Glückwunsch, Kanzler!

Es war ein historischer Tag. Am 8. Dezember 2021 wählt der Deutsche Bundestag den Sozialdemokraten Olaf Scholz mit den Stimmen seiner Partei, der Grünen wie der FDP zum 9. Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Als das Ergebnis von Bundestagspräsidentin Bas verkündet war, nahm der Hanseat, offensichtlich von dem Moment bewegt, die Wahl mit einem einfachen, sehr leisen „Ja“ an. So sehr sich Spitzenpolitiker emotionale Regungen abtrainiert haben, das Hochamt einer Wahl wie des Abschieds rühren im Kern. Erstmalig führt ein Bundeskanzler eine Dreierkoalition an, die durch sehr unterschiedliche Sichtweisen und Wertvorstellungen geprägt sind.

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Als die Präsidentin des Hohen Hauses die Wahl des neuen Kanzlers einleitete, gedachte das Parlament der scheidenden. Mit stehenden Ovationen wurde Angela Merkel in den Ruhestand begleitet. Die Abgeordneten aller Parteien erwiesen den Respekt für 16 Jahre Kanzlerschaft, alle, bis auf jene der AfD-Fraktion, die demonstrativ die Arme verschränkten und ihren Paria-Status bestätigten. Würde und Respekt sind Fremdworte für die Rechtspopulisten, eine sichtbare Schande für die deutsche Demokratie.

Olaf Scholz sprach als zweiter Kanzler in der Geschichte seinen Amtseid ohne den Bezug „so wahr mir Gott helfe“. Es ist an dieser Stelle zumindest für religiöse Menschen eine interessante Notiz der Geschichte, dass auch alle von den Grünen gestellten Minister auf die Erwähnung von Gott verzichteten, sämtliche Minister der FDP und auch jene der SPD (mit zwei Ausnahmen) ihren Amtseid in der ehrfürchtigen Originalfassung sprachen.

Es mag viele Leser dieses Blogs überraschen, aber die Wahl von Olaf Scholz war auch für einen Liberal-Konservativen wie mich ein bewegender Moment. Mein politisches Fühlen begann Mitte der Siebzigerjahre im Heißen Herbst des Jahres 1977, mein politisches Denken setzte mit dem Konstruktiven Misstrauensvotum gegen den von mir über den Tod hinaus verehrten Helmut Schmidt ein – und damit mit einer tiefen Enttäuschung. Nach über vierzig Jahren wählen die Abgeordneten der FDP wieder einen Sozialdemokraten zum Bundeskanzler. Ein Kreis schließt sich: 32 Jahre ungeliebter CDU-Regierungschefs rahmten nur das Intermezzo von Schröder ein. Erst zum zweiten Mal überhaupt wird damit das Land von einem Politiker geführt, dem ich innerlich zustimme.

Wie sein sozialdemokratischer Vorgänger Gerhard Schröder sieht sich der 63jähige in der Tradition von Helmut Schmidt. Der neue Regierungschef ist im Herzen ein Sozialliberaler, der linken Ideen fernsteht. Das zeigte sich deutlich in den Koalitionsverhandlungen, in denen sich oftmals eine deutliche Nähe zu Christian Lindner und der FDP zeigte. Beide, Scholz und Lindner, pflegen schon seit langem eine vertrauensvolle Beziehung. Als der zukünftige Finanzminister eine neue Wohnung in Berlin bezog, waren nur 30 Gäste dabei. Einer davon war Olaf Scholz.

Die Grünen unterschätzen wie viele Linke oft die Bedeutung von persönlichen Beziehungen. So stehen Habeck und Baerbock nach Ansicht von politischen Insidern eher Pate einer sozialliberalen Ehe, die sich als rot-grünes Projekt verkleidet. Denn tatsächlich hat der Koalitionsvertrag viele linke Projekte: Mindestlohn, Mietpreisbremse, Kohleausstieg, liberales Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsrecht. Das klingt eher nach Fortsetzung der frühen Vereinbarungen von SPD und Grünen aus dem Jahr 1998 als nach einer gelben Dominanz. Das Einvernehmen des Sozialdemokraten und des Liberalen findet sich in den Fußnoten und im Anhang.

