Evo Morales beklagt die Luftverschmutzung Reagans am polnischen AfD-Gedenkstein – Vermischtes 28.11.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Scholz plant Schuldenerleichterung für 2.500 Kommunen

Vom geplanten Entschuldungsprogramm des Bundes sollen nach dem Willen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz 2.500 besonders stark kreditbelastete Kommunen in Deutschland profitieren. Im kommenden Jahr sei eine Grundsatzentscheidung von Bund, Ländern und den mehr als 11.000 Gemeinden dazu möglich, sagte der SPD-Politiker. „Und dann können wir das politisch auch hinkriegen.“ Aus der SPD gebe es positive Signale. Kredite in Höhe von knapp 50 Milliarden Euro könnten die betroffenen Gemeinden allein nicht schultern, sagte Scholz zum Abschluss eines zweitägigen Treffens der SPD-Fraktionsvorsitzenden aus Bundestag und Länderparlamenten. Die Länder sollen sich an der Entschuldung beteiligen. Überschuldete Kommunen gebe es in allen Bundesländern, sagte Scholz – bei einer Konzentration in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in Hessen und in Rheinland-Pfalz. […] Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Christian Dürr, warf Scholz vor, seine Position in der laufenden SPD-internen Stichwahl über den Vorsitz verbessern zu wollen. Die Kommunen, die in der Vergangenheit gut gewirtschaftet und Schulden ohne Hilfe vom Bund abgebaut hätten, dürften jetzt nicht die Dummen sein, sagte er weiter. (dpa, Die Zeit)

Auch ein blinder Scholz findet einmal ein Korn. Ein Entschuldungsprogramm für die Kommunen ist eine mehr als sinnvolle Maßnahme. Die Lebensqualität der Einwohner hängt massiv vom Spielraum der Kommunen ab, und hier besteht in Deutschland eine schwere Schieflage. Wir haben, besonders im Ruhrgebiet und im Osten, viele überschuldete und in einem degenerierenden Teufelskreis gefangene Kommunen und gerade im Süden Deutschlands viele sehr prosperierende Kommunen.

Das Problem ist, dass das dumme Geschwätz von Dürr sich zwar bei der FDP-Stammwählerschaft sicher gut macht, aber wenig mit der Realität zu tun hat. Der Finanzspielraum der Kommunen ist viel zu gering, als dass „gutes Wirtschaften“ und das „Abbauen von Schulden ohne Hilfe des Bundes“ groß in ihrer Macht lägen. Sie sind vielmehr abhängig von einer Riesenlatte äußerer und struktureller Faktoren. Es macht daher absolut Sinn, diese Ungleichgewichte auszutarieren.

Es steht schließlich nicht zu erwarten, dass Bund und Länder den Kommunen bald größere Kompetenzgebiete abgeben werden, und genauso wenig, dass sie ihre bestehenden weiter einschränken und zentralistischer arbeiten. Da den Kommunen aber nun mal eben nur relativ wenig ernsthafte Steuerungsgrößen zur Verfügung stehen, muss Hilfe zwangsläufig von außen kommen, und das passierte einerseits wegen dieser bescheuerten Ideologie, wie sie Dürr ausspricht, und andererseits wegen der größeren politischen Vertretungsmacht der reichen Kommunen nicht.

2) Das deutsche Auto als Sicherheitsrisiko

In der Trump-Administration erlebt das Konzept wirtschaftlicher Sicherheit nun eine Konjunktur, wie es sie seit der Hochzeit der scharfen amerikanisch-japanischen Konflikte in den 80er und frühen 90er Jahren nicht gegeben hat. Wie damals sehen sich die Amerikaner heute mit einer sich rasch wandelnden globalen Konstellation konfrontiert. China verschiebt die ökonomischen Gewichte in ähnlich dramatischer Weise wie seinerzeit Japan. Chinas Aufstieg erscheint indes noch alarmierender, weil die Volksrepublik – anders als Japan – auch nach militärischer Macht strebt und die internationale Ordnung unter Washingtons Führung offen in Frage stellt. Befeuert werden diese Entwicklungen durch rapiden technologischen Wandel. Die Durchbrüche in Künstlicher Intelligenz, 5G oder Supercomputing sind Nachfahren der Computerrevolution, die vor vierzig Jahren das traditionelle amerikanische Wirtschafts- und Sicherheitsdenken umstürzte. Die gegenwärtig in den Vereinigten Staaten zu beobachtende Konjunktur des Konzepts „wirtschaftlicher Sicherheit“ ist beunruhigend. Sie spitzt die Konflikte mit China zu und birgt die Gefahr, den globalen Handel im Hochtechnologiebereich tiefgreifend zu verändern, wie die Auseinandersetzung um Huawei zeigt. In der Tat verschiebt das wirtschaftliche Sicherheitsdenken das amerikanische Verständnis des internationalen Systems so sehr, dass selbst Verbündete durch diese Brille betrachtet werden. In diesem Sinne sind die angedrohten Zölle auf Automobilimporte kein Kollateralschaden der größeren chinesisch-amerikanischen Konflikte. Sie sind Ausdruck einer historisch fundierten Reinterpretation der internationalen Beziehungen durch die Trump-Administration, die weit über China hinausweist. (Mario Daniels, FAZ)

Zwei Gedanken hierzu. Einerseits ist das kein amerikanisches Phänomen, wenngleich die europäische Dimension sich überwiegend auf die Rüstungsindustrie beschränkt. Hierzulande gibt es aktuell in der EU-Handelspolitik den Konflikt darum, wann ein Land Gebrauch von der Möglichkeit macht, bestimmte Technologien – aktuell umstritten die neue deutsche Fregatte – als die nationale Sicherheit im Kern berührend zu erklären und dann nicht europaweit ausschreiben zu müssen. Ich würde allerdings erwarten, dass das gerade von Akteuren wie Frankreich oder natürlich den rechtspopulistischen Autokratien, die alle ohnehin nie eng mit dem Freihandelskonzept à la WTO verbandelt waren, Impulse in die Richtung zu erwarten sind.

Der andere Punkt ist, dass diese Befürchtungen eine völlig berechtigte Grundlage haben. Chinesische Handys oder Digitalinfrastruktur etwa sind ein gigantisches Sicherheitsrisiko, das bemerkt ja gerade etwa Italien, die mit ihrer Privatisierung der Häfeninfrastruktur, die von chinesischen Staatskonzernen gekauft wurden, mittlerweile massive Abhängigkeiten der unangenehmsten Art entwickelt haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Zeit des freien Welthandels in den nächsten Jahren völlig zum Erliegen kommt und deutlich abgeschotteteren und fragmentierteren Märkten Platz macht. Gerade aus deutscher Sicht ist das natürlich ein massives Problem, weil wir als Exportnation so sehr von freien Märkten abhängen.

3) Deutscher Gedenkstein sorgt für Empörung

Am Volkstrauertag haben Angehörige der deutschen Minderheit im polnischen Bytom einen Gedenkstein eingeweiht, mit dem an die gefallenen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie an „Selbstschutz- und Freikorpskämpfer“ gedacht werden soll. Dieses Denkmal sei durch Spenden erst möglich geworden, schreibt der „Deutsche Freundeskreis in Schlesien“ auf Facebook. Unter anderem habe der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Protschka das Projekt finanziell unterstützt. Neben Protschka sind auf dem Stein die AfD-Nachwuchsorganisation „Junge Alternative“ und die Burschenschaft Markomannia Wien zu Deggendorf genannt. Der Bayerische Verfassungsschutz erklärte auf BR-Anfrage, dass die Überschneidungen der Burschenschaft zur rechtsextremistischen Szene bekannt seien. (Patrick Gensing, Tagesschau)

Mittlerweile wurde der fragliche Gedenkstein abgebaut. Ich verlinke dieses Fundstück hauptsächlich deswegen um zu zeigen, dass die AfD nicht nur den einen oder anderen zufälligen Neonazi in ihren Reihen hat. Das ist systemisch. Die Leute sind eine große, relevante Gruppe in der Partei, mit Abgeordneten, die sich sicher genug fühlen solche Scheiße abzuziehen, und die Partei duldet das und tut nichts dagegen. Wer sich aber mit solchen Leuten gemein macht, muss dann eben auch damit rechnen, dass er mitgefangen, mitgehangen ist. Das Gleiche gilt ja für linke Parteien, in denen diverse Mitglieder glühende Verwunderung für Chavez, Maduro oder Morales aufbringen, ebenso. Siehe dazu passend auch Fundstück 5.

