Rechtsfreier Raum Klassenzimmer, Teil 2: Das Informelle


Im ersten Teil dieses Artikels habe ich mich mit den formalen Erfordernissen des Lehrkraftsberufs beschäftigt, von der Ausbildung über die Arbeitszeit zur Bezahlung. In diesem Teil möchte ich mich jetzt der Frage widmen, unter welchen Bedingungen diese Arbeit oftmals stattfindet – und warum sie teilweise nur schwer erträglich sind. Wo es um Schulen geht, wird wie selbstverständlich das Arbeitsrecht nicht angewandt. Gesundheitsschutzmaßnahmen, wie sie in praktisch jedem anderen Beruf selbstverständlich sind, finden sich hier nirgendwo. Dazu kommen an jeder Ecke und Ende die Folgen der Unterfinanzierung des Bildungssystems.

Bezahlen für das Vergnügen, arbeiten zu dürfen

Eine der größten Absurditäten des Lehrkraftsberufs ist es, dass man für das Arbeiten bezahlen muss. In jedem anderen Beruf wäre das völlig unvorstellbar. Wer würde im Bewerbungsgespräch nicht schief gucken, wenn der potenzielle Arbeitgeber verkünden würde, dass das Arbeitsmaterial selbst gekauft werden muss? Sicher, würde es heißen, Sie können bei uns im Gebäude arbeiten, aber einen Computer, Stifte und Papier müssen Sie selbst kaufen.

In deutschen Lehrerzimmern ist das Realität. So bekommen im Jahr 2020 im benachbarten Dänemark zwar 91 Prozent der Lehrpersonen ihre digitale Geräteausstattung von der Schule gestellt. In Deutschland sind es gerade einmal vier Prozent. Wir reden hier noch nicht einmal von der Ausstattung für die SchülerInnen, wo regelmäßiger Zugang zu einem Endgerät oder ein stabiles WLAN absolute Luxusgüter sind, die es nur an einer Handvoll Leuchtturmschulen mit Projektcharakter gibt. Die Lehrkräfte selbst haben auch keine.

Und da hängt ja noch mehr dran: Nicht nur muss ich mir als Lehrkraft meinen Computer selbst kaufen, sondern auch alle relevanten Programme. Microsoft Office etwa, unverzichtbares Arbeitsmittel der meisten Lehrkräfte, wird nicht von den Schulen gestellt. Stattdessen wird das alles selbst angeschafft – oder eben auch nicht. Der beklagenswerte Zustand der Digitalisierung an deutschen Schulen hängt sicherlich auch damit zusammen.

Die Anschaffung von Gerät und Programmen allein ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs, denn Fortbildungen beziehungsweise Ausbildungen sind auch rar gesät. Bringt jemand entsprechende Kenntnisse nicht bereits mit, so bleibt die Funktionalität der meisten Programme für immer ein Mysterium. Auch im Jahr 2020 verwalten die meisten Lehrkräfte ihre Noten noch von Hand in einem Büchlein. Auch dieses Büchlein und die Stifte dazu kaufen sie selbst. Die roten Stifte, mit denen Klausuren korrigiert werden? Eigenanschaffung.

An manchen Schulen kaufen Lehrkräfte sogar Tafelkreide selbst. So gut wie nie gestellt werden solche Luxusgüter wie Tafelmagnete, farbige Moderationskarten und anderes didaktisch-pädagogisches Hilfsmaterial. Der größte Kostenfaktor, den Lehrkräfte in der überwältigenden Zahl der Fälle selbst stemmen müssen, sind aber Bücher. Schulbücher werden zwar (Lernmittelfreiheit!) von der Schule gestellt. Der große Markt von Lehrkraftausgaben für diese Schulbücher, die vorbereiteten Unterrichtsmodelle, Aufgabensammlungen, Lösungsbücher etc. werden meist von den Lehrkräften selbst gekauft. Auch Fachzeitschriften werden nicht immer von der Schule abonniert.

Müssen wir überhaupt vom häufig immer noch nicht vorhandenen WLAN reden? Existiert es tatsächlich, ist es meistens zu langsam und/oder fällt oft aus. Das führt dann zu „Lösungen“ wie dieser hier:


Der Mann kauft einen eigenen Internet-USB-Stick mit Lightning-Anschluss, damit er unterrichten kann. Das wird dann gerne noch als Engagement der Lehrkräfte gefeiert, anstatt dass es den zuständigen Stellen die Schames- und bei allen anderen die Zornesröte ins Gesicht treibt. Ein weiteres Beispiel wäre dieses hier, unter dem Hashtag #EinfachMalMachen:

Und ja, das Engagement ist klasse. Das Kollegium ist klasse. Daumen hoch für das Einbringen in den Job. Aber es ist blanker Wahnwitz, dass zehn hochausgebildete Menschen ihrem Arbeitgeber einfach mal 70-90 Arbeitsstunden schenken, weil der nicht in der Lage ist, die absolut notwendigste Grundausrüstung zu installieren! Ich traue mich ja schon gar nicht nachzufragen, ob sie die Adapter und Kabel selbst gekauft haben. Ich will auch nicht wissen, was los wäre, wenn eine dieser zehn engagierten Lehrkräfte sich bei der Installation verletzt hätte. Wird das überhaupt von der Versicherung gedeckt? Was, wenn eines dieser Kabel Feuer fängt? Solche Zustände sind zum Haare Raufen!

Im Schulbetrieb ist das völlig normal und allseits akzeptiert, aber das würde in keinem anderen Job – auch nicht im öffentlichen Dienst – so akzeptiert werden. Man stelle sich vor, die Verwaltungskräfte auf dem Rathaus müssten ihre eigenen Computer kaufen, auf denen sie dann die Daten der Bürger bearbeiten. Allein die Vorstellung ist absurd. Oder einE MaschinenbauerIn bei Daimler müsste sich ihre Schreibmaterialien selbst mitbringen. Nur in der Schule wird das hingenommen.

Wenn am Arbeitsplatz kein Platz zum Arbeiten ist

Ebenfalls praktisch Standard ist, dass Lehrkräfte im wahrsten Sinne des Wortes keinen Arbeitsplatz haben. In meinem Lehrerzimmer steht mir die Hälfte eines ca. 1,80m langen und etwa 60cm tiefen Tischs zur Verfügung. Das reicht nicht einmal zur Ablage; ich habe das Glück, dass mein Tisch am Fenster steht und ich so das Fensterbrett mit benutzen kann. Das ist kein sonderlich ungewöhnlicher Zustand in deutschen Lehrerzimmern.

Diese Tische und die dazugehörigen Stühle sind natürlich alles, aber sicher nicht ergonomisch. Da man an ihnen aber ohnehin nicht arbeiten kann, fällt das nicht so stark ins Gewicht, wie es das in einem normalen Unternehmen tun würde. Arbeitsrechtlichen Standards genügt das allerdings natürlich nicht. Logische Konsequenz dieses mangelnden Platzes sind extrem volle Lehrerzimmer. In diesen wäre Arbeiten auch dann nicht möglich, wenn mehr Platz zur Verfügung stünde – dazu ist es zu laut und finden immer zu viele Nebentätigkeiten statt, von das Gespräch suchenden KollegInnen bis zu SchülerInnen mit irgendwelchen Anliegen.