Ein wichtiger Punkt sind dabei die Personalien. Zwar konnten sich die Grünen das Vorschlagsrecht für den nächsten deutschen EU-Kommissar sichern. Wann dieser jedoch gewählt wird, ist höchst unsicher. Sollte der französische Präsident Macron eine zweite Amtszeit bekommen, ist sein Interesse gering, den mit Merkel geschlossenen Deal aufzulösen und einen neuen Präsidenten der Brüsseler Behörde zu bestimmen. Deutschland kann aber nicht von sich aus von der Leyen stürzen. Da aber jedes Land nur einen Sitz in der Kommission besetzt, käme das Vorschlagsrecht der Grünen nicht zum Zuge. Schöne Absichtserklärung, de facto aber von zweifelhaftem Wert.

Auch der Amtsinhaber im Schloss Bellevue ist bereits zwischen Scholz und Lindner ausgeboxt. Mit einem geschickten Schachzug im vergangenen Sommer blockierte der Freidemokraten alle Ambitionen von Katrin Göring-Eckardt. Die Vorfestlegung auf Steinmeier im Bundestagswahlkampf verhinderte in den Koalitionsverhandlungen, dass die Grünen das Präsidentenamt hätten einfordern können.

Und auch beim derzeit vakanten Posten des Bundesbankpräsidenten werden weder die Grünen noch die SPD mitzureden haben. Gemäß Nebenabsprachen zum Koalitionsvertrag muss der neue Posten von Kanzler und Finanzminister einvernehmlich besetzt werden. Damit sind die Kandidaten einer lockeren Geldpolitik, die gehandelten Fratzscher vom DIW und die Notenbankerin Isabel Schnabel, aus dem Rennen. Dazu sicherte sich der FDP-Chef den im Grundgesetz nicht vorgesehenen Posten des weiteren Vize-Kanzlers via Geschäftsordnung.

Die Liberalen haben sich bei den Koalitionsverhandlungen als Bollwerk des bürgerlichen Lagers inszeniert. Auf ihrer Habenseite steht vor allem die Verhinderung von linken Träumen. Scholz und Habeck werden nicht unglücklich gewesen sein. Früh war klar: es gibt keine Abschaffung der Schuldenbremse, keine Steuererhöhungen, kein Tempolimit, keine Veränderung der geldpolitischen Positionen der Bundesrepublik. In den wichtigen europäischen Gremien wird Deutschland von Scholz oder Christian Lindner vertreten.

Das Gestaltungspotential aus liberaler Sicht liegt in der Tagespolitik, gerade deswegen ist ein enger Draht zwischen Kanzleramt und Finanzministerium wichtig. Wahrscheinlich 2022 wird das Bundesverfassungsgericht über den Solidaritätszuschlag entscheiden. Die Aufgabe des bisherigen Finanzministers in der mündlichen Anhörung war, nachzuweisen, dass der Bund trotz des Auslaufens des Solidarpakts II einen deutlich erhöhten Finanzbedarf aufgrund der Überwindung der deutschen Teilung habe. Das ist die verfassungsrechtliche Voraussetzung für die weitere Erhebung der Ergänzungsabgabe. Nach Ansicht von Beobachtern ist das weniger gut gelungen.

Sollte der Solidaritätszuschlag für verfassungswidrig erklärt werden, gäbe es eine kleine Steuersenkung, allerdings nur für die oberen 10% der Steuerzahler. Die übrigen zahlen bereits seit 2020 keinen Soli mehr. Ob es so kommt, unterliegt auch der politischen Verhandlung. Lindner hat damit ein Pfund in der Hand, das noch durch die jüngste Steuerschätzung genährt wird. Danach fließen dem Staat in der angelaufenen Regierungszeit knapp 180 Milliarden Euro zusätzlich zu. Auf den Bund entfällt dabei ein Plus von rund 90 Milliarden Euro, die bisher nicht in der mittelfristigen Finanzplanung berücksichtigt sind.

In den Koalitionsverhandlungen blockierten sich die Protagonisten gegenseitig, weil SPD und Grüne eine Entlastung durch Steuererhöhungen für die oberen 10 Prozent kompensieren wollten. Ausgestattet mit einem vorteilhaften Urteil und zusätzliche Steuereinnahmen im Rücken ergibt sich eine neue Lage. Scholz würde seinem Finanzminister nicht in den Arm fallen, wenn dieser für das Jahr 2025 an einer Steuerreform arbeiten würde.

