Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 4: Backlash

Dies ist der vierte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA. 

Während der Wirkungszeit des New Deal hatte sich das Einkommen der Unterschicht, zu der die Arbeiter früher gehört hatten, mehr als verdreifacht. Die Einkommen der Angestellten der Mittelschicht waren ebenfalls zwischen 50% und 100% gestiegen. Aber der New Deal fußte auf der Funktionsweise des Kollektivs. Die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschicht war ihr zentraler Träger, ihr Profiteur. Die Regeln des New Deal waren für sie gemacht worden. Der Wagner-Act mit seiner Stärkung der Gewerkschaften stärkte eine kollektive Institution, die Rechte zugesprochen bekam, die sie vorher nicht besessen hatte. Der Housing Act gab einer bestimmten Klasse Zugang zu billigen Wohnungen oder Krediten, um Wohneigentum zu erwerben. Die GI Bill betraf (weiße, männliche) Kriegsveteranen. 

Gerade die GI Bill und die andere Schlusslichtgesetzgebung, die nach 1945 bis zum Machtverlust der Democrats 1952 den New Deal (unter dem Label „Fair Deal“) abschlossen, waren dabei geradezu schizophren in ihrem Aufbau. Auf der einen Seite entfremdeten sie endgültig die Südstaatler von der New-Deal-Koalition, indem sie zaghafte erste Schritte zu einer Bürgerrechtsgesetzgebung enthielten (die scheiterte und in die 1960er Jahre vertagt wurde), was unzweifelhaft progressiv gedacht war.

Auf der anderen Seite vertrieb sie aktiv und bewusst Frauen und Minderheiten aus den Arbeitsplätzen, die sie während des Krieges gewonnen hatten, als die weißen, männlichen Arbeiter und Angestellten, die diese vorher für sich beansprucht hatten, zur Armee gingen (im Zweiten Weltkrieg war die US-Armee immer noch segregiert und hielt Schwarze in eigenen Einheiten, schlechter bezahlt und üblicherweise in Versorgungskapazität fern von der Front, weil man davon ausging, dass Schwarze keine guten Soldaten wären). Im Rahmen der Integration der Veteranen wurden ihnen diese Jobs wieder – und exklusiv – gegeben. Die Frauen erhielten als Trostpreis die konservative Rolle der Hausfrau, die nicht arbeiten musste, weil ihr Mann das tat. Die Minderheiten erhielten – nichts.

Mit dem knappen (und möglicherweise betrogenen) Wahlsieg John F. Kennedys 1960 begann eine neue Phase im New Deal: der Backlash. Wo Eisenhower und sein Vizepräsident Richard Nixon, der gegen Kennedy unterlegen war, den New Deal als Fakt akzeptiert hatten, das sich nicht aus der Gesellschaft wegdenken ließ, gärte es im rechten Rand der konservativen Partei. Abgeordnete wie Barry Goldwater und Publizisten wie William F. Buckley, der Gründer des rechtsradikalen National Review, boten eine Alternative. Ihre Sprache hat man seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gehört, und in gewissen Kreisen innerhalb der konservativen Bewegung – rechts außen – wurde sie sehr beliebt. Es war die Sprache der Gilded Age, dem Zeitalter des Turbokapitalismus, und es war die Sprache des Individualismus, der in scharfem Kontrast zu der kollektiven Sprache des „Wir“ der New Dealer stand.

Für die New Dealer war das ein doppeltes Problem. Nicht nur bedienten die conservatives, wie sich diese neue Rechte in Abgrenzung von den Republicans nannte, in deren Partei sie operierte, eine Mentalität, die im Gegensatz zu den New Dealern und Europa tief in der kollektiven Psyche verankert war, sondern das „Wir“, in dem die New Dealer zu sprechen pflegten, schloss eine ganze Menge Menschen aus. Diese Menschen sprachen ebenfalls von „ich“, in einer Sprache von individuellen, nicht kollektiven Rechten. Für die progressive Bewegung wurde dies mehr und mehr zum Problem.

Praktisch gleichzeitig bedienten sich zwei aufkommende, im Kern progressive Bewegungen der Sprache von Individualrechten: die Emanzipationsbewegung, die eine Gleichstellung der Frauen und eine Überwindung des alten patriarchalischen Gesellschaftsaufbaus forderten, und die Bürgerrechtsbewegung, die gleiche Rechte für Schwarze forderte. Beide Bewegungen sprachen von „Rechten“ in einem individuell einklagbaren Sinne, was man auch in ihren jeweiligen Protestformen sieht: Anders als gewerkschaftlich organisierte Streiks und Massenaufmärsche von Belegschaften und Arbeitern als Klasse machten sie durch Einfordern spezifischer Rechte für sich selbst auf ihre Lage aufmerksam, ob sie sich in verbotene Busabteile oder Diner setzten, auf Titelseiten erklärten abgetrieben zu haben oder Märsche antraten, die ihnen vorher explizit verboten worden waren.

In dieser Zeit vollzog sich das voter realignment, die Neuordnung der amerikanischen Parteienlandschaft. Die letzten Progressiven verließen die republikanische Partei (symbolisiert mit der Niederlage Rockefellers in den primaries 1968), während die weißen Konservativen die Partei der Democrats verließen (symbolisiert durch Nixons „southern strategy“ 1968). Diesen Prozess habe ich hier näher beschrieben und werde ihn daher nicht wiederholen. Die Progressiven erkannten, dass sie ihre Mehrheit nur würden halten können, wenn sie die beiden Individualrechtsbewegungen kooptierten. Wie auch in Europa begannen Einwanderer, andere ethnische Minderheiten und vor allem Frauen nun anstatt konservativen die progressiven Parteien zu wählen – vorher war es umgekehrt gewesen. Auf der anderen Seite begann die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschaft ihren eigenen Weg in die umgekehrte Richtung, von links nach rechts.

So wie die Republicans unter Wilkie, Dewey, Eisenhower und Nixon den New Deal und die Sprache, in der er abgefasst war, akzeptiert hatten (auf konservativer Seite häufig in patriotischen Tönen als „wir Amerikaner“, auf der progressiven Seite klassenkämpferischer), sprachen nun beide Seiten die Sprache des Individualismus. Dies war der Tod des amerikanischen Kollektivismus, und mit ihm war es der Tod des Rahmens des New Deal, der in dieser Sprache abgefasst war.