Stattdessen findet die Arbeit von Lehrkräften überwiegend zu Hause statt. Das ist einerseits problematisch deswegen, weil es die Kollegialität stört und die (zu Recht) viel kritisierte „Einzelkämpfermentalität“ der Lehrkräfte befördert. Es ist aber für unsere Thematik wesentlich relevanter, dass natürlich auch hier keinerlei arbeitsschutzrechtlichen Standards nachgehalten werden. Als die IG Metall anlässlich der starken Ausweitung von Home Office durch die Corona-Pandemie darauf hinwies, dass arbeitsschutzrechtliche Standards am Heimarbeitsplatz häufig nicht eingehalten und vom Arbeitgeber auch nicht kontrolliert werden, konnte die LehrerInnenschaft da nur müde lächeln – in unserem Beruf ist das schon immer so gewesen, ohne dass sich jemals jemand an diesen Zuständen gestört hätte.

In den Klassenzimmern sieht die Lage übrigens nicht besser aus, wie etwa dieser Tweet von Maike Schubert gut verdeutlicht:

An den meisten weiterführenden Schulen benutzen die SchülerInnen von der fünften bis zur dreizehnten Klasse dasselbe, unter Gesichtspunkten vor allem des günstigen Preises und der hohen Langlebigkeit ausgesuchte Mobiliar. Dass dies für die wachsenden Körper von SchülerInnen nicht besonders günstig ist, liegt auf der Hand. Genug Arbeitsfläche haben sie zudem meistens auch nicht, wie obige Aufstellung verdeutlicht. Die Lehrkraft hat im Klassenzimmer dank des Lehrerpults meist mehr „Arbeitsfläche“ als im eigentlichen Lehrerzimmer, aber diese ist nicht nutzbar. Die überwiegende Mehrheit der Schulen in Deutschland hat ein Klassenzimmermodell, sprich: in den Pausen wandern die Lehrkräfte zwischen den Klassenzimmern. Viel mehr als Ablageflächen sind diese Pulte daher auch nicht; ohnehin vollzieht sich der Unterricht für die Lehrkraft in den seltensten Fällen sitzend.

Außerschulische Veranstaltungen

Richtig spannend wird es, wenn außerschulische Veranstaltungen anstehen: Exkursionen und Studienfahrten, vor allem. Exkursionen sind Tages- oder Halbtagesveranstaltungen; spätestens am frühen Abend ist man wieder zuhause. Gleichwohl ist es keine Seltenheit, dass eine Exkursion – wenn es sich etwa um einen Theaterbesuch handelt – bis spät abends dauert und morgens direkt in der Früh wieder Unterricht stattfindet. Der eigentlich vorgeschriebene Mindestabstand mit Ruhepause ist so eher Theorie, ein Problem, das uns später noch einmal begegnen wird.

Richtig abenteuerlich wird es allerdings auf Studienfahrten, also solchen Exkursionen, die Übernachtungen beinhalten. Der Betreuungsschlüssel ist hier in Baden-Württemberg eine Lehrkraft auf 20 SchülerInnen, was bedeutet, dass eine Klasse üblicherweise mit zwei Lehrkräften auf Studienfahrt geht (die in der Abwesenheit dann vertreten werden müssen…). Fahren wir also etwa für fünf Tage nach Barelona, habe ich während dieser Zeit ständige Aufsichtspflicht über die SchülerInnen. Springt jemand um 23.45 Uhr aus dem Fenster, muss ich mich wegen Aufsichtspflichtverletzung verantworten.

Aber keine Bange, das Beamtenrecht hat hier vorgesorgt: Laut einer richterlichen Grundsatzentscheidung hat „der Beamte zwischen 0 und 6 Uhr das verbriefte Recht auf Schlaf“, in dieser Zeit entfällt die Aufsichtspflicht. Man darf annehmen, dass das auch für ihre angestellten KollegInnen gilt. Diese großzügige Ruheregelung bedeutet immerhin eine tägliche Arbeitszeit von 18 Stunden während Studienfahrten; dafür, dass diese gerne (auch im eigenen Kollegium) als „Urlaub“ verschrieen sind, ist das eine ganze Menge. Oft genug liegen Studienfahrten dazu in den Ferien oder nehmen das Wochenende mit („damit nicht so viel Unterricht ausfällt“), selbstverständlich ohne dass irgendetwas davon als Überstunden angerechnet oder sonst wie ausgeglichen würde.

Krankheit

Der Krankenstand von Lehrkräften ist vergleichsweise hoch. Das überrascht nicht, wenn man sich verdeutlicht, dass sie auf engstem Raum mit bis zu 33 Superspreadern zusammengepfercht sind – auch und gerade in Hochzeiten der Influenza-Saison. Lehrkräfte werden allen Erregern ausgesetzt, die unter Kindern gerade so umgehen. Zudem haben es Kinder und Jugendliche üblicherweise nicht so mit der Hygiene; die Oberflächen sind daher Krankheitsherde. Dass die Kommunen zudem bei den Reinigungskräften gerne sparen, ist da auch nicht hilfreich. Die generell beengten Verhältnisse, die ich oben skizziert habe, tun zu dieser gewaltigen Aussetzung gegenüber Erregern ihr Übriges.

Krankheitsausfälle von Lehrkräften sind ein Problem, weil die stets angespannte Personaldecke keine flächendeckende Vertretung erlaubt; da, wie bereits skizziert, viele Vertretungen real nicht bezahlt werden, bürdet man also mit jedem Krankheitstag den KollegInnen unbezahlte Mehrarbeit auf. Das ist das eine. Das andere ist, dass gleichzeitig wertvoller Unterricht ausfällt, denn eine Vertretung kann zwar die Betreuung der SchülerInnen garantieren, aber niemals den Unterricht adäquat ersetzen, selbst wenn sie auch vom Fach ist – was eher die Ausnahme als die Regel darstellt.

Allzu oft entscheiden sich Lehrkräfte dann dafür, trotz einer Krankheit in die Schule zu kommen. Der Gedankenprozess dahinter wurde von Mrs. Grumblebee in diesem lesenswerten Twitter-Thread aufgeschrieben; ich will ihn daher hier nicht reproduzieren:

Natürlich ist dieses Verhalten zwar kurzfristig sicher gut für KollegInnen und SchülerInnen, mittel- und langfristig aber verheerend. Denn nicht nur stellt die kranke Lehrkraft natürlich einen Superspreader für ihre jeweilige Infektion dar, sondern oft führt die Überlastung dann zu einem späteren, umso durchgreifenderen Ausfall. Zwei Wochen flach liegen statt sich drei Tage auszukurieren ist keine gute Rechnung. Allzu oft aber passiert genau das.

