Menschen als Waffe

Der belarussische Diktator Lukaschenko fühlt sich seit seinem Wahlbetrug Anfang des Jahres und der folgenden Unterdrückungskampagne gegen seine Bevölkerung wohl stark genug im Sattel, um sich als Handlanger Putins für dessen Schützenhilfe bei der erwähnten Unterdrückungskampagne zu bedanken und die EU unter Druck zu setzen. Mit Waffengewalt lässt der Diktator Geflüchtete zur belarussisch-polnischen Grenze treiben, um sie dort in die EU zu zwingen. Eventuell im Weg stehende Grenzbefestigungen der polnischen Seite ließ er durch seine Truppen beseitigen; diese sind auch dafür zuständig, dass die Geflüchteten nicht wieder zurückkommen können. Polen seinerseits reagiert mit der Abordnung von Truppen und der Aufstellung rechtsextremistischer Milizen. Es kam zu ersten Konfrontationen zwischen den Soldaten beider Seiten. Lukaschenko betrachtet die geflüchteten Menschen offensichtlich als Waffen in einem asymmetrischen Konflikt, aber was ist sein Ziel, und wie sollte die EU darauf reagieren?

Sehen wir uns zunächst genauer an, was geschieht. Bereits oberflächliche geografische Kenntnisse zeigen, dass Belarus nicht unbedingt ein natürlicher Durchgangspunkt für Geflüchtete aus Afghanistan oder dem Mittleren Osten ist. Tatsächlich ist es beinahe so schwierig, Belarus zu erreichen, wie, sagen wir, Großbritannien, nur nicht halb so attraktiv. Wie also kommen Geflüchtete aus Syrien nach Belarus? Die Antwort ist: sie werden eingeflogen. Belarussische Airlines holen die Leute ab, bringen sie nach Minsk, dort werden sie in Transporter gezwungen und zur Grenze gekarrt. Insgesamt hat Lukaschenko so eine mittlere vierstellige Zahl Geflüchtete ins Land geholt und setzt sie nun gegen die Außengrenzen der EU ein.

Warum tut er das? Rein rechtlich gesehen könnten Geflüchtete unter dem Dublin-Regime in Polen oder Litauen Asyl beantragen, da sie vorher in keinem anderen EU-Staat waren (inwieweit man Belarus als sicheren Drittstaat ansehen will, sei mal dahingestellt). Normalerweise liegen Polen und Litauen außerhalb der Fluchtrouten, und zumindest Polen weigert sich unter seiner rechtsradikalen PiS-Regierung auch hartnäckig, irgendwie bei der Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU zu kooperieren und hat praktisch keine aufgenommen. Die Geflüchteten an seiner Ostflanke stellen von daher eine symbolisch aufgeladene Bedrohung dar: die „anderen“, die man so lange abgehalten hat, drohen nun ins Land zu kommen. Da die Herrschaft der PiS auf Ideen von ethnischer Homogenität und ähnlichem nationalistischen Blödsinn beruht, sind selbst die Handvoll Geflüchteter an der belarussischen Grenze eine ernsthafte Bedrohung für die Legitimität des polnischen Staates, der dieser sich entgegensetzen muss.

Neben dieser ideologischen Dimension müssen Polen und Litauen natürlich auch ihre Grenzen gegen den simplen Akt belarussischer Aggression absichern. Es ist als souveräne Nation ja nicht hinnehmbar, dass ein anderes Land die Grenze verletzt, egal auf welche Art. Spätestens mit der Sabotage der Grenzanlagen hat Belarus eine Linie überschritten, die grundsätzlich als Kriegsanlass durchgehen würde, auch wenn glücklicherweise niemand aktuell so stark eskalieren will.

Natürlich sind 4000 oder auch 8000 Geflüchtete keine reale Bedrohung von irgendwas, das weiß man in Minsk genauso gut wie in Warschau. Es geht um die Symbolwirkung, die hier entfaltet wird. Das ist offensichtlich auch die Idee hinter dieser Strategie, die Grenze dichtzumachen und so die Heuchelei des Westens offenzulegen. Es ist ein Kalkül, das Putins Handschrift trägt. Die Forderung der Einhaltung von Menschenrechten, mit der der Westen Belarus seit Monaten unter Druck setzt, wird hier auf die autokratisch üblich krude Weise gespiegelt: Seht her, wie könnt ihr von uns verlangen, irgendwelche Werte und Normen einzuhalten, wenn ihr euch selbst nicht daran haltet? Angesichts der immer schärferen Repression auch in Russland, das gerade mit Memoria eine hervorgehobene zivilgesellschaftliche Organisation verboten hat, ist das Interesse daran für die beiden Diktatoren klar ersichtlich.

Diese Strategie ist alt. Bereits Lenin forderte, die „Widersprüche hervorzuheben“, die dem Kapitalismus (verstanden nicht als Wirtschafts-, sondern als liberal-westliche Gesellschaftsform) zu eigen sind. Durch den gesamten Kalten Krieg hindurch droschen die Kreml-Herrscher politisches Heu damit, auf die Menschen- und Völkerrechtsverstöße der USA hinzuweisen und sich in besserem Licht zu präsentieren, als ob das ihre eigenen Verstöße irgendwie rechtfertigte. Es ist effektiv. Dass sich deutsche Politiker wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer dabei zu ihren Wasserträgern machen, ist leider nicht das erste Mal. Oder, wie es der Postillon in einer Verballhornung des typischen BILD-Schlagzeilenstils so schön formuliert: „Gemeinheit! Fieser Weißrusse nutzt Weigerung der EU, Flüchtlinge wie Menschen zu behandeln, als Druckmittel aus!

Polen hat bekanntlich selbst eine ganze Reihe von Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, um es höflich auszudrücken, aber anders als Ungarn fährt es eine scharf antirussische außenpolitische Linie, was angesichts von Geschichte und Disposition des Landes absolut verständlich ist. Angesichts dieser fehlenden Rechtsstaatlichkeit auf der einen und der hart rechten Haltung der Regierung andererseits war absolut berechenbar, dass die polnische Regierung mit Gewalt auf diese Herausforderung reagieren würde. Das ist genau das, was Lukaschenko will: Bilder von toten Geflüchteten an der EU-Außengrenze, getötet durch die Hände polnischer Soldaten und Milizen. Und Kaczinsky erfüllt ihm aus innenpolitischen Gründen und ideologischer Verblendung diesen Wunsch.

