Die ISIS (oder ISIL, oder Daash, oder wie auch immer) ist derzeit in aller Munde. In den USA entblöden sich einige Republikaner nicht, vor ihren Kämpfern zu warnen, die über die Grenze via Mexiko in die USA einsickern könnten. Die irakische Armee hat sich in ihrem Angesicht praktisch aufgelöst. Baghad wird angegriffen. Kobane liegt unter Beschuss. Obama will Bomben werfen. Deutschland schickt sechs technische Unterstützer, die in der Türkei hängen bleiben. Was um Gottes Willen ist da eigentlich los? Ist die ISIS nun wirklich gefährlich, oder ist sie nur ein riesiger Hype? Sieht man sich die Lage vor Ort an, so resultieren daraus vorrangig einmal zwei Schlussfolgerungen: erstens, alles ist ziemlich verworren, und zweitens, ja, sie ist ein Hype. Aber der Reihe nach.
Zuerst einmal gibt es die ISIS schon wesentlich länger als die kurze Periode des Hypes, den sie gerade erlebt. Sie war auch nicht einmal eine irakische Organisation; ihr „Kalifat“, das zu errichten das erklärte Ziel der Organisation ist, wurde schon an ganz verschiedenen Orten des Nahen Ostens proklamiert und reichlich unzeremoniell wieder eingestampft, wenn der Widerstand zu groß wurde. Gary Brecher von Pando.com erklärte dieses Phänomen physikalisch: Die größte Fähigkeit von ISIS sei es, ein Machtvakuum zu erkennen und dann, den Regeln des Vakuums entsprechend, quasi in dieses hineingesaugt zu werden. Sie ist wie eine Flüssigkeit. Das bedeutet auch, dass ISIS an ernsthaftem Widerstand nicht vorbeikommt – um im Bild zu bleiben, ein Damm. So kämpfte ISIS unter ständig wechselnden Namen bereits in Syrien und Jordanien (und früher auch schon einmal im Irak). Ideologisch hilft ihr dabei, dass das Kalifat, das sie zu errichten gedenkt, ohnehin weltumspannend sein soll und es daher ziemlich egal ist, in welcher Wüste der Welt sie sich aktuell befindet. Ähnlich wie bei allen anderen radikalen Ideologien wird am Ende ohnehin alles ihnen gehören; zeitweise Rückschläge und Ähnliches sind also irrelevant und vermutlich ohnehin Gottes Plan, oder was auch immer. Fakt ist dass die ISIS sich bei Widerstand meist eher zurückzieht und sich andere leichte Ziele aussucht.
Die Stärke von ISIS ist dabei nicht zu verachten; ihr gehören um die 10.000 Mann an, was für eine radikal-sunnitische Miliz ein ganzer Haufen ist. Weder für die türkische Armee, noch für die türkischen Milizen, noch – theoretisch gesehen – für die irakische Armee ist ISIS eine reale Bedrohung. In einer offenen Feldschlacht würde sie innerhalb weniger Stunden zu Hackfleisch verarbeitet werden, weswegen ISIS auch keine offenen Feldschlachten schlägt. Die irakische Armee löste sich praktisch komplett auf, als sie ISIS entgegengeworfen wurde, aber nicht unbedingt wegen deren hoher Kampfstärke (sonst hätte sie seinerzeit gegen die US Army noch wesentlich schneller aufgeben müssen), sondern aus innerirakischen Gründen. Der Religionskonflikt zwischen Sunniten und Schiiten etwa spielt eine Rolle, die Unzufriedenheit vieler Irakis mit ihrer Regierung, die ohnehin katastrophale Moral in der Armee, und so weiter und so fort – sie war ein Kartenhaus, das nur eines entschlossenen Stoßes bedurfte, und diese Entschlossenheit hat ISIS, Wagenladungen davon.
