Verfassungsrichter*innen betreiben am Goldenen Kreuz Identitätspolitik und schauen den Zapfenstreich an – Vermischtes 14.10.2021

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Wenn einen nichts mehr wundert

Und diese reichen, verwöhnten kleinen Jungs, die in der Schülerunion aufgewachsen sind, wo man bekanntlich schon Punkte fürs Schmusen und Pempan mit Funktionären sammeln konnte; genau diese unqualifizierten Dilettanten, die mal Finanzminister, dann wieder Kulturminister oder Außenminister sind, als würden sie Praktikumsstellen durchprobieren, als hätte das, was sie tun, keine realen Konsequenzen; die mit fremdem Geld um sich werfen, als wären es Sektkorken im Motto am Fluss – genau diese Menschen also haben die Unverfrorenheit, zu sagen, dass „Solidarität keine Einbahnstraße“ sein darf, dass „Hilfe nach Möglichkeit stets ‚Hilfe zur Selbsthilfe'“ sein soll, dass man „Hilfe vor Ort“ leisten müsse, dass sich „2015 nicht wiederholen“ dürfe. 2015, der einzige Moment, in dem Europa einmal für einen Wimpernschlag so etwas wie kollektive Mitmenschlichkeit gezeigt hat: Das darf sich auf keinen Fall wiederholen! Sebastian Kurz hat die Dreistigkeit, zu sagen, dass jeder, der „gesund ist und arbeiten kann, auch arbeiten gehen muss“. Sebastian Kurz, der von Steuergeldern lebt, der dem Staat seit seiner Jugend auf der Tasche liegt, der nicht einmal sich selbst aus der sozialen Hängematte holen kann, der im Bezug auf ertrinkende Flüchtlinge gesagt hat „es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“ – dieser Mensch, der nicht nur seine Haare in Schwankungsbreite frisiert, wagt es, zu behaupten, sein Land sei ihm wichtiger als seine Person. (Elias Hirschl, ZEIT)

Dass unangenehme Leute unangenehme Politik machen, überrascht vermutlich nicht. Wer den Staat als Selbstbedienungsladen sieht, wird ihn auch so führen. Aber ich mag das Narrativ vom „Staat auf der Tasche liegen“ nicht. Ich bin sicher kein Kurz-Fan, aber der Mann hat seinem Land gedient (auch wenn man über die Bewertung dieses Dienstes streiten kann!). Er war im Parlament, wer war Minister, er war Bundeskanzler. Das ist nicht „dem Staat auf der Tasche liegen“ oder „von Steuergeldern leben“. Der Mann hat gearbeitet, und sicher auch hart gearbeitet, und wurde dafür bezahlt. Ich habe null Geduld für diese Politikverachtung. Die Leute machen das nicht als Hobby, das ist ihr Beruf.

2) Zu alt im Kopf?

Und der eigenartige Widerspruch zwischen Größe und Ergebnis ist bei der JU ja tatsächlich erstaunlich. Die Junge Union bezeichnet sich als größte politische Jugendorganisation Europas. Sie hat fast 100 000 Mitglieder – und damit deutlich mehr als die ganze FDP. Besonders attraktiv für Jungwähler scheint sie trotzdem nicht zu sein. Das hat vermutlich auch mit Vertretern wie Philipp Amthor zu tun. Amthor ist erst 28 Jahre alt, hat aber schon die ersten Affären hinter sich. Er hat sich trotzdem wieder in den JU-Vorstand wählen lassen – ausgerechnet als Schatzmeister. Und bei der Bundestagswahl war er trotzdem Spitzenkandidat der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Die Christdemokraten haben in dem Land dann mehr als 15 Prozentpunkte eingebüßt und damit noch viel schlechter abgeschnitten als im Bund. Amthor hat auch seinen Direktwahlkreis verloren, er landete sogar nur noch auf Platz drei. Doch all das scheint ihn nicht nachdenklich zu machen. Er gibt seiner Partei weiterhin beinahe täglich Ratschläge. Denn es gibt ja viele vom Schlage Amthors. Zum Beispiel den Hamburger Parteichef Christoph Ploß. Der Mann ist 36 Jahre alt. Mit ihm als Spitzenkandidat hat der CDU-Landesverband ein katastrophales Ergebnis eingefahren. Aber Ploß tourt trotzdem durch die deutschen Fernsehkanäle und fordert eine konservativere und wirtschaftsliberale CDU. (Boris Herrmann/Robert Roßmann, SZ)

Es ist ein typisches Phänomen aller Parteien – und vermutlich Organisationen generell – dass Misserfolg den eigenen Einfluss eher stärkt als schwächt. Eines der prominentesten Beispiele ist bekanntlich das Labour-Wahlprogramm von 1983, das angesichts ihrer Unbeliebtheit ein Programm mit den unpopulärsten Maßnahmen aufstellte. Diese Gefahr ist natürlich auch für die Union real.

Ich würde aber generell davor warnen, wie im Artikel geschehen den Kontrast zu den Jusos überzubewerten. Jugendorganisationen von Parteien, ob CDU, ob Grün, ob AfD, ob FDP, sind nie repräsentativ für junge Menschen, genausowenig wie es die oberen Ränge der Partei sind. Olaf Scholz‘ Werdegang ist genauso wenig typisch für Deutschland wie der von Wolfgang Schäuble; etwas, das beide mit den CEOs der großen Konzerne gemeinsam haben. Warum sollte das in den Jugendorganisationen anders sein? Wer sich dort engagiert, will üblicherweise eine politische Karriere machen. Allein dieser Wunsch setzt ihn oder sie von 99% der Altersgenoss*innen ab, Minimum. Das kann nicht überraschen.

3) Chartbook #44: The Cross of Gold – populism, democratic iterations and the politics of money

Then there is the meta question. Set against the backdrop of recent history the fact that we are debating monetary policy at all can seem shocking. In the era of the 1980s and 1990s, insulating monetary policy from democracy was a key priority. The point, Rudiger Dornbusch, the influential MIT macroeconomist, liked to insist, was to put an end to “democratic money”. But for money to be unpolitical, is not the natural order of things. It is the effect of a particular politics, a metapolitics of depoliticization. As Stefan Eich shows us in his forthcoming book, the Currency of Politics, the argument over the politics of money goes back to the ancients. The question should not be – “political money, or not?”. “Democratic money, or not?” The question should be – What kind of politics of money? What kind of democratic money? […] The Fed in particular was a product of this balance of forces. The Wall Street lobby had its say, as did progressive technocratic ideas. But the Fed that emerged in 1913, as a public body with a governing board located in Washington DC rather than Wall Street, was viewed with deep suspicion by the financial lobby and denounced as product of meddling populist impulses. […] If the crisis of 2008 did one thing, it ended the illusion that money could be unpolitical. In the years since, central banking choices have been debated and open to public scrutiny. The level of popular engagement is nowhere near that described, perhaps wishfully by Bryan in 1896. But it is nonetheless novel. And, as the blog post by Jäger and Maggor attests, that process, again and again, recurs to the populist moment. (Adam Tooze, Chartbook)

Ich sehe diesen Artikel vor allem als Ergänzung zu unserer Geldpolitik-Diskussion im letzten Vermischten. Es ist ein völliger Irrtum zu glauben, dass Geldpolitik jemals „unpolitisch“ sein könnte. Das „unpolitische“ am Aufbau etwa von Bundesbank und der nach ihr modellierten EZB ist undemokratisch, nicht unpolitisch. Ich meine das übrigens hier wertneutral; die Idee ist durchaus liberal! Es ging ja immer – und das wurde offen erklärt – darum, die Geldpolitik dem politischen Aushandlungs- und Kompromissprozess, vor allem aber dem Druck der Demokratie zu entziehen.

Das schützt die Geldpolitik einerseits vor populistischem Druck oder spontanen Launen sowie „bad faith actors„, aber da die Hüter*innen der Geldpolitik gleichzeitig spätestens durch die neoliberale Wende der 1970er Jahre direkt mit den Interessen der reichen Elite verbandelt wurden, sorgt das gleichzeitig für eine gewaltige Schlagseite. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ursache dieses Wandels im Versagen der vorher etwas „demokratischeren“ Geldpolitik der 1960er und 1970er Jahre war (Stichwort Stagflation), aber das ändert wenig daran, wessen Interessen sie seit 40 Jahren dient.

4) Maybe Supreme Court Judges Really Are Driven by Politics

But it is hard to take them seriously when the reality is that their differing philosophies have obvious political consequences. Nowhere is this truer than whether the Court decides to uphold individual rights or instead defer to state restrictions. When a plaintiff challenges a state law as unconstitutional, the Court must decide whether the law actually infringes an individual right and whether the state has a good enough reason for doing so. If the right is deemed “fundamental,” then the state must satisfy a high bar to justify it. That’s because various parts of the U.S. Constitution (especially the Bill of Rights and other amendments) are designed to protect individual rights against government encroachment. But in case after case involving voting rights, abortion, and other hot button issues, the newly emboldened conservative majority has simply deferred to a state’s rules. That is, they have approved of laws that infringe individual liberties without requiring much justification from the state on why those laws are necessary given the specific circumstances. They have credited a state’s rules over fundamental rights. (Joshua Douglas, Washington Monthly)

Mir ist völlig unklar wie irgendjemand ergebnisoffen diskutieren kann, ob der SCOTUS politisch ist. Selbstverständlich ist er das. Und das betrifft, anders als es der Artikel insinuiert, nicht nur die rechtsradikalen Richter*innen, sondern auch die „Moderaten“ und natürlich die Liberalen genauso. Der SCOTUS ist im Kern politisch und parteiisch, und das frisst seine Legitimation. Seit 20 Jahren spreche die Konservativen offen über die Kontrolle durch die Ernennung politisch genehme Richter*innen und feiern das als große Leistung; wie soll das nicht politisch sein? Inzwischen sprechen die Progressiven offen von Court Packing und der Einführung von Amtszeiten. Ist das etwa irgendwie unpolitisch? Sind die Entscheidungen das irgendwie? Diese Lebenslügen sind einfach nur nervig.