Eine weitere Belastung ist der Krach. In der Kolumne „Dieser verdammte Lärm!“ berichtet ein Aushilfslehrer aus Schleswig-Holstein über seine Erfahrungen in einem dreimonatigen „Nebenjob“ als Lehrkraft. Und ja, der Lärm an Schulen ist tatsächlich groß, gerade in der Unterstufe. Ich komme oft mit leicht wundem Hals nach Hause, und ich hatte auch schon des Öfteren Kopfschmerzen vom Krach (und ja, ich weiß, dass ich da durch meine eigenen pädagogischen Verfehlungen mit schuldig bin). Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass wenn jemand den Lärm messen würde, dieser diverse Grenzwerte reißt, die Produktionshallen einhalten müssen.

Das generelle Stresslevel, dem Lehrkräfte im Alltag ausgesetzt sind – unter anderem wegen der Arbeitszeiten, zu denen wir gleich noch kommen – ist zudem ebenfalls gesundheitsschädlich. Dieser Raubbau an der eigenen Gesundheit, auch der psychischen, ist ein ausschlaggebender Faktor für die im Vergleich recht hohe Zahl von Frühpensionierungen bei Lehrkräften; etwa jedeR zehnte geht frühzeitig in Pension. Würde der Arbeitgeber hier ein besseres Auge haben, könnten sowohl Ausfälle als auch Frühpensionierungen durchaus reduziert werden.

Reformen

Man darf der Politik natürlich keine vollständige Untätigkeit vorwerfen. In Baden-Württemberg wurde zwischen 2003 und 2007 in einer ganzen Reihe von Maßnahmen das Beamtenrecht für Lehrkräfte (und, quasi als Dominostein, auch für Angestellte) grundlegend reformiert.

Im Jahr 2003 wurde die durch das Beamtengesetz auf 41 Stunden festgesetzte wöchentliche Arbeitszeit neu definiert: Statt wie bisher 24 Deputatstunden sollten künftig 25 Deputatstunden einem Volldeputat und damit diesen 41 Stunden entsprechen. Wie eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit um 4,17% die Qualität der Arbeit positiv beeinflussen sollte, blieb das Geheimnis des Kultusministeriums (Fun Fact: In der Weimarer Republik, als Pädagogik und Didaktik noch Fremdworte waren und die Verwaltungstätigkeiten der Gymnasiallehrkräfte eher beschränkt, lag das Volldeputat übrigens bei 18 Stunden). Damals reagierten die Lehrkräfte mit einer Verweigerung von freiwilligen Zusatztätigkeiten wie Studienfahrten. Darunter litten wir damals, unsere Studienfahrt fiel aus.

Quasi zum Ausgleich für diese höhere Arbeitsbelastung wurden die Pensionen empfindlich gekürzt. Nicht nur strich die baden-württembergische Landesregierung die Realbeträge der Pensionen deutlich zusammen – vergleichbar mit dem Niveauverlust der gesetzlichen Rente der Jahrgänge vor 1950 mit denen danach -, sie strich auch noch die Beihilfe zur privaten Krankenversicherung in der Pension von 100% auf 50%. Das entspricht einer realen Pensionskürzung von mehreren hundert Euro – pro Monat.

Wem vorher schon bei der Auflistung der privaten Anschaffungen, die Lehrkräfte zur vernünftigen Ausübung ihrer Tätigkeit leisten müssen, schon die Finger zuckten: Selbstverständlich lässt sich das als Arbeitszimmer von der Steuer absetzen. Auch hier war das Land Baden-Württemberg nicht untätig: Im Jahr 2007 wurden die Absetzbarkeiten für Lehrkräfte massiv zusammen gestrichen. Ohne auch nur einen Cent in einen Ausgleich durch Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten an der Schule und die Beschaffung des Arbeitsmaterials zu investieren, wurde die Möglichkeit, den Mist wenigstens von der Steuer abzusetzen, um über die Hälfte gekürzt.

Zusammen mit der Kürzung des Referendariats zugunsten eines unbezahlten Praktikums kürzte die schwarz-gelbe Landesregierung unter Günther Oettinger und Anette Schavan in dieser Zeit also die Kosten des Schulsystems um hunderte von Millionen Euro. Investiert wurde davon – nichts. Das Kultusministerium hatte bei all dem natürlich den längeren Atem; mittlerweile ist eine neue Generation Lehrkräfte ins System nachgewachsen, die nichts anderes als die neuen, schlechteren Zustände kennt.

Corona

Kein Artikel kann in diesen Tagen geschrieben werden, ohne die Corona-Pandemie mit zu diskutieren. Sie legt wie ein Brennglas all die Missstände offen, die ich geschildert habe.

Beengte Verhältnisse, in denen sich Krankheiten ausbreiten können? Check. Was normalerweise bei den Klassen- und Lehrerzimmern nur ein Ärgernis ist – Fenster, die sich nicht öffnen lassen, Heizungen, die nicht richtig funktionieren – wird unter den Bedingungen der Pandemie zum potenziellen pandemischen Katastrophenfall. Die unzureichende Größe von Schulhöfen und anderen Orten, an denen die SchülerInnen sich in Pausen aufhalten können, ist da auch nicht eben hilfreich.

Die Neigung der Kultusministerien, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, zeigt sich auch bei Fragen wie Maskenpflicht im Unterricht. Diese ist dank der aktuellen Corona-Leugner und anderen „Querdenker“ politisch problematisch; stattdessen gibt man einfach die Empfehlung aus, die Fenster geöffnet zu lassen (als ob das genug Luftzug schaffen würde). Darauf hingewiesen, dass es da im Winter etwas kalt wird, erwidert das Ministerium kaltschnäuzig, man könne ja in Schal und Winterjacke Unterricht machen.


Generell zeigt sich, wie bereits beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020, eine haarsträubende Missachtung von Kindern, PädagogInnen und Eltern:


Weil diese Gruppen politisch wesentlich weniger wirkmächtig sind als viele andere Interessengruppen, stehen sie grundsätzlich hinten an, was die Rücksichtnahme seitens der Politik angeht.

Besonders auffällig ist das daran, mit welcher Verve die Schulöffnung verteidigt wird. Es ist völlig überparteilicher Konsens, dass die Schulen das Letzte sind, was von einem erneuten Lockdown betroffen sein sollte. Einige Argumente, die hierzu vorgebracht werden, sind durchaus sinnvoll: Verlust von Bildungszeit der SchülerInnen, bessere Eignung der Schulen für den Präsenzunterricht, etc. Das ist alles richtig.

Es deckt aber gleichzeitig auch die Versäumnisse der Bildungspolitik der letzten 20 Jahre quer durch alle Parteien auf. Wie hat man, etwa im Umfeld der PISA-Tests, über das finnische Modell (pars pro toto) gesprochen und festgestellt, dass die deutsche Art des Unterrichtens ihre gewissen Nachteile hat? Geändert hat sich praktisch nichts. Und die Konzentration auf Präsenzunterricht ist auch deswegen nötig, weil die katastrophale digitale Infrastruktur überhaupt keine andere Wahl lässt.