Die bisherigen Pushbacks der EU an den Grenzen sind zwar illegal, aber man macht sich entweder nicht persönlich die Hände schmutzig oder verheimlicht das Geschehen. Überwiegend hat man es outgesourct: serbische und türkische Grenzbeamte sind es, die die meiste Gewalt verüben. Wenn nun polnische Soldaten direkt für Tote verantwortlich sind, ist das eine neue Dimension. Fast noch schlimmer sind die rechtsextremen Milizen, die sich in Polen formiert haben und die (sprichwörtlich) den Segen der Regierung besitzen. Denn einer der großen Kritikpunkte der EU/NATO an Russland seit 2014 war deren Nutzung von Paramilitärs. Polen normalisiert nun auch das.

Um es kurz zu machen: die polnische Reaktion ist ebenso vorhersehbar wie für die EU schlecht. Aber die Vorhersehbarkeit erstreckt sich leider auch auf das Verhalten der restlichen EU. Sie gab einige lasche Erklärungen ab und überließ das Problem ansonsten Warschau. Einige Spezialisten wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer besorgten sogar noch das Geschäft für die Missetäter aus Minsk, indem er verkündete, dass die EU „solche Bilder aushalten muss“. Eine offenere Erlaubnis für das Töten oder zumindest Sterben lassen von Menschen im Niemandsland zwischen Belarus und Polen ist kaum vorstellbar.

Die Eskalation zwischen den Streitkräften der beiden Länder hat die Dynamik allerdings noch einmal verändert. Heute hat Polen die NATO offiziell ersucht, Konsultationen auf Basis von Artikel 4 einzuleiten. Es ist auffällig, dass Warschau gar nicht erst versucht, über die EU-Strukturen – die ja ebenfalls ein Militärbündnis enthalten, und sogar ein stärkeres als die NATO! – zu einer Lösung zu kommen, sondern direkt die NATO bemüht. Artikel 4 sieht, anders als der so genannte „Bündnisfall“ von Artikel 5, nur Beratungen vor. Er dient tatsächlich in diesem Fall dem faktischen Ausschließen der Eskalation auf Artikel 5, wie Carlo Masala erklärt, was die wohl einzig gute Nachricht der Chose ist.

Mittlerweile ist sogar Heiko Maas so weit, Sanktionen gegen Belarus zu fordern, was für ihn eine wahrlich harte Haltung darstellt. Tatsächlich sind Sanktionen in diesem Fall ein sehr probates Mittel. Die belarussische Strategie basiert darauf, dass die Airlines Flüchtende nach Minsk fliegen. Das ist dank der Sanktionen mittlerweile kaum mehr möglich. Die jetztigen Geflüchteten dort sind also ein einmaliges Event, so viel hat die EU-Politik bereits geleistet.

Was jetzt notwendig wäre ist der Aufbau von Resilienz, wie es Carlo Masala formulierte. Damit meint er ironischerweise dasselbe wie Michael Kretschmer – „wir müssen das aushalten“ – nur auf eine völlig andere Art. Das vom Außenministerium wütend dementierte Gerücht, Deutschland würde die Geflüchteten mit Transitbussen aus Belarus nach Deutschland bringen, zeigt im Endeffekt den simplen Ausweg aus der Krise. Es handelt sich nur um einige tausend Geflüchtete. Die ließen sich problemlos in der EU verteilen, ohne dass das ein Land auch nur bemerkt. Selbst wenn wir die Autokratien Polen und Ungarn ignorieren und ausnehmen, ist die Verteilung stressfrei. Das Argument, dass damit ein Präzedenzfall geschaffen würde, der weitere Flüchtlingsströme nach sich zieht, greift nicht. Denn Minsk kann das nicht endlos wiederholen. Und selbst wenn es das tun würde: die EU kann es sich unendlich mehr leisten, Geflüchtete, die Lukaschenko teuer einfliegen lässt, aufzunehmen. Das ist ein Rüstungswettlauf, den wir nur gewinnen können.

Es muss einfach klar sein, dass es hier nicht um Geflüchtete geht. Die Situation ist eine vollständig andere als bei den Pushbacks im Mittelmeer, als auf Lampedusa oder in Moria. Diese Menschen werden als Waffe benutzt, als eine Waffe, die auf das Herz der EU gerichtet ist. Lukaschenko will zeigen, dass die EU genauso schrecklich und menschenverachtend ist wie er. Kretschmer und Kaczinsky wollen ihm diesen Gefallen tun. Das ist ein Fehler. Wir sollten stattdessen die Sanktionen gegen die Machthaber verschärfen, ihnen ihre Waffen aus der Hand schlagen und zeigen, warum diese Menschen nach Deutschland und nicht nach Belarus flüchten wollen.

Was hier stattfindet ist mindestens so sehr ein ideologischer wie ein machtpolitischer Konflikt. Wie im Kalten Krieg ist es am Westen, nicht nur seine Grenzen, sondern auch seine Werte in diesem Konflikt zu bewahren. Eine EU, die zwar ein paar Tausend Geflüchtete von ihrer Grenze fernhält, aber dafür die Menschenrechte bricht, hört auf, die EU zu sein. Die Angriffe Lukaschenkos und Putins richten sich auf unser Herz mindestens ebenso sehr wie auf unsere Glieder.

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  • CitizenK 15. November 2021, 11:16

    Polen lässt nicht einmal Hilfsorganisationen und Medienvertreter in die Grenz-Region. Auch das ein eklatanter Bruch mit den Werten der EU.

    • Stefan Sasse 15. November 2021, 17:14

      Polen ist kein liberaler und rechtsstaatlicher Staat mehr und steht kurz davor, auch kein demokratischer mehr zu sein. Diese Grenze hat Ungarn bereits überschritten. Kein Dissens an dieser Stelle.

  • Stefan Pietsch 15. November 2021, 12:09

    Deine Hypothese krankt an zwei Stellen.

    1. Die jungen Männer (weitgehend sind es Männer) wollen nicht in der EU verteilt werden, werden sich nicht in der EU verteilen lassen und in der EU gibt es keine Kontingente. Die Aufnahme betrifft also weitgehend Deutschland. Das ist schon weit weniger als die EU. Und Deutschland hat in einem historisch einmaligen Akt die Toleranz seiner Gesellschaft zur Aufnahme von von Flüchtlingen ausgereizt. Wiederholung politsch praktisch nicht möglich. Alles hat seinen Preis.