Selbstverständlich stellt sich das nur aus der Rückschau und in der Vereinfachung als ein so klarer Prozess dar. Das voter realignment wie auch die beschriebene Entwicklung vollzogen sich mit Kurven und Kanten über mehrere Jahrzehnte, nicht in einem einzigen plötzlichen Ruck. Entwicklungen so mit dem breiten Pinsel zu zeichnen gehört aber auch zu den Aufgaben des Historikers, da sie ansonsten kaum deutlich zu machen sind und sich in der Masse der Details verlieren. Man möge mir dies an dieser Stelle daher nachsehen.

Der Hauptteil dieser Entwicklungen aber vollzog sich in den 1960er Jahren. Die Bürgerrechtsgesetzgebung von 1963-1965 durch Lyndon B. Johnson hatte denselben Effekt, den Black Lives Matter von 2014 bis 2016 hatte: Sie radikalisierte die weiße Arbeiter- und Angestelltenschicht und entfremdete sie von der Koalition, deren Teil sie bisher gewesen war. Als die Rechte der Schwarzen und Frauen kein salientes Thema gewesen waren, hatte diese unnatürliche Koalition, der der New Deal seine Existenz verdankte – die Schwarzen und Progressiven auf der einen, die konservativen „Dixiecrats“ auf der anderen Seite – bestanden, hatte sich jede Seite die andere wegdenken können.

Doch wie zuvor bereits herausgearbeitet wurde war die Erbsünde des New Deal die Exklusion der Schwarzen und Frauen gewesen. In den 1930er Jahren hatten sie das akzeptiert. Die Kriegsjahre hatten ihnen Alternativen gezeigt und die Hoffnung gegeben, dass es bald aufwärts gehen könnte. Doch die Restaurationsphase der späten 1940er und der 1950er Jahre, in der die weiße Arbeiter- und Angestelltenschicht ihre bahnbrechenden Wohlstandsgewinne erlangte, warf sie auf den Stand der 1930er Jahre zurück, und gerade in den Südstaaten sorgten Lynchjustiz und Jim Crow dafür, dass den Schwarzen über alle Maßen deutlich gemacht wurde, dass dies ein Feature des Systems war und kein Bug. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die 1950er Jahre eine Phase des langsam schwelenden Unmuts über dieses System waren, in dem erste Alternativen formuliert wurden – und in der eine Fallschirmjägerdivision begann, die De-Segregierung im Süden durchzusetzen, weil die Nationalgarde damit drohte, sich an Lynchmobs zu beteiligen. (Es ist, dies sei als Seitenbemerkung gestattet, auch kein Wunder dass gerade in dieser Zeit zum ersten Mal eine rebellische Jugendbewegung entstand, und genausowenig, dass die 1960er und 1970er Jahre die radikalsten solchen Jugendbewegungen erlebten.)

Doch die Politiker, die als gewählte Sheriffs, Richter und Gouverneure mit staatlichem Gewalteinsatz gegen jeden Schwarzen drohten, der es wagte, gleiche Rechte einzufordern, die ihm laut Gesetz zustanden, waren Democrats – genau wie jene Politiker aus dem Norden, die immer noch versuchten, den New Deal zu stärken und durch neue Reformen relevant zu halten. Eine solche Koalition konnte unmöglich bestehen bleiben, und ab 1965 – der Verabschiedung sowohl des Civil Rights Act als auch der Gesetzgebung zum War On Poverty – wurden die Fliehkräfte zunehmend spürbar und von Nixon in seinem erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf 1968 auch meisterhaft ausgenutzt.

Es ist nicht so, dass es zwischen 1952 und 1968 keine Versuche gegeben hätte, den New Deal wiederzubeleben und auszuweiten. Am bekanntesten ist wohl Lyndon B. Johnsons „War On Poverty“. Die Zielsetzung war, die Armut, die (damals wie heute) in den USA ein für eine so reiche Gesellschaft schamvoll hohes Niveau hatte, deutlich zu reduzieren. Es war das erste Mal, dass ein Staat aktiv mithilfe der Sozialwissenschaften versuchte, ein systemisches Problem zu lösen. Traditionell hatte sich staatliche Armutsbekämpfung auf Almosen und Arbeitsverpflichtungen (häufig in gefängnisartigen Zuständen) erschöpft.

Der War on Poverty war grandios in jeglicher Hinsicht. Grandios in seiner Ambition: eine gewaltige Reduzierung nicht nur der Armutsrate, sondern auch Beseitigung ihrer strukturellen Ursachen. Grandios in seinem Umfang: geplant waren enorme Summen (die der Kongress freilich nicht bereitstellte). Grandios in seinem Hybris: Die Planer des New Deal waren der Überzeugung, alles verstanden und durchdrungen zu haben und alle Probleme lösen zu können. Grandios in seinem Scheitern: das Budget gnadenlos gekürzt, die Programme disfunktional, das ganze Reformwerk unpopulär.

Der War on Poverty zeigte deutlich die Grenzen des New Deal in allen drei Politikbereichen auf.

In den politics erwies es sich als ungeheur unpopulär, einer Minderheit mit Pariah-Status helfen zu wollen. So nobel die Ziele Johnsons waren, Arme wählten nicht, und mit dem Geld der Steuerzahler ihr Leid zu lindern war keine politisch tragfähige Idee. Dieses Problem verfolgt die Democrats bis heute, wenn sie versuchen, diskriminierten Minderheiten mehr Rechte und Teilhabe zu ermöglichen. Diese mangelnde politische Unterstützung bedingte den Misserfolg in den anderen beiden Dimensionen mit, da keine Mehrheiten im Kongress zu organisieren waren.

In der policy zeigte sich, dass die Sozialwissenschaften noch bei weitem nicht so erfolgreich in der Durchdringung gesellschaftlicher Probleme waren, wie es sich die Pioniere der Soziologie (Empirie war damals der neueste und ungeheur populäre Trend und passte hervorragend zum technokratischen Machbarkeitsglauben der New Dealer) vorgestellt hatten. Die Maßnahmen basierten daher oft auf falschen Annahmen und arbeitete mit unpraktikablen Lösungsansätzen.

In der polity zeigte sich, dass die bestehenden Institutionen an ihre Grenzen stießen. Sie waren für das massenhafte Abfertigen standardisierter Problemfälle ausgelegt: Integration aller Veteranen (GI Bill), Hilfestellung bei Arbeitskämpfen (Wagner Act), und so weiter.

Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zur Lage in Deutschland einschieben. Ich habe bereits früher erwähnt, dass die Entwicklungen aus den USA hier zeitverzögert ankamen, und das ist für diese Geschichte besonders wichtig. Im Gegensatz zu Labour in Großbritannien und den Democrats in den USA kam die SPD erst an die Macht, als der Höhepunkt in der angelsächsischen Welt längst überschritten war: 1969. Unter den sozialliberalen Regierungen bis 1982 erlebte das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in Deutschland eine Art Geistersommer.

Ein Gutteil des Fundaments einer sozialdemokratischen Ordnung war, mit starkem konservativen Einschlag gerade in der Konstruktion des Sozialstaats (statts eines Wohlfahrtsstaats, wie ihn die Sozialdemokraten Skandinaviens errichteten, an denen die SPD sich eher orientierte), bereits von Adenauer, Erhard, Kiesinger, Strauß und Schiller gelegt worden. Diese Merkwürdigkeit war das erste deutsche Alleinstellungsmerkmal.

Als die SPD unter Willy Brandt an die Macht kam, stürzte sie sich in ein gigantisches, ambitioniertes Reformprogramm (unter den Stichworten „Lebensqualität“ und „Mehr Demokratie wagen“), das heute gegenüber der Ostpolitik leider etwas im Schatten steht. Dieses Reformprogramm sprach noch ein letztes Mal mit aller Macht die Sprache der Kollektivrechte: Senkung des Wahlalters, Erhöhung der Rentenbezüge, Erhöhung und Einführung des Kindergelds auch für das erste Kind und, zentrale Reformmaßnahme der gesamten Epoche, das Betriebsverfassungsgesetz. Es war ein Programm der Ansprüche und Regeln für Gruppen: Eltern, Rentner, Beschäftigte im Betrieb. Ihr Lebensstandard stieg deutlich, ebenso ihre Verhandlungsmacht.

Die SPD-Regierungszeit fiel allerdings gleichzeitig in die Ära der Individualisierung, die auch in Deutschland nicht Halt machte. Feminismus und Rechte für Einwanderer, in diesem Fall vor allem die türkischen Gastarbeiter, deren Bleibeperspektive sich mehr und mehr abzeichnete, und als sozialliberale Koalition war sie prädestiniert dafür, den Mantel der Geschichte zu ergreifen und sich für diese Gruppen stark zu machen, so sehr das klassische Sozialdemokraten wie Herbert Wehner und Helmut Schmidt auch wurmte. Das Resultat war ein ungeheurer Popularitätsgewinn der Partei, der sie in intellektuellen Zirkeln sexy und beliebt machte wie nie zuvor oder danach, und die breiteste Koalition, auf der sie je ruhen konnte. Das beste SPD-Ergebnis aller Zeiten wurde auf dem Rücken dieser Koalition erzielt, als die Partei 1972 über 45% der Stimmen auf sich vereinte und die CDU zum einzigen Mal neben 1998 als stärkste Partei im Bundestag ablöste.

Zudem trafen die BRD in dieser Zeit, anders als die USA oder Großbritannien in deren goldenen sozialdemokratischen Zeitaltern, zwei große Schocks von außerhalb: das Ende von Bretton Woods beendete die effektive Dauersubvention deutscher Exporte durch eine unterbewertete D-Mark und warf die EWG in eine Dauerkrise, aus der sie erst Ende der 1980er Jahre herausfinden würde, und die Ölpreisschocks von 1973 und 1979 heizten die Inflation an, ohne irgendwelche positiven Beschäftigungseffekte anzubieten. Dadurch wurde für alle deutlich sichtbar, welche Grenzen die sozialdemokratische Machtbarkeitsideologie auch in Deutschland unter den kompetenten Händen Brandts und Schmidts hatte.

Es war, als ob die BRD die amerikanische Entwicklung im Zeitraffer durchlief. Innerhalb weniger Jahre krempelte die SPD im Verbund mit der FDP die Republik so tiefgreifend um wie keine andere (demokratische) Regierung zuvor oder danach (Adenauer/Scheidemann zählt nicht, wer aufbaut verändert immer viel). Es nimmt nicht wunders, dass die Energie bereits 1973 verbraucht war, die Koalition rissig wurde – auch hier im Zeitraffer. Die Arbeiter, stets eine Kernwählerschaft der SPD, begannen ihre langsame Entfremdung von der Partei. Die Intellektuellen und Radikalen rutschten zurück in ihre außerparlamentarische Oppositionsrolle, aus der sich später die Grünen entwickelten. Die SPD wurde konservativer, vorsichtiger, rückwärtsgewandter, bis sie die Macht 1982 verlor und 16 lange Jahre lang nicht wiedergewinnen konnte.

Aber zurück zu den USA. Der New Deal hätte womöglich deutlich länger überlebt, wären diese innerparteilichen Kämpfe und politischen Niederlagen immer noch durch eine stetig wachsende Wirtschaft gestützt gewesen, in der genügend Überschuss erwirtschaftet wurde, dass alle von einem rapide größer werdenden Kuchen profitieren konnten. Wäre es möglich gewesen, eine dreifache Steigerung der Einkommen, wie es der New Deal für die Arbeiter geleistet hatte, auch für die Schwarzen zu erreichen und ihnen damit ebenfalls Vorstadthäuser, zwei Autos und Konsumkredite auf Raten zu ermöglichen, hätte die Lage vielleicht anders ausgesehen. Aber die Wirtschaft begann sich Ende der 1960er Jahre spürbar zu verlangsamen, eine Entwicklung, die in den 1970er Jahren in eine andauernde Malaise übergehen sollte: die Stagflation.

Die Gründe für die in den 1960er Jahren auch in Europa erstmals aufflammende und in den 1970er Jahren die gesamte westliche Welt ergreifende Dauerkrise sind umstritten und bis heute nicht in einem allseitigen Konsens geklärt. Linke und rechte Ökonomen unterscheiden sich teilweise drastisch in der Beantwortung dieser Frage, weil auch die Einordnung der folgenden konkreten Politik davon abhängt. Sind Reagan, Thatcher und Kohl Helden, die die Wirtschaft aus den Händen einer inkompetenten, ideologischen Planwirtschafter-Clique reißen? Sind sie kapitalistische Ausbeuter, die versuchen, eine riesige Umverteilung von unten nach oben in Gang zu bringen? Irgendetwas dazwischen? Beides?