Am auffälligsten aber ist, dass die Schule offen zu halten die conditia sine qua non für das Funktionieren des Rests der Wirtschaft ist. Die wichtigste Funktion der Schulen, könnte man meinen, ist ihre Betreuungsfunktion. Sie sind Verwahranstalten für Kinder. Fallen sie aus, ist zuvordererst nicht der entscheidende Punkt, dass möglicherweise Inhalte verpasst würden (Karl Lauterbach hat völlig Recht wenn er das für egal erklärt), sondern dass die Kinder zuhause unbetreut sind und dort die entsprechenden Lernerfolge nicht erreichen können – wegen eben der mangelnden Infrastruktur und veralteter institutioneller Vorgänge.  Ausbaden müssen diese Versäumnisse nun Kinder und Lehrkräfte, die in geschlossenen Hotspots der Pandemie sitzen.

Fazit

Ich möchte noch einmal zusammenfassen, worum es mir eigentlich geht.

Einerseits gilt es festzustellen, dass der Lehrkraftberuf ein hochqualifizierter Beruf ist, der eine lange Ausbildung erfordert und nicht einfach von jedermann gemacht werden kann. Entsprechend gut sollte er auch bezahlt werden (was er für Beamte in Baden-Württemberg auch wird, für die Angestellten eher nicht).

Andererseits ist es wichtig zu erkennen, dass dieser guten Bezahlung (und anderen Vorteilen) auch hohe Arbeitszeiten und eine große Arbeitsbelastung gegenüberstehen. Dies wird in der öffentlichen Debatte praktisch nie gewürdigt; eher verbreitet ist dagegen Gerhard Schröders pauschales Ressentiment von den „faulen Säcken“.

Des Weiteren sollten die blamablen Arbeitsbedingungen ins Licht gerückt werden, unter denen Lehrkräfte leiden. Privates Geld ausgeben, um Lehrmaterial zu beschaffen; völlig inadäquate Arbeitsplätze; gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen; lachhaft schlechte Infrastruktur.

Diese Probleme plagen den Bildungssektor bereits seit Jahrzehnten. Sie zu beseitigen würde Geld kosten. Viel Geld. An dieser Stelle soll gar nicht versucht werden, Lösungsvorschläge zu unterbreiten, die gibt es wie Sand am Meer. Stattdessen verbleibe ich mit der deprimierten Feststellung, dass es weder den politischen Wunsch noch den politischen Willen dazu gibt, etwas an diesen Zuständen zu ändern. Nicht einmal die Pandemie wird als Anlass hierzu genommen, stattdessen konzentriert sich alle Energie darauf, möglichst schnell und umfassend zum Status Quo zurückzukehren. Und das ist in höchstem Maße unbefriedigend.

{ 54 comments… add one }
  • Kning4711 9. Oktober 2020, 22:02

    Danke für den Augenöfner – ich hatte schon vermutet, dass die Arbeitsbedingungen nicht optimal sind, aber das erklärt so ziemlich alles.
    Warum bleibt der Einfluss der Lehrer im politischen Bereich so gering. Im Bundestag sitzen immerhin rund 30 Lehrer.
    Eltern Schulpflichtiger Kinder sollte auch ein signifikanter Anteil in der Bevölkerung ausmachen – woher kommt diese Machtlosigkeit?

    • Stefan Sasse 9. Oktober 2020, 23:07

      Eigentlich recht simpel: Es gibt keine Lobby. Eltern wählen ja nicht als Eltern. Ich bin zum Beispiel Vater, aber meine Wahlabstimmung wird nicht primär dadurch beeinflusst. Und es gibt, anders als etwa für die meisten wirtschaftlichen Themen, keine Lobby. Dazu kommt, dass das Thema nur kurze Zeit relevant ist. Die Verantwortung ist auch diffus; die Einrichtungen sind kommunal, die Finanzierung über alle förderalen Ebenen verteilt. Wo wähle ich denn konkret was anderes? Wenn ich mehr LehrerInnen will, ist es das Land, wenn die Schule neue Bücher haben soll die Gemeinde. BürgermeisterInnen werden alle sieben Jahre gewählt, da ist das Kind im Extremfall sechs Jahre in der Schule, bevor ich eine Wahlentscheidung treffe! Und so weiter. Ich kann das gerne mal genauer auseinanderklamüsern, aber ich erlebe das tagtäglich im Kleinen, weil die Oberstufe sich nicht für eine SMV bereitfindet – weil sie „nur“ drei Jahre auf der Schule sind und sich das Engagement nicht „lohnt“. Ist für viele Eltern ähnlich. Ich wähl halt nicht die CDU, nur weil die marginal mehr Kita-Finanzierung versprechen…

      • Ralf 10. Oktober 2020, 01:55

        Ich glaube, hier kannst Du Dich in erster Linie bei den Mainstream-Medien bedanken. Eltern würden sehr wohl in ihrer Rolle als Eltern wählen, wenn die entsprechenden Themen in der Öffentlichkeit präsent wären. Sie sind es aber nicht. Die Talkrunden diskutieren lieber die fünfte Ehe von Tom Cruise. Oder einen Krieg in Timbuktu. Oder was Trump gerade wieder gesagt hat. Es geht um Sensation, Skandale, Affären. Ob eine Schule in der baden-württembergischen Provinz ausreichend Lateinbücher hat, ob die Holzstühle unbequem sind oder ob der Lehrer sein Microsoft Word selber gekauft hat, sind keine quotenträchtigen Inhalte. Deshalb wird es – wir danken dem Privatfernsehen – nicht gesendet. Und wenn es nicht gesendet wird, dann wird in der Öffentlichkeit keine Sensibilität für die Probleme erzeugt. Und ohne diese Sensibilität werden die Bildungsthemen nicht wahlentscheidend.

        • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 10:27

          Ich weiß nicht. Natürlich wäre es grundsätzlich bei allen solchen Fragen die Lösung, dass eine 24/7 Beschallung da grundsätzlich etwas ändern könnte. Aber das hat Grenzen. Die Medien verkaufen, was die Leute interessiert. Senden sie was anderes, werden sie nicht konsumiert. Schau mal, wie wenig Erfolg Diktaturen häufig damit haben, eine mediale Dauerbeschallung mit Interesse der Leute in kausalen Zusammenhang zu bringen. Ich fürchte einfach, die Leute priorisieren es nicht.