    2. Das Problem ist nicht Lukaschenko. Die EU ist spätestens seit 2015 für alle sichtbar mit Flüchtlingswellen erpressbar. Und wird erpresst. Diktatoren und Autokraten nutzen das aus und die heißen eben nicht nur Lukaschenko und Putin. Erdogan, Libyen, Marokko – alle haben schon die Grenzen runtergefahren, um von der EU Zugeständnisse in Form von Finanzhilfen als auch politischer Form zu erhalten. Das wird weitergehen, so lange sich die EU weigert, ihren Grenzschutz so auszuüben, wie souveräne Staaten das weltweit eben tun. Wer nach Europa kommt, darüber darf niemand anders bestimmen als die gewählten Vertreter der EU wie der Nationalstaaten.

    • Stefan Sasse 15. November 2021, 17:15

      1) Von mir aus, soll halt der Rest der EU die Kosten tragen. Es geht immer noch um einmalige Aufnahme recht weniger Leute, ein geringer Preis dafür, dass wir außenpolitisch gegen Autokraten bestehen.

      2) Ja, und diese Erpressung wird weitergehen. Das Potenzial der Diktatoren, Menschen Leid zuzufügen, ist trotz aller Versuche entsprechend geneigter Politiker*innen dort wesentlich größer als hier.

      • Stefan Pietsch 15. November 2021, 17:31

        1) So fing das 2015 auch an. Am Ende waren es fast 2 Millionen. Das Signal wäre wieder gesetzt für einen erneuten Pull-Effekt. Keine Gesellschaft ist grenzenlos aufnahmebereit.

        2) Andere Länder werden nicht erpresst. Niemand hat ein automatisches Recht nach Deutschland zu kommen. Wer aus Polen kommt, war in einem sicheren Herkunftsland. Wer aus Griechenland kommt, ebenso.

        • Stefan Sasse 15. November 2021, 22:09

          1) Wie im Artikel beschrieben macht der 2015-Vergleich null Sinn. Belarus kriegt keine weiteren Flüchtlinge rüber, nicht in nennenswertem Ausmaß. 2015 standen Zehntausende in Budapest. Das ist eine völlig andere Kategorie, da verblendet dich die Obsession, überall nur die Wiederholung zu sehen.

          2) Natürlich hat niemand das Recht, das bestreitet keiner. Aber die EU wird erpresst.

          • Stefan Pietsch 15. November 2021, 22:35

            1) Klar, wir werden bis zum Sankt Nimmerleinstag warten müssen, bis Du zuerkennst, dass 2015 fortgesetzt ein Fehler war. Die paar in Budapest waren nicht das Problem. Der Pull-Effekt, der davon ausging, war das Problem. Die Offenheit der Balkanroute und die Weigerung, die Grenzen zu kontrollieren, waren ein Problem.

            2) Klare Regel bei Erpressungen: niemals die Bedingungen des Erpressers erfüllen. Die EU wird ja nicht nur von Belarus mit Migranten erpresst. Du scheinst das jedoch als singuläres Ereignis zu begreifen.

            • Stefan Sasse 16. November 2021, 07:40

              Ich sehe das nicht als ein Eingehen auf die Forderung des Erpressers. Es ist ein Spielzug gegen die Autokraten. Das wurde im Kalten Krieg noch verstanden.

              • Stefan Pietsch 16. November 2021, 08:40

                Die Strategie von Lukaschenko und Putin ist, die EU (Deutschland) zur Aufnahme zu zwingen um so zu destabilisieren. Die Abwehr der Migranten kann dagegen aus ihrer Sicht nur gewaltsam erfolgen, wodurch die EU ihre vorgeblichen Werte verraten würde, was sich als Heuchelei anprangern ließe.

                Öffnet die EU hier das Tor, ist das eine neue Straße für die Schleuser. Bei der Migration von Armutsflüchtlingen geht es doch nicht um den Weg. Der kann notfalls über Nordkorea führen, wenn er denn im Herzen Europas endet. Und die Menschen wollen doch nicht nach Deutschland weil hier das Wetter besonders gut ist. Sie wollen hierher, weil wir einen einmaligen Mix aus Chancen und sozialer Sicherheit bieten.

                Da bin ich doch weit eher bei dem Konzept, die Menschen dorthin zu bringen, wo sie sicher sind, aber nicht hinwollen. Die Idee, Abkommen mit der Ukraine und Tunesien zu schließen, erscheint unter dem Aspekt sinnvoll, wenn wir schon nicht die schmutzige Grenzarbeit machen wollen. Es wird dann auch kein Weg mehr an Zäunen und Mauern vorbeiführen.

                Alles hat im Leben einen Preis. Selbst, wenn man meint, sich besonders wohltätig geben zu können.

                • Stefan Sasse 16. November 2021, 18:25

                  Die Strategie von Lukaschenko und Putin ist, die EU (Deutschland) zur Aufnahme zu zwingen um so zu destabilisieren.

                  Richtig. Und die einzige Art, wie das klappen kann, ist wenn eine Hysterie um die Aufnahme von 4000 Leuten gemacht wird. Die können Deutschland nämlich nicht passiv destabilisieren durch ihre Aufnahme, das machen wir schon selbst.

                  • Stefan Pietsch 16. November 2021, 22:46

                    Gut. Da sind dann ja noch die paar 10.000 im Mittelmeer, allein 15.000 Hilfskräfte der Bundeswehr, die noch aus Afghanistan geholt werden sollen, die paar 10.000, die monatlich Opfer von Pushback-Policies an Europas Grenzen werden. Da wir die unmöglich dazu addieren wollen (das ist doch Dein Argument?), müssen die halt warten. Sorry, no bonus.

                    • Stefan Sasse 16. November 2021, 23:16

                      Nein, das ist nicht mein Argument. Über den Kommentaren steht so ein Ding, das ist der Artikel, auf den sich die Kommentare beziehen. Und da habe ich meine Argumentation ziemlich klar dargelegt.