Ich will an dieser Stelle weniger eine alternative als eine ergänzende Erklärung anbieten. Sie führt uns zurück zum Beginn unserer Erzählung. Wir erinnern uns: Die Zeit zwischen 1870 und 1970 sah einen beispiellosen Anstieg des Lebensstandards praktisch aller Schichten erst in den USA und dann, rapide aufholend nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in Europa. Stichworte hierfür waren das vernetzte Haus mit fließend Wasser, Strom und Heizung, Telekommunikation, Kraftfahrzeuge, Küchengeräte, später auch Pauschalreisen und Fernsehgeräte; ein beispielloser Anstieg der Einkommen der unteren Schichten und ein Aufstieg derselben, was die Herausbildung der ersten Mehrheits-Mittelschichtengesellschaft der menschlichen Geschichte ermöglichte.

Das Enddatum dieses Wachstums ist nicht zufällig gewählt, weil es die hundert Jahre voll macht. 1972 ist in den USA die Jahreszahl, die so gut wie keine andere den Abstieg in die Stagflation markiert (die Aufgabe des Systems von Bretton Woods, das den erfolgreichen Teil des New Deal untermauert hatte, geschah in diesem Jahr). Aber Bretton Woods alleine hatte nicht die Macht, erfolgreiche Wirtschaftssysteme weltweit zu stützen, egal was die linke Folklore zum Thema sagt. Was also ist die Erklärung?

Die oben stichwortartig wiederholten Entwicklungen hatten 1970 alle ihren Abschluss gefunden. Um die Jahrzehntwende herum war die komplette westliche Welt ungefähr auf demselben Stand. Alle Häuser hatten fließend Wasser, Heizung, Strom, Telefonanschluss, eigene Toiletten, Kühlschränke, Waschmaschinen, etc. (natürlich nicht „alle“ alle, aber 80-99%, je nach Technologie). Damit war aber ein ungeheures Wachstumsloch gefüllt – das größte Wachstumsloch, das die Menschheit je besaß und erfolgreich füllte. Wir müssen uns an dieser Stelle wirklich noch einmal das Ausmaß dieser Leistung begreiflich machen. Nehmen wir fließendes Wasser. Das Römische Reich, dessen Lebensstandard in den großen Städten (und nur da!) erst im späten 18. Jahrhundert wieder erreicht wurde, baute mit titanischem Aufwand Wasserleitungen für einige wenige große Städte. Auch nur die Idee, fließendes Wasser in alle Vororte Roms zu bringen, wäre lächerlich gewesen. 1970 hatte auch der hinterletzte Bauernhof auf dem Land fließendes Wasser. Das ist eine Dimension, die nur, weil sie uns heute normal geworden ist, nicht weniger gewaltig ist. Und sie erforderte eine riesige, stetig noch größer und, vor allem, technisch versierter werdende Wirtschaft. Es geschah innerhalb von drei Generationen. Und nun war das Projekt abgeschlossen.

Alles, was nun folgte, waren Verbesserungen. Wichtige, gute, große Verbesserungen, gewiss. Computer und Internet, Solarenergie und effizientere Verbrennungsmotoren, FCKW-Verbot und längere Haltbarkeit von Lebensmitteln, Super-Containerschiffe und Kühlschränke der Energieeffizienzklasse AAA+++ und so weiter und so fort. Jede dieser Innovationen beschäftigte Menschen, generierte Wirtschaftswachstum, schaffe Wohlstand. Aber: Selbst ein so gewaltiges Unternehmen wie die Umstellung der gesamten Energiegewinnung auf regenerative Energiequellen wird nie im Leben so viele Menschen beschäftigen wie die Vernetzung der gesamten Welt mit Strom. Der Siegeszug der elektrischen Autos wird niemals auch nur einen Bruchteil der Menschen beschäftigen, die der Siegeszug des Autos selbst in Lohn und Brot brachte. Der Siegeszug von Computern und Internet beschäftigt nicht so viele Menschen wie der Ausbau von elementaren Küchengeräten.

Praktisch alle dieser Entwicklungen, die seit 1970 getätigt wurden, haben einen entscheidenden Nachteil: Sie verändern den individuellen Lebensstandard nur geringfügig (die Gesellschaft selbst wesentlich tiefgreifender). Ob ich meinen Strom künftig statt von einem Atomkraftwerk von einem Solarpanel bekomme, ändert an meinem Alltag erst einmal nichts (für uns alle in der Frage, ob wir durch den Klimawandel absaufen, aber sehr wohl). Gleiches gilt für bessere Computer oder schnelleres Internet. Alles schön und gerne genommen, aber nicht mit der Frage zu vergleichen, ob wir elektrischen Strom haben oder nicht.

Der letzte Mosaikstein, der zu dieser Entwicklung gehört, ist die Individualisierung des Konsums. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Mentalität und Konsummöglichkeiten des New Deal kollektivistisch angelegt waren. Es gab viele standardisierte Waren, und die das neue Utopia – die Häuser in Suburbia, mit Zaun und Rasen und einer Garage mit Cadillac – waren in ihrer uniformen Gleichheit kaum zu überbieten. Der Trend zur Individualisierung in den 1960er Jahren erfasste auch Industrie und Konsum, und wenn etwas sich nicht mit massenhafter Herstellung am Fließband und ständiger Rationalisierung verträgt, dann Individualisierung. Für diesen Spagat braucht es ausgesprochen komplexe Roboter und KI, und beide haben nicht eben die Tendenz hunderttausende von Lohnsklaven in gut bezahlte Angehörige der Mittelschicht zu verwandeln.

Noch einmal: Wir werden die Frage im Rahmen dieses Artikels mit Sicherheit nicht beantworten können und auch nicht den Versuch unternehmen. Für unser Thema ist das auch irrelevant, denn was unumstritten ist sind die Folgen dieser Wirtschaftskrise. Sie äußerte sich im Auftreten zweier Phänomene, die laut klassischer Wirtschaftstheorie – links wie rechts – eigentlich zusammen nicht auftauchen dürften: Stagnation des Wachstums und Inflation der Preise. Wirtschaftlern beider Lager galt es als Diktum, dass man durch die Wirtschaftspolitik beides steuern könnte. Linke gingen davon aus, dass eine expansivere Geldpolitik mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bringe (daher Schmidts berühmtes Diktum „Lieber 5% Inflation als 5% Arbeitslosigkeit“), während Rechte davon ausgingen, dass eine staatliche Kontrolle der Teuerungsrate (auf unter 2% p.a.) das beste Rezept für nachhaltiges, wenngleich niedrigschwelliges Wachstum sei.

