Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen, Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA, Teil 2 mit einer Analyse der Finanzkrise 2007/2008 und Teil 3 mit einer Beschreibung der Rückkehr der Realpolitik gingen diesem Artikel voraus.
In den Jahren 2004/2005 war die Europäische Union auf einem Höhepunkt ihrer Euphorie auf einem rapiden Weg zur „immer engeren Union“. 2002 war erfolgreich die Umstellung auf den Euro als gemeinsame Währung von (mittlerweile) 19 Mitgliedsstaaten vollzogen worden. 2004 erfolgte dann, parallel zur NATO-Osterweitung, auch die EU-Osterweiterung. Zehn neue Mitgliedsstaaten vergrößerten die Union von 15 auf 25 Mitglieder, mit zwei weiteren mit vorgesehenem Beitrittsdatum 2007. Es war offensichtlich, dass die Strukturen, die einmal für eine EWG von sechs Ländern geschaffen und seither mehrfach grundreformiert worden waren, einer weiteren Änderung bedurften.
Dieses Fakt stand für alle Beteiligten außer Frage. Die EU tat sich bereits mit 15 Mitgliedern schwer, die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder unter einen Hut zu bringen. Die Übernahme zahlreicher weiterer Kompetenzen, nicht zuletzt des Euro (der, mit Ausnahme Großbritanniens und Dänemarks, perspektivisch ja alle EU-Staaten umfassen sollte), erforderte Umsetzungsinstrumente, die schlicht nicht gegeben waren.
Viel problematischer aber war die Bandbreite an unterschiedlichen Systemen und Lebensverhältnissen, die durch die Osterweiterung bedingt war. Die Aufnahme der drei Südländer Spanien, Portugal und Griechenland hatte die EU vor allem durch eine Ausweitung der Transferzahlungen abfedern können. Bereits damals war die Teilhabe am mit Abstand größten EU-Fördertopf, der Gemeinsamen Agrarpolitk (GAP), ein hoch problematischer Zankapfel gewesen; eine Aufnahme besonders des landwirtschaftlich starken Polens in dieses System war undenkbar. Ein erster Reformvorstoß mit dem Vertrag von Nizza war im Jahr 2000 mehr oder weniger deutlich gescheitert. Diese Ereignisse habe ich detailliert in Teil 4 und Teil 5 meiner Geschichte der Europäischen Union nachgezeichnet; sie sollen hier daher nicht weiter ausgeführt werden.
Relevanter für unsere Geschichte ist der Verfassungsvertrag, den sich die EU daraufhin geben wollte. 2004 arbeitete eine Kommission an einem gemeinsamen Vorschlag für eine Europäische Verfassung, geleitet vom über alle Zweifel erhabenen konservativen Über-Europäer Giscard d’Estaigne. Der entstehende Vertrag würde die EU zwar nicht in einen Bundesstaat verwandeln, aber deutlich über die supranationale Organisation hinausführen, die sie zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon war. Der Verfassungsvertrag jedenfalls war dem allgemeinen Verständnis nach eine Vorstufe auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ und sollte die EU handlungsfähiger machen.
Doch 2005 folgte der Schock. Nach Ratifizierungen in den meisten EU-Ländern lehnten die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande das Vertragswerk ab; weitere Abstimmungen wurden nicht mehr abgehalten. Wie bereits 1954 war es ausgerechnet Frankreich, das eine im Kern französische Initiative abwürgte. Das europäische Einigungsprojekt kam zu einem quietschenden Halt.
Bereits vorher hatte es deutliche Risse in der Fassade neuer europäischer Einigkeit gegeben. 2003 hatten Frankreich und Deutschland in der EU die Machtfrage gestellt und die Mitglieder zum Offenbarungseid gezwungen, als sie sich offen gegen die USA stellten und den Irakkrieg rundherum ablehnten. Die Bush-Regierung hatte gehofft, ein Lippenbekenntnis zu bekommen und damit eine scheinbar geeinte Front präsentieren zu können. Umgekehrt hofften Deutschland und Frankreich darauf, eine außer Großbritannien geeinte EU gegen die USA präsentieren zu können und forderten Gefolgschaft ein.