5) How the GOP won at identity politics

After signing Paul Ryan’s deeply unpopular tax cut, and seeing his approval crater, the main domestic accomplishment of the latter part of President Trump’s term was bi-partisan COVID relief so large and generous that poverty actually fell during the pandemic even as unemployment skyrocketed. Since Biden’s election, Sen. Mitt Romney has been advertising his willingness to further expand the social safety net to enact a child welfare entitlement, while Senate Majority Leader Mitch McConnell allowed a trillion-dollar infrastructure bill that pours huge sums into rail, enacts vital environmental cleanup, and spends significant funds on grid upgrades and electric vehicles to pass the Senate with substantial Republican support. This is not the GOP the Freedom Caucus fought to create — and voters have undoubtedly noticed. It’s not that Republicans have gone soft, though. Rather, the GOP can be flexible on policy because its coalition is increasingly held together by identity rather than ideology. This is in part a consequence of educational polarization: Better-educated voters tend to be more ideological and therefore less flexible in their views, while less-educated voters have less-settled views on most policy matters. […] Given the landscape, it’s not hard to see an opportunity for Republicans not only to win, but to build a more durable majority. It’s an opportunity I fully expect them to fumble; a party united purely around opposition is not going to have the discipline to chart a path forward, and a party dedicated above all to dividing the country to conquer it can’t build a durable majority of any kind. Between widespread indulgence of paranoia and conspiracy-mongering and Trump’s own distinct pathologies, plus his ability to make himself the only legitimate topic of conversation, the GOP may well crash the car even if the road to victory is straight and clear. (Noah Millman, The Week)

Ich habe zu viele „durable majority„-Theorien gelesen und nicht passieren sehen, um diesen düsteren Prognosen allzu viel Raum zu geben. Gerade in einem Zwei-Parteien-System gilt das Gesetz von Aktion und Reaktion, und all diese Prognosen nehmen an, dass die Gegenseite statisch bleibt – was nie der Fall ist. Sie machen daher vor allem Sinn um zu beschreiben, wo Änderungen und Reaktionen bei der Gegenseite voraussichtlich auftreten.

Die Erwartung nach den Niederlagen von 2008 und 2012 war, dass die Republicans ihre Haltung zur Immigration ändern würden. Das ist, höflich ausgedrückt, so nicht passiert. Stattdessen änderten sie ihre Haltung zu Krieg und Sozialstaat, was a) wesentlich populärer war und b) neue Wählendenschichten erschloss. Das verlor ihnen zwar c) bisherige Stammwählende, was aber, d), wegen der verzerrten Verteilung der Repräsentation über das Land, das leere Fläche deutlich bevorzugt, nicht ins Gewicht fiel.

Die Democrats müssen eine Antwort darauf finden. Wie die aussehen wird – who knows? Aber sie werden eine finden. Irgendwann. Die Frage ist nur, wie lange das dauern wird.

6) Die Empörung kommt zu spät

{ 98 comments… add one }
  • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 09:28

    Zu 1):

    Ich kennen diese gepflegte Verachtung bereits seit der Studentenpolitik der späten achtziger/frühen neunziger. Gegegnüber dem Ring Christlich Demokratischer Studenten, von dessen Mitgliedern 95% weder eine politische Karriere anstrebten noch eine gemacht haben.

    Mich persönlich hat das eher amüsiert als aufgeregt, aber ich verfügte nach meiner Offizierzeit auch bereits über die rhetorisch-polemischen Mittel, darauf angemessen zu antworten. Ich weiss allerdings auch, dass die in diesem Artikel offen geäusserte Verachtung gegenüber allen Nicht-Linken in der politischen Linken (Ausnahme: Sozialdemokraten inklusive JuSos) weithin geteilt wird, Ergebnis von Beobachtungen. Sie frisst sich selten so offen wie in dem verlinkten Artikel an die Oberfläche – Erziehung und politische Opportunität – aber alle, die politisch rechts der Mittellinie stehen, sollten das wissen und immer im Hinterkopf haben. Elias Hirschl ist typisch für Linke und nicht etwa ein Ausreisser.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 10:34

      Als ob das umgekehrt anders wäre. Was habe ich an Hassreden und Hetze gegen FFF gelesen. Oder gegen die Jusos. Nichts Neues unter der Sonne. Parteigänger hassen die andere Partei. Big news.

      • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 11:11

        Was habe ich an Hassreden und Hetze gegen FFF gelesen. Oder gegen die Jusos.

        Ach was? Von christ- oder freidemokratischen Parteifunktionären oder Journalisten der „Qualitäts“medien in einem gedruckten/online veröffentlichten Artikel? Hätten´s da mal einen Beleg?

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 11:58

          NZZ, Cicero und Konsorten. Springerpresse.

          • Erwin Gabriel 15. Oktober 2021, 10:08

            @ Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 11:58

            NZZ…

            Für Hassrede und Hetze der NZZ hätte ich gerne einen Beleg

  • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 09:33

    Zu 9):

    Komme mir ein wenig verarscht vor. Die Linke braucht nicht explizit über „Gender“ zu sprechen, sie kommuniziert das über Sternchen-Sprache und die häufigen Versuche, Nicht-Gender-Freunde aus dem öffentlichen Raum auszuschliessen. Die von Anpalagen gepostete „Auswertung“ ist der Versuch der bewussten Irreführung.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 10:34

      Ja, eine Verschwörung, quasi. Aber du Fuchs hast es erkannt.

      • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 11:13

        Von Verschwörung war keine Rede. Nur von Irreführung, die sich daran festmacht, als Beleg für das Führen von Genderdebatten ausschliesslich den Gebrauch des Wortes „Gender“ zu untersuchen. Trotzdem netter Versuch :-).

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 11:58

          *Kusshand

          • Georg 14. Oktober 2021, 13:51

            Als wäre dem Gender-Stefan diese Täuschung nicht genau bewusst gewesen… 😉

    • bevanite 15. Oktober 2021, 17:20

      Ich hab irgendwo mal eine Statistik gesehen, nach der rauskam, dass Google-Suchen nach Gender-Sternchen am häufigsten Kommentare auf rechtsgerichteten Medien ausspucken – von Leuten, die das ironisch tun, um Linke lächerlich zu machen. Aber wie das immer so ist, wird Ironie irgendwann zur Gewohnheit. So wie Leute auch „ironisch“ Fernsehshows wie „Germany’s Next Topmodel“ schauen oder „ironisch“ schlimme Schlager gut finden…

      Demnach braucht man sich also nur entspannt zurücklehnen und den Lauf der Dinge abwarten.

  • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 09:36

    Zu 6):

    Ich bin im Prinzip völlig einverstanden. Wenn dieser Standard unterschiedslos auf Linke wie Rechte angewandt wird. Was ich aus guten Gründen bezweifle. Eigentlich sollten Äusserungen vor der Aufnahme der Berufstätigkeit bzw. vor dem 25. Lebensjahr off limits sein, denn vorher ist man nicht wirklich erwachsen. Das war übrigens ein unter alten Christdemokraten gelebter und praktizierter Standard, den ich selbst miterlebt habe.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 11:56

      Wie an anderer Stelle gesagt, diese Heuchelei ist uns Menschen inhärent. Doppelstandards. Umso wichtiger, uns gegenseitig ehrlich zu halten. Im Übrigen gilt der Standard auch, wenn er nicht unterschiedslos angewandt wird 😉

  • Marc 14. Oktober 2021, 11:38

    9) Mit Sabber vor dem Mund zu schreien: „Guck mal da, der geifernde Genderer!“ Ich verstehe nicht das Bedürfnis, sich so dermaßen lächerlich zu machen. Dem anderen Emotionalität vorzuwerfen, ist an sich kein Argument. Es aber selbst zu tun während man es vorwirft, ist nur noch aberwitzig.

    11) Ja, was die BILD hier raushaut ist völlig inkohärent. Aber Menschen sind generell inkohärent. Wir sind Menschen, keine wandelnden Philosophieseminare.

    Medien sollten bzw. wollen selbst aber professionell sein. Wenn sie nur das raushauen, was ein hochpromilliger Stammtischprolet absondert, dann braucht man das nicht. Wenn Journalismus nur aus False Balances und inkohärentes Geseiere besteht, dann kann das weg. Das ist übrigens auch meine Kritik am ÖRR. Wenn die Qualität zur Nische verkommt und überwiegend massenkompatibler Konsensquark verbreitet wird, muss man nicht dafür kämpfen.

    • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 11:59

      11) Diese Kritik teile ich, aber es gibt keine Möglichkeit, die Pressefreiheit zu behalten und das zu erzwingen.

  • derwaechter 14. Oktober 2021, 13:22

    9)“die Gender-Debatte ginge von den Linken aus und sei deren Kernthema“

    Das die Debatte von den Linken ausgeht ist doch unstreitig. Ohne die linke Forderung nach z.B. gendergerechter Sprache, gäbe es dieses Thema doch gar nicht. Gilt für andere Gender-Themen auch.

    Ob es ein Kernthema ist, weiß ich nicht, aber es ist auf jeden Fall sehr vielen Linken wichtig. So wie Dir ja offenbar auch. Es ist schließlich mindestens in den Top 10 der von Dir behandelten Themen

    Das die Konservativen und noch mehr die Rechtspopulistischen den Kampf dagegen als (scheinbar?) erfolgreichen Wahlkampfschlager für sich entdeckt haben ist auch unbestritten.

    Aber Methodisch ist das Zählen des Wortes Gendern ja wohl auch fragwürdig. Befürworter gendergerechter Sprache z.B. nutzen doch einfach Sternchen, BinnenI oder was auch immer. Und selbst wenn die das Thema explizit benennen, heisst es doch oft eher geschlechtergerechte Sprache.
    Genauso bei anderen Gender-Themen. Wer sich z.B. ein (she/her) hinter den Namen setzt bezieht doch auch klar Stellung, ohne das Wort Gendern auch nur einmal benutzt zu haben.

    • Georg 14. Oktober 2021, 13:54

      Man muss immer wieder betonen, dass nur eine kleine Minderheit am linken Rand gendert.

      Es ist nicht so, als würden alle gendern bis auf den rechten Rand, auch wenn die Genderer das gerne so darstellen. Sie sind die Minderheit, nicht die anderen.

      • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 14:19

        Ja, aber eine (kleine) Minderheit an den Schalthebeln ALLER kulturprägenden Institutionen. Medien, Schulen, Universitäten, leitende Behörden. Sie werden sich deshalb durchsetzen, da hat Sasse Recht, allerdings nicht, weil die grosse Mehrheit der Deutschen das iegendwie einsieht, sondern weil sie sich dem Druck beugt.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

      • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 14:28

        Mir wäre nicht auch nur eine Person bekannt, die das so darstellen würde. Es ist unzweifelhaft, dass das nur eine Minderheit macht.

        Noch.

      • Hias 14. Oktober 2021, 16:44

        Da muss ich widersprechen. In unserem Unternehmen (großer Mittelständer, Tochterunternehmen eines größeren Konzerns) ist das tatsächlich Thema und wird stellenweise auch gemacht.
        Meist versucht man das aber zu umgehen, spricht also von der Belegschaft statt den Mitarbeiter*innen.

        • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 18:54

          Jepp, ich sehe das auch in immer mehr Firmen. Nur ein Beispiel: die Allianz hat vor einem halben Jahr ihre Kommunikation auf gegendert umgestlelt.

    • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 14:16

      War exakt das, was ich mit meinem diesbezüglichen Beitrag ebenso ausführte.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • derwaechter 14. Oktober 2021, 14:51

        Hatte ich übersehen. Doppelt hält besser 🙂

  • Hias 14. Oktober 2021, 17:18

    zu 2.)
    Klar, Jugendorganisationen bilden die Jugend genauso realistisch ab wie Instagram-Bilder die Wirklichkeit. Aber eines fällt mE bei den führenden JUler (Amthor, Kuban, etc) schon auf: Die wirken alle 10-15 Jahre älter als sie tatsächlich sind.
    Aber bei dem Engagement muss ich Dir widersprechen, zumindest für die Jusos kann ich es sagen. Oft genug sind gewisse Punkte / Themen (z.B. Studiengebühren) ein Trigger um sich zu engagieren. Da geht es nicht zwangsläufig um eine politische Karriere. Auch wenn das wahrscheinlich zugegebenermaßen auch mit den vorhandenen Karriereoptionen der jeweilige Partei schwankt.

    zu 7.)
    Deinen Freund in allen Ehren, aber dieser Spin hätte sie doch völlig unglaubwürdig gemacht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie das hätte schaffen sollen ohne Kernanhänger zu verlieren, auch weil das Thema mit Klimawandel und Verkehrswende zwei Kernthemen konterkariert.
    Und haben die Grünen in BaWü das Thema Auto oder Autoindustrie irgendwie gepusht? Oder hat man im Wahlkampf groß vom Ausbau der öffentlichen gesprochen und ansonsten über die Autoindustrie geschwiegen?

    zu 10.)
    Ich stimme Dir bei allem zu und fand den großen Zapfenstreich auch absolut notwendig. Aber irgendwie sieht die Truppe dann in der grauen Uniform und insbesondere mit Stahlhelm aus wie das alte Preußen. Da fände ich es schon nicht verkehrt, wenn in Aussehen und oder Auftreten eher an andere Zeiten und wenn es die Befreiungskriege wären, erinnert.

    • Stefan Sasse 14. Oktober 2021, 18:57

      2) True.

      7) Seine Idee war nach dem Motto: „Wir haben überall Staus. Es geht nichts voran. Die Infrastruktur ist scheiße. Ich will nicht weiter im Stau stehen.“ Anstatt also zu sagen „Wir brauchen weniger autos“ zu sagen „wir müssen dafür sorgen dass die Leute wieder fahren können“. Ist letztlich eher Framing. Ich verstehe, worauf er damit raus wollte, und in BaWü sieht man ja dass das funktioniert.

      10) Da hat man halt auch verpasst einen „demokratischen Look“ zu etablieren.

      • Hias 15. Oktober 2021, 00:41

        7.) okay, jetzt verstehe ich worauf er hinaus wollte. Trotzdem, ich würde es den Grünen nicht empfehlen. In meinen Augen ist das Autofahren in D das, was Waffentragen in den USA ist. Und da kann man als Partei, die automatisch auf der anderen Seite eingeordnet wird, nie gewinnen. Auch die Demokraten in den USA werden (zumindest auf Bundesebene) nie die Partei der Waffenfreunde sein.
        Genausowenig würde ich der FDP raten, in der Sozialpolitik versuchen zu punkten. Das sind jeweils die absoluten gegenteiligen Positionen, da kann man nur verlieren.

        Den Grünen hätte ich eher geraten, dass die Zeit der Aufmerksamkeit nach der Kandidatenverkündigung hätten nutzen sollen, um Baerbock zum einen im Kreise von anderen jungen, ausländischen Spitzenpolitikern zu zeigen (z.B. Finnland), zum anderen um zu versuchen, offensiv Politikfelder der SPD zu besetzen, z.B. Sozialpolitik, oder das Thema sozialer Wohnungsbau besetzen, eventuell noch deutlicher in die Industriepolitik ausgreifen und den Schulterschluss mit den Gewerkschaften suchen.
        Aber vom Thema Auto (und von der Innenpolitik) würde ich als die Grünen die Finger von lassen. Da klappt es maximal (wie damals mit Schily bei der SPD) dass sich eine Person profilieren kann, aber das strahlt nicht zurück auf die Partei. Wie man mE auch in BaWü sehen wird, wenn Kretschmann nicht mehr antritt.

        • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 07:46

          Oh, das ist natürlich völlig korrekt. Die Porschefahrer kriegst du damit nicht. Aber du entschärfst das Thema. Die Democrats waren nie die Partei der Waffennarren, aber wenn selbige keine Angst haben, dass man „ihnen die Waffen wegnimmt“, dann wählen viele „normale“ Waffenbesitzer (in dem Fall: Autofahrende) die Partei. Es geht weniger um Wähler*innengewinnung als Themaentschärfung in meinen Augen. Schily ist da ein guter Vergleich.

          • derwaechter 17. Oktober 2021, 13:30

            Sollte dir das Gendern nicht bald mal leichter von der Hand gehen? Du machst das doch nicht erst seit gestern.

            Porschefahrer, Waffennarren und Waffenbesitzer sind zwar überwiegend aber garantiert nicht ausschließlich männlich.

            „Die Porschefahrer kriegst du damit nicht. Aber du entschärfst das Thema. Die Democrats waren nie die Partei der Waffennarren, aber wenn selbige keine Angst haben, dass man „ihnen die Waffen wegnimmt“, dann wählen viele „normale“ Waffenbesitzer (in dem Fall: Autofahrende) die Partei. Es geht weniger um Wähler*innengewinnung“

    • Thorsten Haupts 14. Oktober 2021, 22:24

      Mein Reden seit 1981 (Eintritt Bundeswehr). Schicke Paradeuniformen a´la Ungarn frühes 19. Jahrhundert wären mir auch viel lieber. Interessanterweise wurden damals die schmucklosen deutschen „Ausgehuniformen“ mit … der Nazizeit und dem Kaiserreich begründet.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Hias 15. Oktober 2021, 00:20

        Ich tu mich da ja echt schwer als Nichtgedienter mitzureden oder der Bundeswehr was zu empfehlen.
        Wenn ich mir nen demokratischeres Outfit für den großen Zapfenstreich wünschen könnte, dann würde es für mich Teile des Lützowschen Freikorps enthalten, und dazu Reminiszenzen an das Hambacher Fest und die Revolutionen von 1848 und 1918 sowie an die Weimarer Republik und dazu einen kleinen blauen Davidstern um unsere Verantwortung nicht zu vergessen.
        Aber das wäre wohl schwierig zusammenzuführen.

        • Thorsten Haupts 15. Oktober 2021, 01:02

          Machen wir uns nichts vor, das ist eh eine Ersatz- und Scheindebatte. Zivilisten tun sich mit Sterben, Töten und Verstümmeln natürlicherweise schwer, aber das ist der Kern des Soldatentums.

          Und eine pazifistische Nation wie Deutschland sollte schlicht keine Armee mehr haben, mit allen Konsequenzen. Das wäre ehrlich, seine Funktionseliten sind bequemlichkeitspazifistisch, konfliktscheu und feige und sind nicht mehr die Knochen eines preussichen Grenadiers wert (Bismarck-Paraphrase).

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 07:47

            So radikal würde ich das nicht sehen.

            • Thorsten Haupts 15. Oktober 2021, 16:33

              Natürlich nicht :-).

              Gruss,
              Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 07:44

          Ich glaube das wäre ein ästhetisches Desaster 😀 😀 😀

          • Hias 15. Oktober 2021, 14:47

            Das befürchte ich auch 😀

        • Erwin Gabriel 15. Oktober 2021, 10:20

          @ Hias 15. Oktober 2021, 00:20

          Ich tu mich da ja echt schwer als Nichtgedienter mitzureden oder der Bundeswehr was zu empfehlen.

          Offenbar nicht 🙂

          Wenn ich mir nen demokratischeres Outfit für den großen Zapfenstreich wünschen könnte, dann würde es für mich Teile des Lützowschen Freikorps enthalten, und dazu Reminiszenzen an das Hambacher Fest und die Revolutionen von 1848 und 1918 sowie an die Weimarer Republik und dazu einen kleinen blauen Davidstern um unsere Verantwortung nicht zu vergessen.

          Mit kleinen Applikationen in Rosa oder Pink?

          Was Du Dir vorstellst, kannst Du jedes jahr im Karneval sehen.

        • cimourdain 15. Oktober 2021, 18:00

          Ich meine, der demokratische Charakter der Uniform wäre am besten demonstriert, wenn man im Internet darüber abstimmen könnte (a la Boaty McBoatface). Hier mein Vorschlag: Als Erinnerung an den verheerendsten (beachte die Wortwurzel) Krieg auf deutschem Boden Schlitzwams und Barett. Wem das zu ‚historisch‘ ist, dem sei gesagt, dass die Paradeuniform der bestem Personenschutzeinheit weltweit aus der Renaissance, also noch älter ist. Als Schmuckelemente plädiere ich für Regenbogenfarben (Toleranz) sowie die Feren einer weissen (Friedens-)Taube.

          • Erwin Gabriel 17. Oktober 2021, 10:31

            @ cimourdain 15. Oktober 2021, 18:00

            Ich meine, der demokratische Charakter der Uniform wäre am besten demonstriert, wenn man im Internet darüber abstimmen könnte (a la Boaty McBoatface).

            Was glaubst Du: Würden mehr leute abstimmen, die sich um eine gute Lösung bemühen, oder mehr Leute, die die Bundeswehr lächerlich machen wollen?

            Und Elite-Einheiten wie die Schweizer Garde oder die Royal Guards haben zwar sehr traditionelle Uniformen, aber auch sehr lange Traditionen. Und das, was unsere Bundeswehr an Traditionen hat, wird heftig bekämpft.

            • Stefan Sasse 17. Oktober 2021, 20:51

              Ja, sehe ich auch so.

            • cimourdain 17. Oktober 2021, 23:39

              Bei der Abstimmung bin ich mir gar nicht so sicher: Bei der Abstimmung über die neuseeländische Flagge hat sich am Schluss (leider) auch die bisherige Blue-Ensign-Kreuz-des-Südens Flagge durchgesetzt.

              Und was die Traditionen betrifft, so ist deren ‚Missachtung‘ ein Teil der kritischeren Geschichtsaufarbeitung hierzulande. (Beispielsweise würde auch so eine Uniformgestaltung gar nicht gut ankommen: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c5/Ost-Afrika.png)
              Hias hat weiter oben versucht, die positiven Momente der letzten 200 Jahre zusammenzukratzen, der Schönheitsfehler dabei ist, dass die meisten davon nicht wirklich mit Uniformen verbunden waren.

      • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 07:44

        Ich hab nichts gegen die Uniformen, mein Punkt ist eher dass sie nie als „demokratische“ Uniformen geframed wurden. Also die Begründung, die du zitierst, wurde nie nach außen transportiert.

        • Erwin Gabriel 15. Oktober 2021, 10:21

          @ Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 07:44

          Also die Begründung, die du zitierst, wurde nie nach außen transportiert.

          Doch. Vor Deiner und vor meiner Zeit 🙂

          • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 13:36

            So was ist eine Dauerbaustelle. Und Adenauers Demokratieverständnis war höflich gesagt auch noch ein anderes.

          • Thorsten Haupts 15. Oktober 2021, 16:35

            Exakt. Die Ausgehuniform wurde entworfen, um das geringstmögliche Bling auszustrahlen. War ein Fehler!

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 17:19

              Weiß nicht.

              • Erwin Gabriel 18. Oktober 2021, 18:40

                @ Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 17:19

                Weiß nicht.

                Vom Bauch her bin ich da eher bei Thorsten.
                Wir haben an Soldaten die Erwartungshaltung, dass sie im Zweifelsfall in einen Kampf ziehen, bei dem sie sterben können.

                Was bekommen sie dafür an Gegenleistung? Zu wenig Geld, Missachtung und Beleidigungen seitens der Bevölkerung, Verdächtigungen ohne Ende, und wenn sie irgendwo im Einsatz sind, ist zu 80 – 90 Prozent die Ausstattung an Material – von Waffen über Transportmittel bis Kleidung – unzureichend.

                An der Stelle sind die Deutschen ein verwöhntes Scheißvolk: Polizei und Bundeswehr sollen auf die eine oder andere Art Aufgaben des Staates wahrnehmen, dessen und unsere Probleme lösen, Sicherheit herstellen etc. Aber die dürfen kein Geld kosten, sollen bitteschön ihre Probleme für sich behalten und sich irgendwo hinstellen, wo man sie nicht sieht. Und das „Beste“: Es weiß doch jeder, dass da nur Blödmänner und rechte Deppen hingehen.

                Ein bisschen Bling, ein bisschen positive Aufmerksamkeit und Respekt wären genauso angebracht wie eine angemessene Ausrüstung und angemessene Bezahlung.

                Du bist doch Lehrer. Es ist für Deine Berufsgruppe zwar nicht so schlimm wie für Bundeswehr und Polizei, aber das Problem, von den meisten von oben herab beurteilt und herablassend behandelt zu werden, während man trotz Überstunden und Unterfinanzierung einfach nur sein Bestes versucht, sollte Dir doch nicht fremd sein.

                • Thorsten Haupts 18. Oktober 2021, 21:38

                  Danke :-).

                • Stefan Sasse 19. Oktober 2021, 07:49

                  Ich bin völlig bei dir, meine Skepsis bezog sich allein auf die Gestaltung der Ausgehuniform. Aber ich hab da echt kein skin in the game und lass mich gerne überzeugen.

  • R.A. 15. Oktober 2021, 13:13

    1.) Zustimmung daß politische Ämter ernst zu nehmen sind und nichts mit „dem Staat auf der Tasche liegen“ zu tun haben.
    Es ist aber aus anderen Gründen wünschenswert, wenn jemand vor den politischen Ämtern auch mal „richtig gearbeitet“ hat, d.h. einige Jahre Realitätserfahrung in einer normalen Beschäftigung außerhalb der politischen Blase hatte. Damit sie im Amt ein bißchen verstehen, was ihre Maßnahmen draußen bei den Betroffenen anrichten.

    Das sehen auch viele Leute gerade im konservativen/liberalen Spektrum so. Der direkte Weg vom Studium ins Parlament ist dort eben nicht so typisch, wie Hirschl das darstellt. Leute ohne Berufserfahrung (oder wie Kurz ohne Studienabschluß) haben auf den Parteitagen einen deutlichen Nachteil und können sich nur selten durchsetzen.

    Umgekehrt ist Hirschls Beschreibung von wegen „reichen, verwöhnten kleinen Jungs“ oder „diese unqualifizierten Dilettanten“ links oft sehr treffend. Insbesondere bei den Grünen finden sich ja genug Beispiele (zuletzt Baerbock, Neubauer) die aus reichem Elternhaus kommend immer einen gehobenen Lebensstil finanziert bekamen ohne sich jemals Sorgen über ihre Zukunft machen zu müssen. Das nennt man dann in grünen Kreisen nicht „unqualifizierter Dilettant“, sondern „Aktivist“.

    2.) Im Prinzip Zustimmung, aber:
    „Wer sich dort engagiert, will üblicherweise eine politische Karriere machen.“ Nach meinen Erfahrungen ist das nicht so. Die meisten wollen etwas politisch bewegen (und machen sich oft falsche Vorstellungen über ihre begrenzten Möglichkeiten in einer Jugendorganisation), aber an Karriere denken nur wenige.

    6.) Nun ja. „Jugendsünden“ sollte man nicht zu ernst nehmen. Aber wenn die „Sünden“ erst wenige Jahre zurückliegen ist noch nicht so viel an Dazulernen etc. zu erhoffen. Und die Masse der Heinrich-Tweets (und ihre Äußerungen als Erwachsene) sind schon ziemlich krass – nur wenige 14-Jährige würden so etwas produzieren.
    Im übrigen wird man an diese Vergebung von „Jugendsünden“ erinnern, wenn wieder einmal irgendein JU-Typ wegen besoffener Sprüche an den Pranger kommt.

    9.) Das ist ja nun ein ganz trüber Fehlschluß. Die Grünen und Linken tweeten deswegen so wenig über Gendern, weil das für sie beschlossene Sache ist und einfach gemacht wird. Wie bei vielen Sachen sind sie meist nicht einmal bereit, darüber noch zu diskutieren.
    Und es ist für sie ein politisches Kernthema. Sieht man schlicht daran daß das meist zu den ersten Sachen gehört die sie durchdrücken, wenn sie irgendwo an die Macht kommen.

    11.) Äpfel und Birnen. Was immer der bescheuerte Scheuer mit „der Staat muß etwas tun“ eigentlich meint – das muß nun wirklich nicht bedeuten daß Subventionen gezahlt werden.
    Den angeblichen Widerspruch gibt es nur in der Konstruktion dieses Mattioli.

    • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 13:43

      2) Ja, das war zu unpräzise. Ich meinte sobald du mal anfängst die Kreis- und Landesverbände zu leiten.

      6) Ein Name. Philipp Amthor. Case closed.

      • Stefan Pietsch 15. Oktober 2021, 16:24

        6) Tatsächlich wundert man sich, was in bestimmten Milieus so Teenager von sich geben. Früher hätte man gesagt, eins hinter die Löffel und dann klappt es auch wieder mit dem Denkvermögen. Tja, so etwas ist ja aus der Mode gekommen. Schade eigentlich. 😉

        Jugendsünden? Eher schlecht erzogen. Das ist allerdings selten noch korrigierbar.

        • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 17:19

          Gesprochen wir ein wahrer Konservativer.

        • Erwin Gabriel 17. Oktober 2021, 10:33

          @ Stefan Pietsch 15. Oktober 2021, 16:24

          Und wie ein wahrer Konservativer schließe ich mich an 😉

  • cimourdain 15. Oktober 2021, 18:57

    6) Es geht doch nicht nur um ‚Jugend‘ sünden.
    Dieses ganze „der hat mal ein schlimmes Wort gesagt.“ Getue ist derartig kindisch und zeugt von einem ekligen Blockwartdenken. Ich plädiere dafür, diese Themen zu boykottieren oder bestenfalls in einer Jahres-TopTen zusammenzufassen. Getreu nach dem vertonten Lehrgedicht von Farin Urlaub „Lass die Leute reden…“

    10) Ich gebe dir Recht, dass die Veranstaltung kein Grund sich aufzuregen. Der große Zapfenstreich findet immer wieder für Politikerabschiede statt (zuletzt? bei Gauck). Im übrigen zeigst du damit gute Konsequenz: Im August 2020 hast du so etwas auch zu dem bescheuerten ‚Fotoshooting‘ auf der Reichstagstreppe geschrieben: http://www.deliberationdaily.de/2020/08/eine-ueberbewertete-demo/ . Aber wenn wir schon bei 2020 sind, muss ich sagen, dass wenn es um Anerkennung geht, eine ‚Tanzgruppe‘ genauso sinnlos-billig wie Balkonklatschen.
    Allerdings fürchte ich, dass die „Riefenstahl-Ästhetik“ bei der Veranstaltung eher ein Feature, denn ein Bug ist. Das ganze Ritual stammt aus den 50ern und damals hatten die Verantwortlichen nun mal ein ‚Kopfkino‘, wie ein feierliches Ritual aussieht.

    Zum Thema Afghanistan habe ich einen Fernsehtip: Die Anstalt vom 05.10.2021 (https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-vom-5-oktober-2021-100.html) liefert dazu einige unangenehme Wahrheiten.

    • Thorsten Haupts 15. Oktober 2021, 20:13

      50er Jahre: Schlechte Nachrichten – das Ritual findet unter aktiven und ehemaligen Soldaten auch heute noch richtig grossen Anklang.

      Apropos „Riefenstahl“-Ästhetik: Erstens würde sich Riefenstahl für diese Beleidigung bedanken, zweitens ist das eigentliche „Problem“ ihrer Ästhetik, dass viele Menschen sie mögen. Auch heute noch.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Stefan Sasse 15. Oktober 2021, 22:43

        Ich halte die Ästhetik nicht für das Problem, und sie ist auch nicht Riefenstahl.

    • R.A. 16. Oktober 2021, 11:27

      „Das ganze Ritual stammt aus den 50ern“
      Nein. Alle wesentlichen Elemente des Großen Zapfenstreichs stammen aus dem 19. Jahrhundert und früher.
      In den 50ern ist nur die „Serenade“ als Vorspann dazugekommen – die gehört nicht zum eigentlichen Zapfenstreich und wird m. W. nur bei Politikerverabschiedungen gespielt, nicht aber bei der Mehrheit der (meist Bundeswehr-internen) Zapfenstreiche.
      Mit Riefenstahl hat das ohnehin überhaupt nichts zu tun.

      Wer klassische deutsche Militärtradition sehen will ist ohnehin bei der chilenischen Armee besser bedient als bei der Bundeswehr.

      • Stefan Sasse 16. Oktober 2021, 13:58

        Inwiefern?