4) Sacha Baron Cohen’s Keynote Address at ADL’s 2019 Never Is Now Summit on Anti-Semitism and Hate

On the internet, everything can appear equally legitimate.  Breitbart resembles the BBC.  The fictitious Protocols of the Elders of Zion look as valid as an ADL report.  And the rantings of a lunatic seem as credible as the findings of a Nobel Prize winner.  We have lost, it seems, a shared sense of the basic facts upon which democracy depends. […] First, Zuckerberg tried to portray this whole issue as “choices…around free expression.”  That is ludicrous.  This is not about limiting anyone’s free speech.  This is about giving people, including some of the most reprehensible people on earth, the biggest platform in history to reach a third of the planet.  Freedom of speech is not freedom of reach.  Sadly, there will always be racists, misogynists, anti-Semites and child abusers.  But I think we could all agree that we should not be giving bigots and pedophiles a free platform to amplify their views and target their victims. Second, Zuckerberg claimed that new limits on what’s posted on social media would be to “pull back on free expression.”  This is utter nonsense.  The First Amendment says that “Congress shall make no law” abridging freedom of speech, however, this does not apply to private businesses like Facebook.  We’re not asking these companies to determine the boundaries of free speech across society.  We just want them to be responsible on their platforms. If a neo-Nazi comes goose-stepping into a restaurant and starts threatening other customers and saying he wants kill Jews, would the owner of the restaurant be required to serve him an elegant eight-course meal?  Of course not!  The restaurant owner has every legal right and a moral obligation to kick the Nazi out, and so do these internet companies. (Sascha Baron Cohen, ADL)

Diese Keynote wurde mittlerweile das ganze Internet hoch und runter geteilt, und das völlig zu Recht. Cohen spricht ein Paradox der großen Internetkonzerne an. Einerseits handelt es sich um Privatunternehmen, die keine hoheitlichen Aufgaben haben. Andererseits sind sie als Plattformen dermaßen bedeutend, dass sie praktisch als öffentlicher Raum zählen müssten. Dieses Paradox müssen wir als Gesellschaften dringend lösen, wenn wir die aktuell herrschenden Probleme lösen wollen, die diese Plattformen umgeben.

Ich mag auch Cohens Formulierung von „freedom of speech is not freedom of reach“ sehr, weil sie ein fundamentales Missverständnis anspricht. Überall meckern Leute darüber, dass sie „zensiert“ werden oder in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt, weil sie nicht unwidersprochen stehen oder weil ihnen jemand seine Plattform nicht zur Verfügung stellt. Aber das hat nichts miteinander zu tun.

5) Polizei zählt mehr als 14.000 Straftaten von Rechten

Die politische Kriminalität von Neonazis und anderen rechten Tätern wächst auch in diesem Jahr mit hoher Geschwindigkeit. Die Polizei hat nach Informationen des Tagesspiegels in den ersten drei Quartalen bereits14.311 Straftaten festgestellt, darunter 625 Gewalttaten. Bei den Angriffen wurden mindestens 271 Menschen verletzt. Drei Fälle bewertet die Polizei als versuchte Tötungen. Der mutmaßliche rechtsextreme Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wird nicht genannt. […] Das Innenministerium hat zudem auf Anfragen von Pau über antisemitische Straftaten berichtet. Demnach stellte die Polizei von Januar bis September 1155 Delikte fest, die Judenhasser verübten. Sie waren nach Angaben der Polizei meist rechts motiviert. In 41 Fällen handelte es sich um Gewalttaten. Dabei erlitten 17 Personen Verletzungen. (Frank Jansen, Tagesspiegel)

Jetzt haben wir es schwarz auf weiß vom BKA. Politische Kriminalität hat eine ungeheure Schlagseite nach rechts, und das ständige „aber linke Gewalt!!elf!1!!“ ist eine reine Nebelkerze. Wenn etwas ein dermaßen großes Ungleichgewicht hat, dann muss dort auch verstärkt gearbeitet werden, ganz egal, was die politischen Instinkte sagen. Das gilt sowohl für bestimmte Kommentatoren hier im Blog als auch für das ganze CDU-Präsidium, das sich trotz der Welle rechter Gewalt genötigt sah, einen „Aktionsplan linke Gewalt“ zu verabschieden, aber immer noch keinen für rechte hat. Das ist ein unhaltbarer Zustand.

6) The Cancellation of Colin Kaepernick

Until recently, cancellation flowed exclusively downward, from the powerful to the powerless. But now, in this era of fallen gatekeepers, where anyone with a Twitter handle or Facebook account can be a publisher, banishment has been ostensibly democratized. This development has occasioned much consternation. Scarcely a day goes by without America’s college students being reproached for rejecting poorly rendered sushi or spurning the defenders of statutory rape. […] The N.F.L. is revered in this country as a paragon of patriotism and chivalry, a sacred trust controlled by some of the wealthiest men and women in America. For the past three years, this sacred trust has executed, with brutal efficiency, the cancellation of Colin Kaepernick. This is curious given the N.F.L.’s moral libertinism; the league has, at various points, been a home for domestic abuserschild abusers and open racists. And yet it seems Mr. Kaepernick’s sin — refusing to stand for the national anthem — offends the N.F.L.’s suddenly delicate sensibilities. And while the influence of hashtags should not be underestimated, the N.F.L. has a different power at its fingertips: the power of monopoly. Effectively, Mr. Kaepernick’s cancellation bars him from making a living at a skill he has been honing since childhood. […] The new cancel culture is the product of a generation born into a world without obscuring myth, where the great abuses, once only hinted at, suspected or uttered on street corners, are now tweeted out in full color. Nothing is sacred anymore, and, more important, nothing is legitimate — least of all those institutions charged with dispensing justice. And so, justice is seized by the crowd. This is suboptimal. The choice now would seem to be between building egalitarian institutions capable of withstanding public scrutiny, or further retreat into a dissembling fog. The N.F.L. has chosen the latter option. (Ta-Nehisi Coates, New York Times)

Ein anderes Feld, auf dem beständig über die (vermeintlichen) Untaten der einen Seite geredet wird, ist diese Idee von „cancellation„, die nahtlos in die ganze unsägliche „political correctness„-Debatte übergeht. Und während es unzweifelhaft ebenso problematische wie dumme Versuche der Cancellation von allen Seiten gibt (ich hasse etwa die ständige Forderung nach dem Feuern von Leuten, die irgendwelchen rassistischen oder sonstwie abseitigen Mist gesagt haben), so ist doch die oben beschriebene wegen der Macht-Asymmetrie ungemein problematischer.

Ein Mob, ob online oder analog, ist super unangenehm, aber wir können ihn wenigstens klar sehen, diskutieren und uns ihm in den Weg stellen. Institutionelle Diskriminierung, vor allem durch private Institutionen (öffentliche haben deutlich stärkere Schutzmechanismen) wie Arbeitgeber, funktioniert unauffälliger, für die Betroffenen wesentlich verheerender und praktisch ohne Schutzmechanismen.