Sie erhielten sie nicht. Spanien etwa warf sich mit derselben Verve hinter die USA wie Großbritannien. Wesentlich dramatischer aus Sicht der Deutschen und Franzosen aber dürfte die Reaktion in Osteuropa gewesen sein. Die Beitrittskandidaten unterstützten praktisch durch die Bank die USA, der Irakkrieg spaltete den Kontinent in zwei Hälften.
Dabei machten die neuen Beitrittskandidaten ebenso wie etwa Spanien eine strategische Grundkalkulation: sie gingen davon aus, dass die Freundschaft zu den USA für ihre Sicherheit und weitere Prosperität wichtiger sein würden als die EU. Dass dies in Berlin und Paris nicht gesehen worden war – vor allem in Bezug auf Osteuropa – ist frappant und erscheint im Rückblick als Vorbote der Ukrainekrise 2014, über die wir im letzten Teil gesprochen haben. Länder wie Polen konnten keinerlei Vertrauen in die Fähigkeiten – und Bereitschaft! – Deutschlands und Frankreichs haben, ihre Sicherheit gegenüber einem zunehmend aggressiveren Russland zu garantieren. Dieses Dilemma bildet noch heute das Fundament der Zerrissenheit der europäischen Sicherheitspolitik.
Gleichzeitig aber würde sich die Anbindung an die USA für einige der EU-Länder noch als Problem herausstellen, denn die USA würden sich zwar bereit zeigen, ihre Sicherheit gegenüber Russland durch substanzielle Engagements zu garantieren (etwa den hochumstrittenen Raketenabwehrschirm, den die Bush-Regierung in Polen einzurichten gedachte). Sie waren aber ganz und gar nicht bereit dazu, diesen Ländern in einem Konflikt mit Deutschland beizuspringen. Dies sollte sich, wie wir sehen werden, für diese noch fatal auswirken.
Doch vorerst musste die EU sich von dem Desaster der gescheiterten Verfassung erholen. Statt die Einheit mit größeren Schritten voranzubringen, entschied man sich für eine deutlich weniger ambitionierte Version, die das Wort „Verfassung“ vermied und dafür ohne Volksabstimmungen durch die nationalen Parlamente ratifiziert werden konnte. Der resultierende Lissabonner Vertrag war denn auch genau das, ein Kompromiss und um Ambitionen und größere Entwicklungen stark gekürzter Rumpfvertrag. Seine Verabschiedung drohte dennoch zu scheitern, weil eine Volksabstimmung in Irland ihn ablehnte; ein weiteres Referendum kurz darauf fand bereits unter der massiven Drohung statt, Irland angesichts seiner schwerwiegenden Probleme in der Finanzkrise im Regen stehen zu lassen. Wie Griechenland in einer vergleichbaren Situation fast ein Jahrzehnt später beugte man sich den Realitäten. Der Vertrag wurde angenommen.
Lissabon war das erste große europapolitische Projekt der Regierung Merkel. Der Verfassungsvertrag stammte noch aus einer vorherigen Epoche, wurde unter Schröders Kanzlerschaft mitverhandelt. Die schwierige Konsensfindung für Lissabon fiel in die deutsche Ratspräsidentschaft 2007 und beanspruchte alle europapolitische Energie der neuen Administration. Das hatte schwere Folgen, denn 2007 begann einerseits auch die internationale Finanzkrise, für die entsprechend weniger Aufmerksamkeit zur Verfügung stand, doch andererseits fiel die Fertigstellung 2009 gerade in den Beginn des eigentlich europäischen Teils der Finanzkrise. Just in dem Moment, als nach einer Dekade nervenzerfetzender Verhandlungen endlich ein neues Vertragswerk stand, das die nächsten ein, zwei oder gar drei Dekaden Bestand haben sollte und man sich dem schwierigen Alltagsgeschäft hinwenden wollte, war alles Makulatur, und die EU erforderte neue, tiefgreifende Reformen, über die sich niemand einigen konnte. Es war der perfekte Sturm.
Als die Finanzkrise 2008/2009 auf Deutschland durchschlug, war die regierende Koalition Segen und Fluch für das Land zugleich. Segen, weil es keine schwarz-gelbe Koalition unter Merkel und Westerwelle war, wie sie das „richtige“ Ergebnis von 2005 gewesen wäre. Diese hätte mit Sicherheit Flurschäden angerichtet. Fluch, weil das deutsche Handeln in der Finanzkrise nicht nur den Regierungs- und Entscheidungsstil von Angela Merkel in all seinen Schwächen offenlegte, sondern auch den der SPD, die wie im Stockholm-Syndrom die furchtbarsten Instinkte Merkels verstärkten. Letztlich zeigt die deutsche Reaktion in der Finanzkrise dieselben Dynamiken wie die deutsche Reaktion auf die Covid-Krise, nur dass seinerzeit andere den Preis bezahlen mussten.
