Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.
Diesen Monat in Büchern: Portugal, Achterbahn, Erzählmirnix, Naziwirtschaft, Kaiserreich, Katniss
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: 9/11
Bücher
Holger Ehling – Pocket Portugal
Ich habe aus dieser von der BpB herausgebenen Reihe bereits „Pocket Recht“ und „Pocket Großbritannien“ gelesen und besprochen. Die kleinformatigen, kompakten Bände (wenig überraschend passen sie in die meisten Jackentaschen, wer hätte das gedacht) sind vollfarbig und führen jeweils für Anfänger*innen in ihre Themengebiete ein. Das ist zumindest der Anspruch. Der Aufbau des vorliegenden „Pocket Portugal“ folgt dem für Großbritannien: Landesgeschichte, Politik, Medien, Kultur, Küche, Sport, etc., schön als einzelne Themengebiete getrennt.
In dieser Trennung findet sich bereits die erste Problemstellung des Bandes. Die klaren Kategorien sind in einem gewissen Rahmen abriträr, sie sorgen für eine wenig gesamtheitliche Aufstellung. Ebenfalls nicht super geschickt finde ich das starke Gewicht auf Landesgeschichte, die beinahe die Hälfte des Bandes einnimmt und überwiegend als klassische Politikgeschichte „großer Männer“ daherkommt, voll langer Auflistungen von Königen, Feldherren und Seefahrern. Gleichzeitig bleibt der Blick sehr europazentriert; obwohl Portugal ein großes Kolonialreich besaß, spielt dieses nur insofern eine Rolle, wie es die Geschichte der Landmacht Portugal betrifft. Sonderlich erhellend oder spannend ist das alles nicht.
Gleichwohl bietet Ehlings Übersicht natürlich einen schönen Überblick über ein Land, über das ich ehrlich gesagt wenig wusste und das ich bisher auch noch nicht besucht habe. Negativ fallen einige merkwürdige Satzbaufehler des Autors ins Gewicht, die den Eindruck eines Hobby-Projekts (wenngleich im besten Sinne) unterstreichen.
Ian Kershaw – Achterbahn (Ian Kershaw – Rollercoaster)
Nach seiner Überblicksgeschichte über Europa zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende des Zweiten Weltkriegs („Höllensturz„, „To Hell and Back„) legt Ian Kershaw nun diesen Wälzer vor, der die Geschichte Europas zwischen 1950 und heute nachzeichnet. Auf über 700 Seiten präsentiert er in mehreren thematischen Überblickskapiteln diese Geschichte im Schnelldurchlauf.
Diese Kapitel orientieren sich an den großen Leitlinien. Konfrontation und Grenzschließungen im frühen Kalten Krieg; die Aufstände im Ostblock und dann, 1968 et al, im Westen; Gesellschaftlicher Aufbruch in den 1960er und 1970er Jahren; Entspannung; das Ende des Booms und die Ölkrisen; die Krisen der 1980er Jahre; Glasnost und Perestroika und der Fall der Sowjetunion. Soweit ist die Überblicksgeschichte keine, die sich von anderen ihrer Art großartig unterscheiden würde; die Themenwahl ist recht konservativ.
Dasselbe gilt für ihre Bearbeitung. Kershaw setzt keine eigenen Akzente in der Darstellung, sondern orientiert sich am breiten Konsens der Geschichtswissenschaft. Das ist kein Minuspunkt; vielmehr macht es das Buch für „Anfänger*innen“ (sofern man bei einem 700-Seiten-Werk von so etwas reden kann) sehr geeignet, oder, in meinem Fall, zur Auffrischung und Überprüfung des eigenen Wissensbestands.
Der Nachteil ist zwangsläufig, dass keines dieser Themen besonders tiefgehend behandelt wird und dass neuere Forschungsansätze und diesen Konsens herausfordernde Thesen weitgehend außen vor bleiben – in jede ideologische Richtung. Auch das muss nicht schlecht sein, ich möchte nur deutlich machen, dass es der Fall ist.