Wir werden, erneut, nicht klären können, welche dieser beiden Theorien richtig war. Linke verweisen darauf, dass unter der expansiven sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik das Wachstum höher war, Konservative verweisen darauf, dass unter ihrer restriktiven Geldpolitik der Ausbruch der Stagflation gelang. Der Nachweis, dass die Stagflation nicht auch unter fortgesetzter sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in den 1980er Jahren geendet hätte ist, analog zur Frage ob der New Deal nun entscheidend für das Ende der Weltwirtschaftskrise war, nie zu erbringen.

Fakt ist, dass beginnend unter Richard Nixon und verstärkt unter Gerald Ford und Jimmy Carter eine Politik der Steuerkürzungen für Reiche, Deregulierung der Unternehmen und einer engeren Geldpolitik geführt wurde – jedoch immer noch im Kontext und Rahmen des New Deal. Es brauchte den endültigen Sieg der conservatives, die die republikanische Partei zu dem machten, was sie heute ist (ich verweise für eine ausführliche Betrachtung dieses Phänomens erneut auf meinen Artikel zum Thema) unter Ronald Reagan 1980, um diese Politik mit größerer Kohärenz und Stringenz zu verfolgen.

Die steigenden Arbeitslosenzahlen in den 1970er Jahren und die offensichtliche Grenze des mach- und finanzierbaren, die damit erreicht wurde, sorgte für einen fundamentalen Bewusstseinswandel in der Generation der Babyboomer und ihrer Eltern, der „Greatest Generation“ („Greatest“, weil sie den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatten). Sie, die Hauptprofiteure des New Deal, wurden zunehmend defensiv. Angesichts der erreichten Wachstumsgrenzen und offensichtlichen Begehrlichkeiten der bisher Ausgeschlossenen solidarisierten sie sich mehr und mehr mit der Oberschicht und grenzten sich nach unten ab. Zudem entfremdete sie die Frauenrechtsbewegung, die ihre Stellung als allmächtige Familienväter („Father Knows Best“) unterminierte, zunehmend von den Progressiven. Diese Faktoren bestärkte weiter das Auseinanderdriften der New-Deal-Koalition und den langsamen, aber stetigen Marsch dieser Gruppe nach Rechts.

Die politische Rechte war deutlich schneller darin, diesen fundamentalen Wandel und die dahinterstehende Dynamik zu erkennen. Richard Nixon war der erste, der es für sich erkannte und unter dem bis heute berühmten Schlagwort der silent majority, der „schweigenden Mehrheit“, salonfähig machte. Es war ein politisch brillanter Zug. Die Republicans brachen die größten Nutznießer der Politik der Democrats aus deren Kern heraus, indem sie ihnen eine neue Idenität anboten: Sie waren nun Individualisten, die mit eigener Hände Arbeit, ohne Hilfe eines raffgierigen und von Minderheiten gekaperten Staates, zu ihrem Wohlstand gekommen waren und diesen nun gegen Angriffe der Minderleister verteidigen mussten.

Der rassistische und sexistische Kern dieser white identity politics wurde nur dünn übertüncht, aber es reichte. Eine riesige Schicht verdrängte komplett, dass ihr Erfolg eigentlich auf einem kollektiven Kampf mit, nicht gegen, den Staat aufgebaut hatte und ließ sich von rechts einspannen. Der Deal war einfach. Die Konservativen versprachen ihrer neuen Kernwählergruppe, ihre Errungenschaften gegen die Ansprüche der bisher Ausgeschlossenen abzusichern und ihren hervorgehobenen Status im System zu erhalten. Im Gegenzug bekamen sie freie Hand für eine Wirtschaftspolitik, die noch zehn Jahre zuvor gigantischen Widerspruch ausgelöst hätte.

Das Resultat all dieser Faktoren war der backlash gegen den New Deal. Er fand seinen reinsten Ausdruck in den Restaurationen Reagans und Thatchers. Beide versuchten mit sehr gemischtem Erfolg, das Rad zurückzudrehen. Die Ziel-Ära Reagans, und all seiner republikanischen Nachfolger, ist die Gilded Age. Sie ist mythisch verklärt als Amerikas große Zeit, in der robuste Männer die Wildnis zähmten und Individualisten mit eigener Hände Arbeit ihr Glück machten. In der Realität war es die Zeit der Räuberbarone Carnegie, Vanderbilt und Rockefeller, einer Zeit in der die Mehrheit der Bevölkerung sehr arm war, die USA eine imperialistische Außenpolitik verfolgten und in der sich die USA noch schamlos als weiße Gesellschaft definieren konnten. Es ist nicht zufällig die gleiche Zeit, die Donald Trump im Auge hat, wenn er „America great AGAIN“ machen will.

In Großbritannien führte Thatchers conservative revolution in eine nicht gar so weit zurückliegende Zeit und wies auf die 1920er Jahre, eine Epoche, in der die britische Gesellschaft noch klar geordnet gewesen war – eine deutliche Parallele zu der Attraktivität des amerikanischen Konservatismus auf die konservativen Babyboomer und ihre Väter – und in der der Staat sich auf die Projektion der Macht des Empire beschränkt zu haben schien, dessen Beschwörung nicht zufällig in Thatchers Präsidentschaft eine wichtige Rolle spielte und im Falle Argentiniens sogar zu einem sinnlosen wie elektoral wertvollen Krieg führte.

In Deutschland ging die „gute alte Zeit“ naturgemäß am wenigsten weit zurück. Kohls „geistig-moralische Wende“ zielte darauf, die Veränderungen von „1968“ (das in der Folklore beider Seiten mittlerweile ein solches Zerrbild geworden ist, dass es mit dem historischen 1968 nichts mehr zu tun hat) zurückzudrehen und die angeblichen Tugenden der Adenauerzeit – Fleiß, Selbstbeschränkung, Ordnung, Anstand – wiederzubeleben.

In allen westlichen Ländern, selbst in solchen, in denen offiziell Sozialdemokraten oder Sozialisten regierten (wie im Frankreich Mitterands) war diese Restauration in den 1980er Jahren in vollem Schwunge. Wie die Konservativen in den späten 1940er und den 1950er Jahren blieb den Sozialdemokraten wenig anderes übrig, als entweder auf den Zug aufzuspringen und zu versuchen, das Ganze ein wenig abzufedern – wie es Mitterand tat – oder zu versuchen, die Entwicklung durch schiere Willenskraft aufzuhalten, wie es Labour, die Democrats und die SPD taten und damit kolossal scheiterten.