        • R.A. 17. Oktober 2021, 10:51

          „Inwiefern?“
          Nach Einschätzung von Leuten die sich damit auskennen präsentiert die chilenische Armee noch die klassische preußisch-deutsche Militärtradition. Und zwar nicht nur Kernstücke mit einem Wachbattailon wie die Bundeswehr, sondern das volle Repertoire und mit größeren Truppeneinheiten.

          Z. B. so:
          https://www.youtube.com/watch?v=zJRXvMGMRDQ

          Einen chilenischen Zapfenstreich habe ich bei Youtube nicht gefunden, wird aber dort wohl auch in perfekter Vollendung praktiziert.

          • Stefan Sasse 17. Oktober 2021, 20:52

            Danke!

            Wem’s gefällt. Ist ja echt gar nicht meine Ästhetik. 🙂

            • R.A. 18. Oktober 2021, 10:46

              „Wem’s gefällt. Ist ja echt gar nicht meine Ästhetik.“
              Kann ich nachvollziehen. Ist aber wohl auch ein typischer Fall von „der Wurm muß dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“.
              Soll heißen: Das gefällt den Leuten beim Militär selber und dem am Militär interessierten Publikum – der Geschmack der übrigen Bürger ist ziemlich irrelevant weil die sich solche Zeremonien sowieso nicht anschauen.

              Und es könnte sein, daß Armeen besser sind (im Sinne von Kampfkraft), wenn sie Aufwand in Traditionspflege dieser Art stecken. Damit ziehen sie wohl gute Leute an und die Moral der Truppe ist besser.
              Angeblich ist die chilenische Armee die mit Abstand beste in Südamerika. Und hat auch alle Kriege gewonnen, die das Land je geführt hat (ok, waren nur fünf – aber immerhin).

              Mir haben Fachleute erzählt, sie würden bei einem theoretischen Krieg eher auf die chilenische Armee als auf die Bundeswehr setzen (und die Bundeswehr hat die doppelte Mannschaftsstärke und den zehnfachen Etat).
              Hat mich nicht ganz überzeugt – aber es ist wohl unbestreitbar daß die Bundeswehr bei ihren Freiwilligen große Qualitätsprobleme hat. Es gibt erstaunlich viele junge Deutsche die bei Armeen anderer Staaten anheuern, weil die ihnen attraktiver erscheinen. Und zwar nicht vom Geld her (das spielt bei so einer Berufswahl ohnehin kaum eine Rolle), sondern vom Renommée her.

              • Thorsten Haupts 18. Oktober 2021, 12:49

                Dann hat Deutschland ja jetzt die Armee, die zu seiner sicherheitspolitischen Verfasstheit passt. Hoffentlich verschlimmert sich das noch, dann kommt der Haufen Wehrdienstverweigerer und Bequemlichkeitspazifisten im Deutschen Bundestag nicht mehr die Gelgenheit, deutsche Soldaten in sinnlose Auslandseinsätze ohne Ziel und Strategie zu schicken.

                Gruss,
                Thorsten Haupts

              • Stefan Sasse 18. Oktober 2021, 13:02

                Stimme dir völlig zu was das Ritual anbelangt.

                Die Bundeswehr ist ja auch gar nicht darauf ausgelegt, einen konventionellen Krieg zu führen. Die ist ja eine Interventionsarmee. Von daher hat die chilenische da definitiv die Nase vorn, nur: in welchem Szenario würde sie auch gegen die Bundeswehr antreten?

                • R.A. 18. Oktober 2021, 19:13

                  Schon klar, irgendwelche Szenarien Deutschland gegen Chile sind völlig abseits der Realität.
                  Die Chilenen sind zwar auch recht fleißig bei UN-Missionen, ansonsten konzentrieren die sich aber auf die reine Landesverteidigung (und haben auch Grund dafür). Deswegen haben sie auch als eine der letzten Armeen dieser Welt echte Kavallerie – das kann in der dortigen Geographie durchaus sinnvoll sein.

                  Aber: Gerade weil die Bundeswehr eine Interventionsarmee (geworden) ist, müßte sie viel mehr für Moral und Glamour tun.
                  Für die reine Landesverteidigung bekommt man die Leute auch mit ganz nüchterner Dienstauffassung motiviert. Aber wenn man die Leute zu schwer verständlichen Missionen irgendwo in der Welt losschicken will, dann braucht man viel mehr Traditionspflege und emotionales Beiwerk. Machen z. B. die Briten ganz hervorragend – deren Tradition ist ja fast nur Interventionsarmee.

                  • Stefan Sasse 19. Oktober 2021, 07:51

                    Ich widerspreche da überhaupt nicht, die Bundeswehr war ewig lange das ungeliebte Stiefkind der Politik. Aber das ändert sich ja gerade massiv, ich glaube, das muss man auch anerkennen.

                • Thorsten Haupts 18. Oktober 2021, 21:37

                  Kleine Korrektur: Die Bundeswehr ist ja auch gar nicht darauf ausgelegt, Krieg zu führen. Dann stimmt´s.

                  Gruss,
                  Thorsten Haupts

              • Lemmy Caution 18. Oktober 2021, 20:27

                Und hat auch alle Kriege gewonnen, die das Land je geführt hat (ok, waren nur fünf – aber immerhin).

                Keine Ahnung, wie man da auf 5 kommt. Der größte und letzte war gegen völlig desorganisierte Bolivien und Peru. In den 1870ern…

          • Lemmy Caution 18. Oktober 2021, 20:22

            Einheimische Chilenen, die sich für diesen Blödsinn begeistern, machen heute nur noch <15% der Bevölkerung aus, 1998 ca 25%.
            Wenn die Preußische Armee so mit Geld um sich geworfen hätte wie die seit einigen Jahren, wären Europa zwischen 1740 und 1871 einige Kriege erspart geblieben.

      • Dennis 16. Oktober 2021, 17:42

        Zitat R.A. :
        „Wer klassische deutsche Militärtradition sehen will ist ohnehin bei der chilenischen Armee besser bedient als bei der Bundeswehr.“

        Sehr empfehlenswert ist diesbezüglich auch die NVA, nur gibt’s die hat nicht mehr 🙁

        Den Zapfenstreich hatten die natürlich auch; mit etwas modifizierter Choreografie, vermutlich irgendwas mit fortschrittlich oder so. Liebhaber des zackig-echten Preußentums können sich das auch beispielsweise als CD bestellen^:

        https://img0.artcom-venture.de/33185/cover/image/der-grosse-zapfenstreich-der-nva-s24d.jpg

        Der vom 4. Okt.89 war zwar nicht anlässlich der Verabschiedung der DDR gedacht, aber in militärischen Dingen kommt die Sinnstiftung ja häufig anders als geplant.

        • Stefan Sasse 16. Oktober 2021, 19:29

          Ja…ich denke wir hatten gute Gründe, die NVA nicht als traditionsstiftend zu betrachten.

          Schon alleine wegen der potthässlichen Helme. 😀

    • cimourdain 16. Oktober 2021, 13:38

      @Thorsten Haupts, Stefan Sasse, R.A.
      Ihr habt recht mit Rieffenstahl. Ich wollte Godwins Law austricksen und habe nach einer Umschreibung für Nazi-Look gesucht. Hat nicht funktioniert.
      Und natürlich führ(t)en auch komplett Nichtnazi-Staaten (Diktaturen noch lieber als Demokratien) ganz ähnliche Rituale durch , aber die Nazis waren halt so verdammt gut in dieser Art der Inszenierung, dass ich es fast zum Markenkern zählen würde.
      So, jetzt ist es passiert: 3 mal „Nazi“ im einem Internetforen-Post. Seid ihr jetzt glücklich?

      • Stefan Sasse 16. Oktober 2021, 13:59

        Oh, Aufmärsche gehören zum NS-Markenkern, aber tatsächlich weniger Militärparaden und Zapfenstreiche. Die Nazi-Ästhetik sind eher Aufmärsche der NS-Organisationen. HJ, KdF, SA, der ganze Kram.

        • Thorsten Haupts 16. Oktober 2021, 17:04

          Sehe ich genauso. Ein treffenderer Vergleich wären faschistische Regime gewesen (wozu die Nazis genau nicht zählten).

          Gruss,
          Thorsten Haupts

        • cimourdain 17. Oktober 2021, 08:33

          Das wichtige Kriterium ist doch nicht eine feinsinnige Unterscheidungen a la „Eigentlich sind Weberknechte keine Spinnen“, das Kriterium ist doch eher, dass der Zapfenstreich ein internes Ritual ist, dass der BIndung und Identifikation dient (Und das funktioniert, wie Herr Haupts schreibt). Diktaturen (noch ein gutes Beispiel sind die sowjetischen Militärparaden) veranstalten eine Choreographie der Uniformiert:innen zu Propagandazwecken(!) und tragen sie aus diesem Grund in die Öffentlichkeit. [Der misstrauische Zyniker könnte natürlich fragen, ob das Abschiedsritual nicht deswegen so prominent im Fernsehen gezeigt wird, um das Framing „Eigentlich lief alles super in Afghanistan und nur wegen zu niedriger Rüstungsausgaben mussten wir verfrüht abziehen“ zu transportieren.]
          Etwas vom Thema ab: Dem Staatsbürger ist jedenfalls das Demonstrieren in Uniform (egal ob echt oder Fantasie) untersagt. Polizisten haben in den letzten Jahren mehrfach Ärger bekommen, weil sie in Uniform demonstriert haben.

          • Stefan Sasse 17. Oktober 2021, 20:51

            Der Zyniker hätte nicht Recht in meinen Augen. Ist ja nicht so, als ob irgendwer diese Interpretation verbreiten würde. Das Ritual ist als Ehrenbezeugung an die Soldat*innen selbst gedacht, und den Zweck erfüllt es.

  • Thorsten Haupts 17. Oktober 2021, 13:35

    De facto war in grösseren Städten Soldaten sogar das Auftreten in der Öffentlichkeit in Uniform untersagt. Was ich in Hamburg mehrfach selbst erlebte, reichte von abfälligen Bemerkungen bis zum Bespucken. In Bonn gab es lange Jahre für das heutige Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr (BAPersBw) eine schriftliche Empfehlung der Amtsführung, seine Uniform bis zum Erreichen des Amtes zu verbergen. Ganz normal für eine Parlamentsarmee in einem bequemlichkeitspazifistischen Staat halt.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • bevanite 19. Oktober 2021, 13:35

      Worauf wollen Sie eigentlich immer mit dem Vorwurf des „Bequemlichkeitspazifistismus“ hinaus? Ist das nicht eher als ein Fortschritt zu sehen, wenn man überlegt, wohin jahrhundertelanges Preußentum (fortgeführt durch die preußisch dominierte Reichsgründung) und Militärkult in der Zeit zwischen 1914 und 1945 geführt haben? Wäre Ihnen eine Abkehr vom Pazifismus ernsthaft lieber?

