Wie die Schweiz sozial ungerecht wurde

Oder wie die gute Absicht den Blick auf die Folgen versperrt: Lohn-Preis-Spirale oder Arbeitslosigkeit.

Ein Gastbeitrag von Techniknörgler.

Am 18. Mai 2014 stand in der Schweiz eine Volksabstimmung über einen Mindestlohn an. Gefordert wurde nicht irgendein Mindestlohn, sondern die Volksinitiative forderte einen ganz bestimmten Betrag: umgerechnet rund 18€ pro Stunde. Zur Jahreswende erhielt der Vorschlag hohe Zustimmungswerte in Umfragen und auch wenn das mal wieder nicht viel hieß — haben sich die Umfrageergebnisse angesichts des näher rückenden Abstimmungstermines doch deutlich in Richtung einer Ablehnung verschoben und wurde die Vorlage gestern immerhin mit einer deutlichen Mehrheit von mehr als 70% abgelehnt — so stellt sich doch die Frage, wie die Gewerkschaften selbst in der Schweiz das Weltbild, es ginge bei ihnen besonders ungerecht zu, im Bauchgefühl vieler Menschen verankern konnten. ­

Sie können, verehrter Leser, einmal unter diesem Link den Gini-Koeffizienten und die Quote an relativer Armut jeweils einmal vor und nach der staatlichen Umverteilung in verschiedenen OECD-Ländern miteinander vergleichen. Klicken Sie dazu einfach auf den Reiter „Steuer & Transfers“ und wählen Sie Deutschland und die Schweiz als Vergleichspartner aus. Um die Werte der Schweiz angezeigt zu bekommen, müssen Sie mit der Maus über das entsprechende Feld ziehen, da dem Tool offenbar zur Schweiz nur Zahlen aus 2009 vorliegen und deshalb kein Graph angezeigt wird. Es erscheint nur ein einzelner Punkt in der angezeigten Zeitspanne, der erst einmal nicht sichtbar zu erkennen ist, was zu Beginn verwirren mag. Der Gini-Koeffizient ist ein Maßstab für die Ungleichverteilung der Einkommen in der Gesellschaft. Je niedriger er ist, umso geringer ist die Einkommensungleichheit. Ein Gini-Koeffizient von 0 entspräche einer vollkommen gleichen Verteilung, in der jeder Mensch das gleiche Einkommen erhält. Die hier verwendete Armutsdefinition beträgt 50% des Medianeinkommens. Vergleicht man nun die Gini-Koeffizienten und die Armutsquote vor Steuern und Transfers (S&T) von 2009 zwischen Deutschland und der Schweiz, so zeigen sich für die Schweiz – wie man es von einer wirtschaftliberalen Nation, die viele vermögende Einwanderer anzieht und kaum die Wirtschaft reguliert, erwarten würde – deutlich niedrigere Werte.

Vor S&T betrug der Gini-Koeffizient in der Schweiz 0,372 und die relative Armut 14,4%, in Deutschland betrug der Gini-Koeffizient dagegen 0,493 und die relative Armut 32,1%. Erst nach Steuern und Sozialtransfers nähern sich die Werte auf ungefähr das gleiche Niveau an, der Gini-Koeffizient der Schweiz beträgt nun 0,298 und der Deutschlands 0,288. Die relative Armut betrug nach S&T in beiden Ländern 9,5%. Trotzdem beschwert sich der Schweizer Gewerkschaftsbund über eine weite Verbreitung von Löhnen, von denen man nicht „anständig Leben“ könne. Das wirft die Frage auf, welche Art von „anständigem Leben“, das man mit weniger als 18€ Stundenlohn nicht führen könne, die Gewerkschaften der Schweiz hier im Auge haben. Die Frage ist leicht beantwortet: Ein Leben mit einem Fünftel mehr materiellem Wohlstand, als ein „anständiges Leben“ 15 Jahre, also lediglich eine halbe Generation, zuvor benötigte. Thomas Schlittler zeichnet in der Basellandschaftlichen Zeitung die Entwicklung der „moralischen Grenze“ nach:

