Vorhersagbare Crashs bei den Sozialisten zerstören das Klima und irren bei Einstellungen von Austeritätspolitikern – Vermischtes 16.10.2018

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Two cheers for socialism: why liberals need enemies on the left

For the moment, Americans who subscribe to his version of liberalism have an easy choice — or, put differently, no choice at all: They can vote for the Democrats, who have carried out the kind of rules-based open mixed economy he calls for. Frum’s argument for the Republican Party to move left requires that Democrats also move left. European democracies that have powerful socialist movements have also developed responsible right-of-center parties. Those parties have accepted the legitimacy of the state rather than clinging to simplistic anti-government bromides. They work with business, but they don’t turn over the regulation of air pollution to coal lobbyists. They believe in real budget math. In the United States these positions would place them squarely within the Democratic Party. The Democratic party’s moderation has enabled it to co-opt all the most viable liberal Republican policies. Cap and trade, Romneycare, the Earned Income Tax Credit – every humane and practical idea that liberal Republicans have come up with has found its way into the Democratic program. And the logic of partisan competition has helped push Republicans away from all these ideas, to denounce them as socialist. And so the American equivalents of Emmanuel Macron, Angela Merkel and David Cameron all find their home in the Democratic party. But it is very weird to have a party that brings together Michael Bloomberg and Bernie Sanders. A functional two-party system would have liberal elements in both parties. Liberal arguments with socialism — I have plenty — would be easier to work through in a world where a bloated far right didn’t cram us all into the same party. The Democratic party might eventually go too far left, and the Republican party too far right. But a tug of war between a party favoring too much government, and another too little, might wind up in just the right spot, from the liberal standpoint. (New York Magazine)

Dieser sehr lange Feature-Artikel aus dem aktuellen New York Magazine vom moderaten Standpunkt Jonathan Chaits lohnt die ausführliche Lektüre. Man kann Chait nicht gerade unterstellen, ein Freund der populistischen Linken zu sein. Er ist weder für Medicare for All, noch ein Fan von Bernie Sanders und schreibt ständig gegen die Ideen, die aus diesem Dunstkreis kommen. Seine Sicht auf die positive Korrektivfunktion der radikalen Linken ist daher interessant, ebenso wie Andrew Sullivans Artikel zum Thema warum (echte) Konservative eine gute Korrektivfunktion haben, den ich vor einiger Zeit verlinkte, es hatte. Ich habe wenig zuzufügen.

2) The stock-market meltdown that everyone saw coming

Now seems like the right time to offer an after-the-fact explanation in great detail and with complete and utter certainty of what just occurred in the markets, and why. Hindsight bias permitting, the factors that led to this sudden and unexpected decrease in share prices are just so obvious. Simple, compelling language describing cause and effect is both comforting and reassuring. The alternative to this soothing narrative is an unimaginable world of random disconcerting events. This stands in stark contrast to how we prefer to see the world around us: orderly, predictable, subject to expert management and prediction. […] Why did the market suddenly drop 3 percent on Wednesday? It is as obvious as the nose on your face that the Fed’s tightening of monetary policy by raising interest rates to curb financial risk-taking is to blame. But we’ve known about this for a while, haven’t we? As an alternative, maybe you’d like to blame elevated stock valuations, which surely is a valid point in the U.S., except that lagging emerging markets fell just as hard, and they are cheap, very cheap — certainly much less richly valued than U.S. and European markets. No, you’re all wrong: It’s the trade war started by President Donald Trump. Not only is the U.S. dollar too strong, but tariffs are crushing an already weakened China, which hurts all of its emerging-market suppliers. But we’ve known about this too for a while, haven’t we? Wrong again, say the partisan fire-breathers: It’s the Demon-Rats, and the possibility they will take control of the House of Representatives in the midterms, putting at risk all of the Trump pro-growth policies that are solely responsible for the healthy U.S. economy. Again, has anything changed in terms of the electoral outlook? (Bloomberg)

Diese Kritik am „hindsight bias“ erinnert mich sofort an 2016. Da ist auch jeder total clever und kennt den einen Grund, an dem es liegt, der natürlich wie es der Zufall will immer mit der eigenen Meinung übereinstimmt. Das mag hilfreich im politischen Positionierungskampf sein, ist aber nicht sonderlich gewinnbringend.

Ich versuche selbst, diesen Mechanismus für mich abzuwehren, aber es ist nicht leicht. Beispielsweise bin ich nicht sicher, wie Trumps Nordkorea-Flirts ausgehen werden, aber es wird sehr einfach sein, es immer schon gewusst zu haben, wenn die Sache schlecht ausgeht. Ich verlass mich da auf die Kommentatoren, um mich ehrlich zu halten 😉

Ein letzter Aspekt ist der im Artikel angesprochene Faktor, dass solche Aktieneinbrüche ohnehin mit schöner Regelmäßigkeit vorkommen und meist völlig unklar bleibt, woher sie kommen. Wir Menschen haben ein psychologisches Problem mit Zufall und Unsicherheit. Dass etwas zufällig geschehen ist können und wollen wir nicht akzeptieren, weswegen diese ad-post-Erklärungen umso wichtiger werden – und dann ins ideologische Raster eingepflegt, das uns ja in einer komplexen Welt auch Halt gibt.

3) Was ist wichtiger: Treue oder Ehrlichkeit?