                    • Stefan Pietsch 17. November 2021, 01:28

                      Allein die Bundespolizei verzeichnete bisher knapp 10.000 illegaler Grenzübertritte mit Einreise aus Belarus. Das ist logischerweise nicht die ganze Zahl, denn die meisten Flüchtlinge sitzen derzeit im Grenzgebiet und in Polen fest.
                      https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Fluechtlinge-So-unterscheidet-sich-die-Belarus-Krise-von-der-Fluechtlingskrise-2015-id61029476.html

                      Unter- und Übertreibungen sind eine Möglichkeit, ein Problem zu verharmlosen und Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen.

                      Im Mittelmeer ertrinken jährlich 3.000 – 7.000 Menschen, die wir durch eine liberalere Aufnahmepolitik hätten retten können. Derzeit werden in der EU über 600.000 Asylanträge gestellt, allein in Griechenland sitzen fast 200.000 fest. Und wie inzwischen mehrfach von verschiedenen Kommentatoren dargelegt ist dies gleichbedeutend mit einem dauerhaften Bleiberecht für die meisten. Da sind wir sehr wohl an dem Punkt, ob wir uns einen weiteren Pull-Anreiz kaum noch leisten können.

                      Was also hältst Du von der Verbringung in die Ukraine und warum nicht?

                      Denn Minsk kann das nicht endlos wiederholen. Und selbst wenn es das tun würde: die EU kann es sich unendlich mehr leisten, Geflüchtete, die Lukaschenko teuer einfliegen lässt, aufzunehmen. Das ist ein Rüstungswettlauf, den wir nur gewinnen können.

                      Das ist eine Logik, die bestechend ist. Aber das ist normal bei Theorien, die ohne realpolitisches Fundament sind. Der Haken an der Sache, und das ist in der Spieltheorie immer der entscheidende Nachteil: Das Heft des Handelns liegt bei einem unberechenbaren Diktator, man macht sich von seinem Verhalten abhängig und gründet alle Hoffnungen auf Spekulationen. Und diese gehen schon dann nicht auf, wenn es Lukaschenko gelänge, die Belarus-Linie zu einem Trampelpfad für internationale Schleuser auszubauen. Flüchtlingszahlen auf niedrigem dreistelligen Niveau reichen, um Europa anzuzünden. In Frankreich stehen in wenigen Monaten Präsidentschaftswahlen an. Die Katastrophe für die EU wäre perfekt, würde eine neue Flüchtlingswelle die Rechtspopulistin Marine Le Pen in den Elysee befördern.

                    • Stefan Sasse 17. November 2021, 07:50

                      Es geht mir nicht um Griechenland, sondern ganz spezifisch die aktuelle Situation an der Grenze zu Belarus.

                      Wenn die Ukraine die aufnimmt spricht nichts gegen die „Verbringung“, aber das letzte Mal als ich das nachgeprüft habe war die Ukraine ein souveräner Staat, in den wir nichts verbringen können ohne dass sie zustimmt.

                      Genau da setzt der realpolitische Aspekt ein. Wir können ziemlich gut verhindern, dass Lukaschenko das macht (anders als etwa bei Erdogan). Deswgeen bietet es sich hier an, den Kampf zu suchen. Man kann ihn gewinnen.

                    • Stefan Pietsch 17. November 2021, 10:26

                      Du brauchst das Big Picture. Singuläre dramatische Ereignisse haben wir dauernd.

                      Der Berater der Bundesregierung Knaus schlägt bilaterale Abkommen mit solchen Staaten vor, die die Menschenrechte achten, aber nicht die wirtschaftliche Anziehungskraft der EU und insbesondere der Bundesrepublik besitzen. Die Ukraine hat in den vergangenen 10 Jahren einen Teil seiner Bevölkerung an den Westen und an Russland abgeben.

                      Eine solche Ansiedlungspolitik würde keinen Anreiz auf andere aussenden, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die Menschen kommen in Sicherheit, bekommen aber nicht das, was sie wollen.

                    • Stefan Sasse 17. November 2021, 12:26

                      Wie gesagt, von mir aus kein Problem, falls die Ukraine da mitmacht. Aber diese Sichtweise scheint mir reichlich neokolonial geprägt zu sein.

                    • Erwin Gabriel 17. November 2021, 12:41

                      @ Stefan Sasse 17. November 2021, 12:26

                      Aber diese Sichtweise scheint mir reichlich neokolonial geprägt zu sein.

                      Wie nennst Du die Sichtweise, die Leute in die EU zu lassen und sie dorthin zu lassen, wohin sie wollen (=Deutschland)?

                    • Stefan Sasse 17. November 2021, 14:17

                      Nein, die Sichtweise, man könne quasi Siedlungsgebiete auf dem Gebiet anderer Staaten schaffen.

            • CitizenK 16. November 2021, 10:00

              2) Leicht gesagt, wenn man die Konsequenzen dieses hehren Grundsatzes nicht selbst tragen muss.

              • Stefan Pietsch 16. November 2021, 10:48

                Wieder so eine sybellinische Ausdrucksweise. Politisch Interessierte wie hier im Blog formulieren sehr oft Forderungen, deren Konsequenzen sie nicht tragen müssen. So kann man leichthins meinen Milliardäre gehörten nicht zur Demokratie oder der Soli müsse bleiben, wenn man ihn selbst gar nicht zahlen muss.

                Mein Berufsleben besteht daraus, schwierige Entscheidungen treffen und sie sogar umsetzen zu müssen. Konsequenzen verantworten und tragen zu müssen.

                Gewendet auf die Flüchtlinge zwischen Belarus und Polen: Sie haben sich von einem schrecklichen Diktator anlocken lassen, um mit dessen Hilfe von schlechten oder sehr schlechten Lebensbedingungen auf Best Case zu kommen. Das kann funktionieren (zu hohen Kosten), muss es aber nicht. Das Schlimmste, was ihnen passiert, ist, dass sie auf schlechte bzw. sehr schlechte Lebensbedingungen zurückgeworfen werden. Das ist die Konsequenz.

                • CitizenK 16. November 2021, 14:32

                  Alles richtig.
                  Im konkreten Fall hat Thorsten Haupts weiter oben den Ausweg aus dem Dilemma gezeigt: Die vergleichsweise wenigen Menschen dort vor dem Erfrieren retten – und gleichzeitig dafür sorgen, dass L. das nicht auf Dauer stellen kann.