Weltweit war die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren auf dem Rückzug. Der New Deal war beendet, und es schien, als ob er ein Relikt der Geschichte werden würden. Die konservativen Regierungen meißelten an den Rändern herum, beschnitten Programme, beendeten Leistungen und widmeten Gelder um. Doch trotz aller Rückschläge für die Progressiven wurde deutlich, dass sich die Geschichte nicht zurückdrehen ließ. Sowenig die New Dealer in der Lage gewesen waren, tabula rasa zu machen und einen neuen, sozialdemokratischen Staat zu schaffen, selbst aus der Asche der größten Wirtschaftskrise der modernen Welt, so wenig waren die Konservativen in den 1980er Jahren in der Lage, den New Deal komplett oder auch nur grundlegend zurückzudrängen. Die Rhetorik Thatchers, Reagans und Kohls war immer wesentlich schärfer als die reale Politik, die dann hinter dieser Rhetorik folgte. Es waren die 1990er Jahre, in denen die Republicans, und die 2010er Jahre, in denen die Tories sich an ihrer eigenen Propaganda so sehr besoffen, dass sie sie selbst zu glauben begannen – einen Fehler, der sich klassischerweise eigentlich eher auf der Linken findet.

Die Diaspora der Sozialdemokratie dauerte allerdings nicht ewig, genausowenig wie die Diaspora der Konservativen ewig angehalten hatte. Waren letztere rund dreißig Jahre, von 1935 bis 1965, völlig marginalisiert gewesen, dauerte die sozialdemokratische Marginalisierung nur rund 20 Jahre, etwa von 1972 bis 1992. Genauso wie auf der Rechten entwickelte sich das Lösungsrezept für ihre Probleme am Rand, aus einer Gruppe heraus, die in der Bewegung schon lange existiert, aber nie an die Macht gekommen war. Die conservatives hatten, bevor Reagan und Thatcher sie an die Macht führten, zahllose innerparteiliche Kämpfe der Republicans und Tories verloren, und genauso erging es denjenigen, die nun den Ausweg aus der Krise der Sozialdemokratie fanden.

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  • Ralf 25. Juli 2018, 03:59

    Interessanter Text. Mir gefaellt die ganze Serie. Beeindruckend wieviel Muehe Du Dir damit machst!

    Nur „John Ford“ ist besser bekannt unter dem Namen „Gerald Ford“. Und das Kindergeld haben nicht die Sozialdemokraten erfunden. Schon die Nationalsozialisten begannen 1936 ein monatliches Kindergeld zu zahlen und in der Bundesrepublik gibt es das Kindergeld seit 1954 (Quelle Wikipedia).

  • Dennis 25. Juli 2018, 20:15

    Uiiiiii, ein wirklich sehr interessanter und lesenswerter Text. Viele viele Danke für diese Fleißarbeit, inkl. die vorherigen Arbeiten.

    Zitat:
    „Ein Gutteil des Fundaments einer sozialdemokratischen Ordnung war, ………, bereits von Adenauer, Erhardt, Kiesinger, Strauß und Schiller gelegt worden.“

    Richtig. Dass Schiller an der sozialdemokratischen Ordnung beteiligt war, ist allerdings nicht weiter verwunderlich, denn er gehörte seit Ende 40er dieser Partei an. Vorher übrigens NSDAP-Mitglied, was Brandt nicht daran gehindert hat, seine Karriere massiv zu fördern (Anfang der 60er nach Berlin als Wirtschaftssenator gelotst etc.).

    Als steinalter Hase, der die 60er schon bewußt miterlebt hat, sach ich mal, dass Sie das „Zeitalter“ sehr trefflich beschrieben haben. Dass Sie Schiller in die CDU-Reihe setzen, weist ganz richtig darauf hin, dass es hinsichtlich der Sozial- und Wirtschaftspolitik keine ernsthaften Kompatibilitätsprobleme mit der anderen damals großen Partei gab, jedenfalls nach Godesberg nicht mehr. Die SPD war ja auch schon seit ’66 mit dran, ferner in diversen Bundesländern („Hessen vorn“), was auch nicht unwichtig ist. Die CDU ist im Übrigen eh eine gaaaanz andere Nummer als die Republikaner drüben, aber das nur nebenbei.

    Die „Schillerjahre“ ab ’66 bewirkten die damals so genannten „Schillerwähler“, was sehr bedeutsam war, denn ohne diese Spezies aus dem eher bürgerlichen Lager wäre es nix geworden mit Brandt ab ’69. Damals eine hoch-populäre Figur (für kurze Zeit), dieser Schiller, heute fast vergessen.

    Viel später haben wir ja dank Schröder gelernt, dass es nur moderne und unmoderne, aber keine linke und rechte Wirtschaftspolitik gäbe. Ein spätes Echo des in den 60ern prävalenten Godesberg-Denkens der Sozis, Schröderismus avant la lettre, sozusagen. „Modern“ war überhaupt der große Hit der Saison. Schröder seinerseits allerdings war damals Teil der „Linkswende“ der Jusos und strikt gegen all das, was er später richtig gut fand. So ist das Leben.

    Im Fight mit der CDU ging’s um die Ostpolitik (war keine Lappalie!) sowie um gesellschaftlichen Modernisierungskram, Sittlichkeitsfragen (Aktion saubere Leinwand pp.), Bildungspolitik etc. Alles nitt unwichtig, an der Wirtschafts- und Sozialfront aber gab’s eigentlich nur künstlich hochgejazzte Differenzen, aber, was die Hauptströmungen dieser Parteien betraf, reichlich Übereinstimmung, auch wenn das offiziell anders kommuniziert worden sein mag.

    Zitat:
    „….dessen Beschwörung nicht zufällig in Thatchers Präsidentschaft eine wichtige Rolle spielte und im Falle Argentiniens sogar zu einem sinnlosen wie elektoral wertvollen Krieg führte.“

    „Elektoral wertvoller Krieg“ gefällt mir richtig; da stellen Sie ein Unreifezeugnis aus, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, auch unter Einbeziehung der Argumente, die Sie davor darlegen, denn am Ende des Tages heißt das doch: Die Massen da draußen sind einfach nur saudumm und lassen sich gerne verarschen, indem z.B. aus dem aufklärerisch-emanzipatorisch-progressiv-sozialdemokratischen Soufflé angesichts Mrs Thatchers „elektoral wertvollem Krieg“ ganz schnell die Luft raus geht. Das müsste man mal ausführlicher diskutieren.