Politiker verschleiern illegale Spenden, Autohersteller bestreiten gesetzwidrige Manipulationen, Kleriker vertuschen sexuelle Übergriffe unter dem Dach der Kirche. Für Außenstehende unbegreiflich, doch die Beteiligten wähnen sich oft moralisch im Recht. Wie kann das sein? Das untersuchten zwei Managementforscher in einer Reihe von Experimenten, die sie jetzt im Fachblatt »Journal of Experimental Social Psychology« beschreiben. Ihr Fazit: Wenn es um die Interessen der eigenen Gruppe gehe, verändern sich die moralischen Maßstäbe; Loyalität zählt mehr als Ehrlichkeit. Schützt eine Lüge also unsere eigene Gruppe, so beurteilen wir sie deshalb als »moralischer«, als wenn wir uns ehrlich, aber illoyal verhalten. […] Die Versuchspersonen veränderten ihre ethischen Standards, schlussfolgern Hildreth und Anderson. »Gruppen aller Art fordern Loyalität von ihren Mitgliedern, und allzu oft lassen diese sich davon zum Lügen oder Betrügen verleiten.« Entsprechend würden viele Politiker ihre Lügen zum Wohl der Partei womöglich wirklich für ethisch vertretbar halten, so das Schlusswort der Autoren. Doch unabhängige Beobachter orientierten sich eher an einer universellen Moral, »sie stimmen mit dieser Einschätzung nicht überein«. (Spektrum)

Wir hatten in den Kommentaren letzthin erst die Auseinandersetzung darüber, mit welcher Motivation Parteien bestimmte Dinge machen, und ich habe dafür argumentiert, die Politiker in ihren erklärten Motiven etwas mehr beim Wort zu nehmen. Die glauben häufig genug tatsächlich daran, dass sie das Richtige tun, auch wenn das für uns außenstehende oder gar ihnen gegenüber kritisch eingestellte Beobachter nicht immer klar ersichtlich ist. Das ändert natürlich im Zweifel wenig – ob Kohl und Schäuble Schmiergelder annahmen, weil sie ernsthaft überzeugt waren, dass es im besten Interesse der CDU war, oder weil sie einfach persönlich korrupt sind, ändert am straffähigen Tatbestand nichts. Die Erkenntnis, dass die Leute glauben, im Interesse der res publica zu handeln (oder der res parteica), hilft aber, diesen überall bestehenden und toxischen Zynismus gegenüber der Politik („die da oben“, „alles Lügner“, etc.) etwas zu reduzieren. Kleine Seitenbemerkung: Deswegen kann ich auch Serien wie „House of Cards“ nicht leiden, die diesen Dauerzynismus weiter befeuern. Da lieber „The West Wing“.

4) Mythos Ostpolitik

Und die Vorstellung eines „Wandels durch Annäherung“ ist letztlich eine Illusion. Sie war es im Kalten Krieg, und sie ist es heute. Die Sicht auf diese Erkenntnis wird allerdings durch einen Mythos verstellt, der mit der historischen Wirklichkeit nur bedingt in Einklang zu bringen ist. Die deutsche Ostpolitik entstand im Kalten Krieg. Brandts sozial-liberale Koalition versuchte, der globalen Auseinandersetzung die Schärfe zu nehmen. Bonn war bereit, die Ordnung von Jalta anzuerkennen, um Entspannung zu erzielen. Die Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin schufen das Fundament für halbwegs normale Beziehungen zu den kommunistischen Staaten. Doch sie zementierten zugleich Moskaus Hegemonie östlich der Elbe. Nach anfänglicher Kontroverse bewertete die deutsche Öffentlichkeit die Ostverträge als Zeichen der Vernunft. Mit seiner Ostpolitik verfügte Bonn über ein Instrument, das den Kalten Krieg beherrschbar machte – so schien es zumindest. Doch bereits Ende der 1970er Jahre zeigten sich die Grenzen dieser Politik: Der vielbeschworene Wandel aus dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ fand nicht statt. Im Gegenteil: Im sowjetischen Machtbereich verstärkten sich die Repressionen, die Sowjetunion rüstete weiter auf. Es blieben der kurze Draht Bonns nach Moskau, lukrative Geschäfte sowie die innerdeutsche Entspannung. Sicher war das verdienstvoll. Doch historisch richtig ist auch: Zum Ende des Kalten Krieges hat die Ostpolitik nicht maßgeblich beigetragen. Die Perestroika in Moskau entsprang vielmehr der Erkenntnis der sowjetischen Eliten, dass ihr System nicht mehr konkurrenz- und überlebensfähig war. Diese Tatsache hat die Protagonisten der Ostpolitik nicht daran gehindert, nach 1990 den „Wandel durch Annäherung“ als entscheidenden Beitrag zum friedlichen Systemwechsel in sowjetischen Machtbereich zu feiern. (Zeit)

Die obigen Einschätzungen scheinen inzwischen ziemlich Konsens unter Historikern geworden zu sein. Das ist eine neue Entwicklung, die zu meiner Studienzeit schon angefangen hat aber noch nicht so weit fortgeschritten war. Ich habe mich für meine eigene Abschlussarbeit noch stark auf Historiker wie Arnulf Baring oder Gregor Schöllgen gestützt, deren Nähe zur sozialliberalen Koalition sicherlich das ihrige dazu beigetragen hat, das Bild entsprechend zu färben. Zudem war es ein politisch willkommenes Narrativ, das allen Beteiligten ihren Anteil an der Wiedervereinigung erlaubte und die alten Streits (Hallsteindoktrin, Ostpolitik) beerdigte. Dazu kommt, dass diverse Archive und Akten natürlich erst in jüngerer Zeit einsehbar sind, das betrifft vor allem die russischen Archive, die (wenig überraschend) vor 1991 völlig und seither überwiegend für westliche Forscher verschlossen sind. Der Diskurs um die Ostpolitik ist deswegen auch ein schönes Beispiel für die Entwicklung von Historikerdebatten.

Das Bild, das sich so ergibt, ist ziemlich schwammig. Die Ostpolitik war sicherlich nicht, wie es die Kritiker damals mit Schaum vor dem Mund verkündeten, ein Ausverkauf deutscher Interessen und der Ostdeutschen. Sie war aber auch offensichtlich nicht der Einstieg in eine neue, friedliche Welt. Sie hat einige positive Effekte gehabt, vor allem für die persönlich Betroffenen (über die „persönlichen Erleichterungen“, die etwa Familienbesuche über den Eisernen Vorhang ermöglichten), hat aber die Politik wenig beeinflusst.