7) American Slavery and ‘the Relentless Unforeseen’

Suddenly, in the late 1740s and early 1750s, Western culture reached a turning point, producing what the great modern scholar of slavery and the antislavery movement David Brion Davis called “an almost explosive consciousness of man’s freedom to shape the world in accordance with his own will and reason.” The causes of this moral revolution were manifold and remain much debated, but need not detain us here; what is important is that it brought, in Davis’s words, “a heightened concern for discovering laws and principles that would enable human society to be something more than an endless contest of greed and power.” That concern made slavery appear for the first time—to the un-enslaved—as a barbaric offense to God, reason, and natural rights. […] Against slavery’s millennia, the struggle to abolish it came abruptly. By the end of the succeeding century, against slavery’s immense and unyielding power, it had largely succeeded. As a spiritual as well as political endeavor, it is one of the most, if not the most astonishing unfolding of the unforeseen in all of recorded human history. Yet it is too often at best consigned to the inevitable, as something that was bound to happen as if in the natural unfolding of progress. At worst, it is pushed to the margins, as if slavery’s abolition came about without abolitionists, without politics, let alone without rebellious slaves—the byproduct, as some accounts say, of impersonal, amoral economic forces, or the unintended outcome of white people’s selfish squabbles over policy and profits, or even as an accident. (Sean Wilentz, Columbian College of Arts and Sciences)

Ich möchte die „moral revolution“ betonen. Die Abschaffung der Sklaverei wurde vor allem deswegen überhaupt möglich, weil eine Minderheit durch permanentes Moralisieren langsam, aber stetig den moralischen Kompass einer gesamten Gesellschaft verschob. Genauso wie bei den anderen großen Bürgerrechtsrevolutionen, ob dem Kampf für das Frauenwahlrecht, der Emanzipation der Schwarzen oder der der Frauen oder der LTBGQ-Community, stets haben wir das Moralisieren, das von denjenigen, die noch nicht auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, als bevormundend und nervig empfunden wird. Und später kann dann keiner mehr verstehen, wie man je dagegen sein konnte.

Auf der anderen Seite ist es immer wieder instruktiv sich klar zu machen, wie prekär und umstritten diese Themen zu ihrer jeweiligen Zeit waren. Der Kampf gegen die Sklaverei und die moralische Deutungshoheit währte Jahrzehnte. Und selbst dann brauchte es das militärische commitment der Royal Navy und der US Army, um dem Treiben endlich ein Ende zu setzen. Man muss sich immer klar machen, wie umkämpft und gefährdet diese Prozesse sind und waren. Das sind keine Selbstläufer.

8) Labour’s economic programme isn’t just radical – it’s credible too

Labour’s election manifesto is more transformative than any other seen by this country since 1945. It includes dramatic economic interventions such as building 100,000 council houses a year, the creation of a million jobs through a Green Industrial Revolution, and free universal broadband. But it also includes small changes that would make a crucial difference to peoples’ lives – reinstating 3,000 local bus routes, providing free annual dental check-ups, increasing the pensions of former miners. Immediately, commentators began asking the same question: “how will you pay for it?” This is not a question that is addressed to the Tories when they plan tax cuts that will primarily benefit the rich. But after a decade of austerity, many people are incredulous at the idea that the sixth-largest economy in the world could afford to provide a decent standard of living for its people – that things could be better for them. The power of the austerity argument is, of course, reinforced by the experience of poverty. Most traditional Labour voters are struggling to make ends meet in a broken economy. The idea that they could afford to take out a payday loan and pay to send their children to university seems absurd. Why should it be any different for the government? Responding to these concerns – rooted in real experience – with abstract economic arguments will fall on deaf ears. Rather than focusing on the narrative of “borrowing to invest”, an opaque concept to most people, Labour has opted to frame its response in class terms: the rich will pay for it. (Grace Blakeley, The New Statesman)

Völlig unabhängig davon, was man von Corbyns und Labours Programm hält, ist die Aussage Blakeleys sicher richtig, dass die Frage nach dem „who is gonna pay for it“ nie gestellt wird, wenn es um auf Pump finanzierte Steuersenkungen für die Reichen geht. Siehe auch Trump, Donald J. Ich glaube ein guter Teil davon ist einfach nur sozialer Habitus. Man gehört als Journalist nur dann zu den seriösen Vertretern der Branche, wenn man diese Position vertritt. Für Austerität und angebotsorientierte Politik zu sein ist wie (in Deutschland) die Homoehe und Flüchtlingsintegretation zu begrüßen; Teil des Elitenkonsens‘.

Zum konkreten Vorhaben. Die Ungleichheit in Großbritannien ist ein deutlich größeres Problem als bei uns. Die Masse der Obdachlosen etwa, die sich dieses Land aus rein ideologischen Gründen leistet, ist absurd. Das Mutterland des Kapitalismus ist in vielerlei Beziehung eine Klassengesellschaft geblieben. Dass zur Hilfe der breiten britischen Unterschicht eine Umgestaltung nötig ist, sehe ich absolut auch so.

Zuletzt der politische Aspekt. Auch hier hat Blakeley Recht. Ich habe das schon vor Jahren für die SPD auch so aufgeschrieben. Von der politischen Kommunikation her macht es nur Sinn, den klassenkämpferischen Aspekt hervorzuholen. Der ist das einzig funktionierende Gegenstück zum hypermoralisierenden erhobenen Zeigefinger der Fans der Schwarzen Null. Zumindest das einzige, das bisher gefunden wurde.

9) That Junk in the Air Is Really Bad for Us

The short-term effects of pollution are easy to measure, because air quality varies from day to day. Chess players, for example, make worse decisions on polluted days. Stock market returns are lower when the air quality is worse in New York City. Politicians’ language is less complex when pollution is higher. In the long term, chronic exposure to pollution is correlated with accelerated cognitive decline in old age, including increased risk of dementiaAlzheimer’s, Parkinson’s disease and stroke. Children may suffer the most from the baleful effects of toxic air, because the damage done to them can be permanent. In China, studies have found that exposure to air pollution at birth is associated with reduced cognitive skills later in life. Southern California kids who grew up breathing more polluted air do worse on math and reading tests. Students who switch to a school that’s downwind of a highway (and thus gets more pollution) see their scores decline. One study estimated that an increase in PM2.5 concentration of 5 micrograms per cubic meter — about one half the average level in New York City — would result in the loss of two IQ points, which is about the amount gained from one or two years of education. This is a very substantial effect. Even if one believes that math, reading and IQ tests aren’t good measures of cognitive ability, abrupt decreases in these scores indicate that something is hurting children’s brains. This is the kind of thing that a functional civilization should be trying to prevent. (Noah Smith, Bloomberg)

Ich habe in einem Vermischten vor anderthalb Monaten bereits auf die Luftverschmutzung als ein Problem hingewiesen, das von der Klimadebatte regelrecht verdrängt wird. Es ist ja schon gut, dass wir endlich ernsthaft über den Klimawandel reden, aber es ist auf der anderen Seite natürlich bedauerlich, dass Luftverschmutzung so vom Radar verschwunden ist. Früher war es mal genau umgekehrt (nicht, dass das besser gewesen wäre…). Ich glaube das liegt unter anderem an dem Eindruck, dass das Problem gelöst sei – und der Eindruck kommt wie so oft daher, dass man sehr lang darüber geredet hat. Aber drüber reden und lösen sind zwei Paar Stiefel. Da sind dann Policy- und Kommunikationsdesaster wie Dieselfahrverbote auch echt nur eingeschränkt hilfreich.

10) Reagnism is cancelled

Hawley, 39, became the youngest member of the Senate after a 2018 upset victory over a powerful Democratic incumbent, Claire McCaskill, and he has quickly vaulted himself to prominence in Washington’s elite conservative circles. Along with Senate Republicans such as Ted Cruz, and ex-Trump administration officials such as Nikki Haley, his name is frequently floated as a potential lead architect of Trumpism after Trump. His speeches around town, including one he delivered on Tuesday evening while accepting an award at the annual gala of the American Principles Project Foundation, a socially conservative public-policy organization, are bracingly defiant of Republican orthodoxy: He rails against income inequality, condemns the policy deference afforded to corporations, and speaks warmly about the civic value of labor unions. He often talks about the “great American middle” being crushed by the decline of local communities, the winner-take-all concentration of wealth, and the inaccessibility of higher education. And he said that the modern Republican Party’s split over competing impulses towards free-market economics and social conservatism has led some conservatives to ignore the effects of their policies on the middle and working class. “It’s time to do away with that,” he told me. […] Hawley’s economic views are set apart from the left in part by his diagnosis of America’s problems. He sees social isolation and the erosion of local communal life—including church, family, neighborhoods, and labor unions—as intimately tied to declining economic opportunity for the middle class. “Economic policy and our communities and neighborhoods sit right together. They’re really intertwined,” Hawley told me. And unlike most Democrats, Hawley argues that cultural pathologies have helped create this fractured political moment, particularly the cult of individualism that he says drives everything from public policy to pop culture. In a vision of America in which liberty is primarily about unlimited personal freedom, he said in his speech to the American Principles Project Foundation, “place and home don’t matter much, and civic participation is beside the point.” This same vision produces “economic policy focused on individual advancement, where advancement means making more money and consuming more stuff,” he said, according to his prepared remarks. “So in popular culture, billionaires become heroes, and the everyday working man becomes just some guy who never realized his potential.” (Emma Smith, The Atlantic)