      • Stefan Pietsch 19. Oktober 2021, 14:57

        Pazifismus ist keine vernünftige, humane Strategie, so lange der Großteil der UN-Mitglieder Diktaturen sind. Diktaturen sind aggressiv und militärisch, wenn nicht nach außen, so zumindest nach innen. China, Russland und Weißrussland versuchen die Demokratien zu erpressen. Ihre Sprache ist nicht die der Diplomatie und der Verhandlung, sondern der Drohung mit Gewalt. Und was meinen Sie, wie viele Pazisfisten es gegenwärtig in Taiwan gibt?

        Mitten im Herzen Europas, umgeben von friedfertigen Ländern, ist leicht von der Gewaltlosigkeit reden. Eben Bequemlichkeitspazifismus.

        Sorry Herr Haupts, dass ich zwischengesprungen bin.

        • bevanite 19. Oktober 2021, 18:34

          Pazifismus ist keine vernünftige, humane Strategie, so lange der Großteil der UN-Mitglieder Diktaturen sind. Diktaturen sind aggressiv und militärisch, wenn nicht nach außen, so zumindest nach innen.

          Sehe ich nicht so. Ich würde hier eine Analogie eines Kampfsport-Gurus anbringen, nach der man beim Pazifismus zwischen einem „peaceful man“ und einem „harmless man“ unterscheiden muss. Der „peaceful man“ ist für den Verteidigungsfall vorbereitet, agiert aber niemals aggressiv.

          Wenn wir über die Anzahl der Diktaturen auf der Welt sprechen, landen wir hier wieder beim Thema „nation building“. Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre zeigen, dass erfolgreichere Diktaturstürze immer von innen kommen als von außen – ich denke hier an Sudan, Zimbabwe, Taiwan, Tunesien. In den Fällen, wo Demokratiebewegungen nicht erfolgreich waren (Syrien, Libyen, Jemen) lag dies an der militärischen Intervention von autokratischen Mächten. Aber wie wollen Sie gegen letztere vorgehen?

          China, Russland und Weißrussland versuchen die Demokratien zu erpressen. Ihre Sprache ist nicht die der Diplomatie und der Verhandlung, sondern der Drohung mit Gewalt. Und was meinen Sie, wie viele Pazisfisten es gegenwärtig in Taiwan gibt?

          China wird militärisch ein bisschen überschätzt und traute sich nach den Debakeln gegen Indien und Vietnam nur nach an Gegner, die militärisch deutlich unterlegen waren/sind.

          Russland und Belarus – okay, aber auch hier wieder die hypothetische Frage: wie stellen Sie sich das auf militärischem Wege vor? Ich würde mir ja auch wünschen, dass Lukaschenka und Putin lieber heute als morgen weg wären. Aber was langfristiges „nation building“ angeht, leisten NGOs vermutlich die effektivere Arbeit. Im Übrigen gibt es in beiden Ländern bereits eine sehr eindeutige Abstimmung mit den Füßen, da es vor allem die Jüngeren außer Landes zieht.

          Ich habe auch keine Universalstrategie für den Umgang mit Diktaturen, aber die Erfahrungen der letzten 20 Jahre im Irak und Afghanistan zeigten, dass zivile Opfer, die im Krieg unvermeidlich sind, für eine langfristige Etablierung eine Demokratie sehr hinderlich waren.

          Mitten im Herzen Europas, umgeben von friedfertigen Ländern, ist leicht von der Gewaltlosigkeit reden. Eben Bequemlichkeitspazifismus.

          Die unmittelbaren Nachbarn ja, aber in nicht allzu weiter Entfernung gab es ja schon einige Kriege in den letzten 30 Jahren (Jugoslawien, Georgien, Ukraine, aktuell Armenien/Aserbaidschan). Sie werden aber den Leuten keine Militärkultur von oben aufzwingen können, wenn die meisten darauf keine Lust haben. Und aus der deutschen Geschichte seit 1740 (wenn wir mal den Angriff Preußens, der den Österreichischen Erbfolgekrieg auslöste, als Startpunkt nehmen) sollten wir auch unsere Lektion aus militärischem Größenwahn gelernt haben.

          • Stefan Pietsch 19. Oktober 2021, 20:37

            Das Konzept des Nation Building hat sich überlebt wegen fehlender gelungener Beispiele. Das gestehe ich zu, obwohl auch ich Sympathie für das Konzept hatte. Das macht das Gegenteil aber nicht richtig.

            Wenn wir über die Anzahl der Diktaturen auf der Welt sprechen, landen wir hier wieder beim Thema „nation building“. Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre zeigen, dass erfolgreichere Diktaturstürze immer von innen kommen als von außen – ich denke hier an Sudan, Zimbabwe, Taiwan, Tunesien.

            Das ist so nicht richtig. Diktaturen verendeten, wenn sie innenpolitisch so schwach geworden waren, dass sie sich nur noch mit militärischer Gewalt gegen die Aufständischen erwehren konnten. Um den Diktatoren diese Mittel aber weitgehend aus der Hand zu schlagen, braucht es außenpolitischer Flankierung, notfalls eben mit den Mitteln der Gewaltandrohung.

            Als die DDR zusammenbrach, hatte die SED sehr wohl versucht, mit brutaler Gewalt ihre Macht zu halten. Erinnern Sie sich nur an das Niederknüppeln der Proteste in Folge der gefälschten Kommunalwahlen 1989. Gorbatschow entzog dem Regime die Unterstützung.

            Milosevic wurde mit der glaubhaften Androhung von Gewalt durch die USA zur Kapitulation gezwungen. Womit wir bei Jugoslawien wären. Gerade der Bürgerkrieg auf dem Balkan ist eben kein Beispiel, dass mit einer Politik der Gewaltlosigkeit gewalttätigen Regimen beizukommen wäre. Denken Sie nur an das beschämende Bild, als niederländische UN-Truppen daneben standen, als die Schergen in Srebrenica wüteten. Ich habe Ihnen dazu mal einen Link dagelassen.
            https://www.spiegel.de/politik/ausland/srebrenica-niederlande-tragen-mitschuld-fuer-tod-von-300-maennern-a-981311.html

            Der Bürgerkrieg in Syrien war unmittelbare Folge der arabischen Revolution, in der die Diktatoren physisch vernichtet wurden. Für brutale Machthaber geht es damit immer um alles, sogar um das eigene Leben. Wenn Menschen in ihrem Leben bedroht sind, sind sie zu Dingen bereit, die sonst unvorstellbar wären. Für Assad war deswegen eine friedliche Machtübergabe nie eine Option, er wusste, was ihm dann drohte.

            Der Westen konnte sich zu keiner glaubhaften Gewaltandrohung durchringen. Schlimmer: Obama zog eine rote Linie, über die Assad dann folgenlos drüberschreiten konnte. Umgekehrt erfuhr der Schlächter von Damaskus außenpolitische (und militärische) Rückendeckung von einem anderen Diktator – und die UN reagierte nicht. Syrien ist das Versagen des Westens, nicht Beispiel fehlgesteuerter Nation Building. Darum ging es nie.

            In Afghanistan hat der Westen eine gute Entwicklung aus egoistischen innenpolitischen Gründen abgebrochen. Es reichten gerade 10.000 Soldaten, um dem Land Sicherheit zu geben. Das ist militärisch nichts. Da kann man unmöglich behaupten, das wäre ein Kontingent gewesen, das Land zu beherrschen. Darum ging es nicht und das war nicht das Ergebnis. Die Erfolge weiß man wahrscheinlich nur zu würdigen, wenn man sieht, was ohne diese Truppen innerhalb von Wochen passiert ist: Wirtschaftlicher Zusammenbruch, willkürliche Hinrichtungen, Unterdrückung von großen Bevölkerungsteilen, innenpolitisch destabilisiert. Nur, weil wir nicht bereit waren, 10.000 Mann dort stehen zu lassen. Oder ein paar mehr.

            • Dennis 20. Oktober 2021, 08:08

              Übrigens: „Nation Building“ hieß früher mal Kolonialismus. Ein wesentlicher Unterschied existiert nicht.

              • Stefan Sasse 20. Oktober 2021, 09:48

                Das ist Unfug.

              • Stefan Pietsch 20. Oktober 2021, 11:55

                Äh, nein.

                Das ist geschichtsvergessen, das ist politischer Blödsinn, das ist den Kolonialismus verharmlosend.

                Kolonien dienten dem Zweck, sie wirtschaftlich auszubeuten. Dazu wurden die Regionen gewaltsam erobert, ihnen das Rechtssystem des Eroberers übergestülpt und sie in staatlicher Unselbständigkeit gehalten. Es sollten gerade keine Nationen mit eigener rechtlicher und kultureller Identität entstehen.

                Nation Building – selbst Leute, die noch nie etwas davon gehört haben, können das ableiten – zielt auf das genaue Gegenteil. Die „Besatzungsmacht“ hat von Beginn an das Ziel, sich wieder zurückzuziehen und dem Land eine eigenständige Rechtsbildung und Herrschaftsbildung zu ermöglichen. Dabei gelten die Grundlagen des internationalen Rechts der UN, angefangen bei den Menschenrechten zu achten.

                Es ist kein Ausweis politischer Bildung, solches nicht zu wissen oder schlimmer, es zu ignorieren.

                • Dennis 20. Oktober 2021, 16:56

                  Jetzt muss nur noch geklärt werden, WARUM vermeintliche oder womöglich tatsächliche Nation-builder diese Veranstaltung ggf. durchführen. Die Frage nach der Rechtsgrundlage könnte man auch noch streifen, wenn die externe Einflussnahme (freundlich ausgedrückt) als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Die Rede ist ja von „Maßnahmen“ von außerhalb des Gebietes, das angeblich glücklich gemacht werden soll.

                  Klar, es gibt methodische Unterschiede zu Opas Kolonialismus . Schon De Gaulle hat „la fin du colonialisme à la papa“ verkündet, sprich: Nach moderneren Formen gesucht, wenngleich erfolglos.

                  Der Kern des Geschehens sind also Absichten und Motive.

                  Zitat:
                  „Dabei gelten die Grundlagen des internationalen Rechts der UN“

                  Das müsste mal näher erläutert werden. Was Afghanistan angeht, verhält es sich jedenfalls so:

                  „We went to Afghanistan almost 20 years ago with clear goals: get those who attacked us on September 11th, 2001, and make sure al Qaeda could not use Afghanistan as a base from which to attack us again.