Um den Rahmen zurück zur Historikerdebatte zu schlagen: Ich glaube, ein Gutteil dieser geänderten Sichtweise liegt daran, dass deutsche Historiker inzwischen – anders als (pars pro toto) Baring und Schöllgen seinerzeit – nicht mehr einen so deutschlandzentrierten Blick haben. Der ist bedauerlicherweise in den Bildungsplänen immer noch sehr lebendig, aber in der Forschung nicht mehr. Wenn man aus deutscher Perspektive schaut, sind sowohl Hallstein-Doktrin als auch Ostpolitik entscheidende Meilensteine und definieren die Beziehungen des Ost-West-Konflikts; weitet man den Blick, muss man feststellen, dass sie sich in einen größeren internationalen Kontext einfügen: Die scharfe erste Phase des Kalten Kriegs, in der eine SPD auch mit absoluter Mehrheit Probleme gehabt hätte, eine Ostpolitik zu fahren, und die Phase der Entspannung („détènte“) nach der Kubakrise, in der eine CDU auch mit absoluter Mehrheit große Mühe gehabt hätte (und hatte!), die Hallsteindoktrin aufrechtzuerhalten. Aber im Geiste von Fundstück 2 mögen wir ja lieber das Narrativ, in dem die Entscheidungen in Berlin klar gezeichnete Konsequenzen haben, die wir überblicken können…

5) A new solution: the climate club

An illustrative calculation will show why. Suppose that, as the US government estimates, the total global cost of CO2 emissions (called the “global social cost of carbon” or SCC) is $40 per ton. This is calculated from models that trace the impact on all countries of higher carbon emissions on the climate, in the rise of sea levels, in agricultural production, health, storms, and many other factors. In other words, the $40 is the sum of the different national social costs per ton of carbon. Perhaps the national numbers might be $4 per ton for the US, $7 per ton for China, and $1 per ton for Japan. The $40 estimate is uncertain, but the exact number does not matter for this discussion. A policy to optimize the global benefits of emissions reductions would require a universal carbon price of $40 per ton. Under this policy, countries might set a carbon tax of $40 per ton on all carbon-emitting activities. This would lead to significant reductions in emissions, perhaps 30 percent on average relative to the emissions that would take place if there were no policy. Contrast the globally optimal policy I have just described with a free-riding policy. Suppose Japan decides to invest in abatement of CO2 emissions to optimize its own national interest. It would reduce emissions only to the point where the cost would be justified by its national benefits; on this basis, the cost would be no more than its social cost of $1 per ton reduced. It might have a carbon tax of $1 per ton. This would produce far smaller investments than would be justified if Japan had global interests in mind, where it would invest up to a cost of $40 per ton reduced. If the same logic based on national interest is followed by all countries, then the average level of abatement would be only a tiny fraction of what would be involved in the global policy. Economic models suggest that the average carbon tax based on national interest would be closer to $4 than $40. In other words, when countries look only to their national interest in setting their climate policies, the level of abatement will be close to zero. And this is approximately where we are today. (NY Books)

Die ganze deprimierende Logik der Handlungsunfähigkeit im angesicht der nahenden Klimakatastrophe ist im obigen Absatz gut zusammengefasst. Vor diesem Hintergrund ist der Aufstieg der Klimawandelleugner auf Seiten der populistischen Rechten (und im Gegensatz zu vielen anderen Phänomen wie Fremdenfeindlichkeit findet sich dieser spezielle Unsinn auch ausschließlich dort) auch besonders erschreckend.

In den USA hat dieses Phänomen ja schon längst katastrophale Ausmaße angenommen, wo nur noch eine Seite des Parteienspektrums überhaupt für wissenschaftliche Fakten zugänglich ist und die andere Seite diese einfach rundheraus ableugnet. Wenn man bedenkt, dass Cap+Trade – genau wie Obamacare – früher eine konservative Politik war, die inzwischen der progressiven Seite übernommen wurde und aus rein ideologischer Verblendung mittlerweile abgelehnt wird…es ist zum Heulen.

Wie im Fundstück 1 beschrieben ist gerade Cap+Trade eigentlich eines der Musterbeispiele eines fruchtbaren Austauschs zwischen der Linken und Rechten, zwischen Progressivismus und Konservatismus. Die Linken erkennen früher ein Problem, und die Rechten haben eine verträgliche, pragmatische Lösung. Eigentlich tipp topp, aber die Selbstradikalisierung der Konservativen in vielen Ländern Europas und Amerikas verhindert entsprechende Maßnahmen.

In Deutschland scheint mir das Problem eher in der Unfähigkeit der Linken zu liegen; die SPD tat sich mit dem Umweltthema immer schwer, und die LINKE sowieso, und die Grünen haben ja oft genug auch Anflüge, in denen solche pragmatischen Kompromisse es dann schwer haben. An der CDU hängt es jedenfalls weniger, die ist nur in der aktuellen Inaktivität schön eingerichtet – denn das ist die Gegenseite dieser Rechts-Links-Dynamik: ohne den Anstoß von links versinkt die Rechte gerne in der Stagnation, wie die Linke ohne das Korrektiv von rechts sich gerne in Phantasien verliert.

6) Resisting the juristocracy

Instead of terrorizing the court into moving through various court-packing schemes, it is a much better and bolder choice for the left to stand up for reforms that will take the last word from it. Jurisdiction-stripping statutes, tools to bar the judiciary from considering cases on certain topics such as abortion or affirmative action, are not clearly unconstitutional even under current legal doctrine. Indeed, the right has used such statutes for years to limit access to courts for immigrants and prisoners. Other changes in customs and precedent could also weaken judicial supremacy. For example, by choice under pressure or compulsion through law, the Supreme Court could evolve into an advisory body, especially when the justices disagree. Such steps would force progressives to take their case to the people to win majorities for their policies, including in places across the country they have given up for lost. The United States still looks to the higher judiciary to act on behalf of the country’s principles and values, even when basic study proves that judges are partisan and that partisanship only increases when they are given the power to decide the highest stakes questions. The mythology of constitutional law dies hard. The notion that empowering judges would serve progressive outcomes is a flickering star that collapsed long ago, and it is long since time to accept the dying of the light. A legal culture less oriented to the judiciary and more to public service in obtaining and using democratic power in legislatures at all levels is the sole path to progress now. In fact, it always has been. (Boston Review)

Ich sage schon seit geraumer Zeit (und nicht erst seit der konservativen Dominanz im Supreme Court) dass die herausgehobene Stellung der Verfassungsgerichte problematisch ist. Das ist auch kein amerikanisches Problem; seit Längerem läuft hier in Deutschland ja auch die Debatte zum Bundesverfassungsgericht als „Ersatzgesetzgeber“. Die Funktion der obersten Verfassungsgerichte wird durch Verantwortungsflucht der Politik befeuert: anstatt Probleme im Parlament zu lösen, indem politische Mehrheiten organisiert und Verantwortungen übernommen werden, wartet man auf die verordnete Lösung von oben, und der Wähler liebt es zu allem Überfluss auch noch (die Verfassungsgerichte haben gigantische Zustimmungsraten, wie jedes nicht gewählte Organ; eines der Grundparadoxien der Demokratie).

