Umstrittene Vorstellungen in Gesellschaft und Politik sorgen für alkoholisierte Pelosi – Vermischtes 10.02.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

Eine kurze Entschuldigung dafür, dass es von meiner Seite aus im Blog in letzter Zeit eher ruhig war. Ich hatte diverse Dinge, die mich weitgehend vom Bloggen abgehalten haben, von Stress auf der Arbeit zu anderen Real-Life-Problemen hin zu einem Motivationsloch. Hoffentlich ist das jetzt alles überwunden, so dass wieder regelmäßig neue Beiträge kommen. Danke an der Stelle auch an Stefan Pietsch, der die Diskussion hier am Laufen gehalten hat.

1) Hasswort umstritten

Die Zerstörung der polnischen Justiz lässt sich nur äußerst schlecht mit dem Begriff „umstrittene Justizreform“ beschreiben. Schlimmer noch, „umstritten“ relativiert in diesem Fall diese Zerstörung, indem der Eindruck erweckt wird, die Gesetze wären grundsätzlich ein durchführbares Vorhaben, es ist ja nur eine Justizreform und die ist halt umstritten, wie man das bei so Reformen halt kennt. Gleichzeitig wird der legitime Protest gegen die Zerstörung der polnischen Justiz entwertet. Da stehen eben nicht mutige Freiheitskämpfer auf der Straße, die sich für die Erhaltung der demokratischen Strukturen in ihrem Land einsetzen, sondern das sind halt irgendwelche Oppositionelle, die irgendwie gegen dieses umstrittene Gesetz sind. Dabei muss ganz klar gesagt werden: Wenn man sich als vierte Gewalt im Staat und demokratisches Korrektiv versteht, kann man die Zerstörung der polnischen Justiz weder als „Reform“ bezeichnen noch behaupten, sie wäre „umstritten“.Anderes Beispiel, selbes Land: „Umstritten ist auch die Frage der Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU, gegen die sich auch Polen wehrt. Dabei hatten sich die EU-Staaten mit Mehrheitsbeschluss darauf geeinigt.“ Es ist – freundlich ausgedrückt – grob irreführend, diesen Vorgang als „umstritten“ zu bezeichnen. In Bezug auf die Definition im Duden: Ein EU-Mitgliedsstaat kann keine Meinung zu einem ihn bindenen EU-Beschluss haben. Ein Beschluss der EU kann sehr wohl dem Streit der Meinungen unterliegen, aber nicht durch die Meinung eines Landes, das den Beschluss zu befolgen hat. Die Idee, nur die EU-Regelungen zu befolgen, die man cool findet, stellt das ganze Konzept der EU infrage. Jemand, der sich vor Gericht damit verteidigen würde, dass dieses und jenes Gesetz „umstritten“ sei, müsste wohl damit rechnen, für nicht zurechnungsfähig gehalten zu werden. „Umstritten“ vernebelt an dieser Stelle den ganzen Vorgang: Polen hält sich nicht an einen Beschluss der EU-Mitgliedsstaaten. (Stefan Niggemeier, Übermedien)

Erst einmal unabhängig vom konkreten Gegenstand, der oben diskutiert wird, ist die Ablehnung des Begriffs „umstritten“ in seiner aktuellen Verwendung richtig. Wenn man damit nur Dinge belegen würde, die tatsächlich umstritten sind („mit welchem Ansatz sich die Armut in Deutschland am besten lösen lässt, ist umstritten“), wäre er eigentlich super. Denn dann redeten wir letztlich über Themen, bei denen nicht klar ist, welche Lösung diese haben.

Und gerade solche Debatten brauchen wir ja mehr. Um beim obigen Beispiel der Armutsbekämpfung zu bleiben muss man sich ja nur Stefan Pietschs jüngsten Beitrag zur Hartz-IV-Wende der SPD ansehen um anzuerkennen, dass „umstritten“ das richtige Wort ist. Solche Debatten haben einen hohen Wert, weil es zwar unwahrscheinlich ist, dass ich im Rahmen der Debatte Stefan von seinen grundsätzlich martkliberal-konservativen Positionen wegkriege, oder er mich von meinen eher wohlfahrtsstaatlich-progressiven Positionen, wir aber einander ehrlich halten. Unsere jeweiligen Grundhaltungen erlauben ja eine große Bandbreite an möglichen Lösungen und Potenzial für Kompromisse. Und gerade hier ist es wichtig, dass untaugliche Ideen erkannt werden. So mag eine pauschale Erhöhung der Hartz-IV-Sätze sich in der Debatte nicht behaupten, aber wenn Stefan gleichzeitig keine guten Argumente gegen eine Erhöhung des Regelsatzes für Schulkinder findet mag das darauf hindeuten, dass diese Politik – auch wenn er sie weiter ablehnt – zumindest kein kompletter Rohrkrepierer ist (die Beispiele sind zufällig, ich habe nicht konkret über sie nachgedacht).

In dem Moment aber, in dem das Wort „umstritten“ benutzt wird, um politische Fronten zu markieren, bewegen wir uns auf gefährlichem Terrain. Es ist korrekt zu sagen, dass der Wert des Konzepts „Demokratie“ 1932 umstritten war, aber das hat eine völlig andere Bedeutung als zu sagen, dass der richtige Weg aus der Wirtschaftskrise 1932 umstritten war. Beides ist technisch gesehen korrekt meint aber völlig verschiedene Dinge. Deswegen sollte auch davon Abstand genommen werden, das Framing der Populisten in diesen Fällen direkt zu übernehmen, ob es nun um die Gültigkeit von EU-Urteilen, die Existenz des Klimawandels oder die Unantastbarkeit des Eigentums geht.

2) So kann es nicht weitergehen

Das ist die Verantwortung der redaktionellen Qualitätsmedien rund um die Welt: Die liberale Demokratie, ohne die Journalismus nicht existieren kann, ist bedroht – und so viele Medien tun so, als könne man darüber völlig wertfrei berichten. Dann kommt eben auch wertfreier Journalismus heraus. Von Leuten, die bald schon wieder wagen, sich als „Hüter der Demokratie“ zu inszenieren. Es sind ja immer wieder die gleichen Fehler, die sie produzieren, die gleichen Fallen, auf die sie hereinfallen. Hier nur ein Ausschnitt in Form von drei sehr präsenten Beispielen:

False Balance – so zu tun, als gäbe es zwischen einer menschenfeindlichen Meinung und einer nicht menschenfeindlichen Meinung eine sinnvolle Mitte. Zwischen „Leute ertrinken lassen“ und „Leute nicht ertrinken lassen“ gibt es keine ausgewogene, vernünftige Haltung.

Agenda Cutting – ein nicht genehmes Thema mit neu produziertem Getöse aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen: 1000 Hamburger im Weißen Haus statt „Collusion“.