Was ist damit gemeint? Die Doppelspitze von Merkel und Steinbrück erklärte von Beginn der Krise an quasi hauptamtlich, dass es sich um eine amerikanische Krise handelte, die mit Europa nichts zu tun hatte. Allenfalls war man das unschuldige Opfer, das durch windige amerikanische Geschäftspraktiken in den Strudel gezogen wurde, aber selbst dieses Szenario galt wegen der angeblichen europäischen Tugenden – die, wie sich bald zeigte, deutsche Tugenden sein sollten, die man hier noch gegen den Nationalismusvorwurf europäisch verbrämte, eine bewährte deutsche Kommunikationsstrategie – als unwahrscheinlich. Wir haben in Teil 2 gesehen, wie falsch diese Ansicht war. Das Finanzsystem war ein atlantisches Finanzsystem, in dem schon das Konzept von „amerikanisch“ oder „europäisch“ albern war.
Entsprechend musste eine Antwort auf die Krise auch gesamtatlantisch erfolgen. Während in der Downing Street und Pennsylvania Avenue längst erkannt worden war, was sich da zusammenbraute, und die Fed zusammen mit der britischen Notenbank fieberhaft an Lösungen arbeitete, schlief man in Berlin den Schlaf des Gerechten und wies erst die Angebote, dann die flehenden Bitten der Angelsachsen um eine koordinierte Antwort hochmütig ab. Um fair zu bleiben kann man das nicht nur Merkel und Steinbrück anlasten; die EZB selbst war von der gleichen Betriebsblindheit geschlagen und unfähig, über ihren ideologischen Tellerrand hinauszublicken.
Als die Krise dann 2009 tatsächlich, wenngleich mit Verspätung, auf Deutschland und Europa überschlug, war es zu spät. Irland, dessen neoliberales Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre sich nun als Albtraum entpuppte, war de facto bankrott. Mit der Weigerung der Eurogruppe zu irgendeiner Zusammenarbeit hatte die irische Regierung ihrerseits dazu auch wenig Veranlassung gesehen und in einem geradezu atemberaubenden Hasardeursspiel die Schulden der irischen Banken garantierten, die zu diesem Zeitpunkt praktisch das irische Nationaleinkommen überstiegen. Anders ausgedrückt: Irland war bankrott, es war nur noch nicht offiziell.
Nun könnte man Irland als Land der grünen Hügel und Bauernhöfe abtun, nur hatte es sich im 21. Jahrhundert in eine gewaltige Steueroase verwandelt. Im liberalen Konsens war diese Entwicklung viel beklatscht und bewundert worden und hatte zu großen Wachstumsgewinnen geführt, zumindest auf dem Papier. Jetzt floh das scheue Reh des Kapitals, und es zeigte sich, dass von Bankenbilanzen noch niemand satt geworden ist. Die irischen Banken waren überschuldet und das Land praktisch unfähig, sie im Alleingang zu retten. Too big to fail mochte ein Schlagwort der Finanzkrise sein, aber für Irland galt es ganz emphatisch nicht.
Es war nur ein Symptom, ein Vorbeben dessen, was kommen sollte. In Spanien war der Boom der vergangenen Jahre des liberalen Konsens‘ hauptsächlich durch die Immobilienbranche verursacht worden. Dieser Boom entpuppte sich nun als Blase; zig Hotels standen effektiv leer, die Naturverwüstung der Strände war auch wirtschaftlich verheerend gewesen.
Noch wesentlich ärger aber wirkte sich die Finanzkrise auf Osteuropa aus, wo der Aufschwung seit 1990 auf zwei Faktoren beruhte: einer radikalen Reformpolitik im Sinne des liberalen Konsens‘, der den betroffenen Staaten viel Lob der Ökonomenzunft und einschlägigen Meinungsmachenden wie dem Economist oder dem Davos-Jetset eingebracht hatte, und Investitions- und Kreditlinien in die Wallstreet und City of London. Beide trockneten innerhalb von Tagen praktisch völlig aus.