  • Thorsten Haupts 15. November 2021, 14:41

    Ich teile zwar im Prinzip die Kritik, die Stefan P. bereits formuliert hat, bin aber im konkreten Fall nicht bereit, eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen OHNE weiteren Nachschub (den man Belarus abschnieden kann) dem Prinzip zu opfern.

    Ich weise allerdings zusätzlich darauf hin, dass nach einem Bericht eines ehemaligen belarussischen Botschafters ein Teil der männlichen Flüchtlinge irakische oder afghanische Kriegsveteranen sein könnten – und die würde ich jederzeit in den weissrussischen Sümpfen lassen, sollte sich das bestätigen.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 15. November 2021, 17:16

      bin aber im konkreten Fall nicht bereit, eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen OHNE weiteren Nachschub (den man Belarus abschnieden kann) dem Prinzip zu opfern.

      Häh? 😀

      Mit „Kriegsveteranen“ habe ich kein Problem, sofern sie der regulären Armee angehörten. Ehemalige Taliban oder IS-Leute, klar, in den Knast im Zweifel.

      • Thorsten Haupts 15. November 2021, 17:36

        Dem Häh folgend – wenn man das mit einer unbgrenzten Zahl von Menschen unbegrenzte Zeit fortgesetzt werden könnte, wäre ich strikt dagegen, die Menschen an der Grenze als Präzedenzfall jetzt aufzunehmen.

        Und ich hätte auch mit „regulären“ Kriegsveteranen aus der muslimischen Welt ein Riesenproblem – es gibt dort keine regulären Armeen mit professionellen Soldaten!

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Erwin Gabriel 15. November 2021, 20:05

          @ Thorsten Haupts 15. November 2021, 17:36

          Und ich hätte auch mit „regulären“ Kriegsveteranen aus der muslimischen Welt ein Riesenproblem – es gibt dort keine regulären Armeen mit professionellen Soldaten!

          Zustimmung. Die Kämpfer der afghanischen Armee sind weitgehend zu den Taliban gewechselt, in Syrien liefen oft genug zum IS über etc.

        • Stefan Sasse 15. November 2021, 22:09

          Kann es ja aber eben nicht.

          Ok, point taken.

  • Kning4711 15. November 2021, 20:35

    Das eigentliche Drama ist doch, dass die EU nichts substanzielles unternimmt die Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Mali Mission steht auf sehr wackeligen Beinen, Kein Zuwanderungskonzept, kein wirtschaftliches oder sicherheitspolitisches Stabilisierungskonzept – wir sind da ziemlich blank. Im Mahgreb und in der Sahelzone brauen sich die nächsten Katastrophen zusammen und die Menschen werden nach Europa drängen. Spätestens in Sommer 2022 werden erneut tote Kinder an unsere Küsten gespült und keiner will es gewesen sein.

    Aber frist things first. Lukaschenko ist in dem Spiel ein vergleichsweise einfacher Gegner. Mit Hilfe wirtschaftlicher Sanktionen kann die EU den Autokraten zur Räson bringen – bei Putin sieht es schon anders aus: seine Einflussmöglichkeiten sind durchaus größer und gegen ihn wäre die wichtigste Währung Einigkeit – die EU aber ist Ihrer Handlungsunfähigkeit zunehmend beraubt und zerfällt zunehmend in Interessensblöcke – nicht auszuschliessen, dass sogar 2022 ein Infarkt droht, sollte Le Pen die Präsidentschaftswahl gewinnen.
    Neben den Sanktionen sollte die EU aber auch die Herrschaft des Rechts demonstrieren: Entsprechende Beamte und Übersetzer an die Grenze zu Polen und die Asylverfahren durchführen. Dann können wir die Zahl derjenigen die wir auf die EU aufteilen müssten weiter reduzieren. Der Rest wird zurückgebracht. Wir können die Menschen nicht in den Weissrussischen Urwäldern jämmerlich erfrieren lassen. Wenn Polen nicht mitmachen will, dann ist das eben so, aber dann sollten wir ernsthaft über den Polexit debattieren.

    • Stefan Sasse 15. November 2021, 22:10

      Das ist der Punkt: wir können mit Belarus ein einfaches Exempel statuieren, das uns wenig kostet.

    • Erwin Gabriel 16. November 2021, 11:16

      @ Kning4711 15. November 2021, 20:35

      Das eigentliche Drama ist doch, dass die EU nichts substanzielles unternimmt die Fluchtursachen zu bekämpfen.

      All unser Handeln an Konsequenz. Wir Deutschen wollen stets eine bestimmte Situation verbessern, sind aber nicht bereit, den entsprechenden Preis dafür zu zahlen.

      Und Deutschlands Ansatz ist stets groß. Statt zu versuchen, unsere Energieversorgung erst einmal solide auf die Reihe zu kriegen, gleich der große Wurf, alles zu verbieten, was bei drei auf den Bäumen ist; der Anspruch war, der Welt zu zeigen, wie es richtig geht, und dann dauert einGenehmigungsverfahren für ein neues Windrad drei Jahre.

      Wir sind nicht in der Lage, bezahlbaren Wohnraum für die in Deutschland lebende Bevölkerung zu schaffen, aber ein großer Teil der Bevölkerung plädiert für offene Grenzen. Wir (84 Mio. Einwohner) wollen Afrika (1.216 Mio. Bewohner) retten, schaffen aber als Hightech-Land nicht einmal den pünktlichen Bahnverkehr, geschweige denn wirkliche Herausforderungen wie den Klimawandel.

      Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei uns so weit auseinander, dass man praktisch nie einen Ansatz finden kann, der beidem gerecht wird.

    • Stefan Pietsch 16. November 2021, 11:34

      Das eigentliche Drama ist doch, dass die EU nichts substanzielles unternimmt die Fluchtursachen zu bekämpfen.

      Das ist der eigentliche Punkt. Seit wir politisch denken können, haben wir uns angewöhnt, bei den Problemen dieser Welt den Satz hinzuknallen. Er erfüllt alle Aspekte der Feel-Good-Fraktion: Alles ließe sich lösen, wenn wir endlich etwas oder noch besser: das Richtige tun würden. Dieser Satz setzt gar nicht voraus, dass ein anderer etwas tun muss, das wird einfach als gegeben angenommen.

