Bücherliste Februar 2021

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Rechtes Denken, Bronzezeit, 1918/19, Reconstruction

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Europa, Germanen

BÜCHER

Ralf Fücks, Christoph Becker (Hrsg.) –  Das alte Denken der neuen Rechten: die langen Linien der antiliberalen Revolte

Die Autor*innen vom Zentrum für Liberale Moderne (wer es nicht kennt: ein Thinktank von Leuten, die man wahrscheinlich am besten als am Schnittpunkt zwischen Grünen und FDP einordnet) haben in diesem Band eine Reihe von Aufsätzen zusammengestellt, in denen sie wichtige Intellektuelle des rechten Denkens vorstellen und einordnen.

Von Oswald Spengler über Ernst Jünger geht es zu weniger bekannten Figuren wie Alain de Benoin oder Alexander Dugin zu sehr alten Bekannten wie Thomas Mann, der hier vor allem in seiner Frühphase als „Zivilisationskritiker“ untersucht wird. Jeder Aufsatz ist nach dem gleichen Schema aufgebaut und stellt die jeweilige Person in einer Kurzbiographie vor, eher er in das Denken einführt und dessen Einfluss auf das rechte Politiksprektrum darstellt.

Die Leitlinien lassen sich recht schnell ausmachen. Allen diesen Intellektuellen ist letztlich eine tiefe Skepsis gegenüber der Moderne zu konstatieren, ein Hang zur Konstruktion „natürlicher“ Ordnungen (gegen die die Moderne dann eklatant verstößt) und ein häufig reichlich verquastes Theoriekonstrukt zur Linderung, wenn es denn überhaupt soweit kommt. Für mich auffällig ist, dass zwar die Ideen und grundsätzlichen Normen der Rechten ziemlich konstant bleiben, von einem kohärenten Theoriegebäude aber kaum gesprochen werden kann.

Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Ausgefeilte Theoriegebäude waren schon immer eher die Provinienz der Linken (nicht, dass das den linken Rand attraktiver oder in irgendeiner Weise besser gestalten würde, aber die Beschäftigung mit Marx ist allemal intellektuell fruchtbarer als die mit Spengler). Es ist aber gut zu wissen, welche Traditionslinien im rechten Denken gerne aufgegriffen werden – vor allem bei den erfolgreicheren Bewegungen jenseits von Deutschland (etwa in Orbans Vorstellungen, über die ich 2012 geschrieben habe), denn unser lokaler Rechtsextremismus ist nicht gerade voll relevanter Ideen.

Eric H. Cline – 1177 BC – The year in which civilization collapsed (Eric H. Cline – Der erste Untergang der Zivilisation)

Der Untergang der bronzezeitlichen Zivilisationen gehört zu den großen Mythen der Frühgeschichte. Zwar lässt er sich, anders als der Titel von Clines Buch suggeriert, nicht auf das eine Jahr 1177 v. Chr. datieren, aber als Marker ist es so gut wie jedes andere und lässt sich gut merken.

Lange Zeit dominierte in der Alterstumwissenschaft die Vorstellung der „Seevölker“, unbekannter Barbaren aus den Weiten des Mittelmeers, die die Zivilisationen von Mykene und Ägypten und wie sie alle heißen hinweggefegt hätten. Ihre Identität war lange ein Mysterium. Inzwischen ist nicht einmal mehr klar, ob es sie überhaupt gab – wie so vieles, das die Gründe für den Untergang der bronzezeitlichen Reiche betrifft, liegt auch dieses Detail im Schatten der Geschichte.

Die Lektüre des eigentlichen Buchs allerdings hat mich, trotz des sehr interessanten Themas, eher enttäuscht. Das liegt weniger an Cline selbst, der Mann ist sicherlich ein kompetenter Altertumsforscher. Ich hatte mir nur eine stärkere Konzentration auf den eigentlichen Titel erhofft – das Jahr 1177 und den Kollaps.