{ 53 comments… add one }
  • Kning4711 28. November 2019, 10:01

    zu 1)
    Im Prinzip gebe ich Dir recht, die Herstellung der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit der Kommunen ist wichtig um die Lebensverhältnisse nicht weiter auseinanderdriften zu lassen.
    Gleichsam sollte es aber bessere Vorgaben geben, wofür die Kommunen Ihr Geld ausgeben. Im Zuge der Finanzkrise war bekannt geworden, dass eine ganze Reihe Kommunen in NRW sich auf waghalsige Spekulationsabenteuer eingelassen hatten. Prestigeprojekte (siehe Köln mit Oper, Bonn mit Beethovenhalle) reißen massive Löcher in die Stadthaushalte, so dass kein Geld da ist Schulen und öffentliche Infrastruktur zu sanieren. Wenn eine Kommune reich ist, kann Sie sich ggf. solche Abenteuer leisten, arme Kommunen bedürfen aber verbesserter Leitplanken, damit soetwas nicht passiert. Insofern kann ich schon verstehen, dass man bevor den Kommunen wieder Geld in den Rachen wirft genau auf diese Faktoren eine Antwort findet, damit das Geld mit hohem Wirkungsgrad verwendet werden kann.

    • Stefan Sasse 28. November 2019, 17:50

      Bin ich völlig bei dir.

    • Ariane 29. November 2019, 10:55

      Jep.
      Ich würde noch ergänzen, dass wir eigentlich die Wirtschaftshilfen komplett neu strukturieren müssten. Die sind fast immer so aufgebaut, dass sie nur anteilig greifen und die Kommunen einen Teil selbst schultern.
      Das führt dann logischerweise dazu, dass die halbwegs reichen Kommunen auch viel mehr Wirtschaftshilfen bekommen, während die wirklich armen kein freies Kapital haben, um an diese Wirtschaftshilfen überhaupt heranzukommen. So vergrößert sich der Graben natürlich nur noch mehr.

      Und wir könnten so elegant das Problem lösen, irgendwo Geld reinzupumpen, das vielleicht für Klimbim rausgehauen wird, weil die Hilfen für spezifische Projekte vorgesehen sind.

      • Maniac 2. Dezember 2019, 10:13

        1. Was sind Wirtschaftshilfen? Dieser Begriff sagt mir nichts.

        2. Es gibt Art. 28 III GG aus gutem Grund. Kommunen sind deshalb so mit allgemeinen Deckungsmitteln auszustatten, dass sie in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen. Was sie auf keinen Fall brauchen, sind weitere zweckgebundene Mittel, deren Verwendung ihnen unter Aufbringung massiver bürokratischer Vorgaben von Bund oder Land vorgeschrieben wird.

        3. Zur Erinnerung: Auch die Amtsträger und Vertretungen in Städten und Gemeinden werden vom Volk in allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Allein diese demokratisch gewählten Organe sollten darüber entscheiden, ob in einer Kommune die verfügbaren Mittel angemessen verwendet wurden oder nicht und keine Bearbeiter*in im Förderdezernat einer staatlichen Behörde in Hannover, Mainz oder Kiel.

        Gruß, M.

  • Stefan Pietsch 28. November 2019, 10:01

    1) Scholz plant Schuldenerleichterung für 2.500 Kommunen

    Es ist wie immer: der positive, weil sinnvolle Aspekt wird gelobt und der politische Gegner ob seiner Skepsis beschimpft. Nur, wie sind denn viele Kommunen überhaupt in die Bredouille gerutscht? Und warum sollen eventuell gutverdienende Bürger in Kronberg für politische Hybris haften, in die Dorfpolitiker in Flensburg verfallen sind? Führt das schon zu besserer Politik in der Zukunft? Wohl kaum, siehe Berlin.

    7) American Slavery and ‘the Relentless Unforeseen’

    Die Abschaffung der Sklaverei wurde vor allem deswegen überhaupt möglich, weil eine Minderheit durch permanentes Moralisieren langsam, aber stetig den moralischen Kompass einer gesamten Gesellschaft verschob.

    Eine hübsch geschönte Sicht, damit es ins eigene Narrativ passt. Die USA waren nicht Vorhut bei der Abschaffung der Sklaverei und es waren wirtschaftliche Interessen damit verbunden. Wären die Nordstaaten so abhängig von Sklavenarbeit gewesen wie die Plantagenbesitzer im Süden des Landes, hätte es mit der Abschaffung der Sklaverei noch eine Weile gedauert.

    Auf der anderen Seite sind die USA heute eine der wenigen Länder, die auf den Vollzug der Todesstrafe vertraut, allen Fehlurteilen und internationalen Ächtungen zum Trotz. Und so geht es auch mit dem Recht auf Waffen, wo Generationen von Moralisten es nicht vermochten, dieses Urrecht der amerikanischen Ureinwohner auch nur einzuschränken.

    8) Labour’s economic programme isn’t just radical – it’s credible too

    Von der politischen Kommunikation her macht es nur Sinn, den klassenkämpferischen Aspekt hervorzuholen.

    Man fragt sich, wo damit Wahlen gewonnen wurden… Daneben gehört es zum Selbstverständnis von Linken, bei der Frage „Who is gonna pay for it?“ zu trumpen: „Die Reichen, die Reichen!!!“

    11) The Rise and Fall of Evo Morales

    Morales hat gegen die Verfassung verstoßen, damit musste er zum Rücktritt und Verzicht gezwungen werden. Das Militär wird in Bolivien nicht die Macht übernehmen, wir sind nicht in 1970.

    • Rauschi 28. November 2019, 10:48

      Und so geht es auch mit dem Recht auf Waffen, wo Generationen von Moralisten es nicht vermochten, dieses Urrecht der amerikanischen Ureinwohner auch nur einzuschränken.
      Ach so, nur die Indianer dürfen Waffen tragen? Wäre mir neu. 😛

      Morales hat gegen die Verfassung verstoßen, damit musste er zum Rücktritt und Verzicht gezwungen werden.
      In einem Rechtsstaat geht das aber ohne Putsch, nein, er muss vor Gericht, wenn er gegen das Recht verstößt, was denn wohl sonst?

      Das Militär wird in Bolivien nicht die Macht übernehmen, wir sind nicht in 1970.
      Sagte der Typ mit der Glaskugel. Wer sollte die daran hindern, die Macht zu behalten?

    • Kning4711 28. November 2019, 15:57

      Und warum sollen eventuell gutverdienende Bürger in Kronberg für politische Hybris haften, in die Dorfpolitiker in Flensburg verfallen sind

      Exakt, der Transfer des Geldes an die Kommunen darf nicht ein Freibrief sein, irgendwelche Prestige oder sonstige verschwenderischen Initiativen zu befördern. Ich frage mich nur, wie man das politisch und auch verwaltungstechnisch darstellen möchte. Eventuell könnte man für die Verteilung der Bundesmittel zu Schuldentilgung festlegen, das diese Annahme die Kommunen verpflichtet, die vormals zur Schuldentilgung verwendeten Mittel nur für Investitionen zu nutzen die auf drei wesentliche Ziele einzahlen: Schaffung Bezahlbaren Wohnraums, Ausbau und Unterhalt öffentlich notwendiger Infrastruktur (insb. Bildungseinrichtungen), Sicherstellung CO2 reduzierender Maßnahmen.

    • Stefan Sasse 28. November 2019, 17:51

      1) Ich habe in meinem Kommentar geschrieben, dass es oft exogene Faktoren sind.
      8) Nun, wenn ich von dir in den letzten Jahren etwas gelernt habe, dann, dass man unbedingt auf solche Menschen zugehen und ihre Sorgen und Nöte ernstnehmen muss. Von daher erwarte ich von dir jetzt eine sehr empathische und aufgeschlossene Beschäftigung mit der Idee, Reichen den Arsch wegzubesteuern.
      11) Hoffen wir’s.