Wir konnten das beispielsweise bei der Griechenland“rettung“ beobachten, wo man sich nur allzugern von BVerfG, EU und IWF auf einen Kurs verpflichten ließ, statt selbst einen zu schaffen. Man konnte es bei der Debatte ums Wahlrecht sehen, wo bis zum letztmöglichen Moment die Kompromissfindung verschleppt und durch schlampige Gesetzgebung in letzter Minute gleich wieder das BVerfG bemüht wurde, wie ein Schüler, der pro forma etwas auf die Seite rotzt, damit der Lehrer es als Anlass zum Vormachen an der Tafel nimmt. Und es wäre beinahe bei der Homoehe so gekommen (und war ja schon mehrere Jahre lang von Beobachtern so erwartet worden), hätte nicht Martin Schulz das Thema als Wahlkampfschlager entdeckt und Merkel es mit untrüglichem Instinkt im Parlament neutralisiert.

Das Problem ist, dass auf diese Art und Weise die Politik zwar eine Arena für den Streit über die Themen bleibt – mit all der Unbeliebtheit, den dieser Streit beim Wähler verursacht – aber die Lösungen selbst entstehen bei scheinbar neutralen Arbitern, so dass am Ende alle und keiner für das Ergebnis verantwortlich sind und der Eindruck von „denen da oben“, die „eh machen was sie wollen“, nur umso mehr verhärtet, anstatt dass man vernünftig die fiese Regierungskoalition verantwortlich zeichnen kann. Zugespitzt könnte man sagen: wir brauchen mehr Dosenpfand statt ESM. Über das eine kann man sich wenigstens ordentlich aufregen und Verantwortliche benennen.

7) Preis zahlen

Eine abrupte Einführung der Katalysator-Technik würde unvermeidlich zu hoher Arbeitslosigkeit in der Autobranche führen, argumentieren Manager der Industrie wie Beamte aus Bonn. Das „Gefährdungspotential“, heißt es in einem internen Bericht des Innenministeriums, liege allein in der Automobilindustrie bei 30 000 Arbeitsplätzen. Hinzu kämen noch die Stellenverluste bei den Zulieferern. Die Angst vor Absatzverlusten der deutschen Automobilindustrie ist nicht technisch begründet. Für den Export in die USA bauen Mercedes, VW, BMW, Audi und Porsche schon heute Autos, die den künftigen Abgasanforderungen gerecht werden. Am Dienstag voriger Woche konnte Zimmermanns Staatssekretär Carl-Dieter Spranger im EG-Ministerrat den Franzosen in zwanzigstündiger Verhandlung nicht das geringste Zugeständnis abringen. Allein die Manager von Ford und Opel behaupten, den Zeitplan aus technischen Gründen nicht einhalten zu können. Bestünde Bonn auf dem Datum des 1. Januar 1986, dann, so die Warnung, müßten diese beiden Firmen Motoren von den Konzernmüttern im Ausland importieren – zu Lasten der inländischen Produktion. Ford-Chef Daniel Goeudevert zu Zimmermann: „Das kann ich meinen Betriebsräten nicht erklären.“ (SPIEGEL von 1983)

Dieses vom Twitter-Account „Verrückte Geschichte“ ausgegrabene Fundstück ist auch symptomatisch für die Beziehung zwischen Autoherstellern und Staat in Deutschland. Die überproportionale Rolle, die die Industrie im wirtschaftlichen Gefüge hat, erlaubt ihnen durch ausgezeichnete Verbindungen eine unheuere Bremsfunktion zu spielen, die keinerlei Sachzwängen gehorcht. Wir haben das in der letzten Zeit am Dieselskandal und der langen Weigerung, in E-Mobilität zu investieren, gesehen. Wie 1983 standen alternative Technologien durchaus zur Verfügung, waren aber aufgrund der für die Unternehmen günstigen rechtlichen Lage in Deutschland nur im Export notwendig. Das hält die entsprechenden Manager natürlich nicht davon ab, den Knüppel der Bedrohung von Arbeitsplätzen auszupacken, wenn Standards für den deutschen Markt angewandt werden müssen, die für große Teile der restlichen Welt längst Standard sind. Dass selbst heute noch viele Unmwelt- und Klimaschutz als Luxusthema begreifen, das man sich sozusagen „leistet“, und nicht als existenzielle Bedrohung und Jahrhundertaufgabe, ist in dem Zusammenhang auch wenig hilfreich.

