Nachdem wir über Faktoren geredet haben, die innerhalb von Clintons Kontrolle lagen und in die klassische Kategorie „Wahlkampffehler“ fallen, müssen wir nun über die Faktoren sprechen, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen und – anders als die Third-Term-Problematik – exklusiv Probleme ihrer Kandidatur waren. Der geneigte Leser dürfte nicht überrascht sein, dass ich diese Faktoren für die entscheidenden halte, wie diverse Experten und Trumps eigenes Wahlkampfteam auch (consistency!).
Bis zu diesem Punkt in meiner Analyse hat Clinton einen mittelprächtigen Wahlkampf gefahren. Ich habe mehrfach den Vergleich mit Mitt Romney 2012 bemüht: nicht besonders gut, nicht besonders schlecht. Nur hatte Romney in Obama einen Gegner, der den Amtsinhaber-Bonus sowie eine sich erholende Wirtschaft auf seiner Seite hatte und daher, all else being equal, gewinnen würde. Es war aber nicht all else equal, vielmehr führte Obama einen mit wenigen Ausnahmen (die erste Debatte!) einen sehr guten Wahlkampf. 2016 hatte Clinton die Third-Term-Problematik gegen sich, so dass sie – erneut all else being equal – verlieren würde. Aber es war eben nicht all else equal.
Denn mit den Frontrunnern aus den republikanischen Vorwahlen hatte Clinton außerordentlich schwache Gegner gegen sich. Ted Cruz und Donald Trump waren beide nicht unbedingt das, was man eine sichere Wahl nennt, und beide hatten Beliebtheitswerte deutlich (wir reden von über 20%) unter denen Clintons. Dass HRC in der entscheidenden Novemberwoche hier mit Trump gleichzog und dadurch die Tür für dessen Zufallssieg öffnete, lag an Faktoren, die völlig außerhalb ihrer (und Trumps!) Kontrolle lagen. Denn man sollte nicht den Fehler machen, der von vielen in diesem Rahmen ständig begangen wird und Trump irgendwelche besonderen Einsichten oder Fähigkeiten zuschreiben. Sein Wahlkampf war insgesamt mies (wenngleich sein Digital-Team das von Clinton überflügelte), und er war vom Ergebnis genauso überrascht wie jeder andere auch. Dieses Vorwort ist zur Einordnung wichtig.
Und damit gehen wir zu den Faktoren.
Der erste Faktor ist die Wahrnehmung progressiver Kandidaten durch die Linse der Medien. Ich habe bereits betont, dass die Wahrnehmung Clintons als Rechtsaußen in ihrer Partei zumindest innenpolitisch äußerst fragwürdig ist. Durch eigenes Verschulden schaffte es Clinton nicht, dies bei ihrer eigenen Parteibasis zu ändern. Wofür sie wenig kann ist aber die völlig schizophrene Wahrnehmung ihrer Persona von außerhalb der progressiven Basis: Clinton wurde hier sowohl als feuerfressende Sozialistin gesehen als auch als ineffektive Vertreterin eines verwaschenen Mittelwegs, je nachdem, welche Story man gerade schreiben wollte.
Zudem wurde Clinton mit einer Salve von Vorwürfen der „smugness“ (in etwa: arrogant, selbstgefällig) bedacht, die fest in der Klischeekiste politischer Journalisten verankert sind. Zur Klarstellung: JEDER progressive Kandidat wird mit diesem Vorwurf bedacht, egal wer es ist. Obama musste sich damit auseinandersetzen, Kerry, Gore, Clinton – völlig egal. Es ist ein Dauerklischee, das keine Basis in der Realität hat, bei dieser Wahl aber durch die Kandidatur Trumps besondere Schärfe erhielt, der das Kunststück fertigbrachte, als New Yorker Millionär die Ostküstenelite als Gegner aufzubauen und mit Clinton zu identifizieren, ein Stück Wahlkampfpropaganda, das völlig unkritisch übernommen wurde. Die Bereitschaft der Medien, dieses konservative Narrativ aufzugreifen, auf der anderen Seite aber Trumps Sexismus und Rassismus beständig zu relativieren und als reine Wahlkampftaktik darzustellen, kann nicht Clinton angelastet werden. Deren Verhältnis zu vielen dieser Medien – besonders der New York Times – war zwar schon seit langem sehr angespannt. Aber das gilt für Trump auch, und da störte es niemanden.
Unklar ist, welche Rolle Wahlfälschung und Wählerbehinderung und -unterdrückung durch republikanische Gouverneure spielte. Wie üblich versuchten die Republicans, potenzielle Wähler der Democrats von der Wahl abzuhalten, indem sie ihre Bezirke mit schlechter Infrastruktur ausstatteten, sie von den Wählerlisten strichen, den Zugang zur Wahl erschwerten oder ihre Wahlzette für ungültig erklärten. Dies spielte 2018 eine größere Rolle; Experten sind sich aber recht einig, dass es 2016 zwar eine, aber keine entscheidende Rolle spielte. Diesem Urteil will ich mich hier anschließen.
Und das bringt uns direkt zum nächsten und wahrscheinlich größten Faktor, der über Clinton hinaus Bedeutung hat. Ich habe im Vorgehenden erklärt, dass Rassismus bei der Wahl 2016 keine (größere) Rolle als sonst gespielt hat, obwohl Trump den bisher eher impliziten Rassismus der GOP genommen und die Partei direkt in eine white-supremacy-Bewegung verwandelt hat. Was aber unzweifelhaft anders als bei anderen Wahlen war war die Rolle des Sexismus – schon zwangsläufig, war Clinton doch die erste Frau, die für das Amt kandidierte.