      Da kommt man gar nicht auf die Idee, dass die Annahme falsch sein könnte, wenn das Ergebnis so unbefriedigend ist. Als sie immer erfolgloser wurden, verdoppelten sie ihre Anstrengungen. Es sind natürlich absolut liebe, naive Menschen, die da in Drittwelt-Ländern von uns ausgebeutet werden. Nette Diktatoren, die aus Gründen der gesellschaftlichen Hygiene ein paar Kerker mit liebenswürdigen Schlächtern unterhalten.

      Zunehmend lassen die Entwicklungsländer die Maske bei den jährlichen Klimaschutzverhandlungen fallen: Wir wollen Geld, viel Geld. Der Automat muss gefüttert werden und die Willigkeit der Industrieländer wird angefüttert durch die „Klimaschulden“, welche die Reichen bei den Armen hätten. Über die Verteilung der erpressten Gelder entscheiden die Autokraten und Diktatoren dann schon selbst.

      Jahrzehnte und die Billiongrenze sprengende Entwicklungshilfezahlungen sowie Schuldenverzichte haben viele Entwicklungsländer, die zufällig die „Fluchtursachen“ sind, nicht entwickelt. Aber vielleicht sollten wir einfach mal „Fluchtursachen“ bekämpfen.

    • Thorsten Haupts 16. November 2021, 13:21

      Das eigentliche Drama ist doch, dass die EU nichts substanzielles unternimmt die Fluchtursachen zu bekämpfen.

      Erstens – warum ist das Aufgabe der EU? Dafür sehe ich keine, zero, nada, Grundlagen. Keine nationale Regierung wurde dafür gewählt, Fluchtursachen irgendwo anders zu bekämpfen.

      Zweitens ist das eine in den Konsequenzen schon fast mörderische Illusion – ginge es Entwicklungsländern schnell besser, hätten wir erst einmal deutlich mehr, nicht weniger, Migranten! Es verlassen ihre Länder nämlich nicht die, die täglich ums Überleben kämpfen.

      Drittens immer her mit dem bisher noch nicht praxiserprobten Konzept, Fluchtursachen zu bekämpfen. Das kann die EU nämlich gar nicht, selbst wenn sie das wollen würde (für das letzte zurück auf erstens).

      Das ist einer der wenigen Allgemeinplätze, die mich ob ihrer schieren Inhaltslosigkeit schon lange tatsächlich aufregen – besser kann man die Mischung aus Selbstbetrug, Illusion, vorsätzlicher Lüge und Realitätsferne nicht beschreiben, die zunehmend leider nicht nur die Medienkommentare, sondern die Aussenpolitik westlicher Staaten bestimmt.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

    • Kning4711 16. November 2021, 14:52

      Ich antworte mal auf diversen Punkte, ich denke wir sind gar nicht soweit auseinander:

      [i]All unser Handeln an Konsequenz. Wir Deutschen wollen stets eine bestimmte Situation verbessern, sind aber nicht bereit, den entsprechenden Preis dafür zu zahlen. [/i]
      Was genau ist der Preis? Ich kann doch nicht auf der einen Seite die Charta des Europarats in Sachen Menschenrechte, die UN Flüchtlingskonvention, Artikel 1 GG hochhalten, aber dann politisch zulassen, dass Menschen bei der Flucht jämmerlich ersaufen oder erfrieren. Eine ungesteuerte Zuwanderung ist auch nicht die Lösung und würde den inneren Frieden unserer Gesellschaften völlig kollabieren lassen. Aber warum schafft es die EU keine geregelten schnellen Verfahren für diejenigen zu etablieren, die zu uns einreisen wollen? Eventuell müssen wir uns sogar sicherheitspolitisch bzw. grenzpolizeilich stärker engagieren und die Verantwortung mit Italienern, Polen oder Griechen gemeinsam tragen.

      [i]Zunehmend lassen die Entwicklungsländer die Maske bei den jährlichen Klimaschutzverhandlungen fallen: Wir wollen Geld, viel Geld. Der Automat muss gefüttert werden und die Willigkeit der Industrieländer wird angefüttert durch die „Klimaschulden“, welche die Reichen bei den Armen hätten. Über die Verteilung der erpressten Gelder entscheiden die Autokraten und Diktatoren dann schon selbst. [/i] Valider Punkt – zum einen ist die Entwicklungshilfe viel zu lange ungesteuert in dubiose Kanäle geflossen, man hat nicht genau hingeschaut. Gleichsam war die Zielsetzung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eher an kurzfristigen wirtschaftspolitischen Interessen orientiert und eben nicht an dem Thema die Lebensgrundlagen in diesen Ländern nachhaltig zu stabilisieren. Fairerweise muss man sagen, dass der erhebliche Raubbau an der Natur und Menschen in diesen Ländern ohne die reichen Industrieländer nicht in dem Maße vollzogen würde. Arbeitssicherheitsstandards sind kein Luxus, sondern ein kodifizierte Menschenrechte. Insofern kann ich verstehen, dass die Mitwirkungsmotiviation dieser Länder gepaart mit erheblichen Problemen der Good Governance, begrenzt ist. Auch hier gäbe es bessere und kreativere Ansätze. Und ja, es braucht auch hier Engagement – notfalls auch mit sehr robusten Mitteln.

      [i] Zweitens ist das eine in den Konsequenzen schon fast mörderische Illusion – ginge es Entwicklungsländern schnell besser, hätten wir erst einmal deutlich mehr, nicht weniger, Migranten! Es verlassen ihre Länder nämlich nicht die, die täglich ums Überleben kämpfen. [/i] Touche – Menschen verlassen Ihre Heimat in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Wenn wir Vorort bessere Perspektiven schüfen, würden nach wie vor Menschen kommen, viele aber auch bleiben. Die Menschen wägen ab – wird es langfristig besser oder schlechter. Die Prognosen für Afrika, wie auch die Levante sind beunruhigend. Auch hier bräuchte es bessere, intensivere und letzten endes auch konsequentere verzahnte Ansätze aus Entwicklungszusammenarbeit, Umweltschutz und Sicherheitspolitik.
      Warum die EU es tun sollte? Schon im Eigeninteresse, ansonsten werden diese Millionen sich irgendwann (so in 40 bis 50 Jahren spätestens) auf den Weg nach Europa machen. Eine Völkerwanderungsbewegung der wir nicht entgegensetzen können.