                  We did that. We severely degraded al Qaeda in Afghanistan. We never gave up the hunt for Osama bin Laden, and we got him. That was a decade ago.

                  Our mission in Afghanistan was never supposed to have been nation building. It was never supposed to be creating a unified, centralized democracy.“

                  So der aktuelle Präsident der USA; vermutlich kompetent in dieser Frage. Wissend, dass „Nation Building“ ein purer Propagandabegriff ist, versteigt der sich nicht zu unsinnigen Behauptungen dieser Art, sein Amtsvorgänger erst recht nicht. Man muss nicht päpstlicher sein als der Papst.

                  • Stefan Pietsch 20. Oktober 2021, 18:27

                    In Bezug auf Afghanistan war man nicht auf einem so schlechten Weg. Biden ist kein Zeuge, sondern als verantwortlicher Politiker so viel Partei wie man nur sein kann. Schließlich musste er das Abzugsdesaster rechtfertigen.

                    Ich habe ja zugestanden, dass das Konzept der Nation Building weitgehend gescheitert und mit dem Irak auch diskreditiert ist. Das Gegenteil, sich völlig aus Diktaturen herauszuhalten, ist deswegen aber noch lange nicht richtig.

                    Auf der anderen Seite ist Syrien ein Beispiel, dass das internationale Recht modernisiert werden muss. Wenn ein Diktator zum Machterhalt zum einen das Militär gegen die eigene Bevölkerung einsetzt und zum anderen mit Billigung des Völkerrechts einen externen diktatorischen Machthaber, der im eigenen Land gewaltsam Aufstände unterdrückt, zum Einsatz gegen Aufständische ins Boot holen kann, läuft etwas falsch.

                    Ohne die Hilfe Russlands wäre Assad längst Geschichte.

                    Klar, es gibt methodische Unterschiede zu Opas Kolonialismus .

                    Nicht methodische Unterschiede. Unterschiede im Vorgehen und im Ergebnis. Also etwas völlig anderes.

                    • Stefan Sasse 21. Oktober 2021, 08:29

                      Ich glaube du bist da zu optimistisch, aber ich teile deine Haltung.

            • bevanite 22. Oktober 2021, 19:07

              Das ist so nicht richtig. Diktaturen verendeten, wenn sie innenpolitisch so schwach geworden waren, dass sie sich nur noch mit militärischer Gewalt gegen die Aufständischen erwehren konnten. Um den Diktatoren diese Mittel aber weitgehend aus der Hand zu schlagen, braucht es außenpolitischer Flankierung, notfalls eben mit den Mitteln der Gewaltandrohung.

              Die friedlichen Revolutionen in der DDR oder im ganzen Ostblock kamen aber nicht durch Interventionen der NATO zustande, sondern weil die Sowjetunion den Niedergang ihrer Bruderregime akzeptierte und sich nicht einmischte (mit einer kurzzeitigen Ausnahme im Baltikum). Da waren die KSZE-Schlussakte, aber auch Medien wie Radio Free Europe, RIAS oder die Basisarbeit über Samisdat-Literatur einflussreicher (Fun Fact: die einzige bundesdeutsche Partei, die in 1980ern die DDR-Bürgerrechtsgruppen unterstützte, waren die Grünen!).

              Es gab ein Land außer Jugoslawien, in dem es kurz bürgerkriegsartige Zustände gab: Rumänien. Hätte die Sowjetunion hier Ceaucescu unterstützt und umgekehrt die NATO die Opposition mit Waffen versorgt, hätten wir dort auch ein syrisches Szenario gesehen.

              Milosevic wurde mit der glaubhaften Androhung von Gewalt durch die USA zur Kapitulation gezwungen.

              Das war aber nicht das Ende seiner Autokratie. Die kam erst über einen friedlichen Umbruch und Regierungswechsel im Jahr 2000, angeregt durch vorherige Massenproteste.

              Womit wir bei Jugoslawien wären. Gerade der Bürgerkrieg auf dem Balkan ist eben kein Beispiel, dass mit einer Politik der Gewaltlosigkeit gewalttätigen Regimen beizukommen wäre. Denken Sie nur an das beschämende Bild, als niederländische UN-Truppen daneben standen, als die Schergen in Srebrenica wüteten.

              Hier war aber das fehlende robuste Mandat das Problem bzw. die generelle Uneinigkeit bezüglich der Auflösung Jugoslawiens (Deutschland und Österreich erkannten frühzeitig die neuen unabhängigen Staaten an, die USA und Großbritannien warteten damit, Russland stand wiederum durchgängig hinter der jugoslawischen/serbischen Position).

              In Fällen, wo bereits das Blutvergießen im Gange ist, bin ich durchaus für Interventionen. Dies war in Jugoslawien der Fall und daher war die französisch-britische Intervention in Libyen 2011 m.E. auch richtig.

              Der Bürgerkrieg in Syrien war unmittelbare Folge der arabischen Revolution, in der die Diktatoren physisch vernichtet wurden. Für brutale Machthaber geht es damit immer um alles, sogar um das eigene Leben. Wenn Menschen in ihrem Leben bedroht sind, sind sie zu Dingen bereit, die sonst unvorstellbar wären. Für Assad war deswegen eine friedliche Machtübergabe nie eine Option, er wusste, was ihm dann drohte.

              Im Gegensatz zu seinem Vater hatte Assad 2011 noch nicht so viel Blut an den Händen wie heute – er hätte also noch eine realistische Option gehabt, souverän zurückzutreten und mit der Opposition zu verhandeln. Ohne Rückendeckung aus Russland und dem Iran wäre ihm vielleicht sogar nichts anderes übrig geblieben. In ägypten bekam Mubarak keine Rückendenkung – und wurde erfolgreich gestürzt.

              Aber nehmen wir mal an, Assad hätte auch ohne grünes Licht aus Moskau und Teheran die Jihadisten aus dem Gefängnis entlassen, um so die Opposition zu spalten: ohne die russische Luftwaffe und die iranischen Milizen wäre sein Regime schnell erledigt gewesen. Für mich ist das ein klassischer Fall, wie Interventionen von außen eine politische Krise in einen Bürgerkrieg verwandeln können. Im Gegensatz dazu war in Tunesien zur gleichen Zeit ein friedlicher Übergang möglich.

              Syrien ist das Versagen des Westens, nicht Beispiel fehlgesteuerter Nation Building. Darum ging es nie.

              Ich würde bei Syrien auch nicht von Nation Building sprechen, der Westen war dort zu dem Zeitpunkt nicht involviert (die USA waren ohnehin mit den Irak- und Afghanistan-Einsätzen „over-stretched“). Das waren eher der Iran und Russland auf Seiten des Regimes, später unterstützten dann Saudi-Arabien, die VAE und Katar Teile der Opposition. Ohne diese Unterstützungen auf beiden Seiten hätte der Krieg niemals so eskalieren können.

              In Afghanistan wurden in den letzten 40 Jahren viele Fehler gemacht, aber rückblickend ist doch offensichtlich, dass das Land in der Zeit der Republik Mitte der 1970er auf einem guten Weg war und erst nach den Interventionen der Sowjetunion und danach der CIA-ISI-Mudjaheddin-Connection (und später Pakistans und Saudi-Arabiens) in den Abgrund rutschte. „Enduring Freedom“ kam ja erst danach und sicherlich hat die NATO den Krieg die Taliban (die auch erst durch Hilfe aus Pakistan so stark werden konnten) gewonnen, aber eben nicht den Frieden. Nach allem, was ich bisher dazu gelesen habe, lag dies an mangelnder Vorbereitung und fehlenden Kenntnissen in einer neuen Art von Kriegsführung. Vielleicht wurde der Vormarsch der Taliban (der ja nicht erst diesen Sommer begann) auch unterschätzt.

              • Thorsten Haupts 22. Oktober 2021, 19:15

                Nur als kleine historische Korrektur: Die Grünen waren in den achtzigern mitnichten die einzigen. Die Unionskontakte liefen über den RCDS und wutfen so vertraulich wie möglih gehalten.

                Gruss,
                Thorsten Haupts

              • Stefan Pietsch 22. Oktober 2021, 21:10

                Eben. Die DDR kolabierte, weil die Führung auch außenpolitisch unter Spannung gesetzt wurde. Gorbatschow hatte schließlich nicht nur angezeigt, dass die Sowjetunion ihre Panzer in den Kasernen lassen würde, sondern dass man eine friedliche Lösung wünsche. Wünschen steht in der Politik für „erwarten“. Und die Truppe um Honecker konnte sich denken, was passieren würde, würde man monatelang friedliche Demonstranten niederknüppeln oder sogar niederschießen. Es ist ja nie offenbar geworden, was Gorbatschow dem SED-Politbüro am 40. Jahrestag den alten Herren sagte. Man weiß nur, es muss sehr deutlich gewesen sein.

                Als ich begann, Ihren Kommentar zu lesen, dachte ich, wie kann man nur so argumentieren. Und immer mehr habe ich erkannt, wir sind so dicht beieinander, dass eine Diskussion schwierig wird. 🙂

                Das war aber nicht das Ende seiner Autokratie.

                Doch, danach brach sein System zusammen, das ja darauf basierte, ungestraft mit ethnischen Säuberungen Groß-Serbien bilden zu können. Die Bombardierung Belgrads war der Wendepunkt. Nach dem Luftkrieg von April bis Juni 1999 schwand Milosevics Macht rapide, ein Jahr später trat er zurück. Das 10jährige Schlachten auf dem Balkan hatte aber schon vorher geendet. Was Friedenstruppen nicht vermocht hatten, schafften die Bombardements.

                Hier war aber das fehlende robuste Mandat das Problem

                Die UNO stellt kein robustes Mandat aus. Das ist die Schwäche der UNO. Ich bin ja absoluter Anhänger der Vereinten Nationen, aber ihre Bedeutung hat in diesem Jahrhundert stark verloren. Das ist sehr bedauerlich.

                Die Konflikte mit Slowenien und Kroatien waren schnell beendet. Ob die frühe Anerkennung Rückwirkungen auf die späteren Konflikte hatte, ist umstritten. Ich habe das nicht so wahrgenommen. Für mich als Zeitzeuge wirkte es, als arbeitete Milosevic nacheinander die Regionen ab, um sie unter serbische Herrschaft zu zwingen.

                In Fällen, wo bereits das Blutvergießen im Gange ist, bin ich durchaus für Interventionen. Dies war in Jugoslawien der Fall und daher war die französisch-britische Intervention in Libyen 2011 m.E. auch richtig.

                Was soll ich sagen. Ich kann Ihnen nur absolut zustimmen. Danke.

                Im Gegensatz zu seinem Vater hatte Assad 2011 noch nicht so viel Blut an den Händen wie heute – er hätte also noch eine realistische Option gehabt, souverän zurückzutreten und mit der Opposition zu verhandeln.