Strukturelle Verharmlosung – aus Mutlosigkeit verschleiernde Kuschelbegriffe zu verwenden. Rechtsextremisten werden zu „Rechtspopulisten“, Rassismus wird zu „Unzufriedenheit“, Antisemiten werden zu „Israel-Kritikern“ und offene Menschenfeindlichkeit wird zur „umstrittenen“ Meinung. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)

Das hier ist quasi eine Ergänzung, beziehungsweise eine grundsätzlichere Kritik, zu Fundstück 1). Ich habe hier im Blog die False Balance schon öfter angesprochen. Sie ist vor allem in den USA ein Problem, wo von zwei Parteien nur noch eine demokratisch ist und jeder Balanceversuch deswegen effektiv den Anti-Demokraten hilft. Aber gerade im Wahlkampf 2017 wurde ungut deutlich, wie sehr die AfD von diesem Mist profitiert.

Auch das Agenda-Cutting ist ein nerviges Phänomen, aber es ist praktisch nicht von normalem Wahlkampf zu trennen. Wenn die CSU eine Grundsatzdebatte über das Tempolimit vom Zaun bricht, macht sie dann damit Basisarbeit und Wahlkampf oder lenkt sie von den innerparteilichen Konflikten und dem Dauerdesaster der Digitalisierungspolitik ab? Das ist praktisch unmöglich zu trennen und erfordert mehr journalistisches Feingefühl, als im Quotendruck meist verfügbar ist.

Der dritte Punkt mit der strukturellen Verharmlosung hat direkten Bezug zum ersten Fundstück. Man sollte übrigens auch nicht glauben, dass das nur ein Reservoir der Rechten sei; gerade „Israel-Kritik“ hat eine lange Geschichte auf der Linken und wird gerne als Framing unkritisch übernommen, und von Venezuela brauchen wir gar nicht erst anfangen. Hier gibt es für Journalisten in meinen Augen auch keine Ausrede für die faule Übernahme des Framings, weil es durchaus möglich wäre, neutralere Begrifflichkeiten zu verwenden. 

3) The political scientist Donald Trump should read

Imagine this structure outside the context of American politics. Imagine you worked in an office where your boss, who was kind of a jerk, needed your help to finish his projects. If you helped him, he’d keep his job and maybe even get a promotion. If you refused to help him, you’d become his boss, and he might even get fired. Now add in a deep dose of disagreement — you hate his projects and think they’re bad for the company, and even the world — and a bunch of colleagues who also hate your boss and will be mad at you if you help him. That’s basically American politics right now. Bipartisan cooperation is often necessary for governance, but irrational for the minority party to engage in. Lee’s argument is that this bizarre structure worked during much of American history because one party was usually dominant enough to make cooperation worth it for the minority. But that hasn’t been true for almost 40 years now, and the seemingly endless — and ever-escalating — procession of shutdowns, debt ceiling crises, and assorted other political showdowns is the result. […] The media tends to tell the story of American politics as if it were an episode of The West Wing. The protagonist is the president, and any problem can be solved with enough presidential leadership, with a soaring enough presidential speech. Brendan Nyhan, a University of Michigan political scientist, calls this the Green Lantern Theory of the Presidency, and defines it as “the belief that the president can achieve any political or policy objective if only he tries hard enough or uses the right tactics.” In other words, the American president is functionally all-powerful, and whenever he can’t get something done, it’s because he’s not trying hard enough, not leading aggressively enough. (Ezra Klein, vox.com)

Ich denke die Idee der einen dominanten Partei, die Kooperation erzwingt, ist ein sehr guter Punkt, der auch für Deutschland relevant ist. Praktisch die gesamte jüngere Geschichte der CDU, die gesamte Kanzlerschaft Merkels (und, vermutlich, die folgende von AKK) sind von dieser Dynamik geprägt. Die einzige Möglichkeit, in der in Deutschland irgendeine Partei ihre Ziele durchsetzen kann, ist im Kompromiss mit der CDU. Diese hat seit 1999 eine Sperr-Minorität entweder im Bundestag oder im Bundesrat. In ausgeglichenen Systemen ist das ein Ansporn für die jeweils andere Seite, diese Sperre zu überwinden (man denke nur daran, wie Lafontaine Mitte der 1990er Jahre als neuer Parteichef neu gewonnene SPD-Sperr-Minorität aggressiv nutzte, um Schwarz-Gelb zu blockieren und damit maßgeblich die Bedingungen für den Wechsel 1998 schuf).

Nur haben weder SPD, noch FDP, noch Grüne ein Interesse daran, die CDU aggressiv zu blockieren. Deren Dominanz erlaubt kein Szenario, in dem irgendetwas Gutes daraus folgt. Blockierten etwa die Grünen zusammen mit AfD, LINKEn und FDP Schwarz-Rot (was ja leicht möglich wäre) stünden sie nach der nächsten Bundestagswahl nur als Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb-Grün gestalten könnten. Warum also gegen Wände laufen statt einen Teil der eigenen Ziele umzusetzen?

Die Democrats dagegen haben eine Chance, 2020 völlige Gestaltungsmacht zu gewinnen, indem sie Trump und die GOP komplett blockieren. Ergo haben sie nur wenig zu gewinnen, wenn sie Kompromisse mit Trump schließen (Trumps Persona und Ziele einmal beiseite gelassen; dieselbe Dynamik trieb ja die GOP unter Obama). Der Treppenwitz an dem Ganzen ist, dass Wähler beides hassen. Wenn nichts vorangeht sind die sauer, dass die Politik nichts gebacken kriegt. Arbeiten die Parteien zusammen, beschweren sie sich über faule Kompromisse. Unterstützen Minderheitenparteien die Mehrheitspartei bedingungslos, werden sie ihnen Ausverkauf und Diktatur vor.

Es gibt keine „richtige“ Alternative aus elektoral-politischer Sicht, und gleichzeitig haben wir auch das Problem, dass nicht einmal klar ist ob Totalblockade und radikale Alternative oder beständiger kleinteiliger Kompromiss die besseren Ansätze zur Lösung umstrittener (see what I did there?) Probleme sind.