2008 fragten sich viele politische Beobachter, ob die Amerikaner reif seien für einen schwarzen Präsidenten oder ob es zu einem rassistischen Backlash kommen würde. Tatsächlich zeigen erste Studien, dass vielmehr der merkwürdige Effekt eintrat, dass gerade alltagsrassistisch eingestellte Leute für Obama stimmten („we’re voting for the nigger„), in der Hoffnung, das Thema damit endgültig zu begraben. Obama verbog sich zudem beinahe zur Unkenntlichkeit darin, das Thema weiträumig zu umschiffen (bis der Tod Trayvon Martins 2012 ihm das unmöglich machte). Es ist nicht zuviel gesagt, dass Frauenfeinde 2016 keine Illusionen hegten, sich von ihren Sünden durch die Wahl der ersten Präsidentin freikaufen zu können, oder dass Clinton versucht hätte, das Thema zu vermeiden. Das wäre 2016 auch nicht mehr möglich gewesen, zuviel hat sich seit 2008 verändert.
Aber Sexismus spielte eine hervorgehobene Rolle im Wahlkampf nicht nur, weil Clinton nun mal eben eine Frau war, oder weil sie schon immer – bereits als Studentin – eine feministische Aktivistin gewesen wäre. Die Natur ihres Gegenspielers tat ihr Übriges, um das Thema permanent auf die Agenda zu holen. Und das war nichts, was Clinton und ihr Team sonderlich begrüßten. Als Anfang Oktober 2016 das Access-Hollywood-Tape auftauchte, auf dem Trump seine berüchtigten „grab them by the pussy„-Bemerkungen machte, fluchten sie in Clintons Wahlkampfteam, weil es ihnen die Message verhagelte. Trump verkörperte wie kein anderer republikanischer Kandidat außer vielleicht Mike Huckabee ein sexistisches Amerika. Er lebt die 80er Jahre. Eine Zeit, in der Machos geachtet und berühmt waren, in der man mit einer albernen Frisur und einem noch alberneren Spruch und genügend Geschmacklosigkeit weit kam. Und er ist damit nicht allein.
Der Wahlkampf 2016 gerann an nichts anderem so sehr wie an der Toxic Masculinity. Frauenfeinde und Gegner der Gleichberechtigung versammelten sich hinter Trump noch zuverlässiger als Neonazis und Ku-Klux-Klan-Anhänger. Die Republicans, abgehängt in den Umfragen und von einer elektoralen Todesspirale bedroht, warfen sich mit vollem Einsatz in den von ihnen entfachten Kulturkrieg. Bathroom bills, „family values“ und Konsorten dominierten alles andere und machten die unfähigen Versuche Clintons, policy und Narrativ in die Diskussion zu bringen, völlig zunichte. Jeder Versuch, eine kohärente Message aufzubauen und ein Narrativ um Clinton zu schmieden, musste gegen Donald Trump unabhängig von den Fähigkeiten der Kandidatin und ihres Teams auf diesem Feld (die, wie beschrieben, lausig waren und sind) eine Sysiphos-Arbeit sein.
Und das ist, erneut, ein Problem der Medien und außerhalb Clintons Kontrolle. Ihr Geschlecht konnte sie nicht ändern, und dass die Medien Trumps permanente Skandale auf eine Art verarbeiten würden, die ihn effektiv jeglicher ernsthafter Kritik enthob, ist nicht ihr anzulasten, sondern bis heute Ausdruck eines Medienversagens auf breiter Front. Doch die mediale Schuld endet hier nicht. In ihrer harschen Kritik an der Berichterstattung gerade der New York Times liegt Clinton ja durchaus richtig. Man kann ein schlechter Verlierer sein UND richtig liegen.
Was also ist die mediale Schuld? Die Berichterstattung des gesamten Wahlkampfs war in einem nie dagewesen Ausmaß negativ und schmutzig. Das gilt für beide Seiten – die Berichterstattung über Trump war zu nie dagewesenen 80% negativ – aber wie es so schön heißt, sollte man nie mit Schweinen im Schlamm kämpfen. Beide werden schmutzig, nur die Schweine mögen es. Trump verdiente die negative Berichterstattung offensichtlich. Keine Woche verging ohne einen Skandal, und spätestens mit Access Hollywood und den vorherigen Geschichten war jedem auch nur halbwegs aufmerksamen Beobachter klar, dass Trump ein Sexualstraftäter war. Es bestand keinerlei Äquivalenz zu Clintons Skandalen, die wir bereits besprochen haben.
Genau diese Äquivalenz aber wurde von den Medien gergestellt. Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen waren da die bereits erwähnten Spannungen. Die Clintons und die Presse hatten schon lange ein schlechtes Verhältnis zueinander. Aber das war nicht der Hauptgrund; so viel Professionalität darf man den Journalisten schon zugestehen, die zudem überwiegend Trump auch nicht leiden können. Problematischer waren andere Faktoren.
Der erste war, wie bereits erwähnt, der allgegenwärtige Eindruck, Clinton würde die Wahl gewinnen. Kein Journalist wollte sich der Kritik aussetzen, zu weich gegenüber Wahlsiegerin Clinton gewesen zu sein. Dies führte zu einer Überkompensation.