    Zitat:
    „Kohls „geistig-moralische Wende“ zielte darauf, die Veränderungen von „1968“ (das in der Folklore beider Seiten mittlerweile ein solches Zerrbild geworden ist, dass es mit dem historischen 1968 nichts mehr zu tun hat) zurückzudrehen“ 

    Diese „Wende“ hat es in Wirklichkeit nie gegeben und die Zielsetzung bestand auch nur darin, dem rechten Parteiflügel einen Knochen hinzuwerfen, damit die was zum Kauen hatten. Wenn Merkel nicht so ungeschickt wäre, hätte sie das auch getan.

    Zitat:
    „Weltweit war die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren auf dem Rückzug“

    Ich würd mal so sagen: Schönwetternarrative, die den Leuten falsche Versprechungen machen, sind auf dem Rückzug (oder sollten es sein), was allerdings nicht zu einem höheren Realitätssinn zu führen scheint, vielmehr dazu, dass die Leut da draußen zunehmend noch schrilleren Erzählungen verrückter Extremisten hinterher laufen.

    Hat u.a. mit dem Paradigmenwechsel ab ca. Mitte 70er (Deindustriealisierung pp.) zu tun, den Sie ja auch ganz richtig beschreiben. Es isch halt so: Die anderen da draußen in der Welt sind auch nicht dumm und machen den Europäern technologisch-industriell Konkurrenz, was in der guten, alten Zeit kaum der Fall war. Das kann man nur lösen, wenn man das denen, namentlich den Kienesen, streng verbietet – oder sich abschottet, was ja zunehmend attraktiv zu werden scheint.

    Hier in meiner Eigenschaft als kleinlicher Oberlehrer noch ein Hinweis:

    Der Nachfolger Adenauers heißt Erhard, ganz ohne Tee an Ende. Heinz Erhardt mit Deetee war der Komiker mit noch’n Gedicht und Ähnlichem.

    Herzlich
    Dennis

    • Stefan Sasse 26. Juli 2018, 06:32

      Hi Dennis, danke für das Lob 🙂
      Schiller: Ganz so konsensig wie du das darstellst war es auch wieder nicht, gerade das Betriebsverfassungsgesetz hat die CDU erbittert bekämpft und nie gemocht. Aber grundsätzlich stimmt das schon, klar. Ich würde auch nie die CDU mit der heutigen (!) GOP vergleichen. Die Republicans der 50er Jahre aber haben sich gut mit der CDU der 50er Jahre verstanden. Was den Schiller-Wähler angeht, das war ein Mythos. 1969 wurde ungeheuer viel Traram drum gemacht, und laut diversen total cleveren Leuten waren es 2% der Wähler, die nur wegen Schiller die SPD wählten. Diese cleveren Leute sagten dann für 1972, als Schiller für die CDU in den Wahlkampf zog, ein Desaster voraus. Das ist dann nicht ganz so passiert, und wenn man 1969 und 1972 ehrlich analysiert muss man feststellen, dass Schiller heillos überschätzt wurde. Er teilt diese Eigenschaft mit Helmut Schmidt, Hans Eichel und Peer Steinbrück. Typus, Politik und Rezeption dieser Leute sind immer die gleiche – und ebenso ihr Wahlerfolg.

      Thatcher: Krieg ist oft populär, wenigstens am Anfang. Ein schnell gewonnener und billiger Krieg umso mehr. Ich fürchte, da ist wenig Geheimnis drum. Schon die Römer stellten vox populi gerne mit einem Kriegszug ruhig.

      Kohl: Keine Frage, da kam wenig dabei raus. Aber man muss vorsichtig sein, das für irrelevant zu erklären. Die BRD wurde in den 1980er Jahren deutlich konservativer. Die geistig-moralische Wende gab es daher zwar, aber nicht so, wie Kohl das propagiert hat. Merkel warf im Übrigen solche Knochen, nur war ihre rechte Flanke noch bis vor kurzem eher der wirtschaftsliberale Teil der Partei. Kohl und seine Wende werden aber im nächsten Teil der Serie noch eine Rolle spielen.

      Erhard: Wupps. Ich korrigiere das.

  • Stefan Pietsch 26. Juli 2018, 09:08

    Zwei Anmerkungen:

    Mit dem knappen (und möglicherweise betrogenen) Wahlsieg John F. Kennedys 1960

    Woher kommt die Information, dass beim Wahlsieg von JFK angeblich betrogen wurde?

    Helmut Kohl mit Ronald Reagan und Maggie Thatcher auf eine Stufe zu stellen, ist arg weit hergeholt. Außer, dass alle drei Konservative waren, hatten sie nichts gemeinsam. Während der Amerikaner und die Britin echte Revolutionäre ihrer Zeit waren, mit der Politik ihrer Vorgänger brachen und die Politik ihres Landes über Jahrzehnte prägten, steht Kohl in der Tradition seines Amtsvorgängers Schmidt und der Ende der Sechzigerjahre eingeführten keynesianischen Wirtschaftspolitik. Die propagierte „geistig-moralische Wende“ fand nie wirklich statt und seine Veränderungen in der Finanz-, Sozial- wie Gesellschaftspolitik waren eher kosmetischer Natur und durch den Zeitgeist beeinflusst.

    Bemerkenswert ist auch, ich habe das in der Vergangenheit bereits angeführt, dass sowohl in GB als auch den USA nach einem kurzen Intermezzo von konservativen Nachfolgekandidaten eine Blütezeit charismatischer sozialdemokratischer Führer folgte. Diese konnten dann sich mit einer Konsolidierungsphase in ein gutes und sympathisches Licht setzen.

    Auch hier passt der Vergleich zu Deutschland nicht. Schröder erbte einen Reformstau und musste den Großteil seiner Kanzlerschaft in wirtschaftlicher Agonie zubringen. Eine undankbarere Kanzlerschaft gab es in den letzten 40 Jahren nicht.

    • Stefan Sasse 26. Juli 2018, 10:36

      Stolpert man immer wieder drüber. Bewiesen ist nichts, aber die Wahrscheinlichkeit, dass örtlich begrenzt für Kennedy UND für Nixon geschummelt wurde, ist hoch. Ob das entscheidend war oder nicht ist immer noch unklar und sehr umstritten. Die wahrscheinlichste Geschichte ist die: beide Parteien haben versucht, durch illegale Kanäle auf die Wahl Einfluss zu nehmen. Das ist jeweils in sehr beschränktem Rahmen gelungen, wobei Kennedy etwas besser war. Ob das irgendwas am Ergebnis geändert hat ist völlig unklar. Aber sauber abgelaufen ist es nicht.