Die Grünen haben nun die Rolle, die 2017 der FDP zugedacht war. Nur komfortabler, denn die Koalitionäre sind peinlich auf gleiche Augenhöhe bedacht. Aber sie sind mit einem Regierungschef im Boot, der es schon aufgrund seiner hanseatischen Sozialisation mehr mit dem aufgeklärten Liberalismus als dem Rigorismus von Gesellschaftsveränderern hält. Obwohl die selbsternannte Klimaschutzpartei viele Punkte bei ihrem Lieblingsprojekt und der Migration machen konnten, sind ihre Anhänger tendenziell unzufrieden. Dass das Finanzministerium und das Verkehrsministerium an die Liberalen fiel, stößt vielen auf. Anscheinend haben nicht wenige Anhänger die Wahlkampfreden der Frontleute geglaubt, ohne Grün könne die Weltenrettung nicht gelingen.

Die verhandelten Ministerien bergen reichlich Konfliktpotential und könnten auf die Popularität der Partei drücken. Einerseits müssen sie eine von der FDP gezeichnete Verkehrspolitik mittragen, andererseits hat sich Habeck mit dem Super-Ministerium Wirtschaft und Klimaschutz den immanenten Konflikt zwischen Wirtschaftssubventionen und Umweltsubventionen ins Haus geholt. Allerdings hat der Norddeutsche sein Talent für intelligente Aushandlungsprozesse als Minister in Schleswig-Holstein bewiesen.

Lindner und Habeck, beide mit überbordendem Charisma ausgestattet, versprechen, die Machtpole der neuen Regierung zu werden. Alle anderen Ressorts verblassen dahinter. Wirklich Neues wagt die Regierung jedoch nicht. Mit dem Bauministerium wird sogar Rückgriff auf die Fünfzigerjahre des vorherigen Jahrhunderts genommen, als die Schaffung von Wohnraum nach Jahren des Krieges knapp war. Digitales läuft im Organigramm des Scholz-Kabinetts unter Gedöns. Das war mal anders gedacht.

Die FDP wollte für die Transformation von Wirtschaft und staatlicher Verwaltung ein eigenes Ministerium schaffen, was kein besonders kluger Gedanke war. Wie Finanzen hat das Thema Digitalisierung tatsächlich die Querschnittsfunktion, welche die Grünen sich für den Klimaschutz wünschen. Digitalisierung ist prozessgetrieben, d.h. sie fällt auf verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns an. Der Justizminister kann Gesetze verfassen, ob diese jedoch analog in ausgedruckter Form oder digital auf Notebooks und Tablets in Behörden und Gerichtssälen ausgeführt werden, ist eine Aufgabe, bei der Digitalisierungsexperten hilfreich Pate stehen könnten.

So leistet sich Deutschland ein bei genauerer Betrachtung anachronistisches Regierungssystem, in dem mächtige Ressortchefs eifersüchtig über ihren Kompetenzbereich wachen, Prozesssteuerung aber als Fremdwort geführt wird. Während in modernen Unternehmen seit Jahrzehnten Matrix-Organigramme immer weiter perfektioniert werden, sieht das Kabinett der Bundesregierung wie der Betrieb des alten Firmenpatriarchen aus. Organisatorisch versteht sich.

Die SPD zeigt sich unter Scholz als eine nahe perfekt orchestrierte Truppe. Die Dividende ist reichlich, die meisten staatlichen Institutionen sind in sozialdemokratischer Hand. An der Spitze von Bundespräsidialamt, Bundestag, Bundeskanzleramt sowieso und demnächst Bundesbank stehen Leute mit SPD-Parteibuch. Die Partei schaute Jahre in den Abgrund, drohte in der Geschichte unterzugehen und ist zurück wie Phoenix. Nahtod-Erlebnisse haben eine enorm disziplinierende Wirkung.

Die neue Regierungskoalition brachte 21 Stimmen weniger auf die Waage, als es ihrem Gewicht im Bundestag entspricht. 7 Abgeordnete waren wegen Krankheit entschuldigt und vielleicht hat der ein oder andere aus der Unionsfraktion für den langjährigen Partner gestimmt. Unzufriedenheit scheint vorhanden. Ein Fünftel der Abgeordneten der SPD entstammt den Jusos, die von einem Linksbündnis träumten und mit Scholz und der neoliberalen FDP aufwachten. Ähnlich ergeht es so manchem bei den Grünen, bei denen bei der Abstimmung zum Koalitionsvertrag 14% gegen das Bündnis votierten – die höchste Ablehnung aller Regierungsparteien. Die Liberalen werden geschlossen für Scholz gestimmt haben. Die Funktionsträger sind diszipliniert, ihr Parteichef genießt höchste Akzeptanz und man ist sehr zufrieden mit dem ausgehandelten Ergebnis.