Aber weite Teile des Buchs (zwischen zwei Drittel und drei Viertel) befassen sich mit der Zeit davor, stellen uns quasi die Opfer des Kollapses vor. Obwohl Cline recht verständlich und zugänglich schreibt, habe ich zudem immer das Gefühl, mir würden irgendwelche Basics fehlen (etwa die Perioden ägyptischer Geschichte oder die zeitliche Abfolge von Babyloniern, Assyrern etc.).

Ebenfalls weniger spannend fand ich die archäologischen Einschübe, also von welcher eingekerbten Steinplatte wir welche Inventarliste ägyptischer Händler hatten und was darauf steht.

Für mich war das Buch daher am Ende nicht, was ich mir erhofft hatte. Das mag aber auf andere Lesende nicht zutreffen.

Robert Gerwarth – November 1918: The German Revolution (Robert Gerwarth – Die größte aller Revolutionen. November 1918)

Die Revolution von 1918/19 ist für mich seit über einem Jahrzehnt ein zentrales Thema, das mich sehr interessiert und nachhaltig fasziniert. Nicht umsonst war es ein zentrales Thema im Examen für mich und kommt im Geschichtsunterricht nicht zu kurz.

Nicht nur ist die Revolution ein exemplarisch deutsches Ereignis in so vielen Ausprägungen. Das Potenzial, das in den Ereignissen des Winters der beiden Jahre steckt, ist kaum zu überschätzen. So viele Weichenstellungen fanden hier statt. So viele Was wäre Wenns wurden verhindert, vom spartakistischen Aufstand oder der Räterepublik bis hin zum rechtsextremen Gegenputsch. Am Ende stand die erste deutsche Demokratie, ein ungeliebtes Kind, wider Erwarten stark aufgestellt für die Zukunft.

Robert Gerwarths Buch bietet einen Rundumüberblick über die Geschehnisse. Gerwarth rekapituliert im ersten Drittel die zentralen Ereignisse zum Kriegsende – vom unbegrenzten U-Boot-Krieg, dem Kriegseintritt der USA, der russischen Revolution und der Herausbildung der Weimarer Koalition im Reichstag -, bevor er die eigentliche Revolutionserzählung, eingebettet in die Ereignisse der Friedensverhandlungen, nacherzählt. Im letzten Drittel findet sich dann der Ausblick auf die weiteren Geschehnisse bis 1923, vom Kapp-Putsch bis zum Ruhrkampf und Hitler-Putsch.

Für diejenigen, die nicht firm in den entsprechenden Ereignissen sind, ist das Buch ein extrem übersichtlicher Einstieg. Gut erzählt, mit sauberen Analysen und einem Blick für das Wesentliche, werden die zentralen Ereignisse rekapituliert.

Dabei erfüllt das Buch dann aber eher die Rolle einer Gesamtgeschichte als einer spezifischen Betrachtung der Revolution selbst. Diese wird AUCH behandelt, steht aber letztlich gleichberechtigt mit dem Ende des Weltkriegs, mit den Friedensverhandlungen und mit der Gründung der Republik. Das ist keine schlechte Geschichte, aber ich hatte mir eine spezifischere Betrachtung der Republik erhofft.

Eric Foner – The Second Founding. How the Civil War and Reconstruction remade the Constitution

Aus der beliebten Reihe „Orchideenthemen“ stelle ich dieses Buch über die Entstehung des dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Verfassungszusatzes vor. Die Thematik ist minimal abseitig und theoretisch. Ich finde es allerdings tatsächlich ziemlich interessant, das nachzuverfolgen.

Nicht nur sind die Verfassungszusätze elementar um zu verstehen, wie sich das Thema der Bürgerrechte und des Rassismus in den USA weiterentwickelt hat. Die Geschichte der Verfassungszusätze in der Reconstruction-Ära bietet auch wertvolle Lektionen für heute.