8) Nicht einmal Facebook versteht Facebook

Soziale Gravitation bedeutet dabei: Die größte Plattform hat die größte Definitionsmacht darüber, wie ganze Bevölkerungen die Welt wahrnehmen – leider ohne sie präzise kontrollieren zu können. Nicht einmal Facebook hat Facebook verstanden. Google hat Facebook und soziale Medien insgesamt offensichtlich auch nicht verstanden. Auch bei YouTube ist zu beobachten, wie eine Plattform die Gesellschaft auf eine schwer einschätzbare und sehr problematische Weise prägen kann, dort vor allem durch toxische Verschwörungstheorien. Solche Social-Media-Monokulturen, die direkte Folge der sozialen Gravitation, skalieren und verstärken die negativen Effekte auf die Gesellschaft. Niemand kann heute verlässlich einschätzen, welche Probleme dadurch auf uns zukommen, es ist wie ein Autorennen im Nebel. Die im Moment bestimmende Generation hat ihre Kinder jahrelang gewarnt, sie sollten nicht alles glauben, was sie im Netz sehen. Und nach dem ersten, intensiven Kontakt mit sozialen Medien macht ein guter Teil von ihnen genau diesen Fehler selbst und stürzt sich kopfüber in die Social-Media-Realität. Ein aus meiner Sicht wichtiger Grund für den autoritären Backlash ist, wie wenig die Gesellschaft auf die Wirkmacht der sozialen Medien vorbereitet war. Auf die ständige Überdosis Weltgeschehen, empörfertig emotionalisiert. […] Deshalb bleibt die große Hoffnung, dass kommende Generationen das Netz klüger verwenden, oder dass wir Älteren bereit sind, von den Jüngeren zu lernen. Millennials etwa betrachten soziale Medien nicht als Monokultur, sondern nutzen neugierig mehrere verschiedene Plattformen – wodurch die Macht und die Missbrauchbarkeit einzelner Unternehmen fast automatisch geringer wird. Immerhin. Aber bis diese digital etwas aufgeklärtere Lebensweise flächendeckend wirksam wird, vergeht noch viel Zeit. Der Stand heute: Trump gewählt, Brexit ebenso, Autoritäre weltweit auf dem Vormarsch, alles mithilfe sozialer Medien. Die Realität ist social geworden – leider bevor wir einen sinnvollen Umgang mit sozialen Medien entwickeln konnten. (SpiegelOnline)

Ich stimme der These, dass es sich bei vielen der heute beobachteten negativen Effekte von Sozialen Netzwerken effektiv um Kinderkrankheiten einer neuen Technologie handelt grundsätzlich zu. Einiges dürfte verschwinden, sobald die Menschen sich daran gewöhnt haben, dass diese Technologie im Alltag ständig verfügbar ist und neue Mechanismen entwickelt haben, wie damit umzugehen ist (ich habe das ja am Beispiel Smartphone im Unterricht thematisiert). Da darf man sich auf jeden Fall Besserung erwarten.

Aber: die neue Realität wird bleiben. Soziale Netzwerke und mobiles Internet werden die Gesellschaft genauso einprägend verändern wie es das Fernsehen und davor das Radio und davor die Zeitung getan haben. In all diesen Fällen änderte sich der Nachrichtenkonsum der Menschen entscheidend, wurden alte Meinungshoheiten untergraben und rückten neue mediale Eliten auf. Politik wandelte sich, während sich die Bedeutung vom geschrieben zum gesprochenen zum performten Wort verschob. Jedes Mal wurde händeringend der Verfall des Niveaus beklagt und das dräuende Ende der Demokratie beschworen. Die Gesellschaft muss sich an die neuen Gegebenheiten gewöhnen – und sie wird das auch.

9) Almost no one is falsely accused of rape

One commonly cited figure holds that 5 percent of rape allegations are found to be false, but that figure paints a very incomplete picture, says Belknap. Typically, this figure comes from studies done on college students, an estimated 95 percent of whom do not report their assaults to police. Overall, an estimated 8 to 10 percent of women are thought to report their rapes to the police, which means that — at the very highest — we can infer that 90 percent of rapes go unreported, says Belknap. Obviously, only those rapes that are reported in the first place can be considered falsely reported, so that 5 percent figure only applies to 10 percent (at most) of rapes that occur. This puts the actual false allegation figure closer to 0.5 percent. Of course, these figures are estimates, and Belknap doesn’t doubt they’re imperfect — we can’t count what isn’t being counted. But her research suggests that, if anything, we underestimate the number of rapes that go unreported. […] Police might also deem an accusation “false” if there are details they find incriminating on the part of the accuser. Belknap described one story she heard from a rape crisis counselor, who’d spoken with a survivor whose assault was deemed “false” because she’d allowed her eventual rapist to remove her ski boots for her after skiing. “Just because the police say something is an unfounded rape, because they don’t think it happened, that doesn’t mean it didn’t happen,” says Belknap. […] To put that data into perspective, Newman consulted data on wrongful murder convictions. “It seems to be extremely rare for anyone to be wrongfully convicted as a result of a false accusation of rape,” she says. “I was only able to find 52 cases in 25 years where a conviction was later overturned after a wrongful conviction based on false rape allegations. In the same period, there were 790 cases where people were found to be wrongfully convicted of murder.” For what it’s worth, 790 divided by 52 is 15.2, meaning that by Newman’s data, you were 15 times likelier in that 25-year period to be wrongfully convicted of murder than of rape. And, let’s keep in mind, rape allegations resulting in convictions are already vanishingly rare: Newman cites a study that found that, of 216 assault complaints classified as false, only six led to arrest, and only two led to actual charges. (And even then, they were eventually deemed false.) (The Cut)

Diese Zahlen wären grundsätzlich dazu angetan, etwas Realitätsbezug in eine völlig wirre Debatte zu bringen. In einem atemlosen Artikel nach dem anderen darf man gerade lesen, wie ungeheur gefährlich #Metoo doch ist, weil es Falschbeschuldigungen gegen Männer Tür und Tor öffnet. Und ja, der Hinweis auf diese Gefahren ist durchaus richtig und wichtig. Nur wird keinerlei Verhältnis gewahrt, weil die aktuellen Missstände demgegenüber völlig ins Hintertreffen geraten und teilweise sogar implizit geleugnet werden (wo das dann zu einem ideologischen Kreuzzug gegen Unschuldige wird). Anstatt dass es zu einer Debatte und Aufarbeitung der systemischen Ursachen kommt, dreht sich alles nur noch um die Frage, ob man die Debatte überhaupt führen soll und „darf“ – immer die sicherste Methode, sie zu ersticken. Es wäre von daher gut, einmal innezuhalten und Maß zu nehmen. Und dann könnten wir vielleicht auch sachlich über die Frage sprechen, wie weit das verbreitet ist und wie wir einem Generalverdacht für alle Männer aus dem Weg gehen können. Und nun auf in die Kommentare, ich geb schon mal Stichworte vor: feministische Ideologie, Gutmensch, Hypermoralist. Go!