          • Ralf 10. Oktober 2020, 10:41

            Es geht ja nicht um eine Dauerbeschallung mit Propaganda, die mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts mehr zu tun hat. Das Bildungsthema ist eigentlich eines, das für viele Bürger sehr bedeutend ist. Lehrermangel, Unterrichtsausfälle, Rückständigkeit der Schulausstattung sind alles Dinge, über die früher z.B. in meiner Familie durchaus am Tisch beim Abendbrot geredet worden ist. Die meisten Eltern wollen, dass ihre Kinder vorankommen und eine Zukunftsperspektive haben. Aber diese diffusen Diskussionen in den Heimen der Menschen werden nicht verstärkt durch die Medien und Politik, die diese Themen weitgehend ignorieren. Nach dem Lockdown waren die Grünen z.B. die einzigen, die offensiv darüber sprechen wollten, was die Krise für Familien mit Kindern bedeutet hat und in Zukunft bedeutet. Aber die Medien wollen halt lieber Spektakel, Streit und Affären.

            • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 13:26

              Ja, aber das ist einerseits immer so. Und andererseits wollen die Leute das halt hören. Gehören zwei dazu.

              • Ralf 10. Oktober 2020, 13:34

                Wenn es danach geht, was die Leute hören wollen, wird es immer ein Race-To-The-Bottom werden. Hat ja einen Grund, dass z.B. dort, wo das Privatfernsehen dominiert, die Programme voll von Anbrüllshows und Starquälshows und anderem primitivem Dreck sind. Das heißt aber nicht, dass niemand fernsehen würde, wenn das Programm ein anderes wäre. Ähnliches gilt für jedes andere Medium.

                • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 14:24

                  Klar, aber du kannst keine privaten Medien haben, die nach Angebot und Nachfrage funktionieren, und nach diesem Prinzip operieren. Ich sage nicht einmal, dass die Medienlandschaft das tun muss, nur, dass diese systemische Frage dazu gestellt werden muss. Nur besseres Benehmen seitens der Medienkonzerne fordern ist fruchtlos. Das ist wie Reiche aufzufordern, doch bitte mehr Steuern zu zahlen als sie müssten. Entweder du regulierst hart, oder du akzeptierst den Status Quo.

                  • Ralf 10. Oktober 2020, 14:28

                    Bin ganz bei Dir. Ich lehne Medien ab, die nach Angebot und Nachfrage operieren und bin für die harte, einschneidende Regulierung, die Du ansprichst. Medien haben in unserer Gesellschaft Sonderrechte. Sie sind die vierte Gewalt. Damit kommt aus meiner Sicht die Pflicht und Verantwortung mehr zu bieten als lediglich eine Profitmaximierungsmaschine zu sein.

                    • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 19:38

                      In der Theorie natürlich begrüßenswert, aber in der Praxis wahnsinnig schwer 🙁 Du verläufst halt hart an der Kante zur staatlichen Medienüberwachung. Ich meine, mit angeblichen Qualitätsverstößen zensiert noch jede Autokratie dieser Tage…

                    • Ralf 10. Oktober 2020, 19:59

                      Vor Einführung des Privatfernsehens hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen z.B. genau diese Funktion, die mir vorschwebt, absolut erfüllt. Statt eines zentralen Entscheidungsorgans war das öffentlich-rechtliche Fernsehen in den Ländern angelegt. Eher konservative Länder wie Bayern haben eher konservative Inhalte produziert. Eher sozialdemokratische Länder wie NRW haben eher sozialdemokratische Inhalte produziert. Man musste einen Mechanismus finden sich auf ein gemeinsames Programm zu einigen und das hat meist ganz gut geklappt. Es hat echten Journalismus gegeben. Die Sender waren ausgestattet im Ausland selber Leute vor Ort zu haben, anstatt wie heute hauptsächlich Agenturmeldungen abschreiben zu lassen. Und das Programm insgesamt hatte den Anspruch nicht nur Unterhaltung, sondern auch Information und Bildung zu bieten. Dass dieses System jahrzehntelang gut funktioniert hat sagt mir, dass das auch in Zukunft funktionieren würde.

                      Ähnliche Ansätze könnte auch ein veröffentlich-rechtlichtes Internet bieten. Aber dafür müsste man eben Facebook, Google, Twitter, Amazon und so weiter entmachten und durch dezentrale, pluralistische, nicht vom Profit abhängige, öffentlich-rechtliche Strukturen ersetzen.

                    • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 20:28

                      Ich fürchte, die zeichnest die ÖR-Vergangenheit in zu rosigen Farben. Aber grundsätzlich bin ich bei dir, ich sehe nur die praktische Umsetzung kritisch.

    • CitizenK 10. Oktober 2020, 16:30

      Mich überrascht, dass über die Arbeitsbedingungen der Lehrer – auch in der informierten Öffentlichkeit – so wenig bekannt ist. Immerhin müssen die Eltern ihnen ihre Kinder anvertrauen. Und für deren Zukunft spielen sie auch eine wichtige Rolle.

      • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 19:40

        Ich kenne aber die Arbeitsbedingungen der BusfahrerInnen auch nicht, und die Dinger benutze ich ja auch recht häufig. Oder Discounter-Mitarbeiter. Kaufe dort ständig ein, aber wie deren Arbeitsalltag aussieht weiß ich nicht.

        • CitizenK 11. Oktober 2020, 07:56

          Dass Busfahrer bei kommunalen Verkehrsbetrieben weit bessere Arbeitsbedingungen haben als bei privaten, weiß ich aus den Medien. Selbst die von Kik-Mitarbeiter/inne/n sind/waren mir nicht unbekannt aus Fernseh-Dokus. Und die haben sich danach verbessert.

          • CitizenK 11. Oktober 2020, 07:58

            Und denk an Schlecker. Oder an LIDL.

          • Stefan Sasse 11. Oktober 2020, 09:29

            Ich meine nicht das generelle Bewusstsein von „die haben Scheiß Arbeitsbedingungen“, das weiß ich auch. Genauso der Unterschied kommunal/privat, das ist überall so. Wenn du kannst geh zu einem kommunalem Arbeitgeber. Nein, was ich meine ist, ich weiß nicht wie die Arbeitsabläufe, der Arbeitsalltag aussehen. Was die machen und wie.

  • schejtan 9. Oktober 2020, 22:08

    Was mir als doppeltes Lehrerkind in deiner Darstellung fehlt: Eltern, die Sonntag abends anrufen, um eine bessere Note fuer ihr Kind zu verlangen.

    • Stefan Sasse 9. Oktober 2020, 23:07

      Hah! Ich geb den Eltern doch nicht meine Telefonnummer. Aber ja, das ist ein guter Punkt, ich nehm das mal in die Überarbeitung auf. Elternkontakte sind da viel zu kurz gekommen.

      • schejtan 10. Oktober 2020, 10:28

        Naja, zu Zeiten des Festnetzanschlusses und des Telefonbuchs, was es ja nicht so schwer, eine Telefonnummner rauszufinden.

        Meine Lieblingsanekdote zu dem Thema: Vater verlangt eine bessere muendliche Note in Franzoesisch, weil der Sohn waehrend der Klassenfahrt nach Paris franzoesisch gesprochen hat.