Nicht nur zeigt Foner in seinem Buch deutlich auf, welche politischen Kuhhändel zu der Verabschiedung dieser elementaren Grundrechte führten, sondern auch, welche Widerstände dabei überwunden werden mussten. Die Argumente klingen auf unangenehme Art vertraut. Wir finden sie heute praktisch wortgleich, wo immer Reaktionäre versuchen, Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken.

Am deutlichsten aber wird es, wenn wir in die eigentliche Reconstruction-Ära kommen, wo alte weiße Männer völlig unwillens sind, sich auf die neuen Realitäten einzustellen und mit teils absurden legalistischen Argumenten die Zusätze völlig aushöhlen. Spannend ist dabei, dass genau die Leute, die sich zur Rechtfertigung ihrer obrigkeitsstaatlichen und privilegiensichernden Auslegungen sonst auf den „Willen der Framer“ oder so genannte originalistische Auslegungen stützen, diese Prinzipien bei diesen drei Amendments völlig vergessen – bis heute übrigens.

Obwohl Foner in recht trockenem Ton vor allem juristische Geschichte betreibt, kann man bei der Lektüre einen gewissen Zorn kaum verhindern – zu offensichtlich ist die rassistische Motivation dieser Leute, zu verheerend die Auswirkungen auf Generationen von Afro-Amerikaner*innen. Und, nebenbei bemerkt, der Frauen, deren eigene Rechte Kollateralschäden des rassistischen Extremismus sind.

ZEITSCHRIFTEN

Informationen zur politischen Bildung – Europäische Union

Die Europäische Union gehört nicht eben zu den übersichtlichsten politischen Gebilden dieser Erde. Allein, dass es den Europäischen Rat, den Rat der Euroopäischen Union und den Europarat zu unterscheiden gilt, kann uninitiierte Beobachtende schon wahnsinnig machen.

Da ist es durchaus hilfreich, ein von Fachleuten zusammengestelltes und mit zahlreichen Schaubildern versehenes Heft zur Erklärung zu haben. In kurzen Artikeln werden die relevanten Gremien und Politikfelder vorgestellt; Artikelauszüge in speziellen Textkästen erlauben einen klar abgegrenzten, kommentierenden Meinungsrahmen als Ergänzung.

Das Heft hat allerdings das übliche Problem dieser Reihe: Der genaue Adressat ist etwas unklar. Anfänger*innen oder gar Schüler*innen werden die Informationsdichte und Komplexität undurchdringlich finden; wer sich bereits auskennt, wird die Texte als oberflächlich wahrnehmen. Die Zielgruppe ist daher schmal. Ich zähle mich durchaus dazu, wurde dann aber durch den drög-sachlichen Stil hart auf die Probe gestellt. Wer immer noch nicht abgeschreckt ist – die Dinger sind kostenlos.

GEO Epoche – Rom und die Germanen

Die Germanen und ihr Verhältnis zu Rom sind ein heikles Thema, nicht erst seit Netflix seine neueste Blut-und-Titten-Serie im entsprechenden Setting herausgebracht hat. Die entsprechenden Quellen wurden zu allen Zeiten politisch missbraucht, am schlimmsten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als der deutsche Minderwertigkeitskomplex sich an Tacitus‘ Schilderungen der Germanen berauschte und dabei bequem nicht zur Kenntnis nahm, dass es sich um einen moralischen Apell an die Landsleute hatte, der zu real existierenden „Germanen“ allenfalls gelegentlichen Bezug hatte.

Die Gefahr, in alte Klischees zu verfallen, ist bei diesem Thema daher besonders hoch. Dieser Gefahr eines sanften Germanen-Nationalismus entzieht sich Zeitschrift zwar weitgehend, aber nicht vollständig. Die Bewunderung der Germanen als derjenigen Barbaren, die sich erfolgreich Rom widersetzen, blitzt gelegentlich durch. Viel problematischer aber bleibt die Quellenlage. Weil wir über die Germanen nur sehr wenig wissen und auf Indizien aus archäologischen Funden angewiesen sind, bleibt der Fokus weitgehen auf Rom – und auf Spekulation. Dadurch ist das Ganze nicht wirklich Fisch und nicht Fleisch.