ISIS weitere große Fähigkeit neben dem Erkennen von Machtvakuums ist jedoch die Propaganda. All das oben Gesagte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ISIS eine barbarische , blutige und unterdrückerische Herrschaft aufrichtet, die auf dem fußt, was die Amateur-Theologen der Miliz als „die Scharia“ betrachten, gemixt mit einem ohnehin vorhandenen extremen Radikalismus und den üblichen Verrohungen der Erfahrung von Bürgerkrieg und Krieg im Allgemeinen. ISIS köpft Menschen vor laufender Kamera, filmt Steinigungen junger Mädchen, hackt Gliedmaßen ab, zerstört Lebensgrundlagen und Existenzen und füttert die Maschinerie des Kriegs mit immer neuen Opfern. Kurz gesagt. ISIS ist ein abstoßender Haufen von Irren, den man gar nicht früh genug stoppen kann. Wie eine Biker-Gang ist ISIS zudem auch noch stolz auf all das und, ganz Kind des 21. Jahrhunderts, veröffentlicht das alles auf dem eigenen Youtube-Kanal, um so neue Rekruten anzulocken und die Erfolge gegen die irakische Armee zu wiederholen, indem man den Gegner einschüchtert.
Eine dieser beiden Strategien geht auf: ISIS fließen neue Rekruten zu, gerade auch aus Europa und den USA. Nicht viele, natürlich, wir reden vom niedrigen dreistelligen Bereich, aber propagandistisch ist es für ISIS natürlich grandios, Europäer und Amerikaner für ihren Kampf zu gewinnen. Es unterstützt sie in ihrem Anspruch, den wahren Islam zu vertreten. Das Kalifat war schließlich Zeit seiner früheren Existenz für die muslimische Welt das, was der Vatikanstaat und das Römische Reich lange Zeit für Christen waren. Entsprechend große Bedeutung für den Propagandakrieg in der Region haben daher auch die Angriffe anderer arabischer und muslimischer Staaten gegen ISIS, etwa von Saudi-Arabien, was diesen Alleinvertretungsanspruch untergraben soll. Angesichts der politischen Lage in Saudi-Arabien und der prekären Situation des dortigen Königshauses ist das allerdings keine sonderlich effektive Strategie.
All das führt uns zu der politischen Geographie des Nahen Ostens. Bekanntlich teilt sich die Region, ähnlich dem Christentum, in zwei theologische Hauptrichtungen auf: Sunniten und Schiiten. Der Irak war seit je her zwischen den beiden Richtungen gespalten, ein Produkt der Realpolitik nach dem Erste Weltkrieg, wo die Region irgendwie zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt werden musste, denen Ölfelder und definierte Grenzen wichtiger waren als gesellschaftliche Phänomena. Später wurde das Land hauptsächlich durch die harte Hand Saddam Husseins zusammengehalten, eine Bedingung, die indessen weggefallen ist, weswegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte praktisch ungehindert das Land auseinanderreißen. Die Kurden im Nordosten sind de facto bereits unabhängig und der Kontrolle der Zentralmacht in Bagdad effektiv nicht mehr unterworfen, und die Sunniten vorrangig im Westen des Landes (und in Baghdad, dazu gleich mehr) fühlen sich von den Schiiten ohnehin in die Ecke gedrängt.
Ein Problem des Irak ist nämlich seine theologische Spaltung: die Mehrheitsbevölkerung ist schiitisch (wie auch der Iran), eine Minderheit sunnitisch. Nur ist diese Minderheit bis zum Fall Saddam Husseins an der Macht gewesen: Hussein selbst war Sunni, und die Elite, auf die er sich stützte, ebenso, während die breite Masse der Armen und Arbeiter Schia war. Seit der US-Invasion hat sich das gedreht. Inzwischen stellen Schiiten die Regierung, und die Sunniten sehen ihre Felle davonschwimmen – zu Recht, denn die schiitische Regierung des Irak kümmert sich nicht besonders um rechtstaatliche und humanitäre Ideale oder versucht einen „Irak für alle“ zu schaffen. Stattdessen wird der Staat eher als Beute der nun herrschenden Schia gesehen, die den Sunniten jetzt die Rechnung präsentiert. Da ISIS sunnitisch ist, erklären sich auch die überragenden Erfolge der Miliz im Westen des Irak (dem so genannten „Sunni Dreieck„) und ihr nicht vorhandener Erfolg gegen Kurden und Schiiten.