Wie der Rest des atlantischen Finanzsystems waren all diese Staaten auf Devisen angewiesen. Denn der große Boom der Ära des liberalen Konsens war, wie jeder Boom, mit Krediten finanziert worden. Nur beliefen sich diese Kredite nicht auf Zloty oder Forint, sondern Dollar, Euro, Pfund und Schweizer Franken. Auch die Euro-Länder brauchten aufgrund der in Teil 2 beschriebenen Dynamiken ständigen Nachschub an Pfund und Dollar, nur um das System am Laufen zu halten – geschweige denn, neue Investitionen zu tätigen.
Nun bekam eine ganze Reihe starker Volkswirtschaften durch die „Swap Lines“ direkten Zugang zur Fed und konnte sich mit Dollar versorgen, und auch die britische Notenbank finanzierte bereitwillig die jeweiligen nationalen Notenbanken. Allein, die „Swap Lines“ liefen nicht über die EZB; sie liefen über die nationalen Notenbanken jener ausgewählten Volkswirtschaften, die an ihnen teilhaben durften, und die die Dollarkredite direkt an ihre jeweiligen nationalen Großbanken weiterreichten. Dazu gehörte natürlich Deutschland. Dazu gehörten emphatisch weder Polen noch Ungarn.
An dieser Stelle war die EU handlungsunfähig. Die deutsche Krisenpolitik war eine, deren Schema allzuschnell vertraut sein sollte: sie wollte die betroffenen Volkswirtschaften zur Anpassung zwingen. Für die deutsche Politik wie für die deutsche Ökonomik – und die von ihr stark beeinflusste EZB unter ihrem damaligen Vorsitzenden Trichet – war die Ursache für die Probleme nicht die Finanzkrise per se, sondern strukturelle Unwuchten, sprich: Teile der Wirtschaft waren nicht wettbewerbsfähig. Die deutsche Krisenpolitik verfolgte einen langfristigen Ansatz struktureller Reformen, ein Ansatz, der immer wieder durch die Notwendigkeiten einer extrem kurzfristigen Krise konterkariert wurde, in seinem Kern aber stets erhalten blieb. Damit setzte sie auf ein völlig anderes Konzept als Großbritannien und die USA, die die Finanzkrise als exakt das sahen: eine Krise, der schnell und mit maximalem Einsatz begegnet werden musste, damit man zum Status Quo zurückkehren konnte. Diese Politik verfolgten London und Washington, und sie taten es mit Erfolg. Demgegenüber versuchte Berlin die Krise als Chance zu begreifen, einige ungeliebte Elemente der Konstruktion der EU nach den eigenen Vorstellungen zu verändern.
Mit dieser Absicht waren die Deutschen keineswegs allein; auch Frankreich hoffte, die Krise nutzen zu können, um die EU umzugestalten, und selbst die Briten sprangen – wenngleich, wie wir noch sehen werden, erst sehr spät – auf diesen Veränderungszug auf. Insgesamt gab es vier große Richtungen, in die die EU gezerrt wurde:
1) Die USA, die vor allem eine neue Welle von Bankenpleiten verhindern wollten, die dann wiederum auf sie selbst überschwappen würde. Diese Angst war, wie wir gesehen haben, wegen der engen Verflechtung der transatlantischen Finanzsysteme sehr real. Eine Implosion des europäischen Bankensystems würde auch die mit viel Mühe geretteten amerikanischen Banken (die zu der Zeit gerade unter dem „Stresstest-„Regime krisensicher gemacht werden sollten) sofort mit sich in den Abgrund reißen. Es waren keine Reserven mehr verfügbar, um eine solche weitere schwere Krisenwelle aufzufangen, und, für die Obama-Regierung noch entscheidender, das politische Kapital war aufgebracht. Zwischen Tea Party und Occupy Wallstreet gab es in den USA keine Aussicht, irgendwelche weiteren Mittel für Bankenrettungen zu mobilisieren (die TARP-Fonds waren praktisch ausgeschöpft). Käme eine weitere Bankenkrise, würde die US-Regierung ihnen nicht mehr helfen können. Es war daher blankes, kurzfristiges Selbstinteresse der USA, für eine schnelle wirtschaftliche Erholung in Europa und eine Rettung des europäischen Bankensystems zu sorgen.
