazu bieten sich drei typische Beispiele an: Die Rente, das Bürgergeld sowie der Mindestlohn.

    Die Aufzählung ist mir nicht ganz klar. Rente als Sozialversicherung – nachvollziehbar. Bürgergeld? In der aktuellen Ausgestaltung reformbedürftig, wenngleich der Verfassungsgesetzgeber sehr enge Grenzen gesetzt hat. Mindestlohn? Würde ich nicht unter Sozialstaat subsummieren. Die wirklichen Knackpunkte (und in meinen Augen die Nagelprobe für die Sozialstaat) bleiben Gesundheit und insb. Pflege.

    • Stefan Pietsch 28. Juli 2025, 09:27

      Der Mindestlohn wird von den Parteien als Teil des Sozialstaates gesehen. Und gerade an der Lohnuntergrenze lässt sich hervorragend zeigen, wie Erwartungen und Möglichkeiten der sozialen Steuerung völlig auseinanderlaufen. Und genau darauf hat mich übrigens Stefan gebracht.

      • Stefan Sasse 28. Juli 2025, 12:57

        Mir wäre neu, dass „die Parteien“ den Mindestlohn als Teil des Sozialstaats sehen. Aber bin gespannt, wie du das verargumentierst.

  • cimourdain 28. Juli 2025, 09:48

    Auch wenn ich interessiert bin, was noch folgt, sehe ich eine gewisse Diskrepanz zwischen der Tatsache, dass der Autor in letzter Zeit häufiger den Begriff „Verfassungsfeind“ für Personen mit abweichender Rechtsinterpretation verwendet hat, und der Nonchalance mit der selbiger Autor gewillt ist, ein unveränderliches Kernelement des Grundgesetz mit der geforderten Maßgabe „Effizienz“ zur Disposition zu stellen.

    • Stefan Pietsch 28. Juli 2025, 11:17

      Das ist eine Fehlinterpretation. Etwas einer Betrachtung zu unterziehen bedeutet nicht, es zur Disposition zu stellen. Im Grundgesetz steht, Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat, nicht: Deutschland ist ein umfangreicher Wohlfahrtsstaat. Der Unterschied zwischen beidem ist die Diskussion.

      • Soeren Schmitz 28. Juli 2025, 17:26

        Im Grundgesetz steht, Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat, nicht: Deutschland ist ein umfangreicher Wohlfahrtsstaat.

        Die Frage ist ja, wie wird dieser Artikel durch den Gesetzgeber und durch das Staatsrecht ausgelegt. Das Verfassungsgericht hat bereits mehrmals festgestellt, dass ass das Sozialstaatsprinzip eine permanente Aufgabe darstellt. Zusammengefasst besagt die Zielrichtung dieses Prinzips, die Würde des Menschen zu sichern. Der Staat habe insbesondere die Pflicht, für sozialen Ausgleich und Chancengleichheit zu sorgen, eine Grundsicherung zu gewährleisten und die Teilhabe aller Bürger am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber zwar in Grenzen Sanktionen erlaubt, jedoch eben nicht die Komplett-Streichung des Bürgergelds.

        Das Kernproblem wird aber kein Gesetz dieser Welt lösen. Die Erfinder des Grundgesetzes sind immer davon ausgegangen, dass der Sozialstaat eine Nothilfe für diejenigen ist, die aus Krankheit oder persönlichen Lebensumständen nicht für sich selbst ausreichend sorgen können. Der grundlegende Deal in unserer Gesellschaft ist, dass du dich am Rahmen deiner Möglichkeiten an der Finanzierung unseres Staatswesens beteiligst. Der einfachste Weg, das zu tun, ist dass man einer Arbeit nachgeht und hierdurch Sozialversicherungsbeiträge und Steuern entrichtet. Wenn aber immer mehr diesen Deal aufkündigen, in dem sie, obwohl sie dazu in der Lage wären, die Aufnahme von Arbeit verweigern, dann wird das System kollabieren. Hier hat sich eine zunehmende Konsumhaltung etabliert – ich habe ja das Recht die soziale Sicherung in Anspruch zu nehmen,

        Der Staat geht leider viel zu lax gegen Sozialbetrug und Steuerhinterziehung vor, folglich sind immer mehr Ehrliche die Dummen und verlieren die Lust daran die Melkkuh für die Faulheit der anderen zu sein.

        • Stefan Pietsch 28. Juli 2025, 18:18

          Das Grundgesetz verlangt keine gesetzliche Rentenversicherung. Auch keine Kranken- und Pflegeversicherung. Das fällt alles unter Wohlfahrtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber bei der Bemessung der Sozialhilfe immer auch einen großen Ermessensspielraum eingeräumt, der seine Grenzen bei Artikel 1 und den Grundsätzen staatlichen Handelns – Willkürfreiheit, Angemessenheit, horizontale Gleichbehandlung. So darf der Gesetzgeber Kindern einen geringeren Anspruch zumessen, er muss es nur begründen.

