Benn Steil – The Marshall-Plan. Dawn of the Cold War
Der Marshall-Plan hat in Deutschland einen geradezu mythischen Ruf. In der merkwürdig verkürzten Geschichte der Nachkriegszeit (8. Mai –> Stunde Null –> Wirtschaftswunder) ist er eine der wenigen Ausnahmen, in denen ein politisches Ereignis dieser Zeit breitere Aufmerksamkeit erfährt, der Marshall-Plan. Üblicherweise wird er als großzügige Entwicklungshilfe der USA erzählt, die die deutsche Wirtschaft in Schwung gebracht hat. Wie so viele Narrative dieser mystischen Gründungszeit der BRD ist auch hier wenig Wahres zu finden.
Umso willkommener ist ein Werk, das die Geschichte des Marshall-Plans aufdröselt und ihn in einen globalen Kontext stellt. Benn Steils zentrale These ist, dass der Marshall-Plan als Startschuss für den Kalten Krieg gesehen werden muss. Entsprechend stellt er ihn in einen Kontext der Rivalität der ehemaligen Alliierten und des beginnenden Ost-West-Konflikts. Besonders Frankreich, Großbritannien und Italien – sowie die Ablehnung des Plans in Osteuropa – stehen im Fokus seiner Analyse, ehe er den Blick nach Deutschland endet. Denn die Ironie dieses Ansatzes ist es, dass Steil am Ende doch wieder bei Deutschland landet, um das sich alles dreht. Aber der Reihe nach.
Steil beginnt seine Erzählung mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Teilung Deutschlands. Europa, nicht nur der Verursacher des Krieges selbst, Deutschland, liegt in Trümmern. Das Land wird vom Alliierten Kontrollrat verwaltet, der alle Beschlüsse über die Zukunft Deutschlands im Konsens treffen muss. Diese Fakten werden von Steil weitgehend vorausgesetzt; hier hätte der Autor gerne eine etwas ausführliche Erklärung geben können, denn gerade die Funktionsweise des Alliierten Kontrollrats einerseits und die Konferenzen von Jalta und Potsdam sind entscheidend, um die Ereignisse zu verstehen und werden beständig rekurriert. Wer da ohne solide Vorkenntnisse kommt, dürfte sich schwer tun.
Von hier ausgehend zeigt Steil auf, welche Strategie die Sowjetunion in Europa verfolgte. Kooperation kam Stalin billig, denn die Zeit arbeitete für die Sowjets. Die miese wirtschaftliche Lage stärkte die Position der Kommunisten, und der zu erwartende Rückzug der USA würde die Situation, genauso wie 1918/19, dramatisch verschlimmern. Ein wirtschaftlicher Wiederaufbau Europas stand nicht in den Karten, Deutschlands sowieso nicht. Die offizielle Position der USA war eine Deindustrialisierung Deutschlands, und die politische Stimmung im Land war für einen schnellen Rückzug und eine Einforderung der extensiven Kriegskredite – was die Situation nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt hätte, nur dieses Mal schlimmer, und den Kontinent der UdSSR ausgeliefert.
Es ist Steils Verdienst aufzuzeigen, dass der radikale Kurswechsel der USA bei weitem nicht selbstverständlich war. In der mythischen Geschichtsvariante, die in Deutschland gerne erzählt wird, stehen solche Gefahren überhaupt nicht ins Haus. Aber in Frankreich und Italien waren damals Kommunisten an der Regierung; in Großbritannien sozialisierte Labour den Bergbau. Die Lage sah gut aus für den Kreml. Steil arbeitet nun minutiös nach, wie einzelne amerikanische Offizielle (vor allem Botschafter George Kennan mit seinem berühmten „Langen Telegramm“ und Militärgouverneur Lucius Clay als de-facto „Diktator von Deutschland“) einen geradezu seismischen Kurswechsel einläuteten.
Hier wird von den Lesenden eine gewisse Bereitschaft abverlangt, die Rekonstruktion von Kabinettstreffen, Kongressdebatten und Abfolgen verschiedener Memos interessant zu finden. Einen guten Teil des Buches rekonstruiert Steil, wie eine neue Logik in der US-Administration Einzug hielt. Die Probleme, die hier zu lösen waren, waren vorrangig wirtschaftlicher Natur, aber eng mit der Politik des beginnenden Kalten Krieges verknüpft. Denn eine wirtschaftliche Erholung Westeuropas setzte Kooperation und Kapital voraus – Letzteres sollte eigentlich von deutschen Reparationen kommen (das war der Ansatz der Sowjetunion und Frankreichs). Die Gründe hierfür sind komplex und werden von Steil detailliert auseinandergenommen. Hier ist ein gewisser Biss der Lesenden nötig.