4) Why Nancy Pelosi is winning

Pelosi’s strategy resembles the one she employed to debilitate another Republican president: George W. Bush. Bush returned to Washington after his 2004 reelection victory determined to partially privatize Social Security. “I earned capital in the campaign, political capital,” he told the press, “and I intend to spend it.” Bush’s plan contained two main elements. The first was convincing the public that there was a crisis. Social Security, he declared in his 2005 State of the Union address, “is headed toward bankruptcy.” The second was persuading Democrats to offer their own proposals for changing it. […] But Pelosi, then House minority leader, wouldn’t take the bait. She denied that Social Security was in crisis. And she refused to offer a plan for changing it. When a member of Congress asked when Democrats would offer their own proposals, she replied, “Never. Is never good enough for you?” […] Still, Pelosi, understanding that policy and politics are inseparable, did nothing. Irrespective of the merits of tweaking Social Security, she realized that offering Democratic proposals would divide her caucus and give Bush a political lifeline. Instead, she forced Americans to choose between Social Security as it was and Social Security privatization, maneuvering Bush into a battle that crippled his second term and laid the foundation for Democrats to retake the House in 2006. […] That’s what Pelosi is aiming for. In pure policy terms, there’s a case for compromise. Arguably, it’s worth wasting a few billion dollars on a border wall to safeguard the “Dreamers” who are stuck in an agonizing legal limbo. But Pelosi is focused on something bigger: the emasculation of the president. For years, Democrats have wondered when their leaders would start playing tough. Turns out Pelosi has been doing so all along. (Peter Beinart, The Atlantic)

Passend zu Fundstück 3) sehen wir hier ein Beispiel dafür, wie diese Kompromisslosigkeit in der Praxis aussieht. Schon in dieser frühen Phase – die Democrats sitzen seit kaum einen Monat am Steuer – wirft die Obstruktionspolitik für sie politische Dividenden ab. Die Basis ist mobilisiert, die Republicans sind in der Defensive, der Boden für 2020 wird bereitet, und das alles für den kleinen, kleinen Preis, dass die Regierung des größten und mächtigsten Lands der Welt paralysiert wird (das war Ironie, bevor jemand zu den Kommentaren hechtet). Was wir in diesen Tagen in den USA sehen können (und in Facetten und Tonunterschieden hier in Europa) ist die Offenlegung der Achillesfersen der Demokratie.

5) Selbst das eine Bierchen ist schon ungesund

Alkohol ist schon ab dem ersten Tropfen ungesund und fordert weltweit noch mehr Opfer als gedacht. Das zeigt eine heute erschienene Studie in der Fachzeitschrift Lancet (GBD Alcohol Collaborators, 2018). Die Ergebnisse widersprechen damit Studien, die darauf hindeuten, dass geringe Mengen Alkohol – das typische Beispiel: ein Glas Wein pro Tag – gesundheitsförderlich sein können. Außerdem verdeutlichen sie, dass Alkoholkonsum weltweit eines der bedeutendsten Gesundheitsrisiken überhaupt ist. Die Studie ist eine Übersichtsstudie und dürfte die bisher umfassendste zu Alkoholkonsum und seinen Gesundheitsfolgen sein. In sie flossen Daten aus 694 Studien zum Alkoholkonsum und 592 Studien zu dessen gesundheitlichen Auswirkungen ein. Insgesamt also die Daten von 28 Millionen Menschen. […] In einem der Studie beigefügten Kommentar heißt es deshalb auch: „Alkohol ist ein kolossales Problem für die Weltgesundheit.“ (Lancet: Burton & Sheron, 2018). Die Hauptautorin der Studie, Emmanuela Gakidou, Professorin an der University of Washington, wünscht sich strengere Gesetze, zum Beispiel „Verkaufssteuern, die Kontrolle der physischen Verfügbarkeit und der Zeit, zu der Alkohol verkauft werden darf, und eine Kontrolle von Alkoholwerbung“. In der Summe zeige die Studie, dass es kein sicheres Level von Alkoholkonsum gebe, schreiben die Autoren. […] Die Studie liefert dank einer strengeren Methode auch bessere Daten dazu, wie viele Menschen überhaupt Alkohol trinken. Weltweit trinken mehr als jeder dritte Mann und jede vierte Frau regelmäßig Alkohol. Allerdings sind hier die regionalen Unterschiede sehr groß. (Jakob Simmank, Die Zeit)

Ich habe hier nicht wesentlich viel dazu zu sagen. Alkohol würde niemals legalisiert werden, wenn es nicht schon immer legal wäre, und sein Status als Volksdroge macht die Gesellschaft völlig blind für seine Gefahren, weil Alkohol oft genug als „normales“ Nahrungsmittel oder Snack betrachtet wird. Generell aber ist es mein Gefühl (was durch Studien auch gestützt wird), dass der Alkoholkonsum langsam, aber stetig sinkt. Gerade unter jüngeren Menschen scheint mir dieser Effekt, wie auch beim Rauchen, besonders ausgeprägt zu sein. Es wäre wünschenswert, dass Alkohol wenigstens als etwas angesehen wird, das einen besonderen Stellenwert hat, etwas, das man bewusst tut und das nicht Beiwerk zu anderen Tätigkeiten ist. Also eher ein Drink in geselliger Runde als ein Feierabendbier im Bus. Aber gerade letzteres nimmt glaube ich bereits deutlich ab, was eine positive Entwicklung ist. 

6) Männer sind an allem Schuld

20 Millionen Mal wurde allein die YouTube-Version in den ersten fünf Tagen angesehen, eine Million Mal der Dislike-Button angeklickt. Videos, in denen andere sich furchtbar darüber aufregen, fanden ein Millionenpublikum. Tageszeitungen und TV-Sender berichteten. Prominente riefen zum Boykott von Gillette-Produkten auf. In den sozialen Medien posteten Nutzer Videos davon, wie sie Gillette-Produkte in den Müll werfen. Im britischen Frühstücksfernsehen wurde die Frage diskutiert, ob ein „Krieg gegen die Männlichkeit“ im Gange sei. Warum? Weil Gillette, über Jahrzehnte Lieferant von abgegriffenen Männlichkeitsklischees, mal etwas anderes probiert hatte. Einen Spot, in dem an bestimmten männlichen Verhaltensweisen Kritik geübt wird: Jungs, die prügeln und mobben, Hinterngrabscher in TV-Komödien, Anmacher, herablassende Wichtigtuer, Poser, Bullys. Schlechte Vorbilder. […] Tatsächlich thematisiert der Spot etwas, das insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den USA unter dem Begriff „toxic masculinity“, also „Giftige Männlichkeit“ verhandelt wird. Bestimmte Formen männlichen Verhaltens also, die als schädlich eingestuft werden – von sexueller Belästigung oder gar Vergewaltigung über andere Formen von Gewalt und Aggression bis hin zu – je nach Autor – männlichem Dominanzgehabe […] Es gibt eine offenbar nicht zu vernachlässigende Untergruppe von Männern in der westlichen Welt, die sich von solchen Diskursen bedroht fühlt. Die Überlappung zu rechten Kreisen ist groß, von #Gamergate bis AfD. Ich finde das bemerkenswert, denn eigentlich hatten wir uns doch längst darauf verständigt, dass Prügeln, Grabschen, Vergewaltigen, Herabwürdigen und so weiter nicht mehr zum Programm gehören sollten. So ein Werbespot sollte also allenfalls ein Grund zum Achselzucken sein. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Ich lasse das vor allem hier um zu zeigen, dass „toxische Maskulinität“ längst nicht nur ein Fantasieprodukt von mir ist. Auch andere Leute in respektablen Zeitschriften sind mit dem Konzept vertraut und nutzen es. Was Stöcker hier anspricht ist tatsächlich immer wieder beachtlich: in ihrer reflexhaften Abwehr gegen alles, was irgendwie nach Feminismus und progressiven Werten riecht, stellen Konservative gerne mal Werte zur Disposition, die eigentlich klar sein sollten, und machen sie…wait for it…umstritten.