10) Amazon scraps secret AI recruiting tool that showed bias against women

Amazon.com Inc’s (AMZN.O) machine-learning specialists uncovered a big problem: their new recruiting engine did not like women. The team had been building computer programs since 2014 to review job applicants’ resumes with the aim of mechanizing the search for top talent, five people familiar with the effort told Reuters. Automation has been key to Amazon’s e-commerce dominance, be it inside warehouses or driving pricing decisions. The company’s experimental hiring tool used artificial intelligence to give job candidates scores ranging from one to five stars – much like shoppers rate products on Amazon, some of the people said. “Everyone wanted this holy grail,” one of the people said. “They literally wanted it to be an engine where I’m going to give you 100 resumes, it will spit out the top five, and we’ll hire those.” But by 2015, the company realized its new system was not rating candidates for software developer jobs and other technical posts in a gender-neutral way. That is because Amazon’s computer models were trained to vet applicants by observing patterns in resumes submitted to the company over a 10-year period. Most came from men, a reflection of male dominance across the tech industry. In effect, Amazon’s system taught itself that male candidates were preferable. It penalized resumes that included the word “women’s,” as in “women’s chess club captain.” And it downgraded graduates of two all-women’s colleges, according to people familiar with the matter. They did not specify the names of the schools. (Reuters)

Diese Nachricht ist ein weiterer Teil meiner persönlichen Spaß-Reihe „Wenn Informatiker auf Realität treffen“. Die Machbarkeitsideologie des Silicon Valley gibt immer wieder Anlass zu Erheiterung, Kopfschütteln oder Zorn, wenn diese Leute meinen, sie könnten Menschen einfach per Algorithmus vermessen und in Systeme zwängen. Stattdessen prallen diese Systeme wieder und wieder auf die Komplexität der Realität. Warum die Informatiker nicht stärker mit den Sozialwissenschaften zusammenarbeiten, bleibt mit schleierhaft.

Zum anderen ist diese Episode aber natürlich ein weiteres Beispiel für den tief verwurzelten strukturellen Sexismus in der Gesellschaft, der entgegen anderslautender, lautstarker Proteste gerade auch hier im Blog eben doch existiert und alle Ebenen durchdringt. Die impliziten Annahmen bestimmen die Ergebnisse, und das beharrliche Leugnen der Existenz dieser Annahmen sorgt dafür, dass sie weiterhin bestehen bleiben.

Die Geschichte erinnert mich auch ein wenig an den Twitter-Bot, den Microsoft programmiert hat. Es war eine künstliche Intelligenz, die auf Twitter wie ein Mensch kommunizieren und lernen sollte. Innerhalb von 24 Stunden klopfte die KI frauenfeindliche Sprüche und leugnete den Holocaust. Die Naivität der Informatiker, die glaubten sie könnten ihre eigene Ideologie vom ideologiefreien Netz (auch so ein Paradoxon) einfach per Fiat durchsetzen, geriet da auch sehr schnell an ihre Grenzen. Aber wie im Fundstück 8 beschrieben wirkt das Soziale Netz auf alle Menschen, sowohl in die eine wie die andere Richtung.

11) Austerity: how an ideological project failed on its own terms

Though Britain’s budget deficit peaked at £153bn (9.9 per cent of GDP) in 2009-10, the degree of austerity imposed (and the emphasis on spending cuts over tax rises) was always a matter of choice, rather than necessity. For Britain – with its own currency, independent central bank and low borrowing costs – alternatives were available. Rather than stimulating growth, austerity has depressed it. Even the IMF, a former cheerleader for cuts, concluded in 2016 that they did more harm than good. Partly owing to the slowest economic recovery in history, Britain’s national debt has increased from £1trn in 2009-10 to £1.8trn (or from 64.3 per cent of GDP to 84.3 per cent). Future generations will, after all, inherit a debt burden as well as an enfeebled public realm. Far from the age of “big government” being over, voters now long for its return. The 2018 British Social Attitudes survey found that 60 per cent favour higher taxes and spending (the highest level in 15 years), 33 per cent support present levels and a mere 4 per cent wish to further roll back the state (libertarianism is, by some distance, the loneliest ideology in British politics). To meaningfully end austerity, May will have to give the people what they want: tax rises. Her commitment to reduce the national debt as a share of GDP means that borrowing alone will not suffice. To end cuts in all areas, while delivering promised spending increases for health and defence, the government will need to find an additional £20bn by the end of this parliament – without a reliable Commons majority. (The New Statesman)

Wir hatten hier jüngst in den Kommentaren die Debatte, dass die Leute in der Theorie immer gegen Steuern sind, aber nicht in der Praxis. In einem Land wie Großbritannien, das ja nicht eben in Verdacht steht jeden Moment dem Sozialismus anheim zu fallen, fordern die Leute Steuererhöhungen, wenn sie in der Realität eines Landes leben müssen, das kein Hochsteuerstaat ist. Denn bei allem Meckern über hohe Abgaben: die Menschen mögen die Leistungen, die sie mit ihren Steuern und Abgaben bekommen. Deswegen scheitern die FDP und ihre Parteigänger auch immer. Und keine Schuldenbremse der Welt wird etwas daran ändern. Die macht es dann nur umso teurer, die Trümmer der Austeritätsideologie wegzuräumen, wenn der unvermeidliche Zusammenbruch der kaputtgesparten Infrastruktur vom Wähler nicht mehr gouttiert wird. Da mag dann auch keiner mehr Schwarze Nullen, weder im Haushalt noch im Ministerium.

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  • R.A. 16. Oktober 2018, 09:22

    4) Ich würde auch sagen, daß die Ostpolitik lange Zeit sehr überschätzt und überhöht wurde. Es ist richtig das auf ihre wahre Bedeutung zu reduzieren.
    Was aber nicht heißt, daß sie falsch gewesen wäre. Es war eben ein sinnvolles Stück Realpolitik, passend zur allgemeinen Entwicklung in der Welt.

    Und einen Punkt sollte man nicht übersehen: Als es 89/90 um die Herstellung der deutschen Einheit ging war es schon sehr nützlich, daß die Frage der deutschen Ostgebiete bereits durch die Ostpolitik geklärt worden war. Es hätte ansonsten einige Schwierigkeiten und Verzögerungen gegeben – und das hätte angesichts des knappen Zeitfensters auch dazu führen können, daß es mit der Einheit nicht geklappt hätte.