          Der demokratische Staat ist auf die Akzeptanz seines Handelns durch die Bürger angewiesen. Ich erinnere an dieser Stelle gerne an die Debatten zu den Arbeitsmarktreformen. Diese waren zu Beginn besonders unbeliebt, da die Bürger die Aufhebung des alten Prinzips nicht akzeptieren konnten. Das Modell mit der Arbeitslosenhilfe ging davon aus, dass diejenigen, die gearbeitet und Steuern gezahlt hatten, nicht mit jenen in einen Topf geworfen werden dürften, die das nicht getan haben. Heute ist die Akzeptanz des Bürgergeldes niedrig, weil ein hoher Anteil der Nutznießer nie einen Beitrag geleistet haben.

          • Stefan Sasse 28. Juli 2025, 20:23

            War das nicht eine Zusammenlegung, die gerade die Liberalen damals eifrig beklatscht und gefordert haben? Die Kritik daran war anderthalb Jahrzehnte links!

            • Stefan Pietsch 28. Juli 2025, 21:35

              Ich kritisiere es nicht, ich beschreibe. Aus ökonomischer Sicht war die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe richtig. Aber ich habe immer respektiert, dass meine ökonomische Sicht im Konflikt steht mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft, in der ich lebe. Das ist auch der eine Grund, warum ich das Beispiel nehme. Es zeigt, wie nicht nur diese Gesellschaft in ihrem sozialen Gerechtigkeitsempfinden tickt. Es ist erstaunlich, dass genau die Linken – darf ich Dich dazuzählen? – die genau mit diesem Argument über Jahre gegen Hartz-IV polemisiert haben, nichts dabei empfinden, wenn heute hauptsächlich Migranten Nutznießer des Bürgergeldes sind.

              • Stefan Sasse 29. Juli 2025, 08:34

                Warum genau sollte das mein Gerechtigkeitsempfinden stören? Das setzte ein Gerechtigkeitsideal voraus, das eine Schlechterbehandlung von Leuten ohne deutschen Pass zwingend vorsieht, und das habe ich nicht.

                • Stefan Pietsch 29. Juli 2025, 09:50

                  In Bezug auf die Begründung, dass die Integration der Arbeitslosenhilfe in das System der Sozialhilfe sozial ungerecht war. Wie hast Du denn damals gegen Hartz-IV argumentiert?

                  • Stefan Sasse 29. Juli 2025, 11:00

                    Als ich angefangen hab zu bloggen gab es Hartz-IV schon. Ich bin zu jung für das alte System.

                    Was übrigens auch zeigt: egal wie scheiße etwas ist, wenn es lange genug da ist, wird es normal…

        • Stefan Sasse 28. Juli 2025, 20:22

          Wobei ja der Sozialbetrug weniger in der Bilanz ein Problem ist als für das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger*innen (während es bei Steuerhinterziehung spannenderweise genau umgekehrt ist).

          • Sören Schmitz 28. Juli 2025, 22:54

            Wenn ein Staat beides toleriert, dann zersetzt sich die Solidarität zwischen Arm und Reich.
            Es ist ein bisschen wie bei der Abschiebung – man hat das Gefühl der Staat konzentriert sich auf die einfachen Fälle; damit die Statistik stimmt. Die Bande die konsequent Sozialbetrug betreibt und ordentlich abzockt bleibt unbehelligt. Ein etwas renitenter End 50er erfährt aber nach fast 40 Jahren Berufstätigkeit sofort die volle Härte des Jobcenters, weil er nicht die erstbeste Maßnahme annehmen will.
            Kleine Unternehmer werden wegen des Verdachts auf Steuerbetrug von der Steuerprüfung drangsaliert und mit Papierkrieg überzogen, während die Jungs die Cum-Ex abgezogen haben, fröhlich weitermachen dürfen.

            Das ist gesundem Menschenverstand nicht zu erklären und Triebfeder für die hohe Unzufriedenheit im Land.

            • Stefan Sasse 29. Juli 2025, 08:37

              Das ist ja nicht nur ein Eindruck, das machen die ja! 😀

              Und ja, stimme ich dir zu. Aber das ist ein generelles Problem: jede Institution, ob staatlich oder nicht, neigt dazu, die einfachen Sachen zu machen und nicht die schweren. Anreizsysteme.

    • Stefan Sasse 28. Juli 2025, 12:57

      Ich weise da seit Monaten darauf hin. 🙂

      • Stefan Pietsch 28. Juli 2025, 12:59

        Und ich zeige immer auf, wo die verfassungsrechtlichen Grenzen sind. Was soll ich in Debatten noch tun?

  • DerDieDas 28. Juli 2025, 09:52

    Ist mit «Da lässt sich auch nachvollziehen, dass die millionenfache Migration in die Sozialsysteme durch Flüchtlinge große Störgefühle hervorruft» die Wiedervereinigung 1990 gemeint?

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