7) Es ist was faul im deutschen Feuilleton

[Die Studie] kommt zu dem Ergebnis, dass Bücher von Männern in allen Medien (mit Ausnahme von Frauenzeitschriften) häufiger und ausführlicher rezensiert werden als die von Frauen. Genauer: Zwei Drittel der besprochenen Bücher stammten von Autoren, nur ein Drittel von Autorinnen. Interessant ist vor allem die Frage, wer sich womit befasst. Wie sich zeigt, besprechen die männlichen Kritiker nämlich zu drei Vierteln Werke von Männern, während das Geschlecht des Autors für Kritikerinnen offenbar keine Rolle spielt. […] Hinweise darauf, welcher Natur diese geschlechtsbezogene Voreingenommenheit sein könnte, gibt es zuhauf. Es ist noch nicht lange her, da verbreitete Marcel Reich-Ranicki auf allen Kanälen, Frauen könnten keine Romane schreiben, ihre eigentliche Domäne sei die Lyrik, und ohnehin müssten sie mit dem Schreiben ja aufhören, sobald sie Kinder bekämen.  […] Nun wird, was verniedlicht wird, selten besonders geachtet. Dasselbe gilt für den problematischen Begriff „Frauenliteratur“, der nicht etwa als Abgrenzung zu dem Begriff „Männerliteratur“ verwendet wird (der quasi nicht existent ist),  sondern als Abgrenzung zu Literatur im Allgemeinen. Die Implikation: Was Frauen schreiben, ist auch für Frauen gedacht. Was Männer schreiben, betrifft alle. […] Eine entscheidende Ursache für die Schieflage ist unsere Lesesozialisation. Die Lehrpläne der Schulen sind männlich dominiert, genau wie „der Kanon“, dessen (sehr moderater) Aktualisierung sich überregionale Tages- und Wochenzeitungen so regelmäßig wie uninspiriert annehmen. Dass im Deutschunterricht mal ein Buch von einer Autorin gelesen wird, ist nach wie vor die Ausnahme, und so ist es für Jungen wie Mädchen von Anfang an normal, dass die Bücher, die ihnen als literarisch wertvoll präsentiert werden, von Männern stammen. (Tag und Nacht)

Ich bin kein besonderer Anhänger des Feuilleton, deswegen kann ich zu dem Thema nicht viel sagen, aber im Literaturunterricht ist das definitiv ein riesiges Defizit. Fast alle hier besprochenen Werke stammen von Männern, obwohl das unnötig ist: es gäbe durchaus auch Werke von Schriftsterllerinnen, die man besprechen könnte, wenn man denn nur wöllte, und die sich nicht mit der Midlife-Crisis weißer Angehöriger der oberen Mittelschicht befassen, die diese wechselweise in philosophischen Exzessen und in Affären mit wesentlich jüngeren Frauen ausleben.

8) Der Aufschwung wurde mutwillig zerstört

Der jetzige Abschwung jedoch ist nicht nur zyklischer Natur, sondern auch das Ergebnis mutwilliger Zerstörung. Da ist der Handelskrieg, den US-Präsident Donald Trump vom Zaun gebrochen hat. Da sind das Brexit-Chaos, das irrlichternde Italien, die Angst vor einem Wiederaufflammen der Euro-Krise, der tönerne, weil vielfach auf Pump finanzierte Aufschwung in China. Hinzu kommen die hohe Verschuldung vieler Staaten und Firmen, die Wahlsiege radikaler Populisten in Ländern wie Brasilien und der Türkei, Ignoranz und Herdentrieb an den Finanzmärkten, der wochenlange teilweise Stillstand der Regierungsgeschäfte in den USA. Nichts davon ist naturgegeben, und nichts davon reicht allein, um den Konjunkturboom zu beenden. Die Summe der Zutaten jedoch ergibt ein wahrlich übles Gebräu, das mit seinen Ausdünstungen den Unternehmen zunehmend die Luft zum Atmen nimmt. […] Zu den Hauptleidtragenden der Konjunkturabkühlung zählt Deutschland, wo sich wieder einmal die Nachteile eines Wirtschaftskonzepts zeigen, das allzu einseitig auf den Export setzt. Umso größer ist die Verantwortung der Bundesregierung, sich am Kampf gegen eine mögliche globale Rezession zu beteiligen. Das sollte auf wirtschaftlichem Wege geschehen, indem Kanzlerin Angela Merkel die berechtigte Kritik der USA, Frankreichs, des IWF und vieler anderer an den deutschen Handelsüberschüssen endlich ernst nimmt und durch Investitionen gegensteuert, etwa in den Aufbau eines Hochgeschwindigkeitsdatennetzes. Und es sollte auf dem diplomatischen Parkett geschehen, indem sie sich als Mittlerin zwischen den USA und China anbietet und hilft, eine Eskalation des Handelsstreits zu verhindern. (Claus Hulverscheidt, SZ)

Hulverscheidt weist auf eine interessante Dynamik hin. In den wirtschaftspolitischen Debatten werden staatliche Eingriffe allzugerne nur in Fragen der Finanz- und Ordnungspolitik gefasst, also hauptsächlich in der Größe des Staatssektors und der staatlichen Investitionen auf der einen und den umstrittenen (hehe) Regulierungsgraden für diverse Produkte und Industrien auf der anderen Seite. Aber gerade politische Eingriffe, die die Wirtschaft zwar massiv betreffen, aber nicht rein wirtschaftspolitischer Natur sind, gehen dabei gerne unter. Man sieht quasi den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Ein Beispiel: Trumps Einwanderungspolitik wird praktisch ausschließlich als gesellschaftliches Thema verhandelt, hat aber auf die Volkswirtschaften von US-Bundesstaaten, in denen Wanderarbeiter oder Einwanderer eine wesentliche Rolle spielen (etwa Kalifornien oder New Mexico), einen wesentlich größeren Einfluss hat als selektive Zölle. Das ist ein merkwürdiger Sachverhalt, der glaube ich zu guten Teilen daher kommt, dass der Wirtschaftsjournalismus (wie übrigens auch Wirtschaftsgeschichte unter Historikern) als ein abgetrennter Bereich gesehen wird, sowohl von Wirtschaftsjournalisten als auch von ihren Kollegen. Das ist problematisch, weil solche eigentlich offensichtlichen Zusammenhänge dann gerne übersehen werden. Und es geht übrigens auch in die andere Richtung, wenn etwa Wirtschaftler beharrlich leugnen, dass ihre so pragmatisch-rationalen Denkmodelle eben doch gesellschaftlich beeinflusst sind. Hier können beide Seiten voneinander lernen, glaube ich.