  • Ralf 10. Oktober 2020, 01:30

    Hmmm … Also vieles, was Du hier schreibst, kommt mir aus der Wissenschaft nur allzu bekannt vor. Dass man etwa als Doktorand einen Laptop besitzt und damit Vorträge halten kann, wird einfach erwartet. Microsoft Office muss natürlich installiert sein, weil man die Anwendungen dauernd braucht. Nur dass ein Doktorand eben nur ein Drittel des Anfangsgehaltes eines Lehrers verdient. Fortbildungen bezahlt einem auch keiner. Wenn Du besser werden möchtest in der Benutzung von Excel oder wenn Du eine Programmiersprache lernen möchtest, kaufst Du Dir halt ein Buch oder Du liest Dich durch’s Internet. Fachliteratur kann man meist über die Universität aus dem Internet laden, aber Fachbücher kauft man selbstverständlich selbst. Arbeitszeiten sind ganz normal zwischen 12 und 16 Stunden täglich, das Wochenende regelmäßig miteingeschlossen. Dafür laufen die Verträge offiziell nicht selten als “halbe Stelle”, also theoretisch nur 20 Stunden im Monat und natürlich nur das halbe Gehalt. Wo Mehrfachbefristungen anderswo verboten sind, hangeln sich Wissenschaftler – wenn sie Glück haben – von Jahresvertrag zu Jahresvertrag. Ich kenne Fälle, bei denen von Monat zu Monat verlängert wurde. Von Sicherheit auch keine Spur. In meiner Zeit als Doktorand haben wir jede Woche zu drei Mann einen riesigen Tank mit flüssigem Stickstoff anheben müssen, um kleinere Tanks zu befüllen, weil die Universität zu geizig war ein Befüllungspumpsystem zu kaufen. Wenn einer von uns dabei ausgerutscht wäre, wäre er wahrscheinlich tot gewesen.

    Also, vielleicht fühlst Du Dich als Lehrer nicht mehr ganz so alleine … 😉

    • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 10:24

      Kein Zweifel, die Uni ist noch schlimmer! Aber das darf ja kein Grund sein, das hinzunehmen.

    • Detlef Schulze 13. Oktober 2020, 22:23

      Als Doktorand ist man allerdings quasi noch zum Teil in der Ausbildung, daher ist eine geringe Vergütung eher gerechtfertigt. Und die Promotion ist ausserdem zeitlich begrenzt. Einen Computer (Desktop) und Schreibtisch bekommt man in der Regel auch. Wobei dies alles sehr vom Fachgebiet abhängt.

      Zumindest als Naturwissenschaftler (bzw. Ingenieur) hat man ausserdem nach der Promotion immer die Möglichkeit in die freie Wirtschaft oder die Industrie zu wechseln, wo man dann bessere Arbeitsbedingungen hat. Diese Möglichkeit haben Lehrer nicht.

      • Ralf 13. Oktober 2020, 22:33

        Das würde ich nur teilweise so unterschreiben. Wenn der Doktorand in der akademischen Forschung bleibt, drohen ihm nach dem Erhalt seines Titels viele Jahre prekäre Beschäftigung, oft völlig unvergütete Arbeit (z.B. Vorlesungen, die Habilitierte halten müssen, um ihren Status zu erhalten), 16-Stunden-Arbeitstage, eine Kette von Zeitverträgen, totale Unsicherheit, ob es mit der Professur noch klappt und Hartz IV, wenn es nicht klappt, weil man dann zu alt ist, um noch irgendwo in der Industrie unterzukommen. Aber auch die, die in die Privatindustrie wechseln, haben oft Schwierigkeiten. Klar, wer bei den Branchenriesen unterkommt, hat erstmal ausgesorgt. Aber wer in einem kleinen Start-Up landet, findet auch dort in der Regel Unsicherheit, Überstunden und niedrige Gehälter.

        • Detlef Schulze 13. Oktober 2020, 23:04

          Das stimmt zwar, aber 1. sind sich die Wissenschaftler des Risikos bewusst (oder sie sollten es sein) und können jederzeit aussteigen. 2. ist die Bezahlung gut, die Arbeit abwechlungsreich und flexibel. Und (3) gibt es eine einfach Lösung, die aber von vielen Betroffenen meiner Meinung nach gar nicht gewollt ist, nämlich, dass man wie in den USA sehr junge Assistensprofessoren beruft. Dann ist nach dem ersten Postdoc relativ schnell klar, wer eine Professur bekommt und wer in die Wirtschaft gehen muss. Die Menschen sind dann noch jung genug um in der Wirtschaft Fuss zu fassen.

          • Stefan Sasse 14. Oktober 2020, 07:52

            Wie funktioniert das Postdoc-System im Vergleich?

            • Detlef Schulze 14. Oktober 2020, 10:32

              Postdoc ist kein System, sondern bezeichnet eine befristete wissenschaftliche Stelle nach der Promotion. In der Regel sind das 2-Jahres-Vertraege. Es gibt auch noch Anstellungen zur Habilitation über 5 Jahre. Bis auf die Dauer des Arbeitsvertrages gibt es aber keine Unterschiede zu den 2-Jahres Postdocs. Bezahlt werden die Leute voll nach Tarif des Oeffentlichen Dienstes. Es gibt Leute, die bleiben ihr ganzes Leben Postdoc und tingeln von einer Anstellung zur naechsten durch die ganze Welt (bzw., haben mehrere 2-Jahres-Vertraege am selben Ort). Das macht sicher Spass, wenn man keine Familie mit Kindern hat und gerne viel rumkommt. Mit Familie geht das nicht. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz soll sowas einschränken und begrenzt in Deutschland die Gesamtdauer befristeter Anstellungen auf 12 Jahre (jede befristete wissenschaftliche Anstellung wird addiert). Postdoc-Jahre im Ausland zaehlen aber nicht dazu und für jedes Kind bekommt man zusaetzlich 2 Jahre. D.h. es kann sein dass man noch bis Ende 40 auf befristeten Stellen sitzt und dann Probleme hat in der freien Wirtschaft eine Stelle zu finden, wie von Ralf oben erwähnt.

              Es gibt auch Ausnahmen und Wege auf befristeten Stellen zu arbeiten, ohne das die Zeit angerechnet wird (z.B., über spezifische Projektstellen). Aber letztendlich trägt der Arbeitgeber (die Uni) das Risiko, wenn das Gesetz verletzt wird, da sich dann der Arbeitnehmer einklagen kann. Der Arbeitgeber lässt sich also auf solche Ausnahmen häufig gar nicht erst ein und Verträge werden im Zweifel dann natürlich nicht verlaengert (auch wenn der Professor mit den Füßen stampft, weil der Postdoc so produktiv ist).

              • CitizenK 14. Oktober 2020, 10:37

                Was ist der Unterschied zum tenure track?

                • Ralf 14. Oktober 2020, 10:59

                  Der Postdoc hat mit dem Tenure Track nichts zu tun. Während Deines Postdocs bist Du noch nicht Teil des Tenure Tracks. Der Tenure Track beginnt erst ab Deiner Einstellung als Assistant Professor.