    7) „erlaubt ihnen durch ausgezeichnete Verbindungen eine unheuere Bremsfunktion zu spielen,“
    Die Autoindustrie hat einen gewissen Einfluß, aber deutlich weniger als die viel besser organisierte und medial vernetzte „Umwelt“-Lobby. Sonst wäre nicht zu erklären, daß so viele realitätsferne und wissenschaftlich kaum begründete Grenzwerte und Verbote Gesetz werden.

    8) Der Autor bleibt unklar, was mit „Facebook verstehen“ eigentlich gemeint ist. Facebook ist nur ein Mechanismus, den kann man genauso verstehen oder nicht verstehen wie den Buchdruck oder den Markt.
    Im wesentlichen sind es die Menschen, die mit verschiedenen Informationen, Motiven und Zielen interagieren. Im wesentlichen sagt der Autor nur „ich verstehe die Leute nicht“. Und das ist ein uraltes Thema …

    9) „Almost no one is falsely accused of rape“ behauptet der Autor. Aber was er belegt ist „almost no one is falsely convicted of rape“. Was nun wirklich etwas ganz anderes ist.
    Vor allem weil die aktuelle Kritik sich NICHT daran festmacht, daß die Justiz falsch mit Vergewaltigungsvorwürfen umgehen würde.
    Sondern kritisiert werden ja umgekehrt die Fälle OHNE Justiz, die Anschuldigungen in der Öffentlichkeit ohne Belege und gerichtliche Überprüfung. Und wie groß da die Rate der Falschbeschuldigunen ist weiß überhaupt niemand. Insbesondere weil ja in den letzten Jahren das Faß ganz neu aufgemacht wurde und viele neue Beschuldigungen noch gar nicht geklärt sind (und meist auch gar nicht geklärt werden).

    • Stefan Sasse 16. Oktober 2018, 10:58

      4) Absolut. Sorry wenn das falsch rüberkam.
      7) Ich denke schon dass die mehr Einfluss haben, aber die Umweltlobbyisten haben sicherlich auch einige Schlagkraft.
      8) Ne, das sehe ich nicht so. Facebook steht hier pars pro toto für Soziale Netzwerke, und die kann man verstehen oder eben nicht.
      9) Stimme dir in der Relativierung grundsätzlich zu, halte aber an meinem Kommentar inhaltlich fest.

  • popper 16. Oktober 2018, 11:42

    Zu 2)
    Wenn man dem Märchen rationaler Finanzmärkte Glauben schenkt, sind diese Mainstreamerklärungen zwar nachvollziehbar, aber ohne Erkenntniswert. Tumps „Handelskriegen“ die Schuld zu geben und gleichzeitig den amerikanischen Dollar für zu stark halten, widerspricht sich. Wobei das Reden über sogenannte starke Währungen nichts als inhaltsleere Worthülsen sind. Die Erhöhung der Zinsen erweist der Wettbewerbsfähigkeit Amerikas einen Bärendienst. Sie verteuert nicht nur den Export sie drosselt Investitionen und wirtschaftliches Wachstum. Insoweit ist dieses Analystenkauderwelsch bei Bloomberg üblicher Kaffeesatz, dazu noch politisch interessengelenkt.

  • Ralf 16. Oktober 2018, 17:59

    zu 1)

    vom moderaten Standpunkt

    –> … vom „zentristischen“ Standpunkt …

    zu 8)

    Jedes Mal wurde händeringend der Verfall des Niveaus beklagt und das dräuende Ende der Demokratie beschworen. Die Gesellschaft muss sich an die neuen Gegebenheiten gewöhnen – und sie wird das auch.

    Naja, die Demokratie endet ja bereits. Siehe Ungarn. Siehe Polen. Siehe Türkei. Ganz so unsinnig scheint es also nicht zu sein, sich Sorgen zu machen, alldieweil das Abrutschen in eine Diktatur in der Regel irreversibel ist.

    zu 9)

    One commonly cited figure holds that 5 percent of rape allegations are found to be false

    Bin kein Experte auf dem Gebiet, aber ich glaube mich zu erinnern, dass diese Zahlen sehr umstritten sind. Falls mich mein Gedächtnis nicht täuscht, hatte In Dubio vor einem Jahr mal einen Artikel gepostet, bei dem ein Krankenhaus-Arzt basierend auf seinen eigenen Untersuchungen zum Schluss kam etwa ein Drittel der gemeldeten Vergewaltigungsfälle war real, ein Drittel war falsch und ein Drittel war unklärbar. So ungefähr. Aber vielleicht erinnere ich das auch nicht korrekt …

    zu 10)

    Zum anderen ist diese Episode aber natürlich ein weiteres Beispiel für den tief verwurzelten strukturellen Sexismus in der Gesellschaft

    Ich kann nicht erkennen, was dieser Fall mit Sexismus zu tun haben soll. Da hat jemand einen Algorithmus geschrieben und am Ende hat sich heraus gestellt, dass das Datenmaterial, auf dem der Algorithmus beruhte, nicht ausreichend war. Das ist eigentlich alles was passiert ist. Daraus kann man lernen und für die Zukunft bessere Algorithmen schreiben.

    • Stefan Sasse 16. Oktober 2018, 20:48

      1) Auch ok.
      8) Ja, aber das hängt nicht an den Sozialen Medien.
      9) Klar sind solche Zahlen immer umstritten. Aber auf irgendeiner Basis muss ich die Diskussion ja anfangen.
      10) Weil das Programm durch die Eingabe der Präferenzen der Männer gearbeitet hat, die es geschrieben haben.

      • Ralf 16. Oktober 2018, 21:02

        Klar sind solche Zahlen immer umstritten. Aber auf irgendeiner Basis muss ich die Diskussion ja anfangen.

        Ja sicher, aber wenn man seinen Artikel unter die Überschrift “Almost no one is falsely accused of rape” setzt, dann sollte es schon eine Rolle spielen, ob die Rate der Falschbezichtigungen bei 5% oder bei knapp 30% liegt.

        Weil das Programm durch die Eingabe der Präferenzen der Männer gearbeitet hat, die es geschrieben haben.