      Ich stelle dir nur insofern auf eine Stufe als dass sie alle drei Konservative waren und das sozialdemokratische Zeitalter beendeten. Selbstverständlich hast du Recht, dass Reagan und Thatcher wesentlich radikaler waren – aber, wie ich dargestellt habe, war ihre Rhetorik deutlich schärfer als ihre Politik.

      Freu dich auf den nächsten Teil!

      • Stefan Pietsch 26. Juli 2018, 11:23

        Bevor ich selbst google, hast Du dazu Quellen bei der Hand?

        Reagan und Thatcher verfolgten eine ganz andere Politik als Kohl. Nicht nur in den Finanz- und Wirtschaftsdaten zeigen sich echte Brüche in den USA und UK, die es in Deutschland nicht gab. In der Außenpolitik setzte Kohl den NATO-Doppelbeschluss durch, doch der war lange vor seiner Zeit eingeleitet worden und wäre auch von einem Kanzler Schmidt vollzogen worden.

        Interessant, dass Du den beiden konservativen Ikonen das Revolutionäre bestreitest, denn abseits der Gefühlslage lässt sich das, anders als bei den deutschen Zahlen, statistisch beweisen.

        • Stefan Pietsch 26. Juli 2018, 11:39

          Okay, jetzt habe ich doch selbst gesucht. Mir war nicht bekannt, dass Wahlbetrug tatsächlich 1960 ein Thema war.
          https://constitutioncenter.org/blog/the-drama-behind-president-kennedys-1960-election-win/

          Aber:
          Another historian, Edmund Kallina, has conducted extensive research into a Chicago vote recount, and he concluded the discrepancies weren’t wide enough to decide the election. In a 2010 interview, Kallina said in the long run, the close election changed politics by forcing parties to focus on the Electoral College, while fueling partisanship at the same time.

          • Stefan Sasse 26. Juli 2018, 17:34

            Ich sag ja, ist unwahrscheinlich dass es wahlentscheidend war, aber das ist sehr schwer sicher auszuschließen. Ich erwähnte es auch eher der Ehrlichkeit halber. Wenn es was Negatives über progressive Präsidenten zu sagen gibt sollte ich das ja schon auch nennen 😉

            • Stefan Pietsch 26. Juli 2018, 17:49

              Weiß nicht, das hörte sich sehr nach Bush/Gore an, wo lange strittig war, ob der Texaner tatsächlich legitimiert war (war er).

              Wie die meisten bin ich mit einem sehr positiven Blick auf Kennedy aufgewachsen, schon weil meine Marilyn ihn anschmachtete. 🙂 Und wie Du weißt sehe ich bis heute die Präsidentschaft Clintons äußerst positiv. Es war einer der Wahlkämpfe, wo ich richtig mitgefiebert habe.

        • Stefan Sasse 26. Juli 2018, 17:33

          Leider nicht, da musst googlen.

          Klar, aber Kohl war trotzdem eine andere Nummer als Schmidt. So austauschbar waren SPD und CDU nicht, sonst hätte die FDP sie ja auch nicht verraten müssen.

          Ich spreche ihnen nicht das Revolutionäre ab, ich weiße nur darauf hin, dass ihre bisweilen ins Komische abgleitende Hardliner-Rhetorik nicht immer ihrer Politik entsprach. Das war ja gut so! Die aktuelle GOP lernt ja auf die harte Tour, dass du eine Revolution nicht machst, indem du den Scheiß den du erzählst tatsächlich umzusetzen versuchst.

          • Stefan Pietsch 26. Juli 2018, 18:04

            So austauschbar waren SPD und CDU nicht

            Das sind sie bis heute nicht. Die SPD ist bis heute eine Partei, die ständig mit sich ringt, während die Union sehr pragmatisch regiert. Deswegen sind sozialdemokratische Regierungsphasen (so viele gab es ja nicht) wesentlich spektakulärer gewesen.

            Aber: die Union hat in den Achtzigerjahren weder den Sozialstaat reformiert noch einen Kurswechsel bei der Staatsverschuldung eingeleitet. Auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hätte die SPD so oder ähnlich gemacht. Wie schon im Jahrzehnt zuvor wuchs die Sockelarbeitslosigkeit kontinuierlich. Kohl hatte nur das große Glück, angeschoben von den USA in einer langen Phase des konjunkturellen Aufschwungs regieren zu können. Und bei den Steuern? Ja, die Reform von 1989 war umstritten und wurde von den Sozialdemokraten bekämpft. Aber ernsthaft ging es um weniger als heute die Streichung des Solis. In der Opposition wünschte sich die SPD abseits der Entwicklung in der OECD eine Erhöhung der Staatsquote wie der Steuern. Ob sie das in Regierungsverantwortung gemacht hätten, lässt sich zumindest bezweifeln. Scharping jedenfalls musste 1994 sehr rudern um den Eindruck eines breiten Steuererhöhungsprogramms zu zerstreuen.

            Weißt Du, woran Thatcher am Ende gescheitert ist? An der Absicht eine Kopfpauschale im Steuersystem einzuführen. Die Premierministerin brach in ihrer Amtszeit mit der gewerkschaftlich dominierten Wirtschaft, richtete das Land (ähnlich wie die USA) stark auf die Finanzdienstleistungsbranche aus, nahm gravierende Einschnitte bei Steuern und beim Bildungssystem vor, brach mit der EU, wo GB zuvor gerade eingetreten war, und formulierte eine neue Militärdoktrin.

            Wenn ich von revolutionär schreibe, dann ist das eine Einordnung in den historischen Kontext, nicht eine inhaltliche Bewertung. In Deutschland jedenfalls bedauerten Wirtschaftsverbände 16 Jahre lang, das Kohl weder Thatcher noch Blair war. Und während Thatcher kein Problem mit einer interventionistischen Militärpolitik hatte, hielt Kohl die Bundesrepublik selbst nach Erlangung der vollen Souveränität aus solchen Scharmüzeln raus – weshalb Konservative wie Erwin Gabriel noch große Stücke auf den Pfälzer Riesen halten.

            • Stefan Sasse 26. Juli 2018, 19:44

              Ich stimme dir ja völlig zu. Reagan und Thatcher – Revolutionär. Kohl – not so much.
              Aber: auch Kohl war halt kein Sozialdemokrat, und JEDE Regierung prägt auf ihre Art und Weise das Land. Er war eben ein Konservativer, nur verstehen wir Deutschen da seit Reagan und Thatcher was anderes drunter als Amerikaner und Briten.

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