                  • Stefan Sasse 14. Oktober 2020, 11:14

                    Und das ist doch vergleichbar mit dem Beamtenstatus oder?

                    • Ralf 14. Oktober 2020, 11:49

                      Im amerikanischen System gibt es keinen Beamtenstatus. Und als Assistant Professor hast Du noch keinen “Tenure”, sondern bist lediglich auf dem Tenure Track, also auf dem Weg hin zum Tenure. Wenn Du Deinen Tenure bekommst, ist das zwar eine garantierte Stellung, aber der Begriff “Tenure” bedeutet an jeder Universität etwas anderes und ist im Grunde etwas, was Du in Deinen Vertrag hinein verhandelst. Dabei ist insbesondere das garantierte Gehalt ein kritischer Punkt. Tenure mit 100% garantiertem Gehalt ist relativ selten. Oft garantiert die Universität nur 70% oder 50% oder 30% Deines Gehalts. Manchmal sogar nur 5%. Wenn Du also keine Förderanträge genehmigt bekommst und folglich kein Geld hast, Dir aus diesen Mitteln ein Gehalt zu zahlen, dann hast Du als Professor mit Tenure zwar eine garantierte Stellung, aber eben nur zu dem Gehalt, das für diesen Fall in Deinem Vertrag vereinbart wurde. Sind das z.B. nur 5%, dann bist Du so oder so gezwungen die Universität zu verlassen und Dir einen neuen Job zu suchen. Egal ob Du Tenure hast oder nicht. Deshalb würde ich den Vergleich mit dem Beamtentum hier für eher fehl am Platze halten …

              • Ralf 14. Oktober 2020, 10:40

                Ich kenne das deutsche System nicht so gut, aber in den USA kann von 2-Jahres-Postdocs keine Rede sein. Diese 2-Jahres-Postdocs gab es mal in den guten alten Zeiten in den Siebzigern. Heutzutage ist die Durchschnittsdauer für Postdocs, die weniger erfolgreich sind, bei vier bis fünf Jahren. Die die erfolgreich sind, kommen meist auf fünf bis sechs Jahre. Auch Postdocs, die 10 bis 15 Jahre in ihren Positionen bleiben, werden immer häufiger, wenngleich sie nicht der typische Fall sind. Wenn man das dann zu der Doktorarbeit addiert, die früher mal ebenfalls zwei Jahre dauerte, heute aber vier bis fünf Jahre einnimmt, wobei die meisten dann nochmal ein weiteres Jahr dranhängen, um zu publizieren, dann ist man nach dem Postdoc meist schlicht zu alt, um noch irgendwo eine Stelle in der Privatwirtschaft zu finden.

                • Detlef Schulze 14. Oktober 2020, 15:13

                  @Ralf

                  Die Verteilung ist sehr breit was die Postdoc-Zeit angeht. Das haengt ja alles sehr vom Fachgebiet ab und noch mehr von der Universtiät, wo man eingestellt wird. Professoren an kleinen Liberal-Arts und City-Colleges werden teilweise gleich nach der Promotion eingestellt, auch heute noch. Dann ist man aber auch irgendwas zwischen einem Gymnasial- und Berufsschullehrer und macht natuerlich nicht mehr viel Forschung … wobei wir zurück beim eigentlichen Thema sind.

                • Detlef Schulze 14. Oktober 2020, 15:21

                  @Ralf
                  Nachtrag zur Klarstellung:
                  Die 2-Jahre bezogen sich auf die Dauer eines typischen Arbeitsvertrages. Danach muss man sich eine neue Stelle suchen oder einen neuen Vertrag aufsetzen. Wenn man bei der DFG für ein Projekt eine Postdoc-Stelle beantragt, ist das in der Regel 2 Jahre. Für Doktoranden sind es 3 Jahre.

              • Stefan Sasse 14. Oktober 2020, 11:13

                Ja, der Wissenschaftsbetrieb ist schon scheiße…

  • Erwin Gabriel 10. Oktober 2020, 06:50

    Wann immer ich mich über die Geld-ausgebe-Politik der Regierung aufrege, ist meine Lieblingsplatte, dass unser System die Bildungs- und Besitzverhältnisse der Eltern festschreibt, statt Chancen zur Bildung und zum Aufstieg aus eigenem Antrieb, aus eigener Kraft zu fördern – it‘s the education, stupid.

    Wenn ich dann sehe, dass ein Unternehmen wie die Lufthansa (nur eines von vielen) im Rahmen eines Rettungspakets das Doppelte ihres Börsenwerts in den Rachen geschmissen bekommt, obwohl das bisherige Geschäftsmodell nicht zu retten ist, während der „Digitalpakt“ für die Schule nur mit Bruchteilen der Summen auskommen muss, und dann auch noch jedes Bundesland mit einer eigenen Bildungspolitik mitmischt, kriege ich die Wut.

    Ändert nicht meine Meinung daran, dass ich das Gros der Lehrer für alles andere als pädagogisch wertvoll erachte. Aber guter Unterricht darf nicht an der Ausstattung scheitern.

    • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 10:28

      Völlig bei dir, danke.

    • CitizenK 12. Oktober 2020, 17:45

      „Das Gros der Lehrer“ ist zu pauschal. Zwar sind die Stark-Engagierten in der Minderheit, aber das „Gros“ macht ordentliche Arbeit.

      Ein wirkliches Problem sind die (wenigen), die Motivation zerstören oder Kinder demütigen, emotional schädigen. Gegen die hat das Schulsystem keine wirksame Mittel, und auch die Kollegen sind nur selten ein Korrektiv. Ddie wissen das, sagen aber nichts. Hier müsste man ansetzen.

      • Stefan Sasse 12. Oktober 2020, 18:57

        Es ist wie in jedem Job: 80% normal, 10% Spitze, 10% Pfeifen.

  • cimourdain 10. Oktober 2020, 09:13

    Korrektur zur steuerlichen Absetzbarkeit vom Lehrerarbeitszimmer: Die Reduzierung ist nicht auf dem Mist des Landes BW-gewachsen, sonder war Teil des (Bundes)Jahressteuergesetzes 2007, das für das Arbeitszimmer das alles-oder-nichts Prinzip einführte. Diese Regelung wurde später vom BVerfG wieder gekippt und 2011 hat das FG Köln einem Gewerbetreibenden 50% Teilnutzung zugestanden. Wahrscheinlich meinst du diese Regelung.

    Wo wir bei Steuertipps sind: Wenn Arbeitsmittel selbst angeschafft werden müssen, verschenk das nicht komplett. Weise die Kosten per Rechnung nach und gib es als Werbungskosten in der Steuererklärung an (Computer ggf über 3 Jahre abschreiben). Auch die von dir beschriebenen Studienfahrten sind als Dienstreisen zu werten, also kannst du eigene Reise- und Reisenebenkosten sowie den Verpflegungsmehraufwand geltend machen.

    • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 10:33

      Danke, hab ich eingebunden.