ISIS operiert daher gewissermaßen in einem Stadium des permanenten Heimspiels. Sie versuchte zu Beginn der 2000er die Kräfte der sunnitischen unterdrückten Bevölkerung in Jordanien für einen Putsch zu nutzen, machte sich dann die Unzufriedenheit der Sunniten in Syrien zunutze und greift jetzt im Irak an. Außerhalb überwältigend sunnitisch bewohnter und, vor allem, unzufriedener Regionen hat sie noch nie Erfolge erzielt. Dies erklärt auch wie die Miliz es schafft, seit nunmehr fast einem Jahr sowohl jeden Moment Kobane (in kurdischem Gebiet) als auch Baghdad einzunehmen, ohne es je zu schaffen: an beiden Orten existiert kein Vakuum. Die Vororte von Baghdad waren von sunnitischen Flüchtlingen, die vor Husseins Sturz die Macht in Händen hatten, überfüllt und daher ein leichtes Ziel. Nur, die Gebiete in Baghdad selbst, aus denen sie vertrieben wurden, gehören inzwischen den schiitischen Opportunisten, die kein Interesse an dem Sturz ihrer Regierung haben.
Zumindest in Kobane liegt ISIS effektiv mitten in der Wüste vor der Stadt, ohne gegen die Kämpfer der kurdischen Milizen Erfolge zu erringen. Berichten zufolge ist ihre Taktik so schlecht, dass sie gewaltige Verluste erleiden (so werden etwa von der irakischen Armee eroberte Panzer ohne Infantriedeckung in die Stadt geschickt und, wenig überraschend, schnell ausgeschaltet). In neun Monaten hat ISIS die Stadt an der türkischen Grenze nicht einnehmen können. Gleichzeitig aber wurde ISIS auch nicht geschlagen. Ist also doch mehr dran am Hype, ist ISIS kampfstärker als bisher angenommen? Immerhin 10.000 Mann unterstehen ihr schließlich. Aber: nein. Die Gründe für die erstaunliche Beharrungskraft vor Kobane und Baghdad sind andere. Und sie haben viel mehr mit der Realpolitik der Region zu tun. Es ist realistisch anzunehmen dass wenn die USA oder die Türkei wöllten, die Belagerung von Kobane bereits vorbei und die ISIS-Truppen ein rauchender Haufen Schrott und Leichen wären, ähnlich den Bildern des „Highway of Death“ im Golfkrieg 1991. Warum also wollen sie, aller markigen Statements zum Trotz, nicht?
Es hängt mit der völlig verworrenen politischen Situation zusammen. Die irakisch-schiitische Regierung würde ISIS natürlich gerne jederzeit besiegen. Zu diesem Zweck erhält sie bereits massive Hilfen aus Iran, der in den letzten Jahren große Erfolge darin verzeichnete, den Irak zu seiner persönlichen Kolonie zu machen – eine Entwicklung, die den USA als Endergebnis des absurd-teuren Irakkriegs kaum gefallen kann. Ein Sieg gegen ISIS stärkt daher den Iran. Er stärkt aber auch gleichzeitig den syrischen Diktator Assad. ISIS hat Wurzeln und Nachschubbasen im syrischen Kriegsgebiet, wo sich die Miliz bis zur Unkenntlichkeit mit den örtlichen Aufständischen gegen Assad vermischt. Ein Angriff auf ISIS-Nachschublinien und -basen in Syrien stärkt daher Assad, dem man effektiv helfen würde. Schon jetzt gibt er sich als Garant der Stabilität und Vernunft im Kampf gegen die ISIS und präsentiert sich als natürlicher Verbündeter des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz.
Die Kurden ihrerseits könnten die ISIS mit ein wenig logistischer und materieller Unterstützung vor Kobane selbst besiegen, nur bekommen sie diese Unterstützung nicht. Während der Westen gerne jeder x-beliebigen syrischen Miliz massenhaft Waffen zur Verfügung stellt ohne zu wissen, ob sich diese später gegen ihn wenden werden, werden die eigentlich verlässlichen Kurden fast gar nicht unterstützt. Das liegt an zwei Gründen. Zum Einen wollen die USA die territoriale Integrität des Irak erhalten, die mit einer aufgerüsteten Kurden-Miliz nicht mehr möglich wäre (weil dann die irakische Armee endgültig keine Bedrohung mehr darstellt), andererseits aber sind die Kurden und die Vorstellung eines unabhängigen kurdischen Staates, auf den die Kurden unzweifelhaft hinarbeiten, Anathema für die Türkei. Und die Türkei ist ein essenzieller NATO-Verbündeter in Region. Die türkische Antipathie gegen die Kurden geht soweit, dass Ankara effektiv einen Waffenstillstand mit ISIS geschlossen hat, sofern diese nur weiterhin die Kurden attackiert – ein Waffenstillstand, in dem die USA zwangsläufig mitgefangen sind, denn gegen den expliziten Willen der türkischen Regierung kann an ihrer Grenze kein Krieg geführt werden.