Der andere war, dass die Medien damals wie heute im Bothdiserismus und Whataboutismus verhaftet sind. Jede negative Story über Trump musste mit einer negativen Story über Clinton ausgeglichen werden, um nicht in den Vorwurf der Parteilichkeit zu geraten. Nur produzierte Trump jede Woche 2,38 neue Skandale. Clinton keinen einzigen. Da die Leitmedien aber dennoch Clinton ebenso kritisieren zu müssen glaubten wie Trump, hackten sie immer auf dasselbe tote Pferd ein, bauschten jede Kleinigkeit zur Staatsaffäre auf, bis sich auch beim letzten Wähler der Eindruck festgesetzt hatte, dass Trump und Clinton austauschbar schlecht wären und Clintons Beliebtheitswerte von denen Trumps kaum mehr zu unterscheiden waren.
Das war fatal, denn es war dieser Eindruck, der vielen unentschlossenen Wählern auf den letzten Metern die nötige Deckung gab, ein solch unqualifiziertes Monster wie Trump zu wählen. Wenn schließlich beide Alternativen gleich schlecht waren, beide charakterlich gleich verkommen, dann konnte man es ja auch mit dem Außenseiter versuchen. Dieser Eindruck lag völlig außerhalb von Clintons Macht zu verhindern, und er liegt einzig und allein bei den Medien, die nicht das nötige Rückgrat hatten sich der parteiischen Kritik der Konservativen zu stellen, einen objektiv wesentlich skandalbeladeneren Kandidaten auch als solchen zu behandeln und die sich stattdessen in eine künstliche Objektivität flüchteten, in der es als unparteiisch galt, beide Kandidaten in den Dreck zu stoßen und den Eindruck zu erwecken, Demokratie sei nur ein gewaltiges, unterhaltendes Schlammschlacht-Spektakel. Bis heute stehen die meisten Medien nicht zu dieser Verantwortung. Gerade die New York Times versäumt es weiterhin, ihre Rolle in diesem Drama aufzuarbeiten und belügt sich selbst damit, keinerlei Einfluss gehabt zu haben.
Absurderweise dürfte gerade auch Clintons überzeugende Performance im Benghazi-„Skandal“ dazu beigetragen haben. Dieser komplett von den Konservativen erfundene Skandal wurde tatsächlich objektiv begleitet – was eben auch bedeutete, Ross und Reiter zu bennenen und am Ende zu dem Schluss zu kommen, dass Clinton nicht verantwortlich und das ganze ein politisches Schauspiel war. Die Republicans griffen die Leitmedien dafür wochenlang aufs Aggressivste an, so dass die Furcht davor, eine noch viel schlimmere Variante dieses „Benghazi-Backlash“ abzubekommen sicherlich auch eine Rolle spielte – schon allein, weil Clintons überzeugende Performance eine „einfache“ Äquivalenz verhinderte. Es ist absurd, wie diese Mechanismen wirken.
Am auffälligsten waren diese Mechanismen aber im Falle des Emailskandals zu sehen. Ich habe gesagt dass die Existenz dieses Skandals Clintons Schuld war. Das trifft aber nicht auf die völlig überzogene Bedeutung zu, die ihnen zugewiesen wurde. Dass der exakt gleich geartete Skandal um Ivanka Trumps Emails aktuell praktisch kein Wimpernzucken wert ist zeigt, dass es bei Clinton nie um die Emails ging. Es ging darum, etwas, irgendetwas, an sie zu hängen, um auch einen Skandal zu haben, um negativ berichten zu können – und nicht nur negativ über Trump, sondern auch Clinton zu berichten und so „fair“ zu sein. Aber nur ein Kandidat in diesem Wahlkampf war jemand, der 80% negative Berichterstattung rechtfertigte, der jede Woche neue, echte Skandale produzierte, der log dass sich die Balken bogen und offenkundig diverser Verbrechen schuldig war, die er nur aufgrund seines Status als reicher Ostküstenelite wegen entgangen war. Aber all das konnte und wollte man so nicht sagen. Stattdessen blieb man „objektiv“ und „fair“. Das Resultat sehen wir bei jeder Pressekonferenz im Weißen Haus.
Aber genug der Medienschelte. Ein weiterer Faktor außerhalb der Kontrolle Clintons, dessen Auswirkungen bis heute völlig unklar, aber eindeutig größer als null, sind, ist die Einmischung Russlands in den Wahlkampf. Es ist inzwischen nur noch von hauptberuflichen Putin-Verstehern zu leugnen, dass russische Hacker hinter den DNC-Leaks stehen und die sozialen Netzwerke mit Fake-News und Bots fluteten. Zudem gibt es diverse Indizien, dass es direkte Hackversuche von Wahlmaschinen durch russische Hacker gab und dass Russland rechtsextremistischen, mit Trump verbündeten Gruppen Geld zur Verfügung stellte. Nun ist nichts davon sonderlich ungewöhnlich; die USA versuchen gerne selbst auf diese Art, auf Wahlen Einfluss zu nehmen. Nur waren die Russen 2016 erfolgreicher als sonst. Was nicht viel heißen muss; selbst Experten und andere Beobachter, die Putin sämtliche der angesprochenen Aktionen zuschreiben sind sehr vorsichtig darin, ihnen übermäßige Effektivität zu bescheinigen. Russische Einflussnahme war deswegen ein Faktor, der zweifellos vorhanden und außerhalb Clintons Kontrolle lag, dessen Auswirkungen aber zumindest bis zur Veröffentlichtung der Ergebnisse der Mueller-Kommission unklar sind, ebenso seine Verwicklung mit der Trump-Organisation. Diese Spekulation soll an dieser Stelle auch unterbleiben.