2) Frankreich, das sich seit jeher eine engere Verzahnung der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik wünschte. Das französische Interesse lag – und liegt – klar darin, die Europäische Union in einen eigenständigen und unabhängigen Wirtschaftsraum zu verwandeln. Gerade die starke Verflechtung mit dem angelsächsichen Finanzsystem war den traditionell eher nationalistisch denkenderen Franzosen ein Dorn im Auge, die die EU von Beginn an auch als Gegengewicht zu den USA konzipiert hatten, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Die Krise bot für Paris die Chance, Integrationsschritte auf diesem Weg voranzubringen.
3) Deutschland, das einen starken Exportfokus verfolgte und diesen auf die gesamte EU zu übertragen gedachte. Die deutsche Analyse war, dass die Kostensenkungen durch die Steuerreformen, Deregulierungen und Agenda-Reformen (die zu sinkenden Reallöhnen, einem großen Niedriglohnsektor und wachsenden Unternehmensgewinnen geführt hatten) zu einer Gesundung der Wirtschaft beigetragen hatten. In dieser Lesart gab es weltweit eine große Nachfrage an europäischen Produkten, die leicht durch eine europaweite Reduzierung des Preisniveaus zu stimulieren war und für ganz Europa den Ausweg aus der Krise bot. Die deutsche Austeritätsvision war daher nicht so sehr eine des Wettbewerbs der EU-Staaten untereinander – obwohl das natürlich auch eine Rolle spielte – sondern eher der EU als gemeinsamem Exportblock in den Rest der Welt. Um das zu erreichen, sollte der Einfluss der Staaten auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik so weit wie möglich zurückgestutzt werden. Der liberale Konsens erlebte hier einen letzten Höhepunkt, mit dem wir uns gleich noch detaillierter beschäftigen werden.
4) Die weniger entwickelten EU-Staaten, die vorrangig an der Süd- und Ostflanke der EU positioniert waren, sahen sich der Krise schutzlos ausgeliefert. Ihre Bankensysteme hatten keine Chance, die Wucht einer weltweiten Finanzkrise aus eigener Kraft abzufangen. Exemplarisch konnte man dies an Irland beobachten, aber dieselbe Krise stand auch den anderen Staaten ins Haus. Ihr Interesse war auf ein Offenhalten der Kapitalflüsse gerichtet, also auf irgendeine Form von gemeinsamer finanzpolitischer Abwehr der Krise. Dies setzte eine aktivere Rolle der EZB voraus, die in die Lage versetzt werden musste, ähnlich der Fed oder der Bank of England als „lender of last ressort“ zu dienen und so das Schreckgespenst eines Staatsbankrotts zu bannen.
Es ist offenkundig, dass diese divergierenden Interessen kaum unter einen Hut zu bringen waren. Zu Beginn der europäischen Krise – Griechenland spielte immer noch keine Rolle – arbeiteten Sarkozy und Merkel Hand in Hand. Die Interessen beider Länder überlappten sich dergestalt, dass die beiden Staats- und Regierungschefs als „Merkozy“ bezeichnet wurden. Der Grund für diese Gemeinsamkeit ist trotz der scheinbaren Unvereinbarkeit der strategischen Visionen leicht ersichtlich. Frankreich war, aller antiamerikanischen Rhetorik zum Trotz, tief in die Bankenkrise verwickelt. Seine Großbanken hatten faule Kredite in gigantischer Höhe in ihren Bilanzen liegen. Gleichzeitig versuchte die deutsche Politik mit aller Kraft zu vermeiden, dass eine finanzpolitische Intervention wie in den USA durchgeführt werden würde, die man als ersten Schritt in die unbedingt zu vermeidende Finanzunion der EU sah. Die Gemeinsamkeit beider Staaten lag darin, dass sie eine gesamteuropäische Antwort suchten, und nur eine europäische, ohne Beteiligung der USA und am besten auch ohne Beteiligung Großbritanniens.