    • CitizenK 10. Oktober 2020, 16:19

      Schon Lafontaine als Finanzminister hat den Lehrern die Absetzbarkeit des Arbeitszimmers gestrichen.
      Auch bei Computern galt lange Zeit die Ganz-oder-gar-nicht-Regel. Dass sich das geändert hat, daran hab ich meinen Anteil 😉 durch Druck auf meinen MdB, der finanzpolitischer Sprecher seiner Partei war. (was nebenbei ein Hinweis ist, dass man manchmal doch etwas ändern kann als Bürger)

  • CitizenK 10. Oktober 2020, 16:07
    • Stefan Sasse 10. Oktober 2020, 19:39

      Deswegen sage ich ja, dieser Kundt hat schon Recht.
      Aber es ist Quatsch, das Drosten in die Schuhe zu schieben. Das sind Politik und Gesellschaft im Gleichklang.

  • CitizenK 10. Oktober 2020, 20:37

    Man könnte mit Regulierungen anfangen. Erste Trippelschritte gibt es ja. Die EU kann da was tun.

  • Ariane 12. Oktober 2020, 12:30

    Danke für den Bericht und die ganze Serie. Einiges wusste ich schon, aber es ist trotzdem immer ein Schock sowas nochmal zu lesen. Das ist meiner Meinung auch ein Problem, das in solchen Berufen (siehe auch Erziehung oder Kranken/Altenpflege enorm viel auf das Privatengagement abgewälzt wird, werden kann), weil die Leute da natürlich nicht so einfach die Hände in den Schoss legen als wenn sie einen Bullshit-Job machen.

    Bei Corona war eine meiner Lieblings-Absurditäten ja, dass man sich (naja) zwar viele Gedanken über die Schulen machte, aber kein Mensch an den Transport und Schulbusse gedacht hat, die dann alle überfüllt und natürlich nicht nach „Kohorten“ getrennt waren. Weil dafür weder Kultusministerien noch die einzelne Schule zuständig sind, sondern irgendjemand anderes.

    Erstmal hat Niedersachsen sich ja jetzt zum Glück in die Herbstferien verabschiedet, nachdem hier eh schon das meiste wieder zu war, weil alles verseucht. Delmenhorst! Neue Partyhauptstadt anscheinend. Ich sag dazu nix mehr.

    Was anderes als nach den Ferien mit Skiausrüstung im Unterricht zu sitzen, ist aber auch noch keinem eingefallen: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Wie-geht-Schule-in-Niedersachsen-nach-Herbstferien-weiter,corona4692.html

    Bin auch gespannt, ob das mit gestaffeltem Unterrichtsbeginn klappen wird, das gab hier nämlich auch schon das Problem, dass zwar der Unterricht später beginnt, die Busse dannn aber nicht mehr fahren. Und logischerweise werden hier sehr viele SchülerInnen aus den Dörfern in die nächstgrößere Stadt gekarrt.

  • Detlef Schulze 13. Oktober 2020, 22:46

    Interessant. Kann es sein, dass Lehrer heute engagierter sind als früher? Meine Tochter geht in die Grundschule und die Lehrer dort scheinen mir super engagiert zu sein. Viel engagierter als meine Lehrer und viel mehr, als es mir notwendig erscheint. Es gibt einen Chor, der zu Weihnachten ein sehr unterhaltsames selbsterdachtes Stück aufführt, es gibt einen Matheklub, einen Zauberklub, man kann Kungfu lernen, genauso wie Zaubern und und und … Das wird natürlich alles von dem Lehrpersonal angeboten. Sowas gab es bei uns nicht. Der Klassenlehrer verschickt abends um 22 Uhr Emails mit wichtigen Infos an die Eltern. Die Mathelehrerin sorgt dafür, dass es einen Ueberlapp der Mathestunden der 2 und 3. Klasse gibt, weil es in der 2. Klasse 3 Ueberflieger gibt, die Mathe mit der 3. Klasse haben sollen um sich nicht zu langweilen. Da wegen Corona die unterschiedlichen Klassenstufen nicht gemischt werden duerfen beantragt die selbe Lehrerin beim Ministerium, dass sie zusätzliche Lehrstunden anbieten kann, um diese 3 Kinder extra zu unterrichten. Als Eltern freut man sich natürlich über so engagierte Lehrer, aber wir wollen natürlich nicht, dass eben diese Lehrer wegen Burnouts laengere Zeit ausfallen.

    Eine Klassenfahrt nach Barcelona finde ich übrigens unnötig und ein bischen dekadent – es sei denn die Schule ist in Perpignan.

    • Stefan Sasse 14. Oktober 2020, 07:51

      Ich glaube nicht. Ich denke, vor allem zwei Aspekte sind hier wichtig:
      1) Wegen des Schweinezyklus ist die Lehrerschaft gerade wahnsinnig jung. Und Junglehrkräfte waren schon immer die im Schnitt engagiertesten.
      2) Gerade so was wie Mail, aber auch andere Formen des Digitalen, machen die Arbeit ein wenig sichtbarer als früher.
      Mir fehlt halt jede Möglichkeit das zu vergleichen, aber ich wüsste nicht, warum Lehrkräfte früher unengagierter gewesen sein sollten.

      Dekadent im Sinne des CO2-Haushalts vielleicht, wobei wir nur mit Anbietern reisen die eine CO2-Abgabe leisten. Warum meinst du das?

      • CitizenK 14. Oktober 2020, 08:54

        Ich denke doch. Auf jeden Fall anders engagiert. DenPauker-Typus gibt es so gut wie nicht mehr. Die waren auf ihre Weise auch „engagiert“ im Sinne von Drill. Heute überwiegt doch das Engagement im Sinne von Helfen zu Eigenständigkeit. Jedenfalls als regulative Idee im Kopf.
        Die von Stefan so genannten „Pfeifen“ lassen heute nicht mehr seitenweise abschreiben, sondern zeigen stundenlang Videos.

        • Stefan Sasse 14. Oktober 2020, 11:12

          Das ist korrekt, aber Pauker gab es schon zu meiner Zeit nicht mehr. Das ist ein Überbleibsel der alten BRD.

      • Detlef Schulze 14. Oktober 2020, 09:55

        @Sasse
        Vielleicht spricht aus mir nur das Alter. Ich weiss eigentlich auch nicht, was eine Studienfahrt ist. Bei uns gab es Klassenfahrten, die gingen aber vielleich mal nach Nordbayern oder Hessen. Die Schule war in Südthüringen. Das längste war eine Fahrt zum Bodensee. Das war aber auch in den frühen 90er, also schon fast 30 Jahre her.

        Mit „dekadent“ bezog ich mich auch auf den CO2-Ausstoss, meinte aber auch, dass so eine Reise Geld und Zeit kostet. Für viele Eltern ist das finanziell kein Problem, für einige wenig aber schon. Wie gesagt, bei meinen Klassenfahrten stand das Lernen nicht an erster Stelle und im Nachhinein betracht war es eigentlich egal, wo wir waren.

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.