Für die Gewerkschaften der ideale Zeitpunkt, um zu fordern: «Keine Löhne unter 3000 Franken!» So viel Geld brauche jeder, um in der Schweiz leben zu können, hiess es 1998. Seither sind fünfzehn Jahre vergangen. Löhne unter 3000 Franken gibt es hierzulande kaum mehr. Die Gewerkschaften haben ihr Ziel deshalb nach oben geschraubt. Die eingereichte Mindestlohn-Initiative fordert 4000 Franken pro Monat. Das ist ein Drittel mehr als noch 1998 – obwohl das Leben in der Schweiz gemäss dem Landesindex der Konsumentenpreise im gleichen Zeitraum nur um elf Prozent teurer geworden ist. Nimmt man die Teuerung als Massstab, müssten die Gewerkschaften heute also rund 3330 Franken fordern. Diesen Wert erreichen praktisch alle Mindestlöhne, die im Moment in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) stehen. Sogar im Gastgewerbe gibt es – rechnet man den 13. Monatslohn mit ein – 3683 Franken pro Monat.

Es wäre eine interessante Aufgabenstellung für Psychologen und seriöse Soziologen, die ihre Aufgaben ernst nehmen, die Mechanismen zu untersuchen, die hinter dem erfolgreichen Verankern eines Gefühls wachsender Armut trotz immer höherem Lebensstandard auch und gerade für die „ärmsten der Gesellschaft“ stehen. Wenn es jemandem, auch und gerade einer ganzen Nation, gut geht, dann scheint sich früher oder später vor lauter Erfolg die Illusion breit zu machen, man könne jeden Wunschtraum mit ganz einfachen Maßnahmen erfolgreich erzielen. Niemand solle unter 4000 Franken verdienen? Ganz einfach: Gesetzlich anordnen. Ach was, gleich in die Verfassung.

Entsprechend werden auch gleich eine Menge Versprechungen seitens der Befürworter vorgebracht, wie nützlich ein Mindestlohn für die Wirtschaftsentwicklung wäre. Er würde die Kaufkraft erhöhen und damit die Nachfrage stärken. Das eine solche Kaufkrafterhöhung für die einen, die nicht durch eine erhöhte Produktivität gedeckt ist — wie angenehm sie auch für die Betroffenen seien mag — zwangsläufig zu Lasten der Kaufkraft anderer geht, sei es über höhere Preise, sei es über niedrigere Einkommen anderer, fällt dabei unter den Tisch. Dafür wird der Preismechanismus, dessen unmanipuliertes Funktionieren die deutliche, unübersehbar große Stärke gegenüber der Zentralverwaltungswirtschaft erst ermöglicht, gezielt angegriffen. Nicht in einem so starken Umfang, dass es einen großen Absturz in nennenswerte Nähe zu sozialistischem Wohlstandniveau gäbe, darf der Preismechanismus doch in anderen Märkten und im Bereich des Arbeitsmarktes über dem Mindestlohn noch wirken. Aber es ist doch bemerkenswert, wie zielgenau gerade dieses Kernstück der Marktwirtschaft angegriffen wird. Häufig wird in diesem Zusammenhang ins Feld geführt, der Mindestlohn sei als Ausgleich einer Subventionierung niedriger Löhne durch Lohnergänzungsleistungen notwendig. Doch nur unterhalb des tatsächlichen Existenzminimums würde es sich tatsächlich um eine Subvention des Arbeitsplatzes handeln. Das Argument der Subventionierung niedriger Löhne greift deshalb nicht bei allen Tätigkeiten, für die Lohnergänzungsleistungen gezahlt werden, weil der gesetzliche Mindestlebensstandard höher angesetzt wurde als das Existenzminimum.