Sie ist auch nicht notwendig. Denn selbst alle bisher genannten Faktoren, ob selbst verschuldet oder außerhalb Clintons Kontrolle, hätten nicht ausgereicht, um ihre Wahlniederlage hervorzurufen. It bears repeating: Clinton hätte die Wahl beinahe gewonnen. Eine Woche zuvor oder danach wäre sie sicher Präsidentin geworden. In der fatalen Novemberwoche hatte sie immer noch eine 2:1-Chance. Niemand rechnete mit ihrer Niederlage. Warum also verlor sie? Das lag an dem letzten Faktor, der ihrer Kontrolle völlig entzogen war. Und dieser Faktor war James Comey.
Der FBI-Präsident hatte sich bereits im Sommer 2016 in präzendenzloser Weise in den Wahlkampf eingemischt, als er Clinton im Ergebnis seiner offiziellen Email-Skandal-Untersuchung von allen Vorwürfen freisprach, ihr dann aber (in einer Überschreitung seiner Kompetenzen und der delikaten politischen Lage unangemessen) „extremely careless[ness]„, also extreme Nachlässigkeit, bescheinigte. Dieser politische Schaden war durch Clinton aber im Herbst 2016 überwunden. Innerhalb von 24 Stunden von der Veröffentlichtung des Access-Hollywood-Tapes aber veröffentlichte Wikileaks, offensichtlich in Absprache mit dem Trump-Wahlkampfteam (sowohl Donald Trump Jr. als auch Paul Manafort machten vor der Veröffentlichung direkte Andeutungen in diese Richtung), die DNC-Mails, die Comey zum Anlass nahm, die Ermittlungen erneut aufzunehmen. Der Gipfel der Ironie ist, dass Comey dabei ein Clinton-ähnliches Unverständnis der Funktionsweise von Emails an den Tag legte: dass nämlich Mails lokal bei Sender UND Empfänger gespeichert werden, sollte einem FBI-Chef eigentlich bekannt sein. Und doch diente es ihm zur offiziellen Legitimation der Wiedereröffnung der Ermittlungen eine Woche vor der Wahl. Das wäre nicht schlimm gewesen, aber Comey teilte diese Wiedereröffnung auf sämtlichen Kanälen mit der Öffentlichkeit, vor allem in einem offiziellen Brief an den Kongress – wozu es keine Veranlassung gab.
Damit stellte Comey die letzte Woche vor der Wahl direkt unter den Schatten der Clinton-Mails. Die Schlagzeilen waren voll – und die meisten Umfragen waren vorher aufgenommen worden, so dass diese Ereignisse in vielen Umfragen nicht mehr auftauchten und die Experten kalt erwischten. Doch selbst diesen Schlag hätte Clinton vielleicht noch knapp verkraftet. Doch eine Woche später, am 6.11., schrieb Comey einen weiteren Brief, in dem er die Einstellung der Ermittlungen bekanntgab. Damit garantierte er, dass die letzten Zeitungen, die die Wähler vor dem Wahltag lasen, als Titelschlagzeile die Clinton-Mails hatten. Dass Clinton ein weiteres Mal freigesprochen wurde, war dafür irrelevant. Die Ereignisse bestätigten das in den Monaten zuvor beständig genährte Vorurteil, Clinton sei eine außergewöhnlich skandalbeladene Politikerin – was schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht.
Nate Silver von 538 ist sich deshalb, wie die meisten anderen Beobachter außerhalb der bereits erwähnt aufarbeitungsresistenten Leitmedien auch, auch sicher, dass die Comey-Briefe Clintons Niederlage entschieden haben. Ihr Effekt kann in den Umfragen, anders als die Goldman-Sachs-Reden und alle anderen hier genannten Faktoren, direkt nachgewiesen werden. Es ist strittig, in welchem Umfang die Briefe gewirkt haben – die niedrigsten Schätzungen gehen von 1%, die höchsten von 3-4% Verlust für Clinton in den finalen Tagen vor der Wahl aus. Aber genau deswegen bin ich zu Beginn dieser Abhandlung so lang auf den knappen Ergebnissen in Wisconsin, Pennsylvania und Michigan herumgeritten. Sie alle sind deutlich unter 1% entschieden worden. Ohne Comeys Brief wäre Hillary Clinton heute Präsidentin. Das steht völlig außer Zweifel.
Warum tat Comey es? Aus dem gleichen Grund wie die New York Times ihren Bothsiderismus pflegte. Er hat es sogar offen gesagt: Er ging davon aus, Clinton werde gewinnen, und wollte sich von jedem möglichen Vorwurf, sie unterstützt zu haben, reinwaschen. Ihm fehlte schlichtweg das Rückgrat.