      • Stefan Pietsch 28. November 2019, 22:56

        1) Wenn in einer Region eine reiche neben einer armen, eine schuldenfreie neben einer hoch verschuldeten Gemeinde liegt, dann sind das nicht exogene Faktoren. Und wenn Du der Ansicht bist, alles sei exogen, dann macht es keinen Sinn, die rechtliche Autonomie der Kommunen aufrecht zu erhalten, wenn man die Finanzverwaltung davon trennt. Beides gehört zusammen.

        8) Deine Schüler lernen hoffentlich besser. Selbst viele Liberale bestreiten nicht, dass in UK etwas falsch ist und Labour einen Punkt hat. Auch der Economist gesteht das zu. Nur bezweifeln die meisten, dass die Ideen von Corbyn dazu geeignet sind, die Probleme nur zu mildern. Und ja, man muss zu hören.

        Doch weder hörst Du AfD-Anhängern zu, noch erkennst Du ein Problem und schon gar nicht willst Du etwas ändern.

        11) Bolivien hat wie die anderen südamerikanischen Staaten eine starke Zivilgesellschaft. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen den Zugewanderten und den Indigenen, den Industrien und den Landarbeitern, der Machtzentrale La Paz und dem Wirtschaftszentrum Santa Cruz. Anders als in Venezuela kann das Militär in dieser Gemengelage kein dauerhafter Machtfaktor sein.

        • Stefan Sasse 29. November 2019, 06:48

          1) Ne, aber ich rede auch eher von kompletten Landstrichen. Dass es da noch Verschiebungen geben kann ist klar, aber was willst machen, wenn du eine Kommune in einer vom Strukturwandel betroffenen Region bist?
          8) Und retour.
          11) Hoffen wir es.

          • Stefan Pietsch 29. November 2019, 09:26

            1) Nur, so ist es ja häufig nicht. Klar, es gibt die klassisch armen Gegenden, aber nehmen wir allein das Bundesland Bremen nebst Bremerhaven. Seit ich politisch denken kann – also schon ein paar Jahrzehnte – ist das Land strukturarm und überschuldet. Weit über ein Jahrzehnt bekam es deswegen noch Ergänzungszuweisungen des Bundes. Analog zum Saarland mochten Einwohner wie Politik nichts an dem im Grunde desaströsen Zustand ändern. Der Politikertypus wird von dem Land geprägt, aus dem er kommt: Lafontaine, Altmaier, Kramp-Karrenbauer. Alle der gleiche Schlag. Selbstverständlich sind dann auch die öffentlichen Leistungen schlecht, selbst wenn es wie bei der Bildung nicht um Einkommensunterschiede geht.

            Beide Bundesländer sind anschauliche Beispiele wie es nicht geht und was es vor allem bewirkt, einfach nur ein paar Schulden umzuschichten: auf Dauer gar nichts.

            8) Da gibt’s nichts retour. Du kannst ja darlegen, wo Du die Einwände von Nationalkonservativen überhaupt ernst nimmst. Im Gegenzug schreibe ich einen Artikel, wo ich die Armut des Prekariats ernst nehme – und angehen will. Wollte ich sowieso mal schreiben. 😉 Deal?

            • Ariane 29. November 2019, 11:24

              aber nehmen wir allein das Bundesland Bremen nebst Bremerhaven. Seit ich politisch denken kann – also schon ein paar Jahrzehnte – ist das Land strukturarm und überschuldet.

              So einfach ist es aber nicht. Ich wohne ja da, 10 Minuten von Bremen entfernt, aber im Bundesland Niedersachsen.
              Meine Gemeinde zieht unheimlich viel Kapital aus Bremen ab. Wir kriegen die Unternehmen, die die Nähe zur Großstadt wollen und gleichzeitig die günstigeren Steuersätze, wir haben dank Großstadtnähe beste Autobahnverbindungen in alle Richtungen. Wir bekommen die besser betuchten Bewohner, die sich Haus und Auto im Grünen leisten können, usw. Und das verstärkt sich ja, mit dem Kapital, das wir Bremen verdanken, können wir hier Straßen und Schulen bauen und werden noch attraktiver, während Bremen immer weniger Geld hat, um seine „Großstadtprobleme“ zu lösen, die wir hier logischerweise nicht haben.

              Es ist also beileibe auch nichts, was man einfach auf gutes und schlechtes Wirtschaften herunterbrechen kann.

              • Stefan Pietsch 29. November 2019, 11:32

                Vor diesem Problem steht aber jede Großstadt. Im Frankfurter Umland profitieren die Städte im Taunus bis Bad Homburg und Bad Vilbel und runter nach Darmstadt. Dennoch sind Metropolen wie Stuttgart, München, Hamburg nicht arm.

                Juristisch nenne ich das eine Schutzbehauptung.

                • Ariane 29. November 2019, 12:00

                  Klar gibt es diese Unterschiede bei allen Großstädten, in Bremen (und auch Hamburg) ist es aber extremer, weil das Geld aus dem Wirtschaftskreislauf erstmal herausfällt, während es zb bei Frankfurt zumindest noch im selben Bundesland verbleibt.

                  Mir ging es nur darum, deine einfache Sicht von gutem und schlechtem Wirtschaften anzugreifen. Bremen ist da ein gutes Beispiel, würde das Bundesland einfach im Umkreis von 20km vergrößert, würde es mit gleichem Wirtschaften automatisch besser dastehen. Genauso, wenn man einfach Bremerhaven raustrennen würde.
                  Und dann sind wir eben doch wieder bei strukturellen Problemen, denn in Bremerhaven wurde nicht besonders schlecht gewirtschaftet, sondern da ist nahezu der Haupt-Wirtschaftssektor zusammengebrochen.

                • Stefan Sasse 29. November 2019, 12:41

                  Aber Frankfurt ist kein eigenes Bundesland, das ist der Punkt! Bremen und Berlin sind Relikte der Nachkriegsordnung.

                  • Stefan Pietsch 29. November 2019, 12:59

                    Wir sprechen von den kommunalen Finanzen. Und hier bietet sich sehr wohl der Vergleich an. Daneben schreibt Ihr kräftige Plädoyers für die Auflösung der Stadtstaaten als selbständige Bundesländer. 😉

                    • Kning4711 29. November 2019, 13:26

                      Daneben schreibt Ihr kräftige Plädoyers für die Auflösung der Stadtstaaten als selbständige Bundesländer.

                      Zumindest für Bremen, Saarland und Berlin wäre es aus ökonomischer Sicht total sinnvoll eine Neuordnung herbeizuführen. Das Grundgesetzt benennt ja in Artikel 29 explizit: „Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, daß die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen.“

                      Leider ist das aber auch der eine Punkt, in dem das Grundgesetze Volksentscheide fordert – die Bundesländer die geschluckt würden, wären sicherlich nicht bereit einer Änderung zuzustimmen. Letztlich ist auch politische und behördliche Administration an dieser Änderung wenig interessiert, verlören doch viele Ihren Job.

                      Also müsste zunächst Artikel 29 geändert werden, aber eben auch so, dass man mit Artikel 79 (3) Ewigkeitsgebot nicht in Konflikt gerät.

                      Sinnvoll wäre eine Verschlankung der Bundesländer aber allemal.

                    • Stefan Sasse 30. November 2019, 09:02

                      Gab ja auch schon früher Versuche, Berlin und Brandenburg zu verschmelzen.

                  • Ralf 29. November 2019, 20:56

                    Aber Frankfurt ist kein eigenes Bundesland, das ist der Punkt! Bremen und Berlin sind Relikte der Nachkriegsordnung.

                    Also da ist mein Mitleid ehrlich gesagt eher begrenzt. Dann soll sich Bremen halt mit Niedersachsen und Berlin mit Brandenburg vereinigen. Die Probleme, die Ariane anspricht, haben eine offensichtliche Lösung …

  • CitizenK 28. November 2019, 11:47

    zu 7 und 9:

    Sehr wahr. Das Gleiche gilt für: Prügeln von Kindern und Ehefrauen, Rauchen im Restaurant usw.