Wo Kershaw eher eine Besonderheit bietet ist im letzten Drittel des Buches. Denn nach dem Fall der Sowjetunion widmet er sich ausführlich der Periode zwischen 1991 und 2017 (dem Ende des Buches, arbiträr gesetzt, weil dort der Schreibprozess endete), also den Balkankriegen, dem internationalen Terror und 9/11, der Osterweiterung der EU und der Finanzkrise.
Es ist hier, wo die oben erwähnten Charakteristika bedeutsamer werden. Denn das Orientieren am Konsens führt hier dazu, dass wegen des Mangels an breiter historischer Forschung eher Ereignisse beschrieben denn in irgendeiner Weise analysiert werden. Zwar gibt Kershaw hier durchaus einige Elemente hinzu, aber insgesamt bleiben diese Kapitel merkwürdig oberflächlich und lückenhaft.
So spielt etwa die Herausforderung durch China eine extrem randständige Rolle. Genauso fällt die arg konventionelle Erzählung der Finanzkrise auf, die etwa von Adam Toozes Erkenntnissen praktisch nichts inkorporieren kann, obwohl diese durchaus zur Verfügung gestanden hätten.
Insgesamt bleibt das Buch daher vor allem für jene interessant, die noch recht wenig Überblickskenntnisse haben und auf der Suche nach einer gut lesbaren Gesamterzählung für die Epoche sind. Wer sich bereits auskennt, wird von der mangelnden Tiefe enttäuscht werden.
Nadja Herrmann – Erzählmirnix. Leben mit Menschen
Ich mag Nadja Herrmanns „Erzählmirnix“-Comics und habe auch den ersten Sammelband hier besprochen. Es sollte nicht überraschen, dass die Zeichnungen nicht eben großen künstlerischen Ansprüchen genügen, aber darum geht es hier auch nicht wirklich. Herrmann ist ja eher stolz darauf, einen erfolgreichen Webcomic hevorgebracht zu haben, ohne Zeichentalent zu haben. Nicht zu Unrecht.
Zentral ist schließlich der Inhalt. Herrmanns Strips arbeiten häufig mit der Spiegelung von (aus ihrer Sicht) dummen Haltungen, die sich thematisch zwischen Politik, Gesellschaft, Ernährung und Gesundheit bewegen. Vor allem geistige Gesundheit hat es ihr als professioneller Psychologin angetan; viele ihrer Comics thematisieren die verzerrten Wahrnehmungen auf die Kranken und ihren Lebensalltag.
Politisch und gesellschaftlich ist sie klar im progressiven Spektrum verankert; die AfD ist ihr ein liebgewonnenes Feindbild, genauso wie Querdenker und ähnliche abseitige Spinner mit zerstörerischer Wirkung. Das quasi als Warnung für die, die von solchem Humor eher getriggert werden. Für alle anderen sei das Büchlein rundum empfohlen.
Adam Tooze – Wages of Destruction (Adam Tooze – Ökonomie der Zerstörung)
Ein Buch das ich 2014 zum letzten Mal gelesen habe ging nun in die Wiederholungsrunde: Adam Toozes „claim to fame„-Mammutwerk „Wages of Destruction“. Obwohl mittlerweile 20 Jahre alt, ist Toozes Meilenstein immer noch uneingeschränkt zu empfehlen, schon allein, weil das Feld der Wirtschaftsgeschichte ohnehin nicht sonderlich dicht bebaut ist.
Tooze zeichnet von den Präsidialkabinetten der Weltwirtschaftskrise – die er zum Verständis der folgenden NS-Politik korrekt als unabdingbares Vorwissen einstuft – die beginnende Wirtschafts- und Finanzpolitik der frühen 1930er Jahre nach. Dabei zeigt er schnell, wie wenig relevant die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (der berühmte Autobahnbau) sowohl für die Wirtschaft als auch für die Finanzen waren. Stattdessen konzentriert er sich auf drei entscheidende Fragestellungen, die letztlich das gesamte Buch durchziehen werden.