Es war damit Clintons Stärke, nicht ihre Schwäche, die absurderweise zu ihrer Niederlage führte. Wären die Umfragen durch den Oktober hindurch knapp und Kopf and Kopf mit Trump gewesen – sowohl die medialen Beobachter als auch Comey hätten sich anders verhalten, und Clinton wäre heute Präsidentin. Auch deswegen war dieser Schwung so schwer vorherzusehen. Clintons Stärke war echt, und sie war es bis wenige Tage vor der Wahl, an der dann 77.000 von über 60 Millionen Wählern die Entscheidung brachten.
Aber warum die ollen Kamellen wieder aufs Tablett bringen? Wen interessiert, außer den Historikern, der genaue Grund für 2016? Die Wahl wirkt deutlich nach, und sie spielt eine gewaltige Rolle für heute und für 2020. Im (versprochen!) letzten Teil der Serie wollen wir uns deswegen mit den Folgerungen aus 2016 befassen.
Sehr interessant, danke!
@ Stefan Sasse on 10. Januar 2019
Denn man sollte nicht den Fehler machen, der von vielen in diesem Rahmen ständig begangen wird und Trump irgendwelche besonderen Einsichten oder Fähigkeiten zuschreiben.
Doch, natürlich. Er ist ein brillanter Populist, der von allen unterschätzt wurde.
… Benghazi-„Skandal“ …Dieser komplett von den Konservativen erfundene Skandal …
Definitiv nicht. Es gab von der US-Botschaft in Benghazi Anfragen nach mehr Sicherheitspersonal und Warnungen von Unruhen. Im Nachgang zeigte Hillary die üblichen verantwortung abwälzenden Reflexe, und belog außerdem die Angehörigen der Opfer.
… und am Ende zu dem Schluss zu kommen, dass Clinton nicht verantwortlich …
Zustimmung! Die Anfragen wurden auf unteren Ebenen der Marines abgebügelt, die Warnungen waren nicht unbedingt konkret, und wurden deshalb nicht mal leitenden Beamten vorgelegt. Was in der US-Botschaft schiefging, ist nicht auf ihrem Mist gewachsen (höchstens sehr indirekt, da es HRC war, die Obama zum Angriff auf Libyen drängte).
… und das Ganze ein politisches Schauspiel war.
Naja; es gab durchaus (in die Irre führende) Hinweise, eine unklare Situation, und den Nachweis von Hillarys Lügen gegenüber den Angehörigen – nichts dramatisches, aber auch nicht „nichts“.
… dass es bei Clinton nie um die Emails ging.
Das stimmt einfach nicht.
https://en.wikipedia.org/wiki/Hillary_Clinton_email_controversy
… als er [Comey] Clinton im Ergebnis seiner offiziellen Email-Skandal-Untersuchung von allen Vorwürfen freisprach, …
Kann man so, finde ich, nicht stehen lassen. In meiner Erinnerung hat Comey ihr durchaus Fehler, Verstöße gegen Vorschriften und Unwahrheiten attestiert, aber auch empfohlen, sie nicht gerichtlich zu belangen. Die Empfehlung, keine Anklage zu erheben, ist bei weitem nicht das Gleiche wie ein Freispruch von allen Vorwürfen.
Es war damit Clintons Stärke, nicht ihre Schwäche, die absurderweise zu ihrer Niederlage führte.
Wie bei fast allem, was Du schreibst, erkenne ich einen wahren Kern, aber nicht die Wahrheit (bzw., präziser formuliert, habe ich teils stark abweichende Wahrnehmungen). Ich habe Trump als deutlich besseren Wahlkämpfer wahrgenommen als Du (er trat anfangs gleichzeitig gegen die republikanische Partei, gegen die Medien und gegen die Mitbewerber an; und gegen Ted Cruz hätte Hillary trotzdem gewonnen). Auch sehe ich bei Clinton nicht den Heiligenschein, den Du ihr nachträglich überziehen willst (übertrieben formuliert: ein strahlender Engel; gewiss gestolpert und nicht frei von Sünde, aber ein strahlender Engel).
Dennoch kann ich Dein Fazit halbwegs nachverfolgen. Hillary war zu stark, als dass man rücksichtsvoll mit ihr umgehen musste; wiederum nicht stark genug, als dass sie es bei ihren vorhandenen Schwächen gegen einen unterschätzten Gegner (meine Wahrnehmung) wirklich schafft.
Die „Schuld“-Zuordnung ist schwierig. Hier hatte ein Mitdiskutant das schöne Beispiel mit dem übervollen Fass: Der eine letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass das Faß schon voll war.
Dennoch spannende Serie, bei der ich zumindest ein bisschen gelernt habe.
Also mein Dankeschön an dieser Stelle!
Gerne, und danke für den Dank! Ich denke halt Comey ist deswegen so gut als relevantester Faktor auszumachen, weil er im Gegenzug zu den anderen Faktoren (Narrativ, etc.) isoliert ist.
@ Stefan Sasse 10. Januar 2019, 15:31
Ich denke halt Comey ist deswegen so gut als relevantester Faktor auszumachen, weil er im Gegenzug zu den anderen Faktoren (Narrativ, etc.) isoliert ist.
Dem kann ich zustimmen: Er hat zu entscheidenden Zeitpunkten agiert, seine Botschaften sehr klar und einfach formuliert, und aufgrund seiner hervorgehobenen Funktion und seiner kompetenten Ausstrahlung weitreichend Gehör gefunden.