9) The Fight Over The State Of The Union Was About The Future Of Democracy

But now it’s not just Trump who’s violating norms. On Jan. 23, House Speaker Nancy Pelosi took the unusual step of rescinding Trump’s invitation to deliver the State of the Union address until the government was reopened. And yes, now the government is open and Trump will deliver his address on “a mutually agreeable date.” But what this episode encapsulates is how the Trump presidency has put others in the position of having to decide between adhering to norms and standing up for democratic values (at least as they see them). […] Loyal opposition, in other words, is the idea that the conflicting sides can compete and debate without seriously challenging the legitimacy of the system. […] Pelosi’s decision meant she cost the two parties an opportunity to work together and challenged the democratic value of loyal opposition, but at the same time, she bolstered another democratic value at stake here: the independence of Congress as a coequal branch of government. A casual observer of American politics might conclude that the president is at the center of the operation. Presidents get blame and credit for the economy, they get policies nicknamed for them, and they have increasingly taken control of foreign policy. For years, experts on American government have called for a stronger Congress to check the growing power of the executive branch. The State of the Union, in particular, has evolved to match this trend of presidential expansion. But this year is different. Pelosi’s decision to rescind her invitation has highlighted Congress’s role in the process and reaffirmed its status as a coequal branch of government. And perhaps it has also drawn attention to the idea that while the State of the Union, and the government in general, have become heavily focused on the presidency, it doesn’t have to be that way. (Julia Azari, 538)

Wie in Fundstück 4 beschrieben offenbart Nancy Pelosis harte Oppositionsstrategie einmal mehr die Achillesferse der Demokratie, falls jemand nach sechs Jahren geteilter Obama-Regierung noch Offenbarungen gebraucht hat. Das Ganze ist ein übles Dilemma. Wäre es nur eine Frage der Opposition, die Obstruktion betreibt um an die Regierung zu kommen (siehe SPD in den 1990er Jahren, oder CDU in den frühen 1970ern), ist das eine Sache. Man kann das dann leicht als politische Spielereien zum Schaden des Gesamten verdammen (wenn man bereit ist, die von mir in Fundstück 3) aufgezeigten Probleme zu ignorieren).

Aber in Ländern, in denen Populisten oder Authoritaristen an der Macht sind, kann Obstruktionspolitik ein notwendiges Kampfmittel zur Rettung der Demokratie sein. Diese Ambilvalenz ist es, die das so schwer einzuschätzen macht. Ist die Gefahr durch Trump so real, dass Widerstand auf allen Ebenen ein Gebot der Demokratie ist? Oder nutzen die Democrats das nur als Deckung, um eine für sie vorteilhafte Politik zu fahren? Die Rettung der Demokratie bevorteilt schließlich Pelosis Partei, wenn auch nur, weil diese die einzig demokratische Partei in den USA ist. Es sei denn, man hält das für alarmistische, parteilich motivierte Wahlkampfrhetorik…es ist ein umstrittenes Thema. (Ja, ich melke diesen dummen Wortwitz).

10) Soaking the rich? It could backfire for progressives

But the differing emphasis of the two approaches may eventually create disagreements over which kind of taxes to employ. For traditional progressive liberals, the measure of a tax is how much revenue it raises — thus, they’ll be drawn to ideas like value-added taxes, or higher income taxes on a broader swath of the affluent, which are good at filling government coffers. Left-populists, however, will want punitive taxes on very high incomes or wealth concentrations, even if these don’t end up raising much revenue. Ultimately, left-populists will be tempted to pay for government spending with deficits. This will naturally push them toward embracing modern monetary theory, a popular new idea that asserts that fiscal spending is funded by government money creation rather than by tax revenue. If that theory turns out to be flawed, and ballooning deficits eventually create inflation that the government can’t easily control after it gets started, the result could be a rapid and devastating economic collapse. If the people of the U.S. desire left-populism, then so be it — citizens have a right to soak the rich if they so choose. But it’s a strategy with uncertain benefits, which may eventually start to interfere with more traditional progressive priorities such as income redistribution and a larger safety net. The left should think carefully before starting down the populist road. (Noah Smith, Bloomberg)

Ich bin auch sehr beunruhigt über die Potenziale, die die unbestreitbare Verschiebung in Richtung radikalerer Ideen auf der Linken hat. Politisch gesehen ist die Dynamik nachvollziehbar. In den acht Jahren unter Obama waren die Progressiven konzentriert auf policy, Kosten-Nutzen-Abwägungen, rationale, inkrementelle Lösungen und suchten beständig überparteiliche Kompromisse. Nicht nur wurden letztere beständig aus parteipolitischer Motivation abgelehnt; niemand dankte es ihnen.

Wer sich heute die politische Dynamik ansieht, kann zu kaum einem anderen Schluss kommen, als dass moderate politische Positionen nicht belohnt werden, weder dieseits noch jenseits des Atlantiks. Dadurch, dass die Medien in ihrer „false balance“ jedes Thema „umstritten“ machen, nur weil die Gegenseite es aus wahlkampftaktischen Gründen ablehnen wird (Obamacare war das Lehrstück: eine ursprünglich in republikanischen Think-Tanks erdachte und von republikanischen Gouverneuren umgesetzte Lösung!), ist es völlig irrelevant, ob die Democrats einen Spitzensteuersatz von 90% auf Einkommen über 100.000$ oder eine Abschaffung einer unbedeutenden Subvention für Bezieher von Einkommen über 21 Millionen Dollar fordern. Die öffentliche Reaktion ist exakt dieselbe. Bisher haben die Republicans diesen Mechanismus dafür benutzt, sich massiv zu radikalisieren. Jetzt könnte dasselbe auf der Linken passieren. Schuld sind eben die angesprochenen Mechanismen bei der Rezeption.

11) Ocasio-Cortez understands politics better than her critics

Most Americans—myself included—probably don’t have a well-thought-out position on whether a 70 percent marginal tax rate is a good idea. But it probably doesn’t matter whether it is, or whether it would “work.” To argue that “workability” is secondary might sound odd to many Democrats, particularly party leaders and experts who have long prided themselves on being a party of pragmatic problem-solvers. This, though, could be the most important contribution so far of Representative Alexandria Ocasio-Cortez and the new crop of progressive politicians—the realization that the technical merits of a particular policy aren’t the most relevant consideration. For these new Democrats, the purpose of politics (and elections) is quite different. […] This new style of Democratic politics is a far cry from the technocratic “what works-ism” that has dominated in center-left parties since the 1990s. The incrementalist approach, by its very nature, preemptively accepts policy and ideological concessions in the name of prudence. It prioritizes being sensible and serious. But why is being sensible an end in itself? As Ocasio-Cortez’s chief of staff, the 32-year-old Saikat Chakrabarti, said regarding another seemingly unrealistic idea, the Green New Deal: “If it’s really not possible, then we can revisit. The idea is to set the most ambitious thing we can do and then make a plan for it. Why not try?” I don’t feel strongly about a 70 percent marginal tax rate, but I don’t need to. I might even conclude that it simply “feels” too high. But that just means that if and when a Democratic candidate for president proposes a 50 percent tax rate on income that’s more than $10 million, I’ll be impressed with how “moderate,” reasonable, and sensible it sounds. (Shadi Hamid, The Atlantic)