Erstens ist das die Ernährungslage. Die Landwirtschaft war ineffizient und nicht in der Lage, die Bevölkerung autark zu ernähren. Unter anderem war sie massiv abhängig von den Importen von Kraftfutter für Tiere und Saatgut (was im Krieg später Dominoeffekte hatte), andererseits stark partikularisiert und weitgehend noch nicht mechanisiert. Die Lösung für die Nazis bestand im Erwerb von mehr Raum, um gleichzeitig die Höfe mediatisieren zu können – eine Politik, die aus vielerlei Gründen zum Scheitern verurteilt war.
Der Import jedoch war ebenfalls nicht möglich, denn das Reich litt zweitens an einem permanenten Außenhandelsdefizit und chronischen Devisenmangel, der praktisch von Beginn an eine Zwangsbewirtschaftung der Devisen notwendig machte (und so auch das private Unternehmertun untergrub). Die unterentwickelte deutsche Industrie (siehe unten) war einerseits auch nicht in der Lage, in großem Umfang Exportgüter herzustellen, und andererseits gab es dafür während der Weltwirtschaftskrise auch gar nicht den Markt. Letztlich war diese Frage aber akademisch, denn die Industrie wurde ganz in den Dienst der Aufrüstung gestellt, die absurde Summen und praktisch die gesamte Leistung der Industrie verschlang.
Finanziert wurde die Rüstung staatlich. Um drittens die Inflation in Zaum zu halten, musste sie einerseits getarnt werden (auch aus außenpolitischen Gründen), andererseits mussten die wegen des akuten Mangels an Gütern ansteigenden Privatvermögen aus dem Geldkreislauf gezogen werden. Dieses Wechselspiel eines künstlich niedrig gehaltenen Lebensstandards zur Finanzierung der Rüstung bestimmte die gesamte NS-Zeit und wurde um Krieg auch dem Rest Europas aufgezwungen.
Bemerkenswert ist neben diesen Sachzwängen auch das Ausmaß der Unterentwicklung, das Tooze für Deutschland beschreibt. Nirgendwo sonst ist die revisionistische Kraft seines Werkes so durchschlagen wie hier, wenn er die Idee, Deutschland sei ein effizient-rationaler, hochtechnisierter Staat gewesen, völlig zerlegt. Der Lebensstandard der Deutschen war im westeuropäischen Vergleich – im amerikanischen sowieso – erbärmlich niedrig. Das Land war nicht vollständig industrialisiert, mechanisiert schon gar nicht. Die Bevölkerung war auch in der Bildung auf einem insgesamt eher geringen Stand. Darüber täuschen die Leuchtturmindustrien und Universitäten gerne hinweg. Und überhaupt, die Effizienz: auch diesen Mythos zerlegt Tooze eindrücklich. Die Nazi-Wirtschaft war alles, aber nicht effizient. Dafür brauchte es die Manager aus den USA.
Zuletzt wichtig erscheint mir die Betonung auf die Auswirkungen dieser wirtschaftlichen Bedingungen auf Krieg und Holocaust. Die gigantische Rüstung etwa erzwang die Kriegführung geradezu, weil sie ohne Krieg nicht sinnvoll aufrechtzuerhalten war (und jedes Ende des Rüstungsbooms die verdeckte Inflation und eine Wirtschaftskrise hervorbringen musste). Die Unfähigkeit der eigenen Ernährung erzwang das Ausplündern Europas und den Massenmord durch Aushungern. Der Arbeitskräftemangel erzwang die Rekrutierung von Millionen von Sklavenarbeiter*innen.
Völlig wirtschaftlichen Interessen zuwider lief dagegen der gesamte Holocaust. Zwar profitierte die Wirtschaft auch hier; keine deutsche Firma, die nicht KZ-Häftlinge beschäftigt hätte. Und von den gigantischen Gewinnen, die ihnen das Regime quasi garantierte, um ihre Mitarbeit zu erreichen, ganz zu schweigen. Aber der Holocaust war insgesamt wirtschaftlich gesehen eine Verschwendung; er ist nur ideologisch, nicht durch Sachzwänge zu erklären. Das sollte besonders im Hinblick auf linke Geschichtsinterpretationen betont werden.