Die genaue Höhe des Mindestlebensstandards ist damit eine politische Entscheidung, in die auch das Bauchgefühl stark einfließt. Es ist keine natürlich festgelegte Grenze mit inhärenter ökonomischer Bedeutung, wie beispielsweise das tatsächliche Existenzminimum. In seiner konkreten Höhe ist der Mindestlebensstandard daher willkürlich festgelegt. Da er also naturgemäß unter starker Beeinflussung der emotionalen Wahrnehmung zustande kam, ist es leicht diesen zu einer scheinbar natürlichen Grenze zu stilisieren, dessen unterschreiten auch ohne die Eingriffe des Staates eine besondere ökonomische Auswirkung hätte. Dies allerdings wäre ein Fehlschluss, denn die ökonomischen Auswirkungen entstehen erst durch die staatliche Garantie den Mindestlebensstandard durch Lohnersatzleistungen zu sichern. Es geht in der Schweiz ausschließlich um Löhne, die höchstens deswegen nicht ohne Lohnergänzungsleistung möglich wären, weil es höhere Lohnersatzleistungen gibt. Damit stellen die Lohnergänzungsleistungen allerdings nur einen Ausgleich für die Verzerrungen durch Lohnersatzleistungen da. Ein Ausgleich, der anders als tatsächliche Subventionen von Arbeitsplätzen, auch keinen wirtschaftlichen Effizienzverlust mit sich bringt ‐ zumindest nicht im Vergleich zu einer Situation nur mit Lohnersatzleistungen ‐, denn es entstehen keine volkswirtschaftlichen Kosten, die nicht ohnehin entstanden wären. Die Kosten des gesetzlich festgelegten Mindestlebensstandards pro Kopf fallen für jeden lebenden Menschen mit legalem Aufenthaltstitel an, ob sie nun formal über einen Lohn, eine Lohnergänzungsleistung oder eine Lohnersatzleistung finanziert werden. Lediglich durch die Tätigkeit entstehende Mehrkosten müssen sich aus der Erwerbstätigkeit selber finanzieren, wie eine berufliche Unfallschutzversicherung oder die Fahrtkosten. Auf der anderen Seite würde bei einem Wegfall des Arbeitsplatzes nicht die Kosten des Mindestlebensstandards eingespart werden, aber die durch den Arbeitsplatz entstandene Wirtschaftsleistung wegfallen. Diese Rechnung gilt selbst dann, wenn es Arbeitsstellen gibt, die ohne Lohnergänzungsleistungen nicht wegfallen, sondern stattdessen höher entlohnt werden würden.

Subventioniert wird nämlich, wie eben dargelegt, nicht der Arbeitsplatz, sondern die menschliche Existenz auf dem gesetzlich festgelegten Mindestlebensstandard. Dies bedeutet nicht, der Mindestlebensstandard müsse nun gesenkt werden oder Anhänger der sozialen Marktwirtschaft würden oder müssten gar dies fordern. Ein gerne genutztes Strohmannargument, wann immer auf den Unterschied zwischen Existenzminimum und dem in Mitteleuropa geltenden Mindestlebensstandard hingewiesen wird, um ökonomische Fehlschlüsse aufzudecken: Wer darauf hinweise, wolle den Mindestlebensstandard senken. Nein, der Mindestlebensstandard kann und sollte ruhig höher angesetzt werden als das bloße Existenzminimum, sofern sich eine Volkswirtschaft das leisten kann — nur sollte es einem bewusst sein. Zum einen um das Maß zu wahren, zum anderen um nicht zu ökonomischen Fehlschlüssen bezüglich einer angeblichen Ausbeutung zu gelangen, die propagandistisch als marktwidrig dargestellt wird und zwar von Leuten, die den Markt sowieso nicht als Quelle dieses Wohlstandes anerkennen, obwohl sie auf diese Quelle offensichtlich angewiesen sind, um diesen Mindestlebensstandard garantieren zu können. Einem Zweck kann ein Mindestlohn allerdings durchaus dienen. Wenn eine höhere Inflation angestrebt wird, so kann eine Erhöhung der nominalen Löhne, in Gang gesetzt durch einen Mindestlohn, durchaus geldpolitisch gewünscht sein. Der Staat kann durchaus einen Preis nominal in seiner Währung festlegen und damit des Verhältnis zwischen abstrakter Geldeinheit der Währung auf der einen Seite und dem Wert der Waren und Dienstleistungen auf der anderen Seite festlegen, ohne den Marktmechanismus zu stören, sofern sich die sonstigen Preise und Löhne frei anpassen dürfen und die hierzu notwendige Ausweitung der Geldmenge bedarfsgerecht erfolgt. Dieser eine, staatlich festgelegte Preis kann auch der Preis der einfachsten, ungelernten Arbeit sein. Wichtig ist die Relation der nominalen Preise unterschiedlicher Güter und damit auch unterschiedlicher Arbeitskraft untereinander. Sofern die zirkulierende Geldmenge entsprechend ausgeweitet wird, damit auch andere Löhne und sonstige Preise entsprechend steigen können, bis die Relation zwischen den unterschiedlichen Preisen wiederhergestellt ist, kann auch eine höhere Arbeitslosigkeit durch einen nominalen Mindestlohn vermieden werden.