      • Stefan Pietsch 16. November 2021, 23:06

        Ich kann doch nicht auf der einen Seite die Charta des Europarats in Sachen Menschenrechte, die UN Flüchtlingskonvention, Artikel 1 GG hochhalten, aber dann politisch zulassen, dass Menschen bei der Flucht jämmerlich ersaufen oder erfrieren.

        Provokant gefragt: Was können wir, zweieinhalb Tausend Kilometer vom Mittelmeer entfernt ändern, wenn Menschen in Libyen in Boote steigen, die kaum seetauglich sind in der Absicht, damit ein paar hundert Seemeilen zu überwinden? Ich kann niemanden davon abhalten, sich morgen vor einen Zug zu werfen. Solche Schicksale schaffen es aus guten Gründen nicht einmal in die regionalen Nachrichten, ihr Tun wird mit „Personen im Gleis“ abgetan.

        Aber warum schafft es die EU keine geregelten schnellen Verfahren für diejenigen zu etablieren, die zu uns einreisen wollen?

        Aus zwei Gründen: die EU besteht aus 27 Staaten. Schon in Deutschland schaffen wir keine einheitliche Position. Kaum ein Flüchtling will auch nach Lettland (saukalt), nach Griechenland (warm, aber arm mit löchrigem sozialen Netz), Rumänien (wo ist da der Vorteil?) oder Belgien (wo liegt das?). Aufgrund der Freizügigkeitsregeln in der EU, an denen nun wirklich niemand rütteln will, kann es anerkannten Asylbewerbern auch nicht verwehrt werden, sich frei zwischen den Ländern zu bewegen. Die Alternative liegt in neuen Grenzzäunen.

        Valider Punkt – zum einen ist die Entwicklungshilfe viel zu lange ungesteuert in dubiose Kanäle geflossen, man hat nicht genau hingeschaut. Gleichsam war die Zielsetzung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eher an kurzfristigen wirtschaftspolitischen Interessen orientiert und eben nicht an dem Thema die Lebensgrundlagen in diesen Ländern nachhaltig zu stabilisieren.

        Nein. In den Jahrzehnten, die ich Politik interessiert verfolge, hat man auch in der Entwicklungspolitik eine Reihe von Pfaden ausprobiert. Doch der Erfolg hängt entscheidend von der Bereitschaft vor Ort ab, sich auf Konzepte einzulassen und nicht nur die finanziellen Mittel abzugreifen. Doch die Entwicklungshilfe des Westens ist zu oft nach gutem Willen und Moral organisiert.

        Fairerweise muss man sagen, dass der erhebliche Raubbau an der Natur und Menschen in diesen Ländern ohne die reichen Industrieländer nicht in dem Maße vollzogen würde.

        Oh bitte. Entwicklung beginnt immer mit Raubbau an Natur und Menschen. Weil nichts anderes da ist. Kein Kapital, kein Know-how, keine hochentwickelten Experten. Dieses zu verdammen bedeutet, Entwicklungsländern Aufstieg zu verwehren.

        Wenn wir Vorort bessere Perspektiven schüfen, (..).

        An dieser Stelle reden wir hoffentlich noch von einer Welt souveräner Staaten. Ich erwähne das nur, weil mir hier Zweifel kommen. Weder Deutschland noch die USA haben irgendwelche Möglichkeiten, vor Ort mit staatlichen Mitteln aktiv zu werden. Übrigens haben Generationen von Linken schon die Entwicklungspolitik als solches und die Hilfe mit Know-how als Neu-Kolonialismus verdammt.

      • Erwin Gabriel 17. November 2021, 13:22

        @ Kning4711 16. November 2021, 14:52

        Was genau ist der Preis?

        Das ist eine Frage, die mich irritiert. Lassen wir mal das reine Geld beiseite, das uns das kostet, aber den Rest hatte ich schon mehrfach ausgeführt.

        • Spaltung der EU: Polen und Ungarn nahmen die Flüchtlingskrise als Anlass, einen scharfen Rechtsknick hinzulegen. Mag sein, dass die dortigen Parteien das vorher auch probiert hätten, aber auch fraglich, ob es ohne Flüchtlingskrise so „reibungslos“ geklappt hätte. Großbritannien hat die Flüchtlingskrise zum Anlass genommen, aus der EU auszutreten. Das Verhältnis zwischen Deutschland und anderen Staaten hat sich verschlechtert.
        • Spaltung unserer deutschen Gesellschaft: Die Parteienlandschaft im Sinne von Einfluss / Wahlergebnissen vor und nach der Flüchtlingskrise ist eine vollkommen andere; vorher spielte die AfD keine Rolle.
        • Als Folge der Flüchtlingskrise hat sich der politische und persönliche Umgangston zwischen Andersmeinenden deutlich verschlechtert. Das halte ich für eine extrem gefährliche, gewaltfördernde Entwicklung.
        • Bereits vorhandene Krisen bzw. negative Entwicklungen wurden verschärft. Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder Sozialwohnungen, Kita-Plätzen oder auch an den Tafeln findet in erster Linie zwischen Flüchtlingen und den unteren Schichten statt. Das Bildungsniveau in den Schulen sinkt aufgrund mangelhafter Sprachkenntnisse der Neubürger. Der Anteil der Corona-Intensiv-Patienten ist unter Flüchtlingen deutlich größer.
        • Die Regel, dass hier deutsche Gesetze und Prioritäten gelten, wird nicht durchgängig akzeptiert. Die Gewalt (nicht jede Form von Gewalt, aber gegen Frauen oder Juden) hat zugenommen. Abschieberegeln können nicht umgesetzt werden. Rechtsstaatliche Institutionen (etwa Polizei, Justiz) sind hoffnungslos überfordert.
        Ich habe das hier kurz gehalten, aber ich hoffe, die Richtung wird klar.

        Eine ungesteuerte Zuwanderung ist auch nicht die Lösung und würde den inneren Frieden unserer Gesellschaften völlig kollabieren lassen. Aber warum schafft es die EU keine geregelten schnellen Verfahren für diejenigen zu etablieren, die zu uns einreisen wollen?

        Ein geregeltes Verfahren für die, die zu uns wollen, läuft auf ungesteuerte Zuwanderung hinaus.

        Eventuell müssen wir uns sogar sicherheitspolitisch bzw. grenzpolizeilich stärker engagieren und die Verantwortung mit Italienern, Polen oder Griechen gemeinsam tragen.