    Auch das Vergiften der Atemluft durch Auto- und Industrie-Abgase wird man eines Tages nicht mehr verstehen. Vor allem, wenn man sich die Schäden bei Kindern klar macht, die Du zitierst. Das ist ja viel schlimmer – und viel besser empirisch belegt – als ich dachte. Und
    @ Stefan Pietsch
    zeigt mal wieder in schöner Deutlichkeit, dass nicht sein kann, was (aus seiner Sicht) nicht sein darf, und dass er praktiziert, was er andern vorhält:
    Ab 1808 nahm Großbritannien – nach Portugal – eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Sklaverei ein – sehr zum ökonomischen Nachteil der Kaufleute und Reeder, die davon profitiert hatten. Es war eine moralische Revolution. Wie die der Sufragetten, der Arbeitbewegung, der Genossenschaftsbewegung.

    • Stefan Sasse 28. November 2019, 12:29

      Exakt.

    • Stefan Pietsch 28. November 2019, 12:30

      Ab 1808 nahm Großbritannien – nach Portugal – eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Sklaverei ein

      … stimmt mit dem überein, was ich gesagt habe. Die Kernaussage von Stefan war,

      Die Abschaffung der Sklaverei wurde vor allem deswegen überhaupt möglich, weil eine Minderheit durch permanentes Moralisieren langsam, aber stetig den moralischen Kompass einer gesamten Gesellschaft verschob.

      Das stimmt für die USA jedenfalls nicht. Weder waren die Vereinigten Staaten wie behauptet Vorreiter, noch folgte dies vorrangig einer moralischen Wertung. Die ethische Einschätzung war eine von mehreren und nicht die dominante.

      • Stefan Sasse 28. November 2019, 14:24

        Selbstverständlich war das entscheidend. Ohne die moralische Wertung durch die Abolitionisten kriegst du den Norden nicht dazu, für das Ende der Sklaverei in den Krieg zu ziehen.

        • CitizenK 28. November 2019, 18:04

          Frage zur Ideengeschichte an USA-Kenner: Gründungsväter waren Sklavenhalter. In der Unabhängigkeitserklärung sind mit „allen gleich geschaffenen Menschen“ wie selbstverständlich nur die Weißen gemeint. Dass die Schwarzen (oder gar die „Indianer“) dazu gehören könnten, kam ihnen gar nicht in den Sinn.

          Wann und wodurch setzte das Umdenken ein, das schließlich zur abolition-Bewegung führte?

          • Ralf 28. November 2019, 20:05

            Wann und wodurch setzte das Umdenken ein, das schließlich zur abolition-Bewegung führte?

            Bin kein Historiker, aber ich bezweifle stark, dass die Abolitionisten in signifikanten Mehrheiten Schwarze und Native Americans tatsächlich als “gleichberechtigt” im Sinne von “all men are created equal” betrachtet haben. Es ist ein Unterschied, ob man Sklaverei für amoralisch hält oder ob man glaubt Schwarze und Weiße seien wirklich gleich viel wert. Merkliche Entwicklungen gab es in dieser Richtung meiner Einschätzung nach erst in der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King …

            • Dennis 30. November 2019, 10:46

              Zitat Ralf:
              „Merkliche Entwicklungen gab es in dieser Richtung meiner Einschätzung nach erst in der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King …“

              Sehe ich auch so. King hatte im Weißen Haus im Übrigen einen mächtigen Verbündeten…..,

              Zitat Lyndon B. Johnson:
              „Until justice is blind to color, until education is unaware of race, until opportunity is unconcerned with the color of men’s skins, emancipation will be a proclamation but not a fact.“

              ……der jedoch das Pech hat, dass seine Bilanz durch Vietnam versaut ist und der im Übrigen (in diese Hinsicht Trump nicht ganz unähnlich) durch schlechtes Benehmen und – gemessen an den damaligen Gewohnheiten – vulgäres Gerede auffiel, und der sich ferner völlig im Klaren darüber war, dass er der den Süden für die Democrats ausradiert.

              Zitat Lyndon B. Johnson:
              „I knew from the start that I was bound to be crucified either way I moved. If I left the woman I really loved—The Great Society—in order to get involved with that bitch of a war on the other side of the world, then I would lose everything at home. “

              Man kann z.B. mal hier gucken:

              https://www.welt.de/geschichte/article184293232/Lyndon-B-Johnson-Der-verkannteste-US-Praesident-des-20-Jahrhunderts.html

              oder hier:

              https://prologue.blogs.archives.gov/2018/02/28/lbj-and-mlk/

              Es gibt zwar reichlich Kennedy-Plätze, – Straßen und Kennedy-sonstwas, aber nix mit Johnson. Gerecht is datt nitt, aber was is schon gerecht.

              • Stefan Sasse 30. November 2019, 11:26

                Johnson gehört zu den unterbewertsten Präsidenten überhaupt, gar keine Frage. Ich habe hier im Blog schon öfter in Geschichtsartikeln darauf Bezug genommen, oder in der Bücherliste.

          • Stefan Sasse 28. November 2019, 21:49

            Langsamer und gradueller Prozess, aber: Die Abolitionisten dachten das selbst nicht. Deren Idee war, die Sklaven zu befreien UND ZURÜCK NACH AFRIKA ZU BRINGEN. Das war natürlich auch zutiefst rassistisch und, wie sich zeigte, völlig illusionär und undurchführbar.

          • Ariane 29. November 2019, 10:32

            Wobei man wiederum bedenken muss, dass die Abolitionisten keine homogene Masse waren. Es gab auch einen kleinen, radikalen Kern, der damals schon Schwarzen die vollen Bürgerrechte zugestehen wollte. Die Sklaverei abzuschaffen war eher sowas wie der kleinste gemeinsame Nenner, worin sich die große Masse einig war.

            • Stefan Sasse 29. November 2019, 12:40

              Die meisten hatten tatsächlich wenig Interesse an vollen Bürgerrechten, das kam erst recht spät. Leider.

          • cimourdain 29. November 2019, 14:25

            a)Die Phrase ‚all men are created equal‘ ist ja direkt von Thomas Jefferson, der sich einerseits privat und vor Gericht gegen die Sklaverei aussprach, aber andererseits wie du schreibst als Mitglied der Oberschicht selbst Sklavenhalter war. Manche Historiker meinen, er hatte diesen Satz eingeschmuggelt, um einen indirekten Punkt gegen den Sklavenhandel zu machen, da ein direktes Verbot zu viele vor den Kopf gestoßen hätte. In jedem Fall ein Beweis, dass politisches und privates Handeln oft divergieren ( Manche sagen dazu Heuchelei)
            b)Man muss trennen zwischen der Verurteilung des (transatlantischen) Sklavenhandels und der Sklavenhaltung. Gegen ersteren kippte die Stimmung früher ( z.B. Amistad-Prozess ) als gegen letztere, da die Abschaffung von Sklavenhaltung als Eingriff in die Rechte des Eigentümers gesehen wurde.
            c)Ein unterschätzter Punkt ist in meinen Augen die Religion. Quäker, Baptisten und Methodisten verurteilten die Sklaverei als Sünde-und diese Argumentation wurde z.B. von William Lloyd Garrison übernommen.

            • Stefan Sasse 30. November 2019, 09:05

              b und c korrekt, wobei ich Jeffersons Probleme mit der Sklaverei nicht überbewerten würde. Jefferson betrachtete Sklaven nicht als gleichwertige Menschen, vergewaltigte ungezählte Male seine Sklavinnen und weigerte sich selbst in seinem Testament, sie zu befreien.

  • cimourdain 28. November 2019, 17:57

    2) Aus purem Interesse: Hast du eine Quelle zu „“, wie sich der chinesische Einfluss in Italien bemerkbar macht ?

    7) a) Die Abschaffung der Sklaverei ist noch längst nicht vollzogen (https://www.globalslaveryindex.org/ )
    b) hing der Prozess stark mit dem Kolonialismus zusammen, der Sklaverei in Kolonien weiterhin zuließ oder durch die gleiche Sache unter anderem Namen ersetzte.

    8) „“ Welches Land meinst du jetzt ? Deutschland ( laut BAGW 650.000 Wohnungslose, davon 48.000 Obdachlose ) oder UK ( 250.000 „homeless“, davon mindestens 8.000 „rough sleepers“) oder gar beide ?