Dieser Artikel ist eine wunderbare Ergänzung zu Fundstück 10), denn er erklärt noch einmal detailliert einige der Mechanismen, die hinter der aktuellen „Radikalisierung“ der Democrats stecken. Ich bedauere das Verschwinden der Obama-Technokratie ehrlich gesagt. In einer besseren Welt, in der die Opposition tatsächlich ein Interesse an der Lösung der Probleme und Umsetzung ihrer Ideen hat, wäre hier unglaublich viel möglich gewesen. Wir gehen offensichtlich in eine andere Richtung. Und charismatische, talentierte Nachwuchstalente wie Occasio-Cortez treiben die alte Garde dabei vor sich her wie einst die Tea-Party die GOP.

Es ist übrigens gut möglich, dass die Entscheidung der SPD, Hartz-IV nun endgültig auch öffentlich abzuschreiben, auf derselben Annahme beruht. Man sehe sich nur einmal die Reaktionen der Konservativen hier im Blog an: ob Grüne oder SPD nun eine Kompromisslösung oder eine „reine“, radikale Lösung verfolgen ändert an ihrer ablehnenden Reaktion und den üblichen Invektiven von „Sozialismus“, „Staatspartei“ und „Verbotspartei“ ohnehin nichts. Es macht taktisch keinen Unterschied, ob die Grünen einen Veggie-Day in öffentlichen Kantinen oder die Abschaffung jeglichen Fleisches fordern. Die Reaktion ist gleich hyperventilierend.

{ 25 comments… add one }
  • CitizenK 11. Februar 2019, 08:36

    Zu 10:
    „modern monetary theory, a popular new idea that asserts that fiscal spending is funded by government money creation rather than by tax revenue“

    Für mich ein Rätsel, um nicht zu sagen: Phantasterei. Wenn das so wäre, könnte man Steuern dann nicht einfach abschaffen?

    Um sachdienliche Hinweise zum Verständnis wird gebeten.

  • Dennis 11. Februar 2019, 19:45

    Zu 1:
    Zitat:
    „Erst einmal unabhängig vom konkreten Gegenstand, der oben diskutiert wird, ist die Ablehnung des Begriffs „umstritten“ in seiner aktuellen Verwendung richtig.“

    Tja, aber wenn’s da draußen jemanden gibt, der das Beschriebene nicht für richtig hält? Dafür, dass es so jemanden gibt, sprechen schon Wahrscheinlichkeitsüberlegungen.

    Deswegen ist Ihre Auffassung also möglicherweise leider UMSTRITTEN.

    Zitat
    „Denn dann redeten wir letztlich über Themen, bei denen nicht klar ist, welche Lösung diese haben.“

    Die schlechte Nachricht: Das sind ALLE Themen, bezüglich derer Lösungen erfunden werden, die also einen schöpferischen Charakter haben, was in politicis regelmäßig der Fall ist.

    „Umstritten“ ist also IMHO redundant. Ob man das dazu setzt oder weglässt spielt in der Politsprech keine Rolle. Am besten also ggf. ignorieren, denn der rhetorische dirty Trick ist klar: Was „umstritten“ ist, kann nicht so ganz koscher sein – aber auf dirty Tricks muss man ja nicht reinfallen.

    Zu 5:
    Richtig. Mal ein Beispiel, das die Immerschlimmeritis dementiert. Vor 50 Jahren war in D der Pro-Kopf-Verbrauch von reinem Alkohol noch um ca. 1/3 höher als heute. Kann man bei Statista nachlesen. Ob das jetzt womöglich umstritten ist, weiß ich natürlich nicht, aber in diesem Fall haben wir es ja mit vergangenheitsbezogener Empirie zu tun, das mildert den Streit erheblich, anders als bei generell offenen Zukunftsfragen.

    Zu 8
    Zitat:
    „Und es geht übrigens auch in die andere Richtung, wenn etwa Wirtschaftler beharrlich leugnen, dass ihre so pragmatisch-rationalen Denkmodelle eben doch gesellschaftlich beeinflusst sind.“

    Klar, Quatschbegriffe wie „pragmatich-rational“ sollen natürlich Unangreifbarkeit signalisieren. Da sind wir beim Gegenpol zu „umstritten“, also bei angeblichen höheren Weihen, die den Zustand „umstritten“ ausschließen sollen, denn wer ist schon gerne „unpragmatisch, also sachfremd,-irrational“?

    Zu 10 und 11:
    Hmmm, da machen Sie jetzt aber auch ’n bissl in Immerschlimmeritis, oder? Denn dass all die umstrittenen Sachen, die politisch so auf den Tisch gelegt werden, früher mal netter und weniger heftig waren, glaub ich als jemand, der das unlängst abgefeierte Jahr 1968 schon erleben durfte/musste, eigentlich nicht.

    „what works-ism“ (Der Begriff gefällt mir richtig) ist schon beim IKEA-Regal-Aufbauen hoch umstritten, politisch erst recht – in Ermangelung von unumstrittenen Kriterien, unter welchen Umständen vom „Funktionieren“ gesprochen werden kann.

    Zitat:
    „Und den üblichen Invektiven von „Sozialismus“, „Staatspartei“ und „Verbotspartei“

    Okay, aber das sind halt die üblichen Mätzchen. Zu pfarrerstochterhaft darf man da auch nitt sein, auch wenn wir ein solche z.Zt. als Bundeskanzlerin haben.

    Sehr bedenkenswert, was Sie zuletzt schreiben: Da man politisch bei kleinen Reförmchen den selben Ärger hat wie bei den richtigen Dickschiffen, könnte es besser sein, man packt gleich das Letztere an – auch weil man dann noch bargaining chips in der Hand hat.

    • Stefan Sasse 11. Februar 2019, 20:09

      Die Gefahr bei der Strategie ist halt, dass du danach massiv Ärger mit der enttäuschten Basis hast.