                In die Richtung ging aber zu keinem Zeitpunkt seine Politik. Assad hatte sich bereits zu Beginn der Demonstrationen festgelegt. Und zwar auf die brutale, rücksichtslose Linie.

                Nochmal, dass ich nicht falsch verstanden werde: Ich befürworte nicht generell Interventionen mit Truppenverbänden, wenn es gegen irgendeinen Diktator geht. Luftschläge sind immer Bodentruppen vorzuziehen. Damit kann man zwar keinen Krieg gewinnen, wohl aber einen brutalen Machthaber entscheidend schwächen. Deren Macht beruht schließlich typischerweise auf der Loyalität der militärischen Verbände. Wenn die bombardiert werden, finden die das nicht spaßig.

                Wie man das klug machen kann, bewiesen Bush senior und Bill Clinton im Irak, in Jugoslawien (siehe oben) und Bush jr. in Afghanistan, als man die Nord-Allianz nutzte, um die Taliban zu verjagen.

                In Afghanistan wurden in den letzten 40 Jahren viele Fehler gemacht, aber rückblickend ist doch offensichtlich, dass das Land in der Zeit der Republik Mitte der 1970er auf einem guten Weg war und erst nach den Interventionen der Sowjetunion und danach der CIA-ISI-Mudjaheddin-Connection (..) in den Abgrund rutschte. „Enduring Freedom“ kam ja erst danach und sicherlich hat die NATO den Krieg die Taliban (..) gewonnen, aber eben nicht den Frieden.

                Dazu kann ich wenig sagen. Das war vor meiner Zeit und historisch bin ich da nicht so bewandert. Nach meiner Bewertung ist Afghanistan ein durch über ein Jahrhundert von Clans dominiertes Land. Unter diesen Clans existieren Fehden, deren Ursprung kaum noch jemand kennt. Die Weltgeschichte ist reich an solchen Stammeskriegen, Afrika ist bis heute von ihnen geprägt. Eine Befriedung ist ohne eine externe Macht, eine Art Weißen Ritter, nicht möglich.

                Das ist meine Sicht, die mir Afghanen allerdings bestätigt haben. So habe ich immer auf das Land am Hindukusch geblickt und da sind halt 20 Jahre eine (zu) kurze Zeit. Die NATO-Truppen agierten jedenfalls lange nicht mehr als Kriegspartei oder Besatzer, sondern als Sicherheitskräfte.

              • Stefan Sasse 22. Oktober 2021, 21:49

                Viele gute Punkte, danke dafür!

        • cimourdain 19. Oktober 2021, 22:56

          Da möchte ich doch lieber auf Ihrer Seite von Bequemlichkeitsmilitarismus reden. Es ist doch die Allianz westlicher Demokratien, die auf allen Kontinenten mit weitem Abstand am aggrssivsten auftritt: Militärausgaben, Offshore Militärbasen, Teilnahme an bewaffneten Konflikten mit und (öfter) ohne UN-Mandat, Drohung mit wirtschaftlicher und militärischer Gewalt; stets ist die Demokratie Vereinigte Statten mit weitem Abstand vorne. Und Sie können sich auf die bequeme Seite mit den Aggressoren stellen, wohl wissend, dass Mossul und nicht Frankfurt zerbombt wird, der Racheanschlag mittels Kampfdrohne nicht uns gilt , und keiner einen Wirtschaftskrieg qua Blockade gegen uns führt. So könne die Lehnstuhlstrategen weitab von jedem Risiko wie im 7. Kapitel von „Im Westen nichts Neues“ schwadronieren, wie sich ‚unsere‘ Zivilisation mit Waffengewalt durchsetzen lässt.

          • Stefan Pietsch 20. Oktober 2021, 12:18

            Die Militärausgaben von Diktaturen wie Russland und Saudi-Arabien sind deutlich höher als der westlichen Demokratien. Diese haben hohe Ausgaben, wenn sie im Konflikt mit Diktaturen stehen wie Südkorea oder Israel oder fast zwingend eine dominierende Rolle in der Weltgemeinschaft spielen müssen wie die USA. Weder Israel noch Italien oder Australien sind jedoch Aggressoren oder verhalten sich so.
            https://de.statista.com/statistik/daten/studie/150664/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-ausgewaehlter-laender/

            Wieso sind Offshore-Basen per se aggressiv? Das lässt sich nicht behaupten. Japan, Südkorea, Deutschland haben Stationierungsabkommen aus eigenem nationalem Verteidigungsinteresse mit den USA geschlossen. Im Gegenzug sparen sie sich selbst damit Militärausgaben. An der Freiwilligkeit der Truppenstationierungsabkommen kann kein Zweifel bestehen. Diese sind von demokratisch gewählten Parlamenten ratifiziert worden. In Deutschland war es nach dem Mauerfall die Regierung Kohl, die darauf drängte, amerikanische Militärbasen auf hiesigem Boden zu erhalten.

            An welchen bewaffneten Konflikten ohne UN-Mandat haben die Vereinigten Staaten in den vergangenen 30 Jahren teilgenommen? Irak, ja. Dann wird es schon schwer, Konflikte wie mit Ex-Jugoslawien als „ohne UN-Mandat“ zu brandmarken, schließlich standen dort umfangreiche UN-Truppen – nur halt weitgehend unbewaffnet. Für Diktatoren sind das Lachnummern.

            Russland ist derzeit in mindestens 3 Kriege ohne UN-Mandat verwickelt – mit keineswegs zivilen, das internationale Recht achtenden Absichten. In Syrien hat sich Moskau auf die Seite eines brutalen Schlächters geschlagen und deckt sogar den Einsatz international geächteter Waffen. In der Ukraine torpediert der Kreml seit einem Jahrzehnt die territoriale Integrität eines UN-Mitglieds. Und in Libyen ist man Bürgerkriegspartei.

            Auf dem Balkan sind friedfertige Demokratien entstanden. In Afghanistan war fast 2 Jahrzehnte das Leben unter amerikanischem Schutz besser, als es unter russischer und Taliban-Herrschaft je war.

            Und Sie können sich auf die bequeme Seite mit den Aggressoren stellen, wohl wissend, dass Mossul und nicht Frankfurt zerbombt wird

            Der syrische Bürgerkrieg hat längst mehr Opfer gefordert als es im Irak je war. Der Unterschied, wenn Diktatoren und Regime wie Russland bombardieren zu Amerikanern und Israelis ist, dass die ersteren keine Rücksicht auf zivile Opfer nehmen, ja es oft zu ihrer Kriegsstrategie gehört. Die russische Armee steht im Verdacht, gezielt UN-Konvois und zivile Krankenhäuser unter Beschuss genommen zu haben. Entsprechend ist der Blutzoll bei der Kriegsführung durch Dikatoren weit höher als bei unter demokratischer Aufsicht stehenden Armeen.

            Das kann man nur ignorieren, wenn einem Menschenleben nichts wert sind, dafür Ideologie um so mehr. Wie haben nicht mehr das Jahr 1928. Demokratien führen keine Kriege zur Eroberung. Das tun nur Diktaturen.

      • Thorsten Haupts 19. Oktober 2021, 19:07

        Ja. ganz sicher. Und wenn das nicht geht, sollte man die Armee halt abschaffen. Militär ohne ein Mindestmass an Anerkennung funktioniert nicht dauerhaft. Aber die Erfahrung können die Deutschen gerne selbst machen – nach meinem Ableben, bitte.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • bevanite 22. Oktober 2021, 13:31

          Ich mache mir ja eher wegen einer ganz anderen Sache Sorgen: die Generation, die noch leibhaftig den Krieg miterlebt hat, stirbt langsam aus und nur wenige Leute haben Kontakt mit syrischen, ukrainischen oder irakischen Kriegsflüchtlingen. Anders gesagt: die meisten Leute kennen Krieg nur aus Filmen, Büchern oder Computerspielen und bekommen dadurch einen falschen Eindruck. Ich kenne noch die Erzählungen meiner Großeltern und habe auch mit Menschen aus kriegsversehrten Regionen Kontakt – wenn man sich das in Erinnerung ruft, ist eine pazifistische Haltung logisch und konsequent.

          Schauen Sie mal, wie einige Leute schon bei den – im europäischen Vergleich noch relativ lockeren – Covid-Maßnahmen reagiert haben, die ja nun wirklich nicht zu Versorgungsengpässen führten. Dann können Sie sich vielleicht vorstellen, wie die Gesellschaft in einem wirklichen Ernstall reagieren würde. Nach der Covid-Zeit hoffe ich jedenfalls, dass ich es nicht mit erlebe, wenn hier ein wirklicher Ausnahmezustand eintritt.

          • Thorsten Haupts 23. Oktober 2021, 02:07

            Ich habe kein Problem mit Pazifismus. Ich habe allerdings ein massives Problem mit Pazifismus, der sich trotzdem eine Armee hält und von der nonchalant erwartet, dass sie auf Zuruf auch noch kämpft.

            … wirklicher Ausnahmezustand …

            Sie verstehen nicht viel von Massenpsychologie? Ich würde 10:1 wetten, dass sich 99,9% der Bevölkerung in einem echten Ausnahmezustand ganz anders verhalten würde, als bei CoVid. Hier war (und bleibt) das Hauptproblem, dass eine grosse Minderheit den Virus nicht wirklich als tödliche Bedrohung wahrnimmt. DAS erklärt einen Grossteil der aus Ihrer (und meiner) Sicht irrationalen Reaktionen.

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Stefan Sasse 23. Oktober 2021, 10:11

              Ich denke das ist ein wichtiger Teil, aber erklärt nicht alles. Die aggressive Leugnung jeglicher Gefahr etwa ist etwas, das sich nicht aus den Fakten ableiten lässt.

              • Thorsten Haupts 23. Oktober 2021, 18:16

                Aus den reinen Fakten ganz sicher nicht, aus denen, die man noch wahrnehmen will, dagegen schon. Und dieses spezifische Problem wurde von Tag 1 an von einer völlig verantwortungslosen Medienlandschaft miterzeugt (hier ausnahmslos), die jede neue Studie, Vorstudie oder Modellstudie mit knalligen Aufmachern in die Öffentlichkeit blies. Ich habe da sehr schnell den Überblick verloren und mich nur noch an ein paar sehr hohe Wahrscheinlichkeiten gehalten – CoVid gefährlich, Impfung gut, alles andere diskutabel. Aber das kann nicht jeder – für Offiziere war diese Fähigkeit zur Informationsreduktion seinerzeit ein Ausboldungsziel.

                Gruss,
                Thorsten Haupts

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