Freilich steigt in diesem Fall nicht der Reallohn. Der einzige Nutzen läge im Sicherstellen des Inflationszieles beispielsweise bei Deflationsgefahr. Liegt die Inflation über dem gewünschten Niveau wäre ein höherer Mindestlohn allerdings selbst unter diesen Gesichtspunkten kontraproduktiv. Damit wäre die Höhe eines Mindestlohnes eine geldpolitische Frage, die folglich eher in den Aufgabenbereich einer unabhängigen Zentralbank fallen würde. Eine Steuerung der Inflation ist aber offensichtlich nicht das Ziel der Volksinitiative gewesen. Diese sieht nämlich einen verbindlichen, automatischen Inflationsausgleich vor. Das heißt, bei niedriger Inflation würde der Mindestlohn wenig steigen und die Inflation nicht nennenswert vorangetrieben, bei hoher Inflation dagegen würde sie prozyklisch verstärkt werden und zwar um so intensiver, je höher die Inflation eh schon ist. Dieser prozyklische Automatismus wäre im Falle eines Erfolges der Initiative in der Verfassung verankert wurden und hätte nur durch einen neuen, langwierigen Volksentscheid aus der Verfassung wieder gestrichen werden können, während dessen eine gallopierende, sich selber anheizende Inflation nicht mehr verfassungskonform zu stoppen wäre — außer durch eine Erhöhung des Leitzinses und damit Verbunden einer Eindämmung des Geldmengenwachstums, folglich mit einer höheren Arbeitslosigkeit. Erfahrungsgemäß kommt es dabei in einer Übergangszeit zu beidem, sowohl hoher Arbeitslosigkeit, als auch hoher Inflation.

Die ganze Initiative der Schweizer Linken war offensichtlich nicht auf ihre Folgen durchdacht und basierte allein auf dem angeblichen moralischen Zwang, etwas gut gemeintes mit staatlicher Gewalt durchsetzen zu müssen. Letztendlich mag das der Grund gewesen sein, nach näherer Überlegung mit dem Kopf das Bauchgefühl beiseite zu schieben. Die Volksstimmung wurde zwar wieder einmal durch den Volkswillen in den Hintergrund gedrängt, was meine These zur Funktionsweise der direkten Demokratie in der Schweiz bestätigt. Doch ob sich auch die Volksstimmung, es ginge in der Schweiz trotz einer der niedrigsten Gini-Koeffizienten vor Steuern und Transfers, sozial ungerecht — und auch immer ungerechter im Vergleich zu früher — zu, gewandelt hat, dass lässt sich folglich am Abstimmungsergebnis nicht ablesen. Damit bleibt die Grundfrage dieses Artikels weiter bedeutsam und leider auch einer Antwort schuldig: Wie konnten sich selbst in der Schweiz eine Grundstimmung entwickeln, nach der alles unter 18 € pro Stunde Armut und Elend wäre?

Der obige Beitrag ist eine leicht überarbeitete Version des bereits am 20. Mai 2014 auf dem Blog Zettels Raum veröffentlichten Artikel „Wie die Schweiz sozial ungerecht wurde. Oder wie die gute Absicht den Blick auf die Folgen versperrt: Lohn-Preis-Spirale oder Arbeitslosigkeit.“ Kommentare können außer in der Kommentarspalte auch im dazugehörigen Thread im Forum „Zettels kleines Zimmer“ nach vorheriger Anmeldung hinterlassen werden. Das Forum eignet sich insbesondere für Diskussionen zum Thema mit anderen Lesern und dem Autor. Es bietet für längere Diskussionen eine komfortablere Umgebung und ermöglicht auch Private Nachrichten an andere Forenmitglieder inklusive dem Autor.

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