Eine Ära ist zu Ende gegangen. Mit Olaf Scholz setzt Deutschland auf Kontinuität, eine Kontinuität, die dem Land meist gutgetan hat. Er führt eine Regierung an, die trotz ihrer neuen Komposition nostalgische Gefühle weckt. Ein bisschen. Zumindest beim Autor.

{ 6 comments… add one }
  • Kirkd 9. Dezember 2021, 14:39

    „Nach über vierzig Jahren wählen die Abgeordneten der FDP wieder einen Sozialdemokraten zum Bundeskanzler. Ein Kreis schließt sich: 32 Jahre ungeliebter CDU-Regierungschefs rahmten nur das Intermezzo von Schröder ein. Erst zum zweiten Mal überhaupt wird damit das Land von einem Politiker geführt, dem ich innerlich zustimme.“

    Mir wird ganz warm ums Herz. Warum sehen wir diesen Stefan sonst nicht? Beinahe von Tränen gerührt
    Dein KirkD

    • Stefan Pietsch 9. Dezember 2021, 19:10

      Das war ein persönlicher Artikel. Wenn Sie blättern, Sie werden keinen Artikel finden, in dem ich die SPD besonders kritisch oder sogar ablehnend angepackt hätte. Alle, die Union, die Grünen sowieso, die Extremisten, sogar die FDP haben ihr Fett zeitweise wegbekommen. Die SPD habe ich selbst in den schlechtesten Stunden immer geschont. Das hat nichts mit ideologischer Nähe zu tun, aber tiefen Respekt vor einer Partei und bestimmten Spitzenleuten.

      Aber danke!

      • Kirkd 10. Dezember 2021, 09:10

        Ist mir in der Tat nicht aufgefallen. Liegt wahrscheinlich daran, dass Kritik an linken Positionen gedanklich als „kritisch“ gegenüber SPD verortet wird.

        • Stefan Pietsch 10. Dezember 2021, 10:42

          Ich kritisiere die SPD für politische Maßnahmen und strategische Ausrichtung, so wie ich das auch in jungen Jahren getan habe, als ich die Partei noch gewählt habe. Aber ich enthalte mich jeglicher Polemik oder Häme, weil ich es nicht so empfinde. Selbst heute, wo mir die SPD ideologisch fern steht, empfinde ich keine Freude über schlechte Wahlergebnisse. Bei der Union manchmal schon. 🙂

          Wenn ich linke Ansichten aufs Korn nehme, dann solche, die in den typisch linken Milieus sehr verbreitet sind. Für die klassischen Wählerschichten der Sozialdemokraten gilt das nicht. Wenn die neue Familienministerin der Grünen, Anne Spiegel, als eine der ersten Amtshandlungen ankündigt, für alle Behörden eine geschlechtergerechte Sprache anzuordnen, bezweifle ich, dass sich so Volkes Wille darstellt.

          Wenn ich SPD höre, sehe ich nicht Ralf Stegner, sondern Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Olaf Scholz, Lars Klingbeil.

      • Marc 10. Dezember 2021, 09:59

        Ich habe mal geblättert und diesen Artikel von ihnen gefunden:

        Das Ende der SPD als Volkspartei:
        http://www.deliberationdaily.de/2016/03/das-ende-der-spd-als-volkspartei/

        • Stefan Pietsch 10. Dezember 2021, 10:26

          Anscheinend haben Sie aber nichts gefunden. Anders als andere Artikel über „Linke“ und Grüne findet sich dort keine Polemik. Er ist nüchtern, analytisch, sachlich und historisch. Die Kommentare waren entsprechend, selbst der SPD nahestehende Forenmitglieder sahen das so.

          Die SPD erreichte im September das gleiche Ergebnis wie acht Jahre zuvor Peer Steinbrück, der damit vom Hof gejagt wurde. Der Unterschied liegt also in der relativen Einordnung. Sie bestimmt sich vom Unionsergebnis und dem Erwartungsmanagement, nicht von der historischen Einordnung. Nie zuvor schaffte eine Partei mit einem so schlechten Ergebnis die Kanzlerschaft.

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