Dazu kommt, dss HRC durch ihr Herumgeeiere bei der Email-Affäre und den ständig nachgereichten Informationen selbst dafür gesorgt hat, dass man weitere Enthüllungen glaubhaft erwarten kann. Aber welcher Politiker legt schon gleich zu Beginn alles auf den Tisch?
“ Warum Hillary verlor, Teil 1 – 5″
Erstaunlich, mit welcher Akribie, Vevre und Beharrlichkeit du als Nicht-Amerikaner dieses Thema, eigentlich schon längst Schnee von vorgestern, hier beackerst.
Was kommt danach: Ein Zehnteiler über Adenauers beleuchtetes Stopfei?
Ach halt die Backen.
Frechdachs!
Ich denke halt Comey ist deswegen so gut als relevantester Faktor auszumachen, weil er im Gegenzug zu den anderen Faktoren (Narrativ, etc.) isoliert ist.
Das Argument Comey sei der relevanteste Faktor, weil er einfach isolierbar sei, hat keinerlei Überzeugungskraft. Nimm z.B. mal die Energieverteilung in unserem Universum: 74% unseres Universums ist dunkle Energie, die überhaupt nicht isolierbar ist, bei der kein Mensch eine Ahnung hat, was sie eigentlich ist – es gibt noch nicht einmal plausible Hypothesen – und auf die man nur indirekt Hinweise hat. Weitere 22% unseres Universums bestehen aus dunkler Materie, die ebenfalls nicht isolierbar ist, bei der ebenfalls kein Mensch eine Ahnung hat, was sie eigentlich ist – wenigstens gibt es hier ein paar Hypothesen – und auch auch hier haben wir nur indirekte Hinweis auf ihre Existenz. Das für das Gesamtverhalten des Universums mit weitem Abstand bedeutungsloseste Material ist hingegen die konventionelle Materie, also weitestgehend Protonen, Neutronen und Elektronen. Die kann man isolieren, vermessen, in konkreten Experimenten untersuchen und direkt beobachten. Reguläre Materie kann man anfassen. Deiner Argumentation folgend muss die konventionelle Materie deshalb das allerwichtigste im Universum sein. Denn sie ist so anschaulich, passt in unsere Lebenswelt und ist einfach erklärbar.
Nur leider ist die Realität nicht so. Ein Faktor ist nicht deshalb bedeutend, weil er einfach ersichtlich ist. Und ein Faktor ist auch nicht einfach ersichtlich, weil er bedeutend ist. Dies sind zwei völlig unterschiedliche Kategorien, die nichts miteinander zu tun haben.
Comey war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aber er war im Gesamtbild von HRCs Niederlage 2016 war er kein besonders herausstechender Faktor. Wer nach den Ursachen von Clintons Scheitern sucht, muss sich vielmehr fragen, weshalb das Fass eigentlich Tage vor der Wahl so unglaublich voll war, dass ein, zwei Tropfen ausreichten, das Überlaufen zu bewirken. Wohlgemerkt bei einem absoluten Traumgegner, den sich die Demokraten nicht besser hätten wünschen können. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wirtschaft florierte, Gehälter stiegen, die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordtief sank. Und der scheidende Präsident aus der eigenen Partei sich unerhört hoher Beliebtheitswerte erfreute.
Du schreibst, dass Clinton in einem Umfeld Wahlkampf führte, in dem sie „all else equal“ hätte verlieren müssen, also permanent in der Defensive war. Aber zum Umfeld der Wahlen gehört nicht nur die „Third Term“-Problematik. Auch die ist im übrigen nicht in Stein gemeißelt. Zwischen 1921 und 1933 gaben sich z.B. mit Harding, Coolidge und Hoover drei Republikaner hintereinander die Klinke in die Hand. Danach gab es 20 Jahre lang eine Herrschaft der Demokraten unter Roosevelt und Truman. Das Ende von Nixon und die Präsidentschaft von Ford sind dagegen extrem atypisch aufgrund spezieller Umstände, auch wenn sie zufällig in das konventionelle Two-Term-Muster passen. Sie können deshalb kaum herangezogen werden, um dieses Muster zu belegen. Die anschließende Präsidentschaft von Jimmy Carter fällt mit nur einer Legislaturperiode dann auch noch außerhalb des Musters. Und anschließend haben wir einen Fall, in dem die Republikaner dreimal hintereinander den Präsidenten gestellt haben. Und direkt anschließend wäre den Demokraten beinahe das selbe gelungen. Noch vor wenigen Tagen hattest Du behauptet Al Gore sei der Wahlsieg gestohlen worden. Woran machst Du das dann eigentlich fest, dass die „Third Term“-Problematik so bedeutend war, dass Clinton all else equal praktisch automatisch verlieren musste?
Aber selbst wenn diese Problematik wirklich schwerwiegend wäre, ignorierst Du völlig den Rest des Wahlumfelds. Die Beliebtheitswerte des gegnerischen Kandidaten, die Beliebtheitswerte des scheidenden Präsidenten, die Arbeitslosenzahlen, die Stimmung in der Wirtschaft, ob Krieg oder Frieden herrscht – all das sind Parameter, die in der historischen Analyse sehr stark mit Wahlausgängen korrelieren. Und auf diese Faktoren bezogen, kann man zu gar keinem anderen Urteil kommen, als dass die Wahlen 2016 für den Kandidaten der Demokratischen Partei ein Elfmeter waren. Vor einem leeren Tor. All else equal hätte Clinton kristallklar gewinnen müssen.