Markus Bernhardt (Hrsg.) – Das deutsche Kaiserreich
Der Wochenschau-Verlag ist für Geschichtslehrkräfte quasi der Heimatverlag. Ich erinnere mich noch an das Referendariat und die Fachdidaktik-Literatur. Unlesbar geschrieben gerne, wie so häufig. Das ist glücklicherweise etwas, das man diesem tollen Band nicht vorwerfen kann. Er nennt sich „Starter“ für Student*innen und Referendar*innen, aber ich würde mich davon nicht abhalten lassen. Weder ist das Buch nur für Anfänger*innen, noch muss man Geschichte Lehramt studieren, um etwas davon zu haben.
Was hier dem Anspruch nach stattdessen gemacht wird ist, den Stand der Forschung in Überblicksbeiträgen zusammenzufassen. So erfahren wir etwas zur Wirtschaft, zur Verfassung, zur Reichsgründung, und so weiter, quasi die Greatest Hits, jeweils auf rund zehn Seiten komprimiert und gut strukturiert zusammengefasst. I like! Leider ist der „Stand der Forschung“ noch insgesamt etwas veraltet, auch wenn auf große Namen wie Dieter Langewiesche zurückgegriffen werden kann; die aktuellen Debatten um Jürgen Zimmerer, Oliver Haardt und Hedwig Richter etwa kommen hier gar nicht vor.
Ein weiterer Teil des Buches beschäftigt sich mit „exotischeren“ Bereichen, etwa dem Kaiserreich in Bildern oder der Quellenlage. Abgesehen von Spezialinteressen der Lesendenschaft findet sich hier viel Material für Geschichtsstunden, weswegen diese Bereiche dann tatsächlich für Lehrkräfte interessanter sind. Man beachte einerseits den Komparativ – auch Nicht-Lehrkräfte dürften hier genug finden – und andererseits, dass ich von Lehrkräften rede, nicht von Referendar*innen. Die können das schon auch benutzen, werden aber üblicherweise alle Hände voll zu tun haben, „normale“ Stunden zu produzieren. Obgleich natürlich für die Lehrproben hier dann sicherlich auch tolle Ideen zu haben sind. So oder so, Empfehlung!
Valerie Estelle Frankel – Katniss the Cattail
Nachdem ich die „Tribute von Panem“-Trilogie gelesen habe und nächstes Schuljahr mal wieder eine Mittelstufe unterrichten werde, habe ich mich entschlossen, das Buch auch (mal wieder) im Unterricht zu besprechen. Dafür eignete sich dann dieses kleine Büchlein, das die Namen und Symbole in Collins Werk analysiert, ziemlich gut.
Wenig überraschend sind die meisten Namen, die Collins verwendet, entweder in Bezug auf den Hintergrund eines Charakters oder zum Charakter (des Charakters), oft genug sogar beides. Katniss etwa ist ein Pfeilkraut (got it?), das nahrhaft ist, wenn man es nur weiß, aber unscheinbar aussieht. Hm, hat das vielleicht etwas mit dem Hauptcharakter zu tun? Und warum trägt sie Pfeil und Bogen? Hat das vielleicht Anspielungen auf griechische Mythologie?
Ihr könnt schon sehen, worauf ich hinauswill. Das Büchlein ist nützlich für die Interpretation der „Tribute von Panem“ und hilft mir bei der Unterrichtsvorberreitung. Aber dafür ist es nicht primär geschrieben worden, weswegen interessierte Leser*innen sich das nicht einmal vier Euro teure Bändchen auch zu Gemüte führen können. Sofern sie nicht alle Pflanzen und Charaktere aus Shakespeares „Julius Cäsar“ schon kennen, was für mich sicher nicht zutrifft.