Man wird aber dafür mehr als belohnt. Die Grundlage dieser komplexen Interdependenzen macht wesentlich klarer, warum dem verhältnismäßig bescheidenen Umfang des Marshall-Plans (das nichtsdestotrotz das größte amerikanische Hilfspaket aller Zeiten konstituierte) so große Bedeutung beigemessen wurde. Das zentrale Problem, so Steil, war aber der Verstoß des Marshall-Plans gegen das Vier-Mächte-Statut. Da die wirtschaftliche Verfassung Deutschlands nur im Konsens bestimmt werden konnte und ein Wiederaufbau der deutschen Industrie genauso wie eine Reparationsregelung – beides zu diesem Zeitpunkt valide Optionen – Konsens erforderten, musste die Sowjetunion dazu gebracht werden, den ersten Schritt zu gehen.
Die Stalin gestellte Falle ging auf; die Sowjetunion beendete die Zusammenarbeit im Alliierten Kontrollrat und zwang den Ostblock, den Marshall-Plan abzulehnen. Dadurch zeigte sie ihr wahres Gesicht, das vorher unter Kooperationsrhetorik verborgen war und erlaubte den USA, voranzuschreiten. Steil zeigt auf, dass der Einfluss der USA auf die konkrete Politik der Empfängerländer gering war; obwohl ihnen technisch gesehen Mitspracherechte zur Verfügung standen, konnten diese in der Realität mit dem Geld machen, was sie wollten (was auch gut war). Der eigentliche Preis war politisch: die USA erzwangen durch den Marshall-Plan die Akzeptanz Großbritanniens und Frankreichs für ihre Deutschlandpolitik.
Und hier kommen wir zur Ironie von Steils Ansatz: gerade dadurch, dass er die eigentlichen, europaweiten Absichten der USA in den Blick nimmt, landet er wieder bei Deutschland, denn die Viermächteregelungen machten es zu einer Art Schleuse der gesamten Politik. Die „deutsche Frage“ stand im Zentrum, und die USA waren fest entschlossen, das Land wirtschaftlich gesunden zu lassen, um nicht wieder wie nach dem Ersten Weltkrieg die Reparationszahlungen an die anderen europäischen Mächte finanzieren zu müssen. Sie erzwangen den Verzicht auf Reparationen (Marshall-Gelder oder Reparationen war die Wahl; sie fiel leicht) und gaben dem Land dadurch bessere Startchancen als den Siegerstaaten (so viel zum Mythos Wirtschaftswunder!).
Doch ein zentrales Problem konnten die USA nicht lösen: damit die Marshall-Gelder wirken konnten, musste die Sicherheit Westeuropas gewährleistet sein, denn sonst würde man das Geld (wie im Fall der Tschechoslowakei) nur einer expansiven Sowjetunion in den Rachen werfen. Die Absicht der USA war eigentlich gewesen, ein militärisches commitment in Europa durch die wirtschaftliche Erholung zu verhindern; das Paradox war, dass die Erholung nur durch das militärische Engagement zu haben war. Steil verknüpft deswegen den Marshall-Plan direkt und unauflösbar mit der Gründung der NATO.
Auf diese Art entsteht ein dichtes Bild von Interdependenzen, das zwar kompliziert und komplex ist, der Entflechtung aber mehr als lohnt und das Verständnis des Marshall-Plans vom Kopf auf die Füße stellt. Auch die Betonung wirtschaftlicher Zusammenhänge gefällt mir sehr, weil sie in der Geschichtswissenschaft immer noch stiefmütterlich behandelt wird. Wer also die Beschäftigung nicht scheut, sollte sich das Buch unbedingt zulegen.
Hi,
danke für die guten Hinweise zu Geschichtsbüchern. Immer sinnvoll hier reinzuschauen.
Grüße
Gerne!
Ich freu mich auch immer wieder über dieses Weiterbildungs-Angebot. Danke dafür.
Ein Gedanke zum Artikel: Die materielle Bedeutung des ERP mag „bescheiden“ gewesen sein, die mentale schätze ich als sehr hoch ein. Ist insofern nicht doch etwas dran an der „mythischen Erzählung“?
Oh ja, das hätte ich deutlicher machen sollen. Der ERP war super wichtig, nur eben nicht aus Gründen der Höhe der Hilfszahlungen. Das mentale ist eines (Zuversicht steigern etc.), die politischen Mechanismen das andere.