Um zu erklären, warum das nicht geklappt hat, inszenierst Du dann auch eine ideologisch motivierte Dolchstoßlegende, bei der der böse Comey hinterrücks die rechtschaffene Hillary abgesägt hat, so wie der niederträchtige Ritter Hagen in der Nibelungensage den tapferen Siegfried feige und von hinten ermordete. Überzeugend ist das nicht.
Aber Sexismus spielte eine hervorgehobene Rolle im Wahlkampf nicht nur, weil Clinton nun mal eben eine Frau war […] Der Wahlkampf 2016 gerann an nichts anderem so sehr wie an der Toxic Masculinity. Frauenfeinde und Gegner der Gleichberechtigung versammelten sich hinter Trump
Das ist ja Dein Dauerthema, aber gerade in diesem Kontext völlig absurd. Frauenfeinde und Gegner der Gleichberechtigung sind in jedem westlichen Land in der Minderheit. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang auch daran, dass 50% der US-amerikanischen Gesellschaft Frauen sind. Eine Gesellschaft, die nur zwei Jahre später eine atemberaubende Rekordzahl an Frauen in einflussreiche politische Positionen im Repräsentantenhaus wählte. Wir erinnern uns auch an Statistiken bezüglich der politischen Landschaft der USA, die zwar zeigen, dass sich insgesamt weniger Frauen zur Wahl stellen, dass die Frauen, die sich zur Wahl stellen aber statistisch genauso erfolgreich sind, wie ihre männlichen Kollegen. Auch das spricht gegen massiven Sexismus im Elektorat. Dazu gibt es ausreichend Beispiele von erfolgreichen weiblichen Politikern, selbst in knallroten, erzkonservativen Bundesstaaten. Ich hatte etwa Nikki Haley genannt, die zweimalige Gouverneurin von South Carolina. Haley hatte sich 201o in der Republikanischen Primary zunächst gegen drei männliche Rivalen durchgesetzt und anschließend den männlichen Gegner aus der Demokratischen Partei geschlagen. Um vier Jahre später mit einem noch besseren Ergebnis gegen den gleichen männlichen Herausforderer wiedergewählt zu werden. Oder Lisa Murkowski, die republikanische Senatorin aus Alaska. Deren Name ist für Amerikaner kaum aussprechbar und dennoch gewann die Frau eine Write-In-Kampagne, in der die Wähler ihren Namen manuell auf den Wahlzettel schreiben mussten, gegen ihren männlichen Parteikollegen (den offiziellen Kandidaten der Republikaner in dieser Wahl) und den demokratischen männlichen Herausforderer. Du hast immer noch nicht erklärt, wie diese strahlenden Wahlsiege in einem so überaus sexistischen Land mit einem so überaus sexistischen Elektorat möglich sind. Dazu noch in diesen erzkonservativen Staaten. Von den Erfolgen weiblicher Politiker in den liberalen Bundesstaaten an der West- und der Ostküste fange ich jetzt garnicht erst an.
Und noch eines ignorierst Du permanent. Nämlich die enorme Chance, die Clinton als erste Frau hatte, die sich ernsthaft um das Präsidentenamt bemühte. Wenn man Dir so zuhört, hat das Geschlecht, wenn man Frau ist, grundsätzlich nur Nachteile. So ähnlich hatte man über Obama übrigens auch mal gesprochen. Der könne ja garnicht gewinnen, so der Konsensus, denn er sei ja schwarz. Nach seinem Sieg und seiner erfolgreichen Wiederwahl, erklärten die selben Journalisten, dass Obamas Zugehörigkeit zu den African Americans einer der Hauptfaktoren für seinen Erfolg war. Denn dadurch konnte er sich der Unterstützung der Schwarzen, eine der wichtigsten Wählergruppen der Demokraten, sicher sein. An diesem Punkt wäre es wert zu erwähnen, dass Frauen ebenfalls zu den wichtigsten Wählergruppen der Demokraten gehören. Und es gibt zahlenmäßig sehr viel mehr Frauen als Schwarze. Warum zur Hölle konnte Clinton da nicht punkten?
Nun, vielleicht deshalb, weil Clinton zu keinem Zeitpunkt einen Wahlkampf als Frau geführt hat. Wo waren denn die typisch weiblichen Eigenschaften? Herz zeigen. Zuhören können. Ein Nest bauen. Statt mit Weiblichkeit zu punkten, präsentierte sich Clinton aggressiv, kalt, arrogant. Schon rein optisch versuchte sie sich in ihren Hosenanzügen als Mann zu verkaufen. So ähnlich wie die berühmte Pharaonin Hatschepsut, die sich einen Bart anzukleben pflegte, um als Mann gesehen zu werden. Kann man natürlich machen. Aber wer kühl als Alphatier vor die Mikrophone tritt, der muss dann eben das Charisma und das rhetorische Talent haben in der Rolle zu strahlen. Annalena Baerbock von den Grünen oder Sahra Wagenknecht von der LINKEN haben das z.B. drauf. Clinton hingegen hat das Charisma einer Moorleiche und eine besonders begabte Rednerin ist sie auch nicht. Wer sich aber weder mit den klassisch männlichen, noch mit den klassisch weiblichen Eigenschaften verkaufen kann, der sollte bei einer Präsidentschaftswahl besser in der zweiten Reihe stehen bleiben. Darin liegt eines der Urprobleme von HRCs Kandidatur.