        Eventuell? Es gibt doch schon europäische Grenzschutztruppen. Und was die Aufnahme der Geflüchteten angeht – das ist eine europäische Aufgabe, keine deutsche. Ist die EU nicht in der Lage, Flüchtlinge aufzunehmen (und zu verteilen!), ist es Deutschland auch nicht.

        Menschen verlassen Ihre Heimat in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Wenn wir Vorort bessere Perspektiven schüfen, würden nach wie vor Menschen kommen, viele aber auch bleiben. Die Menschen wägen ab – wird es langfristig besser oder schlechter.

        Falsche Sicht. Die Wahl, die Du beschreibst, ist die zwischen der Taube in der Hand oder dem Spatz auf dem Dach – die Entscheidung wird immer zugunsten der Taube fallen. Und wenn z.B. Afrika in den nächsten Jahrzehnten um mehrere Hundert Millionen Menschen wachsen wird (aktuell 1.2 Mrd., für 2050 1,5 Mrd. Menschen prognostiziert), sich die Lebensbedingungen allein dadurch rapide verschlechtern (es reicht ja jetzt schon vorne und hinten nicht), und wir nicht einmal den Status quo aufrecht erhalten können, dann bringt uns das Prinzip Hoffnung nicht weit.

  • cimourdain 16. November 2021, 13:02

    Gut, dass du klar machst, wie hier Menschen zum Spielball politischer Interessen gemacht werden. Leider verkennst du an mehreren Punkten die Motivation der Akteure:
    1. Die Flüchtlinge selbst: Wollen in die EU; Belarus ist definitiv kein sicheres Land für Migranten. Da ist wenig Zwang nötig, sie in Richtung polnischer Grenze zu bewegen.
    2. Wladimir Putin. Wenn ihm an so einem Stunt etwas liegen würde, könnte er es selber mit einem Vielfachen der Kapazität durchführen. Russland hat zu fünf EU Staaten (auch Polen) Landgrenzen.
    3. Lukaschenko: Da ist Herr Pietsch auf der richtigen Spur: Die EU benötigt an den Außengrenzen Türsteher. Und da stört ein Autokrat nicht. Darauf und auf nichts anderes weist er hin.
    4. Allerdings will er – anders als etwa Erdogan oder Dbeiba gar keine direkten Geldmittel, sondern die Aufhebung der (schon seit 2020 bestehenden) Wirtschaftssanktionen, die nicht nur Rüstungsgüter und Kontensperrungen betreffen , sondern vor allem die Exporte massiv beschneiden. [Warum spricht in diesem Zusammenhang eigentlich keiner von Erpressung?]
    5. die Kern-EU : will auf keinen Fall irgendwelche Ausnahmen von Dublin III zulassen. Wenn Polen krisenbedingt Flüchtlinge ‚weiterreichen‘ darf, dann werden das früher oder später Italien, Spanien und Griechenland auch tun.
    6. Polen: tritt jetzt maximal aggressiv auf, um einen Frontex Einsatz und langfristig eine Grenzmauer nach Osten zu bekommen. Mauern zwischen reicheren und ärmeren Ländern sind im Trend.
    Ceterum censeo: Man muss immer wieder darauf hinweisen, dass auch europäische Staaten in den letzten 30 Jahren an der Destabilisierung der MENA-Region beteiligt waren. Deshalb ist es eigentlich ganz gerecht, dass genau Polen, dass sich an allen Bush-Kriegen komplett beteiligt hat, jetzt auf diesem Umweg ein wenig von den Folgen mitbekommt.

    • Erwin Gabriel 17. November 2021, 13:29

      @ cimourdain 16. November 2021, 13:02

      5. die Kern-EU : will auf keinen Fall irgendwelche Ausnahmen von Dublin III zulassen. Wenn Polen krisenbedingt Flüchtlinge ‚weiterreichen‘ darf, dann werden das früher oder später Italien, Spanien und Griechenland auch tun.

      Ja. Einmal mehr „wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass“.
      Es gibt ein europäisches Asylrecht, also wird Asyl für die EU, nicht aber für Italien oder Spanien beantragt. Die Verteilung sollte querbeet erfolgen, weder nur in die Länder mit Außengrenze noch in die Länder mit dem höchsten Sozialsystem.

      Großer Fehler von Frau Merkel, damals darauf gepocht zu haben.

      Deshalb ist es eigentlich ganz gerecht, dass genau Polen, dass sich an allen Bush-Kriegen komplett beteiligt hat, jetzt auf diesem Umweg ein wenig von den Folgen mitbekommt.

      Es gibt keine Gerechtigkeit. Genauso könnte man behaupten, dass Polen die USA im krieg gegen den Terror unterstützt hätten, und nun müssten andere einspringen. Alles eine Frage des Standpunkts, nichts davon zielführend.

  • Thorsten Haupts 16. November 2021, 13:12

    Deshalb ist es eigentlich ganz gerecht, dass genau Polen, dass sich an allen Bush-Kriegen komplett beteiligt hat, jetzt auf diesem Umweg ein wenig von den Folgen mitbekommt. …

    Das ist IMHO ein reichlich kindischer, jedenfalls völlig unpolitischer Ansatz. Mal völlig abgesehen davon, ob seine Voraussetzungen überhaupt stimmen.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • cimourdain 17. November 2021, 09:30

      „Das ist IMHO ein reichlich kindischer, jedenfalls völlig unpolitischer Ansatz.“ Gebe ich Ihnen Recht, da hätte es einen Sarkasmus-Marker gebraucht.

      „Mal völlig abgesehen davon, ob seine Voraussetzungen überhaupt stimmen.“ stimmen für den Mittleren-Osten, im Sudan (1998) war Polen nicht beteiligt. Dafür hatte das Land schon im zweiten Golfkrieg (90/91) Truppen (nur 200, aber muss als symbolische Beteiligung gewertet werden) entsandt.

  • Stefan Sasse 16. November 2021, 18:46

    Das Kominform hat sich auch zu Wort gemeldet:
    https://twitter.com/BerlinerNotizen/status/1460651433976639497

    • cimourdain 17. November 2021, 09:33

      „Kominform“: Willkommen im unangebrachte-historische-Vergleiche (gerne auch mit Diktaturbezug) Club 😉

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