    9) Hier fehlt es oft genug auch einfach an Kenntnissen. Ich habe vor kurzem (z.T. Klima) den Satz gehört „Mein Heizungstechniker überprüft regelmäßig meine (Brenner)Anlage, dass die nichts [ es ging um CO2 ] in die Luft bläst.“

    11) Bothsiderism vom feinsten . ‚Natürlich hat das Militär geputscht und eine evangelikale Rassistin zur Interimspräsidentin gemacht (https://www.derstandard.at/story/2000111421821/boliviens-selbsternannte-interimspraesidentin-spaltet-das-land-weiter) , die auf Indigene schießen lässt. Aber der Vorgänger wollte zulasten der (urbanen) Oberschicht umverteilen und ist deswegen ( auch das ist Teil des von dir in Fundstück 8) diagnostizierten ‚Elitenkonsens‘ ) ein autoritärer Herrscher.

    • CitizenK 28. November 2019, 18:09
      • cimourdain 29. November 2019, 14:25

        Danke, aber die Investitionen chinesischer Staatsfirmen kannte ich. Ich hatte auf einen konkreten Nachweis gehofft, dass China diese auch als Hebel für politische Einflussnahme verwendet.

        • Stefan Sasse 30. November 2019, 09:05

          Selbstverständlich nutzt China die als Hebel, sonst bräuchtest ja nicht investieren. Machen wir mit unserer Entwicklungshilfe ja auch.

        • CitizenK 30. November 2019, 12:38

          Die Investitionen SIND der Hebel: Arbeitsplätze, Steuereinnahmen, Infrastruktur, IT. China will nicht nur wirtschaftlichen Einfluss. Die Reden des Staatschefs (auf Lebenszeit!) lassen da keinen Zweifel.

          • Rauschi 3. Dezember 2019, 08:18

            China will nicht nur wirtschaftlichen Einfluss.
            Und? Etwas zu wollen, ist vollkommen legitim. Auch die EU und die USA und besonder Deutschland möchte „mehr Einfluss“ oder wahlweise auch „mehr Verantwortung“ übernehmen.
            Warum ist das bei einer Seite in Ordung, bei einer anderen nicht?
            Zumal ja die Wirtschaft keine demokratische Veranstaltung ist, ob die das durchsetzten, kommt auch auf unsere Wirtschaft an.

            Dabei wird doch unser Regierung nicht müde dauernd ausländische Investoren zu fordern. Den Sinn davon habe ich noch nie verstanden, da bin ich wohl zu blöde.

    • Stefan Sasse 28. November 2019, 21:48

      2) Nicht zur Hand leider, aber ich bin schon mehrfach über Kommentare zur Privatisierung von Hafeninfrastruktur und Kooperation bei Belt+Road gestoßen.
      7a) Korrekt, aber 1863 war schon hilfreich.
      8) Mir war nicht bewusst dass die deutschen Zahlen so hoch sind.
      9) Oh Mann.
      11) Morales hat die Verfassung gebrochen und war drauf und dran eine Militär zu errichten. Und ein Blick nach Venezuela zeigt, warum da Optimismus über die weitere Entwicklung echt nicht angezeigt ist.

      • cimourdain 29. November 2019, 14:28

        7a) Mir ging es darum, dass man sich nicht auf dem zivilisatorischen Fortschritt ausruhen darf. Zur Untermauerung eine weitere Schockzahl für Deutschland aus obiger Quelle: 167.000 moderne Sklaven hierzulande.
        11) Beim Verfassungsbruch bin ich bei dir, bei der Militärdiktatur nicht. (Er hatte [berechtigtes] Misstrauen gegen die Militärführung und wollte deswegen meines Wissens nach sogar Bauernmilizen gründen.) Der Begriff des populistischen Strongman, der sich seine Akklamation sichert trifft ziemlich genau zu. Aber wie du selber schreibst, wenn es um andere Länder geht: die ‚far right‘ ( zu der ich Anez und den Banzer-Fan Camacho zähle) kümmert sich überhaupt nicht mehr um Recht, Gesetz und Verfassung. Und unter diesen Umständen kann man durchaus mit ‚kleineres Übel‘ – gegenüber der Gefahr von Faschismus und Bürgerkrieg – argumentieren.

        • Stefan Sasse 30. November 2019, 09:06

          7a) Bin ich bei dir.
          11) Wie gesagt, in dem Konflikt gibt es keine Good Guys.

  • Rauschi 29. November 2019, 10:57

    11) Morales hat die Verfassung gebrochen und war drauf und dran eine Militär zu errichten. Und ein Blick nach Venezuela zeigt, warum da Optimismus über die weitere Entwicklung echt nicht angezeigt ist.
    Dann ist es also in Ordnung, bei einem Rechtsbruch zu putschen?
    Der wollte eine Militär was errichten? Obwohl das Militär, wie zu besichtigen, nicht auf seiner Seite steht?
    Woher kommt diese Einsicht und was hat das mit der sachlichen Feststellung :
    [Natürlich hat das Militär geputscht und eine evangelikale Rassistin zur Interimspräsidentin gemacht (https://www.derstandard.at/story/2000111421821/boliviens-selbsternannte-interimspraesidentin-spaltet-das-land-weiter) , die auf Indigene schießen lässt. Aber der Vorgänger wollte zulasten der (urbanen) Oberschicht umverteilen und ist deswegen ( auch das ist Teil des von dir in Fundstück 8) diagnostizierten ‚Elitenkonsens‘ ) ein autoritärer Herrscher.]
    zu tun?
    Was hat das nun mit Venezuela zu tun? Kennste ein Land, kennst alle, oder wie?
    Vor allem zeigt sich, was jemand wirklich von Demokratie hält, der eine selbst ernannte Präsidentin besser findet als einen gewählten Präsidenten.
    Demokratie, wofür? Selbst Ernennung ist angesagt. 😛

    • Lemmy Caution 30. November 2019, 15:51

      Ich bin eigentlich überhaupt kein Bolivien-Experte.
      Aber wie so oft in Debatten über Lateinamerika im deutschen Internet wirds ziemlich emotional.
      Ich hab Morales immer als etwas anderes gesehen als Chávez und seine Nachfolger. Ihm gelang zumindest über die gesamte Amtszeit ein hohes Wirtschaftswachstum dieses auch für lateinamerikanische Verhältnisse sehr armen Bolivien. Erst nächstes Jahr wird Bolivien die Rote Laterne in Sachen BIP/Einwohner an das sich seit Mitte 2014 im freien Fall befindlichen Venezuela abgeben.
      Fiskalisch agierte Morales – ganz anders als Chávez + Nachfolger – lange Zeit wie eine schwäbische Hausfrau. Der Staat erwirtschaftete unter seiner Regierung lange Zeit Überschüsse, die allerdings in den letzten Jahren in hohe einstellige Defizite umschlugen, die ganz sicher nicht nachhaltig sind.
      Lange Zeit zeigte sich Morales fähig, Konflikte politisch zu lösen, insbesondere gegenüber machtvollen Gruppen im östlichen Tiefland, deren Gasproduktion für einen Großteil des wirtschaftlichen Aufschwung sorgten.
      Morales Sozialpolitik war deutlich weniger ambitioniert als die in Venezuela oder in Brasilien unter Lula da Silva.

      Ich tendiere dazu, seine Absetzung als einen Putsch zu werten: Nach Bolivianischer Verfassung ist der Präsident Oberkommandierender der Armee und die hat ihn zum Rücktritt aufgefordert. Für mein Rechtsempfinden stellt dies einen Verfassungsbruch dar. So wurde es übrigens auch in von mir in ungesunden Mengen konsumierten argentinischen und chilenischen Medien dargestellt. In Argentinien übrigens auch ziemlich vehement von gemäßigt konservativ-liberalen Medien. Als Gegenargument wird angeführt, dass die Armee-Gesetzgebung (? spanisch: reglamento) offenbar so etwas wie ein Widerstandsrecht gegen einen despotischen Präsidenten vorsieht.
      Evo Morales gelang die längste Regierungszeit in Bolivien. Bezogen auf das „politischen Temperament“ bildet in der traditionellen Sichtweise Bolivien – Chile ziemlich genau das Gegensatzpaar Frankreich – Deutschland ab: Franzosen/Bolivianer gelten als politisch extrovertiert und leicht bereit zu Straßenprotest, während Deutsch/Chilenen eher zu Ordnung und vorsichtigen Wandel tendieren. Die letzten 6 Wochen in Chile erlauben Zweifel, ob dieses Urteil wirklich eine auf ewig in Stein gemeißelte Wahrheit darstellt, aber das ist jetzt nicht das Thema. Bezogen auf Bolivien halte ich es für fraglich, ob die aus den nächsten Wahlen hervorgehende Regierung wirklich eine Legitimität herstellen kann, die das Land hinreichend befriedet.