Aber auch themenmäßig kämpfte Clinton kein Stück um die weibliche Wählerschaft. Während der Primaries sprach sie über nichts anderes als über Waffengesetze, um Bernie Sanders größtmöglich zu schaden. Als die Primary vorbei war, verlor sie zu diesem Gebiet kein einziges Wort mehr. Als sie dann gegen Trump kämpfte, präsentierte sie sich mit einer wirren, vom Zufall geprägten Themenliste. Zu keinem Zeitpunkt wurde klar, weshalb sie eigentlich diesen Posten im Weißen Haus wollte – außer um in die Geschichtsbücher einzugehen. Während bei allen anderen Bewerbern nicht nur klar war, was ihre zentrales Anliegen waren (Bernie Sanders = Stärkung der Sozialsysteme, kostenlose Universitäten, allgemeine Gesundheitsversorgung, Reform der Parteienfinanzierung; Trump = Begrenzung der Einwanderung, eine Mauer zu Mexiko, nationale Abschottung in der Handelspolitik, Rückzug aus den Auslandseinsätzen), sondern diese Anliegen sich auch plausibel zu einem konsistenten Leitmotiv zusammenfügten, stand Clinton für alles und nichts. Ich bin ein überdurchschnittlich politisch interessierter Mensch, habe alle TV-Duelle zwischen Clinton und Trump gesehen, den demokratischen Parteitag intensiv verfolgt und Zeitungen gelesen. Bis heute weiß ich praktisch nichts über HRCs Programm.
Irgendwann schrieb sie in der Washington Post mal einen Essay über Paid Maternity Leave. Der fand damals kurzfristig sogar einige Beachtung. Anschließend nahm Clinton das Wort „Maternity Leave“ aber nie mehr wieder in den Mund. Warum eigentlich nicht? Genau damit hätte man um die Stimmen von Frauen werben können. Und mit bezahlbaren Daycares. Mit einem Kindergeldmodell. Ausnahmslos jeder Amerikaner, dem ich von unserem Kindergeldsystem in Deutschland erzählt habe, war schwer beeindruckt und fand, so etwas sollte es in den USA auch geben. Und kostenlose Universitäten. Die enormen Studiengebühren ruinieren Familien, rauben jungen Menschen ihre Zukunft. Und bessere Schulen, besser ausgebildete Lehrer, mehr Zukunft für die Kleinen. Dieses sind die Themen, mit denen man bei Frauen punkten kann, wo Frauen eine höhere Kompetenz eingeräumt wird. Aber Clinton hat nie um die Stimmen der Frauen gekämpft. Sie war ziel- und planlos. Und erwartete, dass ihr der Wahlsieg in den Schoß fallen würde. Und das ist genau die Attitüde, mit der man einen todsicheren Elfmeter verschießt.
Und zum Abschluss noch ein Wort zur Email-Affaire, die Clinton so enorm zugesetzt hatte. Du scheinst nicht begriffen zu haben, was eigentlich der Kern dieses Skandals war. Das hatte nur sehr wenig mit dem Server zu tun, den die ehemalige Außenministerin illegal eingerichtet hatte. Was diese Angelegenheit zu einem Riesenskandal machte, war dass HRC 30000 Emails rechtswidrig löschen ließ, nachdem diese bereits zwei Wochen vorher von offiziellen Stellen mit einer Subpoena belegt worden waren. An dem Punkt musste jedem Politiker mit halbwegs ein bisschen Erfahrung und Verstand – ganz sicher eine Hillary Clinton – klar sein, dass das unweigerlich zu einem Megasturm der Entrüstung führen würde. Nicht gerade etwas, was jemand, der im Begriff ist seine Kandidatur für das Präsidentenamt bekanntzugeben, gebrauchen kann. Man muss sich als neutraler Beobachter also fragen, weshalb jemand in dieser Situation ein politisches und juristisches Erdbeben in Kauf nimmt, nur um ein paar persönliche Emails zu löschen. Und das macht eigentlich nur Sinn, wenn der Inhalt dieser Emails – oder zumindest einiger dieser Emails – so schädigend, so zerstörend, so zersetzend wäre, dass an eine politische Kandidatur anschließend garnicht mehr zu denken wäre. Wer 30000 Emails in einer solchen Situation rechtswidrig löscht, dem darf man und dem muss man das Schlimmste unterstellen. An diesem Punkt brach Clintons Glaubwürdigkeit folglich wenig überraschend zusammen. Ob gerecht oder nicht, es fügte sich auch passgenau in das Bild von Korruption und Kriminalität, das HRC ja bereits zuvor schon umgeben hatte und unterstrich dieses nochmal. Den Republikanern hätte nichts besseres passieren können.
Und dann tat Clinton auch noch ihr Möglichstes diesen Skandal so lange wie möglich in den Schlagzeilen zu halten. Hätte sie sich frühzeitig vor die Kameras gestellt, Kreide gefressen, „mea culpa“ gesagt und sich entschuldigt, wäre diese Geschichte möglicherweise lange vor der eigentlichen Wahl vergessen gewesen. Aber Hillarys Weigerung ihre Schuld einzugestehen, die sie nunmal ganz objektiv hatte, machte sie dauerhaft zur Zielscheibe und den Skandal zum permanenten Thema. Auch mal so ein Punkt für Deine Liste der Faktoren, die sie unter ihrer Kontrolle hatte …