{ 26 comments… add one }
  • Ariane 1. März 2021, 09:15

    Danke spannend.

    Als Ergänzung zu 1) gab es gerade in der FAZ einen Beitrag, der sich ein bisschen mit der rechtsoffenen Flanke bei Liberalen befasst:
    https://zeitung.faz.net/faz/wirtschaft/2021-02-27/b696e39ed0085ba0a301a93b7d6bc349/?GEPC=s9

    Da passt das mit der Moderne vs Natur natürlich nicht so (das sind eher die Schnittpunkte zu Teilen der Grünen, wie man an den Querdenkern auch gut sehen kann), obwohl ich finde, das beide Strömungen so eine Neigung zu „survival of the fittest“ mit einer Prise Machodenken auch bekannt als toxische Männlichkeit in sich haben.

    Forscherin Horn glaubt, dass sich Liberale zu lange allein auf die Bekämpfung linker, kollektivistischer Konzepte konzentriert haben und dabei die Gefahr von rechts übersehen haben. Sie beobachtet zudem, dass Liberale häufig das Gefühl hätten, mit ihren Botschaften überhört zu werden: „Manche steigern sich in eine Frustration hinein, werden immer lauter und radikalisieren sich dann in einer generalisierten Antihaltung so weit, bis sie gar nicht mehr liberal sind.“

    • Dennis 2. März 2021, 15:33

      Ja, interessante Aspekte. Der Naturtrick dient eigentlich nur dazu, Ideologie zu zertifizieren und unangreifbar zu machen. Gegen die Natur können ja nur Verrückte vorgehen wollen und alles was natürlich ist, muss halt so sein und ist letztlich irgendwie auch „gut“.

      Also, Natur geht immer. „Natürliche Rechte“ und/oder „Natürliche Freiheit“ geht auch auf links, liberal oder einem Gemisch daraus.

      Ganz nett auch, was Frau Horn da so meint. Wenn die sau-dummen Leut da draußen die liberalen Botschaften nicht kapieren, gehen die Liberalen halt zur Strafe zu den Rechten, es bleibt ja nichts anderes übrig.

      • Ariane 3. März 2021, 08:28

        Ja, dieses Notwehr-Argument findet sich ziemlich oft, auch auf der anderen Seite, obwohl ich denke, dass das rechts gerade mehr en vogue ist.

        Obwohl das gar nicht soviel mit politischen Strömungen zu tun hat – meine Meinung – sondern mehr ein Hineinsteigern in eine romantische Vorstellung vom heldenhaften Widerstandskämpfer. Passenderweise funktioniert das auch rechts wie links.

  • Lemmy Caution 1. März 2021, 11:45

    Ich hätte auch noch einen Lesetipp:
    Jörn Leogrande, Bad Company: Meine denkwürdige Karriere bei der Wirecard AG.
    Dies ist ein Insider-Bericht eines Managers aus der Wirecard AG. Klar ist das schmutzige Wäsche und auch gerade deshalb unterhaltsam.
    200 Seiten, flott geschrieben, schrägere Vögel als bei Game of Thrones.
    Eine in den Dax aufgestiegene Luftnummer von Digital-Unternehmen erweist sich als größter Bankraub aller Zeiten.
    Für mich zeigt das vor allem auch einen wichtigen Aspekt der Digitalisierungs-Problematik unseres Landes auf: Es ist ein Problem, dass Heerscharen an hochbezahlten und gewohnheitsmässig das Hohelied auf die Digitalisierung singenden Finanzanalysten 10 Jahre brauchen, um herauszufinden, dass Wirecard einfach keinen Wert hatte. Halt leider vor allem, weil die ganz offensichtlich null Plan von digitaler Wirtschaft haben.