Die deutsche Haltung war dabei kaum übersehbar. Die SPD und CDU, die 2009 – wie man heute gerne vergessen kann – noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament in ihrer wahrhaft „großen“ Koalition besaßen, einigten sich im letzten Jahr ihrer Regierungszeit auf eine der tiefgreifendsten und schädlichsten Verfassungsänderungen seit dem Asylkompromiss Anfang der 1990er Jahre: die Schuldenbremse. Das Faszinierende an diesem Akt ist aus politischer Sicht, dass beide Parteien von einer tiefsitzenden Angst gedrängt waren. Die CDU befürchtete, dass eine neue Regierung mit massiven Schulden den liberalen Konsens aufkündigen und den Grundstein für ein neues Wirtschaften legen könnte, das eher den amerikanischen oder französischen Vorstellungen entsprach. Ihr ging es darum, die in der liberalen Theorie prominente Trennung von Politik und Wirtschaft so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Die SPD dagegen befürchtete, dass eine (wahrscheinliche) schwarz-gelbe Koalition den Geist des Leipziger Programms wieder aus der Flasche lassen und den Wohlfahrtsstaat nach amerikanisch-britischem Vorbild stark beschneiden würde. Die Schuldenbremse sollte aus Sicht der SPD verhindern, dass Steuersenkungen auf Pump betrieben würden, wie sie ein Markenzeichen konservativ-liberaler Regierungen waren, ob während der Kohl-Zeit, unter Reagan oder Thatcher. So wurde dieses Instrument verabschiedet und schrieb den liberalen Konsens in der Verfassung fest – scheinbar geschützt vor den Stürmen einer sich stetig ändernden politischen Landschaft.
Damit haben wir sämtliche Spielsteine auf dem Brett, die 2009/2010 in die eigentliche europäische Krise übergingen. Während die USA in ihre lange Phase der langsamen, aber stetigen wirtschaftlichen Erholung eintraten, die sie sich mit einer teuren Rettung der Banken und einer Wiederherstellung des Status Quo erkauft hatten – unter extrem hohen politischen Kosten, wie noch einmal betont sein sollte – begann in Europa erst die eigentliche Krise, in der ein gänzlich anderes Krisenkonzept zur Anwendung kommen sollte: die tief greifende Umgestaltung und Reformierung praktisch der gesamten Eurozone nach deutschem Vorbild. Deutschland griff nach der Dominanz in Europa, ein Zug, der bis heute noch nicht wirklich anerkannt und noch weniger verarbeitet worden ist.
Auch diesmal ein informativer und schlüssiger Artikel, an dem ich trotzdem etwas zu meckern habe: Deine „Gesichter der europäischen Krise“ sehen so aus: http://tjbishopfineart.com/pics/polandball-wiki.jpg , du fokussierst dich in meinen Augen (zu) sehr auf die Staaten als handelnde Akteure.
Dabei geht zum einen verloren, dass es nicht die Staaten sind, die agieren, sondern die Regierungen. So ist sich zum Beispiel die Politik Spaniens in der Zeit die Politik der rechtskonservativen PP von Aznar und Rajoy, die PSOE war in scharfer Opposition. Und die Haltung Polens ist endgültig ohne den Populismus (und Antikommunismus) der Kaczinsky-Brüder nicht verstehen.
Zum anderen hältst du so die Spitzen der europäischen Institutionen heraus – Juncker, Barroso, Draghi. Sie alle haben ein Zusammenwachsen von Sozial- und Steuersystem hintertrieben statt es zusammenzubringen. Außerdem haben Sie eine Kultur der Hinterzimmerpolitik eingerichtet (Zitat Juncker: „Wir beschleißen etwas und sehen was passiert. Wenn niemand schreit, machen wir weiter, solange bis es kein Zurück mehr gibt“). Dies war besonders problematisch, weil alle drei (for good measure erwähne ich auch noch Monti, den Statthalter Europas in Italien) starke Verknüpfungen zur Finanzindustrie insbesondere Goldman-Sax hatten.
Und dann ist da noch das z.T. desaströse Personal in zweiter Reihe. Angela Merkel hat Europa nachgerade als Resterampe für ausgediente Politiker (Stoiber), peinliche Gestalten (Oettinger) oder schamlose Lobbyisten (Voss) genutzt. [Das kulminiert in von der Leyen, die nicht trotz sondern wegen ihrer Vetternwirtschaftaffäre ihr jetziges Amt hat]
Danke für die Ergänzungen, aber all das kommt im nächsten Teil! 🙂 Polen wird zu der von mir hier beschriebenen Zeit noch von Tusk regiert, Orban wird 2010 gewählt.