  • Peter Zeller 11. Februar 2019, 20:03

    Hallo, Herr Sasse,
    ich beziehe mich auf den Artikel in der New York Post. Die beiden Berkeley-Autoren postulieren, dass Oligarchen, also Superreiche, eine Gefahr für die Demokratie sind. Dann behaupten sie einen kausalen Zusammenhang zwischen Spitzensteuersatz und dem Auftreten bzw Nicht-Auftreten von Oligarchen. Aber dieser zeitliche Zusammenhang, das parallele Auftreten zweier Merkmale ist typisch für den epidemiologischen Ansatz, der nie ein Beweis für Kausalität ist. Sind hier nicht auch andere Faktoren denkbar?
    In Frankreich hat die Neiddebatte schon begonnen, nachdem eine Zeitung verbreitet hat, daß Carlos Ghosn, neuerdings Ex-Chef von Renault-Nissan, steuerlich 2012 nach Holland geflohen ist, um der Hollande*schen Vemögenssteuer ISF zu entkommen.
    *Hollande: der damalige Präsident

    • Stefan Sasse 11. Februar 2019, 20:10

      Ich verstehe nicht ganz, worauf du raus willst. Dass Spitzensteuersatz nicht Superreiche verhindert? Ist korrekt, soll er ja auch gar nicht zwingend.

      • Peter Zeller 12. Februar 2019, 11:29

        Doch, soll er. Jedenfalls ist das die These der beiden Ökonomen.

        • Peter Zeller 15. Februar 2019, 14:15

          Korrektur: New York Times

  • Cimourdain 12. Februar 2019, 17:01

    Hallo, Herr Sasse,

    zu den Themen die um Sprache und Kommunikation kreisen, habe ich einige Ergänzungen und „Umstreitungen“:

    1) „Umstritten“ ist ein Begriff der für sich genommen null Trennschärfe hat. In den richtigen Kreisen ist auch die Kugelgestalt der Erde umstritten. Und das ist meiner Ansicht das zentrale Problem. Nicht nur Bewertungen einer Sache oder Handlung werden diskutiert, sondern auch Sachaussagen. Filterblasen und erkenntnistheoretischer Relativismus (Derrida, Feyerabend) haben dazu geführt, dass Empirie und Rationalismus sich kaum gegen interessensgeleiteter eristischer Dialektik durchsetzen (können ?).

    2) Hier könnte man genauso argumentieren, dass die Kommunikationselemente, die den von Lobo aufgeführten exakt entgegengesetzt sind, genauso zerstörerisch für das Vertrauen wirken: klar einseitige (Auslands)Berichterstattung, krawalliges Agenda-Setting und strukturelle (über)Dramatisierung (z.B. „Killerspiel“). Und dass Lobos Medienkritik von Ihnen direkt auf die Kommunikation der Politiker erweitert wurde, zeigt mir, dass im Bewusstsein des Publikums die Trennung zwischen interessengeleiteter (Politik) und informierender Kommunikation nicht mehr nachvollzogen wird.

    6) „toxic masculinity“ ist für mich ein Begriff, der ein klares Beispiel schlechter Wortwahl darstellt. Er wirft sehr unterschiedliche Dinge in einen Topf, erklärt nichts, sondern bewertet nur, er blockt damit Diskussionen und er besitzt keine Trennschärfe ( ich habe noch keine Definition über einen Katalog von Verhaltensweisen hinaus gesehen)

    7) Als Übung in vernünftiger Diskussion habe ich einfach mal vor jeder Meinungsbildung versucht mich zu erinnern, welche Autorinnen mit besprochenen Texten mir aus meinem Deutschunterricht ( über 20 Jahre her, Gymnasium, MatNat Interessensschwerpunkt ) noch in Erinnerung geblieben sind (besprochene Langwerke in Klammern) :Marieluise Fleisser (Fegefeuer in Ingolstadt), Christa Wolf (Kassandra), Christiane F. (Wir Kinder vom Bahmhof Zoo), Annette von Droste-Hülshoff, Else Lasker-Schüler, Sarah Kirsch und Elfriede Jelinek. Wie sieht es bei anderen Foristen aus anderen Generationen aus ?
    P.S. ‚…die sich [nicht] mit der Midlife-Crisis weißer Angehöriger der oberen Mittelschicht befassen, die diese wechselweise in philosophischen Exzessen und in Affären mit wesentlich jüngeren Frauen ausleben.‘ ist die beste Zusammenfassung des „Faust“ in einem Satz, die ich kenne.

    • derwaechter 12. Februar 2019, 20:40

      Zu 7:

      Im Deutschunterricht geht man doch durch die Epochen, oder nicht? Da gibt es doch nun mal zu allen Zeiten deutlich mehr männliche Schriftsteller und man greift sich naturgemäss auch die prägenden der jeweiligen Epoche raus. Halt auch meist Männer. Bei neuerer Literatur gibt es da mehr Abwechslung und die spiegelt sich doch sicherlich auch in der Autorenauswahl wieder.

      • Stefan Sasse 13. Februar 2019, 11:31

        Ne, so einen chronologischen Durchlauf gibt es nicht. Der Bildungsplan sieht zwar die schwerpunktmäßige Behandlung mancher Epochen vor, aber überwiegend geht es um Textformen. Bei Gedichten spielt das keine Rolle; in sechs Wochen Lyrikunterricht kann ich eine Menge Dichter und Werke drannehmen. Aber in sechs Wochen Roman bespreche ich halt…einen. Vor allem in der Oberstufe, wo dieser eine Roman festgeschrieben ist (weil Abi-Stoff) und ständig in diese Gruppe fällt. Davon abgesehen ist die Überrepräsentation ein Trugschluss: ja, wegen des strukturellen Sexismus der früheren patriarchalischen Strukturen sind weibliche Autoren viel weniger bekannt als männliche, aber solange eine Epoche eine gute weibliche Autorin aufweist, kann ich die nehmen. Ich muss ja meinen Literaturunterricht nicht an der Menge der Literatur ausrichten, sonst wäre heute ja auch wesentlich mehr Rosamunde Pilcher im Bildungsplan.

    • Stefan Sasse 13. Februar 2019, 11:23

      1) Exakt.
      2) Ja, das sind gute Punkte.
      6) Kennst du meinen Artikel zum Thema?
      7) Ich beziehe mich überwiegend auf die Pflichtlektüre im Abi, den Rest kann der Lehrer ja frei wählen. Aber danke für den Einblick. Christiane F. wird eigentlich gar nicht mehr gelesen. Christa Wolf hab ich auch schon lange bei keinem mehr gesehen. Und danke, darauf zielte ich ab 🙂

      • Cimourdain 14. Februar 2019, 17:30

        Zu 6) Jetzt schon ( auch sein Pendant), danke für den Hinweis. Gute Diagnose, aber wenn du den Artikel mit „ Dominanz- und Machtverhalten sowie Objektifizierung von Frauen aufgrund falscher männlicher Rollenvorbilder und Rollenklischees“ betitelt hättest, hättest du wohl nicht in ein 290 Kommentare Wespennest gestochen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf eine andere Begriffsbestimmung ( Spears, 2004) von toxisch als eine erotische männliche Ausstrahlung, die die Frau in eine (schädliche) rauschhafte Abhängigkeit treibt, hinweisen 😉 .