    • Dennis 1. März 2021, 12:21

      Wer sagt denn, dass die das herausfinden wollen ? Warum nicht beim großen Hochjazzen von „Werten“ mitmachen, solange man daran Geld verdient? Wie furchtbar kriminell das alles sei, kann man ja im Bedarfsfall hinterher behaupten.

      • Lemmy Caution 1. März 2021, 18:16

        Genau. Sowieso alles scheibe. Alles eine einzige große Verschwörung… egal wie plausibel das nun im Detail ist. Sowieso Details, Plausbilitäten… viel zu anstrengend. Sich lieber gar nicht mit son Zeugs belasten… versonnen lächeln, weil *ich* den General-Durchblick habe.

        • Dennis 2. März 2021, 09:21

          Es handelte sich um Fragen, auf die es offenbar keine gute Antwort gibt. Immer interessant, wenn in der Antwort etwas erfunden wird, war gar nicht behauptet wurde (Verschwörung).

    • Ariane 2. März 2021, 00:28

      Oh spannend, ich liebe ja diese ganzen kleinen Anekdoten, die da nach und nach rausgekommen sind (schätze aber, das mit der Fakebank und den Schauspielern irgendwo auf Fidschi kommt nicht mit vor?)

      Ich meine, viel war da nicht, aber Wirecard hat ja irgendwie zumindest ein bisschen Umsatz gemacht, wenn auch vielleicht mit Cannabis und Glücksspiel in den USA. Aber immerhin!
      Mich hat das – auch durch die zeitliche Nähe – aber viel an Augustus Intelligence erinnert, da haben sie zwar viel Geld, Berater und Marketingblabla gefunden, aber dann irgendwie als einzige Tätigkeit einen Online-Ersatzteilhandel oder so einen Schmu, jedenfalls keine Firma, die das gemacht hat, wofür geworben wurde.

      • Lemmy Caution 2. März 2021, 19:34

        Eigentlich war das eine Software-Bastel-Bude ohne Konzept, sehr vielen Mitarbeitern und fast jedes Projekt in den Miesen, viele davon sehr stark.
        … und einer fälschte das Gesamtergebnis in einem mysteriösen Third Party Zweig, so dass das Gesamtergebnis hochprofitabel aussah …
        Derweil sendeten die Manager von Wolke 7 an die Aktien-Analysten …
        200 Seiten. Ich wurde gut unterhalten.

        • CitizenK 2. März 2021, 22:55

          Was ist eigentlich mit den Wirtschaftsprüfern, die das jahrelang nicht gemerkt haben? Also die mit den allerbesten „wirtschaftlichen Kenntnissen“. Wurden die gefeuert?

          • Stefan Pietsch 3. März 2021, 00:29

            Sie haben offensichtlich keine Ahnung von der Arbeit von Wirtschaftsprüfern.

            Wirtschaftsprüfer prüfen, ob Bilanzausweis und Bilanzansatz den gesetzlichen Vorschriften des dritten Buches des HGB als auch nach IFRS entsprechen. Mit „wirtschaftlichen Kenntnissen“ hat das mal gar nichts zu tun.

            Ein WP darf allerdings durchaus merken, dass ein paar Milliarden in Singapore nicht werthaltig sind und dass eine einfache Saldenbestätigung kaum ausreichend für einen solchen Vermögensposten ist.

            EY hat gerade seine Spitze ausgetauscht. Ansonsten hat die Wirtschaftsprüfung eine hohe Fluktuation, da braucht niemand gefeuert zu werden, viele sind nach 2 Jahren nicht mehr dabei. Das WP-Examen ist mit das schwierigste in Deutschland. An der Qualifikation lag es also kaum.