      Bolivien ist das einzige Land Südamerikas mit einer indigenen Mehrheit: 60%. Morales agierte aus linken Institutionen heraus, nicht aus indigenen. Indigene bilden in keinem südamerikanischen Land einen homogenen Block. Gerade von denen haben sich offenbar viele von Morales wegbewegt. In der letzten Wahl konnte er ja noch über 60% der gesamten Stimmen auf sich vereinen, in der letzten nur noch knapp über 40%.
      Ich find übrigens auch die Sichtweise auf Evangelikale nicht fair. In Amerika sind die Menschen halt weniger atheistisch als in Europa. Ich selbst hab mir dort zumindest wieder angewöhnt mich bei Besichtigung von Kirchen zu bekreuzigen. Religionen verdienen genau so Respekt wie Ethnische Gruppen.
      Auch sind nicht alle südamerikanischen Präsidenten von Natur aus autokratisch. An Salvador Allende lässt sich sicher vieles kritisieren, aber autokratisch war er ganz sicher nicht. Von Bachelet hätte ich mir mehr Autokratismus gewünscht. Raúl Alfonsín hat bestimmt wirtschaftspolitisch eine Menge Böcke geschossen, aber autokratisch war er nicht. Es gibt viele solche Beispiele. Ich denke das Morales vielleicht eher auch zum Autokratismus gedrängt wurde und zwar durch stark polarisierende Tendenzen in der Gesellschaft. In der ersten Hälfte seiner langen Amtszeit überraschte er mich immer wieder durch seine Fähigkeit zum Kompromiss.

      • Stefan Sasse 30. November 2019, 16:25

        Ich bezweifle überhaupt nicht, dass es sich um einen Putsch handelt. Nur putscht Morales gleichzeitig dummerweise auch, denn Wahlergebnisse nicht anerkennen ist auch nicht eben verfassungsgemäß.

        • Rauschi 30. November 2019, 16:44

          Nur putscht Morales gleichzeitig dummerweise auch, denn Wahlergebnisse nicht anerkennen ist auch nicht eben verfassungsgemäß.
          Was für ein Quark, sorry.

          Er hat das Ergebniss überprüfen lassen und wollte Neuwahlen zustimmen.
          Mit der Art Argumentation eine Putsch zu rechtfertigen ist merh als fragwürdig.
          Seit wann werden Rechtsbrecher nicht mehr vor Gericht gestellt, sondern weg geputscht?

          • Lemmy Caution 30. November 2019, 17:19

            Das könnte sich sich auch auf das verlorene Verfassung-Referendum beziehen, sich noch ein 4. Mal zur Wahl aufstellen lassen zu dürfen: Dessen Missachtung seh ich in der Tat auch als ein großes Problem.
            In einem präsidialen System werden Präsidenten mit langen Amtszeiten zu eigenmächtig.

          • Stefan Sasse 30. November 2019, 19:27

            Mein Informationsstand war, dass er das Wahlergebnis nicht anerkannte und dass es schon bei der Wahl selbst Unstimmigkeiten gab. Und erneut: die Putschisten sind Verbrecher und NICHT im Recht. Sie sind möglicherweise sogar schlimmer als Morales, das mag alles sein. Ich warne nur davor, Morales deswegen zum Heiligen zu stilisieren.

            • Rauschi 3. Dezember 2019, 08:11

              Mein Informationsstand war, dass er das Wahlergebnis nicht anerkannte und dass es schon bei der Wahl selbst Unstimmigkeiten gab.
              Ab und an sollte man den eigenen Informationsstand hinterfragen, das stimmt einfach nicht.
              [Im Streit über das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Bolivien beugt sich Amtsinhaber Evo Morales nun dem Druck der Demonstranten. Jetzt kündigt er Neuwahlen an und reagiert damit auf einen Bericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Darin empfiehlt die OAS Neuwahlen, weil sie bei dem Urnengang am 20. Oktober ernstzunehmende Unregelmäßigkeiten festgestellt hatte.]
              https://www.spiegel.de/politik/ausland/evo-morales-praesident-von-bolivien-kuendigt-neuwahlen-an-a-1295772.html

              Ich warne nur davor, Morales deswegen zum Heiligen zu stilisieren.
              Macht ja keiner nur ist es schon ein gewaltiger Unterschied, ob man schreibt:
              [Nur putscht Morales gleichzeitig dummerweise auch, denn Wahlergebnisse nicht anerkennen ist auch nicht eben verfassungsgemäß.] oder
              [Und erneut: die Putschisten sind Verbrecher und NICHT im Recht. ]
              Zu aller erst erwarte ich, das bei einem Rechtsbruch nach eine Gerichtsverfahren gerufen wird. Das fehlt komplett.

  • sol1 30. November 2019, 00:56

    Zu 3)

    Geschichtsrevisionismus wird tatäshlich immer mehr zum festen Bestandteil der AfD-Ideologie:

    https://www.nzz.ch/feuilleton/geschichtsrevisionismus-der-afd-liegt-offen-auf-dem-tisch-ld.1523714?mktcid=smsh&mktcval=Twitter

  • sol1 30. November 2019, 14:30

    Zu 11)

    „Das Ende des [Rohstoffbooms in Südamerika] schärft den Blick auf alles, was die Regierungen versäumt haben: in die Infrastruktur zu investieren. Die Abhängigkeit von Rohstoffen zu mindern. Die staatlichen Institutionen zu stärken. Das Gesundheitswesen zu verbessern oder das miserable öffentliche Schulsystem, das die ökonomische Ungleichheit in der Region mit der weltweit ohnehin ungerechtesten Verteilung des Reichtums von Generation zu Generation fortschreibt. (…)
    Es gibt wenig Grund zu Optimismus. Am ehesten stimmt einen die Entschlossenheit zuversichtlich, mit der ein wachsender Teil der Bevölkerung die Arroganz der Macht zurückweist. Aber solange dies bedeutet, dass ein rechter Populist durch einen linken ersetzt wird, oder umgekehrt, ist noch nichts gewonnen.“

    https://www.tagesanzeiger.ch/contentstationimport/suedamerikas-grosse-wut/story/25602315

  • Lemmy Caution 30. November 2019, 22:04

    Der OAS Bericht zeigt einige Unstimmigkeiten auf.
    Verwirrend war zunächst, dass es eine computergestützte Schnellauszählung und eine eigentliche manuelle Zählung der Stimmen gab. Die Schnellauszählung war ein einziges Chaos und setzte für einen Tag aus. Dies war aber nur eine Art Vorzählung.
    Aber auch in den eigentlichen Wahlakten fanden die ca 30 von der OAS aus unterschiedlichen Ländern entsandten Experten Unstimmigkeiten: In einem Sampel von wenigen Wahlbezirken mit sehr starken MAS Anteil gab es über 20% mit fragwürdigen Stimmzetteln: Gleiche Unterschriften, mehr Wahlzettel als Stimmberechtigte, etc. In anderen Wahlbezirken wurde der Ort der Auszählung kurzzeitig von den MAS-Wahlbeobachtern geändert, ohne dies den oppositionellen Wahlbeobachtern mitzuteilen. Daneben wurden auch einige wenige Wahlurnen verbrannt.
    Allerdings sagte neben einem einschlägig bekannten chavistischen Propagandazentrum mindestens ein namhafter Wahlforscher, dass diese wenigen Fälle unmöglich die Wahl entschieden haben können. Der OAS Bericht sollte ja nur ein Zwischenbericht sein. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir noch einen Schlussbericht sehen werden.

    Grundsätzlich provoziert die Kontrolle der Regierungspartei über die Wahlbehörde Misstrauen. In der sehr knappen Stichwahl in Uruguay letzte Woche blieb alles sehr ruhig. Auch in Chile wurden Wahlergebnisse als solche seit einer Wahlrechtsreform Mitte der 50er niemals angezweifelt. Außer den wenigen Wahlen während der Diktatur natürlich.

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