Zeitschriften
Aus Politik und Zeitgeschichte – 9/11
Diesen September jähren sich die Anschläge von 2001 zum zwanzigsten Mal (wir werden alle alt…), weswegen die BpB es sich nicht nehmen lässt, ein Heft zum Thema herauszubringen. In den Essays geht es vor allem um die Folgen der Anschläge, sprich: die Sicherheitspolitik mit ihrer Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, die uns weitgehend bis heute erhalten geblieben sind, und die Kriege in Irak und Afghanistan.
Letztere bilden das Hauptgewicht der Sammlung. In ihnen werden noch einmal die verschiedenen Phasen der Intervention aufgearbeitet, Einsatzanalysen getroffen und Zielsetzungen des Nation Building diskutiert. Angesichts der Ereignisse in Afghanistan kann man sich des Eindrucks aber nicht erwehren, dass, obwohl erst einen Monat alt, viele dieser Analysen bereits wieder hinfällig sind.
Danke für die Tips, der Tooze klingt sehr interessant.
Frage zur ‚Hunger-Games‘ Symbolik: steht im Buch auch etwas dazu, dass die ‚Unterdrücker‘ alle lateinische und die ‚Unterdrückten‘ alle angelsächsische Namen haben. Das ist fast so simpel wie bei Walter Scott.
Einen Filmtip habe ich noch für dich. (aus zweiter Hand, ich bin noch nicht dazu gekommen)
https://www.film-rezensionen.de/2021/08/die-rote-kapelle/
Da du letztes Jahr mal hier ausführlich über Widerstand 3. Reich im Film geschrieben hast, würde mich deine professionelle Meinung interessieren.
Gerne; Tooze ist immer empfehlenswert, auch „Crashed“ und „Deluge“ und vermutlich nun diesen Monat „Shutdown“.
Simpel ist manchmal einfach gut.
Danke! Ich schau mal.
„wie wenig relevant die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (der berühmte Autobahnbau) … waren“
Wird hier nicht die psychologische (propagandistische) Wirkung unterschätzt? Wenn Wirtschaft zu fünfzig Prozent Psychologie ist wie es heißt, dann kann man das bei der damaligen Lage von Arbeitslosen doch nicht einfach ignorieren.
Das Komische ist ja, dass das auch in der Propaganda keine so große Rolle spielte. Mein Verdacht wäre, dass das eine Nachwirkung der „Aber er hat Autobahnen gebaut!“-Verteidigung der Altnazis und Rechten in der Nachkriegsära war.
… wenn er die Idee, Deutschland sei ein effizient-rationaler, hochtechnisierter Staat gewesen, völlig zerlegt.
????? Das ist für mich ein durchschlagendes Argument, ihn NICHT zu lesen. Ausweislich seines Bruttosozialproduktes war Deutschland 1934 pro Kopf etwa auf dem Stand Grossbritanniens, die Verteilung dieses BSP in der Bevölkerung ist völlig irrelevant. Deutschland hatte kurz nach 1900 Grossbritannien im industriellen Output als No. 1 der Welt abgelöst und war seinerseits um 1910 von den USA von diesem Platz wieder verdrängt worden.
Das sind alles keine Mythen, sondern harte Fakten – keine Ahnung, was Tooze „zerlegt“ haben will. Nein, die deutsche Industrie war in der Massenproduktion standardisierter Güter (!) nicht sonderlich effizient, das war damals und das ist heute aber auch gar nicht ihre Stärke.
Auch die Bemerkungen der Besprechung zum Thema Bildung sind ziemlich irritierend – die Stärke der deutschen Facharbeiterausbildung war schon in den dreissigern bekannt und erklärt zum Teil die Kampfkraft der Wehrmacht, wo diese Leute meist als Unteroffiziere dienten. Kann es sein, dass Tooze schlicht nicht weiss, dass z.B. Ingenieure in Deutschland damals formal nicht an „Universitäten“ ausgebildet wurden?
Mich schreckt die Besprechung eher ab, weil ich aus ihr schliessen muss, der Autor schlachte Illusionen, die er selbst geschaffen hat.
Gruss,
Thorsten Haupts