            Noch etwas: Die altehrwürdige Prüfungsgesellschaft Arthur Andersen ist Anfang des Jahrtausends im Rahmen des Enron-Skandals zusammengebrochen, weil ein Wirtschaftsprüfer (nicht organisiert) Unterlagen vernichtet hat. Die amerikanische SEC entzog daraufhin Arthur die Lizenz, was einem Todesurteil gleich kam.

            Ähnliches würde ich mir für mache Schule und manchen Lehrer wünschen…

            • Stefan Sasse 3. März 2021, 08:53

              Ich hab nichts dagegen, dass Lehrer*innen, die kriminell dabei sind, Zeugnisse zu fälschen, die Lizenz entzogen wird. Nur…ist das gerade ein Problem? 😛

            • Lemmy Caution 3. März 2021, 09:12

              Ich glaub da auch nicht an böse Absicht.
              Bin natürlich kein Experte auf dem Feld, aber vielleicht sollten aber die Wirtschaftsprüfer hollistischer an die Analyse der Bilanzen solcher komplexer Konzerne herangehen?
              Wenn Konten auf den Phillipinen eine wichtige Rolle in den Aktiva einnehmen, könnte man sehr leicht auf den Gedanken kommen, dass man da mal sehr genau nachprüft, weil in einem solchen Land wohl eine Menge möglich ist, die man sich auf viel besser regulierten Märkten nicht vorstellen kann.

            • CitizenK 3. März 2021, 10:07

              „keine Ahnung“

              Ein wenig schon. Vor meinem Lehrerleben: Kaufm. Ausbildung als Prüfungsassistent („… in wirtschafts- und steuerberatenden Berufen“), mein Chef WP, BWL-Studium in der Fachrichtung Rechnungswesen, je ein Jahr bei einem großen Konzern. Die Zahlenwelt wurde mir dann langweilig.

              Dass der Fall EY/Wirecard eine Riesen-Blamage für die elitäre Zunft ist, sagen ja nicht nur Linke. Auf die Problematik der Beratung und Prüfung durch die gleiche WP-Gesellschaft brauche ich Sie doch nicht hinzuzweisen. Also bitte: Sparen Sie sich künftig solche Sätze.

              • Stefan Pietsch 3. März 2021, 11:19

                Der Anfang klingt schon mal gut, auch wenn die Kompetenz des Chefs sich nicht automatisch auf die Mitarbeiter überträgt.

                Einfache Frage, mit der Sie Ihre Kompetenz unter Beweis stellen können: Was ist die Aufgabe der Wirtschaftsprüfung? Gehört hierzu auch die Aufdeckung doloser Handlungen?

                Je nachdem, wie Ihre Antwort ausfällt, behalte ich meine Anschuldigung aufrecht oder entschuldige mich. Allerdings, wäre ich zur Entschuldigung genötigt, stände das von Ihnen Gesagte im Gegensatz zu Ihren Eingangsposts.

                Also, einen Tod müssen wir sterben. Welchen wählen Sie?

                • CitizenK 3. März 2021, 15:06

                  Keinen. Ich liebe das Leben.

              • Dennis 3. März 2021, 11:35

                Zitat CitizenK:
                „Dass der Fall EY/Wirecard eine Riesen-Blamage für die elitäre Zunft ist, sagen ja nicht nur Linke.“

                Richtig. Namentlich der FDP-Abgeordnete Toncar, der zusammen mit Linkens und Grünens geackert hat, um den U-Ausschuss einzurichten, macht sich da verdient:

                https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2021-01/wirecard-skandal-untersuchungsausschuss-bayern-florian-toncar

                Der schießt natürlich mehr auf die Bayerische Staatsregierung, aber das muss ja auch nicht falsch sein^. Das erinnert schon fast an alte Zeiten als der selige Franz-Josef noch am Ruder war; das Verhältnis FDP/CSU war ja noch nie das allerbeste. SPD-seitig prügelt man wiederum am liebsten die WPs, klar, aber auch FDP-Mensch Frank Schäffler sieht das so:

                Zitat Schäffler (aus Handelsblatt) :
                „Der Fall Wirecard war insbesondere ein Versagen der Wirtschaftsprüfer und der Bafin.“

                Diverse einschneidende Reformvorschläge sind auf dem Markt, auch von der FDP. Die beste aller Welten bestand auf rechtlicher Ebene bisher also offenbar nicht.