Ja, danke. Leicht beeinflussbar wie ich so bin^, werd ich mir das Ding gleich mal zulegen.
Es war ja auch so, dass die offiziellen Sieger UK und Frankreich nicht nur genauso im Eimer waren wie die Deutschen, sondern hernach noch beträchtliche Kriegsausgaben in ihrem jeweiligen untergehenden „Weltreich“ hatten, während die Westdeutschen erst ab Mitte 50er etwas Kleingeld für militärische Zwecke abzweigen mussten. Rechnerisch wurden die Marschall-Plan Mittel für Frankreich schon in Indochina – von Algerien ganz zu schweigen – aus den Fenster geschmissen, indes die Bundesrepublik noch zusätzlich mit dem Londoner Schuldenabkommen gepampert wurde, so dass die fetten Jahre gar nicht mehr verhindert werden konnten^.
Es ist echt krass, wie gut die Startbedingungen der BRD waren, gerade im Vergleich zu FR und UK.
Der (veraltete) Maschinenpark, der den Krieg überstanden hatte, wurde als Reparationen geliefert. Beim Wiederaufbau hatten die deutschen Werke die moderneren Maschinen und damit einen Wettbewerbsvorteil.
So hab ich das mal in der Schule gelernt. Ist das haltbar?
Kurz gesagt: Die Nazis mussten, nachdem der Blitzkrieg gegen die Sowjetunion gescheitert war, massiv in die Rüstungsindustrie investieren und die Effizienz steigern. Es wurden neue Maschinen, Werkzeuge angeschafft, zusätzliche Schichten eingeführt, etc. So gelang es bis Anfang/Mitte 1944 trotz des Bombenkrieges die Produktion von Rüstungsgütern zu steigern. So kam es zu einem vergleichsweise modernen Maschinenpark, während UK und SU auf das massive industrielle Potential der USA zugreifen konnten.
Der Bombenkrieg zerstörte v.a. die Infrastruktur und die Immobilien, aber der Maschinenpark war erstaunlich intakt.
Und insbesondere Westdeutschland hatte den zusätzlichen Vorteil, dass viele Firmen ihre Produktionsstätten (inklusive vieler Maschinen) nach Westdeutschland verlegten. In den 1920er war Berlin z.B. der wichtigste Standort weltweit der Elektroindustrie (Siemens, AEG, OSRAM, Telefunken, etc). Siemens ging über Hof nach München, OSRAM genauso, AEG nach Frankfurt, Audi (Horch) nach Ingolstadt, etc.
Ebenfalls korrekt.
Weitgehend, ja. Deutschland hat im Krieg ja massiv investiert, gerade auch auf Kosten der Nachbarn. Diese Substanz wurde im Bombenkrieg kaum getroffen, und die Reparationen nahmen im Westen verhältnismäßig wenig davon weg.
Der wirtschaftliche Aufbau der Bundesrepublik wird von drei Mythen verklärt:
1. Die Produktionsstätten wurden durch den Krieg weitgehend zerstört.
2. Die (finanziellen) Wirkungen des Marshall-Plans waren entscheidend für das Wirtschaftswunder.
3. Erhards Soziale Marktwirtschaft war noch eine gemütliche soziale Marktwirtschaft.
Alle drei sind falsch und sagen eher etwas darüber aus, wie wir die Welt sehen möchten.
Es sind mehr als drei; ich verweise erneut auf den von mir verlinkten Artikel zum „Mythos Wirtschaftswunder“.
Ja. Was mich noch viel mehr amüsiert auf meine alten Tage – die Rückkehr zur Normalität wird als Wunder gefeiert. Es war erwartbar (!), dass die vor dem 1. und 2. Weltkrieg ausserordentlich leistungsfähige deutsche Wirtschaft (nach Leistung pro Kopf 1913 an Platz 3 der grossen Staaten der Erde, hinter den USA und sehr knapp hinter Grossbritannien) dahin zurückfinden würde, liesse man sie nur re Krieg und reparationen einfach in Ruhe.
Als Wunder konnte das nur empfunden werden, weil man zwischen 1914 und 1949 (35 Jahre) etwas ausserordentliches erlebte, nämlich die permanente Störung von Normalität (erst Krieg, dann Reparationen, dann Wirtschaftsexistenzkrise, dann Kriegsvorbereitungsausterität, wieder Krieg, nochmal Reparationen).
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich habe ausführlich über den Mythos Wirtschaftswunder geschrieben 🙂