      • derwaechter 15. Februar 2019, 08:24

        Das ist ja ein gutes Beispiel. Die Bücher werden wahrscheinlich kaum noch gelesen, weil sie nicht mehr als relevant angesehen werden. Sei es wegen literarischer Qualität, Gesellschaftlicher Relevanz, Zeitgeist oder was auch immer. Nicht wegen des Geschlechts der Autoren. Trotz dieser, aus Germanistik Sicht viel wichtigeren, Defizite würden sie in deiner Zählweise positiv zu Buche schlagen. Ist das wirklich so sinnvoll?

        Fun Fact am Rande: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist ein Sachbuch über Christiane F. Die Autoren sind aber zwei Männer!
        Der Regisseur des Films „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ebenfalls ein Mann!

        Preisfrage: ist es für das Verständnis der Lage junger Mädchen und Frauen in der Berliner Westberliner Drogenszene der 70/80ger deshalb jetzt weniger relevant?

        Preisfrage 2: wie wäre es eigentlich mit „Alle Menschen sind sterblich“ von Simone de Beauvoir? Weiblicher Autor aber männliche Hauptperson!

        Ist es für Schülerinnen (um die geht es ja vor allem) zur Identifikation wichtiger eine weibliche Hauptperson oder einen weiblichen Autor zu haben?

        • Stefan Sasse 15. Februar 2019, 16:42

          Ich will zu dem Thema noch einen eigenen Artikel machen, ich stell das bis dahin mal hinten an. Aber Kurzversion:
          – Mangelnde literarische Qualität war kein Grund
          – Nein, nicht weniger relevant.
          – Kenn ich nicht, aber ich sehe kein Problem.
          – Um die geht es nicht vor allem, und auch nicht Identifikation; Jungs identifizieren sich ja auch nicht mit Nathan dem Weisen. Es geht um Perspektiven.

          • derwaechter 15. Februar 2019, 20:13

            Ich bin gespannt! Perspektiven sind natürlich wichtig! Guter Punkt. Auch hier werde ich wahrscheinlich wieder die Frage haben, ob männlich/weiblich die alles bestimmende Kategorie sein sollte. Wichtig sind ja auch (je nach Zusammenhang) Region, Alter, Epoche, Sozialer Status usw usf.

            • Stefan Sasse 16. Februar 2019, 10:20

              Oh, da gebe ich dir absolut Recht. Nur ist leider soziale Klasse im 19. und 20. Jahrhundert eine viel schlimmere Trennlinie als Geschlecht.

  • Ralf 12. Februar 2019, 21:18

    zu 10)

    Ich bin auch sehr beunruhigt über die Potenziale, die die unbestreitbare Verschiebung in Richtung radikalerer Ideen auf der Linken hat. Politisch gesehen ist die Dynamik nachvollziehbar. In den acht Jahren unter Obama waren die Progressiven konzentriert auf policy, Kosten-Nutzen-Abwägungen, rationale, inkrementelle Lösungen und suchten beständig überparteiliche Kompromisse.

    Ich wünschte, ich könnte Dich verstehen. In den acht Jahren unter Obama ist die Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft weiter gewachsen. Der Unterschied zu den Republikanern zuvor und Trump danach, war dass die Reichen etwas langsamer reicher wurden, während die Armen etwas langsamer ärmer wurden. Die Mittelklasse wurde ein bisschen langsamer erodiert. Studenten werden von Studiengebühren regelrecht erdrückt und haben den größten Teil von Obamas Legislaturperioden wesentlich bescheidenere Jobchancen gehabt. Und zu meist deutlich gesunkenen Einstiegsgehältern. Die Auslandskriege haben sich lediglich regional verschoben. Amerikaner starben weiter. Nur eben nicht mehr so viel im Irak, dafür verstärkt in Afghanistan. Der Krieg gegen den Terror wurde ebenfalls verloren, wie der Aufstieg des IS während Obamas Regierungszeit beweist. Der einzige Erfolg, den Obama vorzeigen kann, ist seine Krankenversicherung. Und auch die fällt recht bescheiden aus. Hast Du Dir mal die Bedingungen angesehen, zu denen Arme sich da versichern müssen? Klar für Krebspatienten oder Patienten mit anderen extrem teuren Erkrankungen ist das besser als der wirtschaftliche Totalschaden des vorherigen Katastrophensystems. Aber wenn Dir mal einer so eine Obamacare-Versicherung anbieten würde, mit Eigenzuzahlungen im Krankheitsfall von $4000 für die typischsten Verträge, würde ich gern Dein Gesicht sehen. Und wir reden hier nicht von Leuten Deiner Einkommensklasse.

    Überhaupt finde ich es abenteuerlich, was hier so alles als „radikale Ideen“ bezeichnet wird. Spitzensteuersätze, die nachweislich mit der größten Expansion der amerikanischen Mittelklasse und einer Wohlstandsexplosion in der Mitte der Gesellschaft korrelierten. Die Idee, dass jeder zum Arzt gehen kann, wenn er einen braucht und die Gesellschaft solidarisch dafür aufkommt. Kostenlose Universitäten, wie sie für Jahrzehnte selbstverständlich waren in Europa. Und eine Politik, deren Ziel es ist, dass der Planet in 100 Jahren noch für Menschen bewohnbar ist.

    Echt radikal.

    • Stefan Sasse 13. Februar 2019, 11:33

      Meine Befürchtung ist weniger, dass Medicare for all oder die 70% Millionärssteuer kommen. Habe ich kein Problem damit. Student debt relief, sofort. Etc. Meine Befürchtung ist, dass wir eine Dynamik wie bei den Republicans kriegen, wo statt einer Korrektur zu vernünftigen Forderungen eine Überkorrektur stattfindet. Das muss nicht passieren, aber die Gefahr ist real in meinen Augen.

    • Erwin Gabriel 14. Februar 2019, 19:35

      @ Ralf

      da bin ich weitgehend bei Dir.

  • derwaechter 14. Februar 2019, 09:20

    Verstehe. Hatte ich von früher anders in Erinnerung.

    Ein Trugschluss ist das nicht. Die Autorinnen sind nicht weniger bekannt sondern, eben, zumindest zum Teil, wegen des genannten Patriarchats, schlicht weniger. Das ist wie bei so gut wie allen anderen berühmten Persönlichkeiten. Wenn der Platz der Frau Heim und Familie war, gab es halt sehr wenige die Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer, General oder eben Schriftsteller sein konnten. Letzteres vielleicht noch am ehesten.

    Und klar, solange es eine gute Autorin gibt, kann ich die den männlichen prinzipiell vorziehen. Aber das ist schon ein sehr beschränktes Kriterium. Inhalt, Stil, Epoche, usw. sind doch viel wichtigere Kriterien.

    Ich denke ganz allgemein, dass wir Gleichberechtigung nicht voran bringen indem wir uns die Vergangenheit hinbiegen wie wir meinen sie hätte sein sollen.

  • Erwin Gabriel 14. Februar 2019, 19:39

    zu 6) Männer sind an allem Schuld

    https://www.youtube.com/watch?v=Ri-kVYDTEAk

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