          • Ariane 3. März 2021, 08:11

            Der U-Ausschuss läuft ja auch noch. Ich meine, irgendwie gibt es sogar Verflechtungen mit der Ösi-Ibiza-Affäre, aber die finden ja keinen, der mal richtig auspackt. (Eventuell sollte man da auch mal nebst Whistleblowing über vernünftige Kronzeugenregeln nachdenken).

            Der Witz ist ja: man hätte gar keine top ausgebildeten WirtschaftsprüferInnen zwingend gebraucht. Die FT ist ja einfach auf ne Insel geflogen und hat in einem Fischerdorf geklingelt und nen Typen gefunden, der noch nie von Wirecard gehört hat, offiziell aber eigentlich der Topmanager war.
            Der Film wird bestimmt ganz großartig 🙂

            • CitizenK 3. März 2021, 08:26

              Es gab ja frühzeitig Hinweise von britischen Journalisten. Aber Zeitung lesen tun Wirtschaftsprüfer offenbar nicht .
              Gegen die Journalisten wurden dann sogar von deutschen Behörden Ermittlungen eingeleitet. Die Realität übertrifft mal wieder jede Fiktion. Wie bei der Finanzkrise.

            • Lemmy Caution 3. März 2021, 09:16

              Das hat aber eine Weile gedauert, bis FT auf die Idee gekommen ist. Vorher haben die eine Serie von Artikeln geschrieben, in denen sie die Bilanz anzweifelten.
              In einem Fischdorf nachfragen gehört nicht zu den Standard-Prozessen einer Bilanzprüfung, aber in einer immer globalisierteren Welt sollte man das wohl als neuen Standard-Prozess aufnehmen. Das meine ich mit hollistischere Perspektive.

  • Dennis 2. März 2021, 14:16

    Ja danke auch von mir und zu Fücks/Becker hier noch mein Senf:

    Zitat Stefan Sasse:
    „…in denen sie wichtige Intellektuelle des rechten Denkens vorstellen und einordnen.“

    Die Herausgeber vermeiden das RechtsLinks-Schema IMHO eigentlich weitgehend sondern bevorzugen als Konzept „liberale Demokratie“ einerseits versus alles, was dagegen steht, andererseits. Letzteres kann auch links sein, darauf wird auch hingewiesen. Ob das Fücks’sche Konzept polit-theoretisch trägt, ist eine andere Frage. Dichotomisch sauber zu trennen klappt in politicis eigentlich nie 🙁 . Es gibt da immer wieder diese „störenden“ Schnittmengen, die der Ordnungsliebe entgegen wirken.

    Mit der Konfrontierung „Volk gegen die da oben“ beispielsweise hat ja mal alles Linke angefangen^; hat heutzutage allerdings eher einen rechten Sound; und Ernst Niekisch (zeitweilig SPD und später SED, mit dem ebenfalls besprochenen Ernst Jünger befreundet, inspirierend für den Strasser-Flügel der NSDAP und, und, und^) hat im besprochenen Band ja auch einen Aufsatz . Der personifiziert sozusagen ideal den LinksRechtsMischmasch bzw. das – ich sach mal – unkontrollierte Überkochen von Ideologien, was namentlich „Weimar“ ja geprägt hat. Und Fücks selbst war mal KBW. Offenbar produziert also das Leben selbst die Polit-Schnittmengen und widersetzt sich der Ordnung^.

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