Würden diese vielen verschiedenen Faktoren nicht an ISIS zerren und drücken und sie so pervererweise an Ort und Stelle halten – die Miliz wäre längst vernichtet. Natürlich ist das nichts, was man auf seinen Youtube-Channel stellt. Stattdessen regieren dort Geschichten von der furchterregenden Überzeugung und Kampkraft der Miliz, eine Illusion, an deren Aufrechterhaltung alle Seiten Interesse haben. Die irakische Regierung will es aufrechterhalten, weil es die Hilfe von Iran und USA nötig macht. Für Assad ist es wichtig, damit er als Verbündeter akzeptiert wird. Für die Kurden resultiert ein Gegner, den man heldenhaft aufhalten kann, während die Türken NATO-Hilfen in Anspruch nehmen können. In allen beteiligten Ländern eignet sich ISIS als greifbarer Feind, um die Heimatfront zu mobilisieren. Und der ISIS selbst fließen immer neue Rekruten zu. Win-Win. Sobald einer dieser Faktoren wegfällt, wird ISIS wie das Kartenhaus, das sie ist, in sich zusammenbrechen. Aber bis dahin sind sie der böse schwarze Mann unter dem Bett, vor dem alle Angst haben. Ein klassischer Hype, erkauft mit dem Blut all derer die das Pech haben, unter der barbarischen Knute der Vakuum-Experten von ISIS zu leben.
Ich finde den Begriff Hype für den IS falsch. Mal unabhängig vom immer schwankenden Medieninteresse besteht im Westen immer noch eher die Gefahr einer Unter- als einer Überschätzung des IS. Das beruht auch auf kultureller Arroganz. Man sollte den IS eher in historische Zusammenhänge setzen, da findet man dann z.B. Bezüge und Parallelen zum Mahdi-Aufstand http://de.wikipedia.org/wiki/Mahdi-Aufstand Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Briten im Sudan. Der Mahdi-Staat existierte immerhin 18 Jahre.
Naja, das Ganze basiert ja auch auf dem früheren Verhalten von ISIS. Die Mahdi hatten nicht diese komische Kombination von Nachbarn wie ISIS.
Herzlichen Dank für diese – wie ich finde: bisher brillianteste – Analyse des Jahres 2014.
Vielen Dank. Ich muss aber viel des Lobes an den verlinkten Gary Brecher weiterreichen, von dem ich stark beeinflusst bin.
Danke für den Artikel, den Vergleich mit einer Flüssigkeit finde ich sehr treffend. Was ich noch ergänzen würde, wäre die mangelnde Bündnisfähigkeit von ISIS. In Syrien gab es ja bereits Berichte, dass ISIS und Al Quaida sich mittlerweile genauso oft gegenseitig bekämpfen wie ihre gemeinsamen Feinde. Und auch im Irak werden sie vermutlich über kurz oder lang ähnliche Probleme mit den sunnitischen Eliten haben, die momentan noch auf ihrer Seite sind (und militärisch besser ausgebildet).
Den Kurden oder auch anderen Irakern und Syrern hilft das natürlich alles nur bedingt weiter, es ist ein ziemlich tödlicher Hype :/
Jupp, mit ISIS will keiner zusammenarbeiten. Die benutzen das natürlich auch wieder propagandistisch, aber dem Ganzen wird irgendwann die Puste ausgehen. Die Miliz bleibt ein Kartenhaus, und das bricht irgendwann zusammen.
Vielen Dank für diesen interessanten Artikel und den Link!
Ein anderer interessanter Aspekt, der letztens aufgekommen ist, ist die Ähnlichkeit mit lateinamerikanischen Kartellen, ich finde der Artikel passt hier und sollte die selben Leuten interessieren: http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-10/islamischer-staat-drogenkartelle-lateinamerika-gemeinsamkeiten/komplettansicht