        Das Programm wäre ein Symbol für Sexismus, wenn es mit der Intention geschrieben worden wäre, Präferenzen von Männern zu bevorzugen und Frauen zu benachteiligen. Davon kann hier nicht die Rede sein. Der Ansatz ein entsprechendes Programm zu schreiben, war doch garnicht verkehrt. Man hat halt nicht bedacht, dass das Datenmaterial, mit dem der Algorithmus arbeiten sollte, einen Bias hat. Das fällt in die Kategorie “Innocent Mistake” und wird ja dann – nachdem das Problem aufgefallen ist – behoben worden sein.

        Insgesamt ist das kein Beispiel für Sexismus in der Gesellschaft, sondern dafür dass manchmal ungewollt Fehler passieren, die man dann ausbügeln muss.

        • Stefan Sasse 17. Oktober 2018, 08:34

          Sicher, aber ich halte 30% auch für eine absurde Annahme.

          Da liegst du einem tiefgreifenden Missverständnis auf. Absichtlich das Programm so zu schreiben wäre nicht Sexismus, es wäre Diskriminierung, ein aktiver Tatbestand. Gerade dass es ein Fehler war zeigt ja die zugrundeliegenden Denkmuster auf, die das Problem sind.

          • R.A. 17. Oktober 2018, 10:52

            > ich halte 30% auch für eine absurde Annahme.
            Ich habe mit dieser Zahl auch persönliche Glaubensprobleme. Aber sie stammt immerhin von jemand, der wirklich praktische Erfahrungen mit dem Thema hat – insofern sehe ich keine Grundlage, sie pauschal als absurd abzutun.

            Und sie ist auf jeden Fall ernster zu nehmen als die völlig unbelegte Behauptung, “Almost no one is falsely accused of rape”.

          • Ralf 17. Oktober 2018, 18:27

            Sicher, aber ich halte 30% auch für eine absurde Annahme.

            Auf welcher inhaltlichen Basis?

            Im übrigen ändert sich auch die Gesellschaft gerade rapide, was den Umgang mit dem Thema sexuelle Belästigung bis Vergewaltigung angeht. Das ist in vieler Hinsicht natürlich zu begrüssen. Hat aber möglicherweise auch signifikante Nebeneffekte. Früher dürfte eine Falschbezichtigung für die Klägerin erhebliche Nachteile gehabt haben. Erstens bestand ein Konsens in der Gesellschaft, dass ein Angeklagter solange unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist. Und eine Tat, die nicht stattgefunden hat schlüssig mit Indizien zu beweisen, ist zwar in der Praxis nicht unmöglich, aber eher schwierig. Des weiteren konnte eine Anklägerin ihren Fall aus strukturell-technischen Gründen fast immer nur vor Gericht „gewinnen“. Das bedeutete Kreuzverhör. Das bedeutete viel Gelegenheit sich in Widersprüche zu verwickeln. Und auch dem fälschlich Beschuldigten dabei wieder und wieder gegenüber sitzen und in die Augen sehen zu müssen, dürfte die Angelegenheit nur mit enormer krimineller Energie und unbedingtem Willen durchführbar gemacht haben. Dazu kommt, dass Opfer eines Sexualdelikts zu sein früher mit einem tiefen Stigma verbunden war. Die Gesellschaft tendierte dazu sich auf die Seite des Täters zu stellen und nach Gründen zu suchen, weshalb das Opfer an seinem Leid möglicherweise selbst schuld sein könnte. All das möchte ich nicht rechtfertigen. Ich beschreibe lediglich die Situation.

            Heute stellt sich ein völlig anderes Umfeld dar. Die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr. Wer beschuldigt wird, ist schuld. Zunehmend wohl auch vor Gericht, aber zunächst einmal in der öffentlichen Debatte, wenn der Fall es an die Öffentlichkeit schafft. Oder im lokalen Umfeld, selbst wenn der Fall nicht seinen Eintritt hinein in Zeitungen und das Fernsehprogramm findet. Die Anklägerin muss ihren Fall auch nicht mehr vor Gericht „gewinnen“. Es reicht unbeweisbare Vorwürfe zu streuen und das Urteil sprechen anschliessend nicht Richter sondern Arbeitgeber. Und diese Arbeitgeber fürchten nichts mehr als negative PR und werden mittlerweile in manchen Ländern auch gesetzlich unter Druck gesetzt zu reagieren. Denn wenn sich anschliessend tatsächlich die Schuld des Beklagten beweisen lässt und sie nicht reagiert haben, winken teilweise schwere Strafen; zumindest in den USA. Die Entscheidung für den Arbeitgeber ist also in der Regel einfach. Der Beklagte muss weg. Egal ob die Vorwürfe stimmen. Dazu gibt es dann zur Belohnung auch noch Lob aus den sozialen Medien für das gezeigte „Verantwortungsgefühl“. Vor den Richter muss eine Anklägerin also nicht mehr. Sie kann maximalen Schaden mit einer Behauptung anrichten und anschliessend jede Zusammenarbeit mit Polizei und Gerichten verweigern. Und diese Fälle gibt es. Als dritter Punkt kommt hinzu, dass das Stigma des Opferseins verschwunden ist. Es ist in sein Gegenteil verkehrt worden. Wer Opfer ist, dem ist in unserer heutigen Zeit Zuspruch, Aufmerksamkeit und Mitgefühl gewiss. Das ist im übrigen sehr zu begrüßen, bevor ich hier missverstanden werde. Allerdings lädt dies auch zu Missbrauch ein. Vor einem Jahr gab es einen Fall, wo sich ein Mädchen auf einer Parkbank selbst angezündet hatte, um vorzugeben sie sei attackiert worden und Aufmerksamkeit zu erhaschen. Das ist natürlich extrem. Eine Falschbehauptung in die Welt zu setzen ist wesentlich schmerzfreier.

            Nun habe ich auch keine guten Antworten. Die Situation ist vertrackt. Die Unschuldsvermutung von früher hat nicht selten Täter geschützt. Die heutige unbedingte Bereitschaft Anklägerinnen zu glauben, öffnet Missbrauch Tür und Tor. Wirklich klären lassen sich nur die wenigsten Fälle. Das liegt in der Natur der Situation, die fast immer im Privaten und ohne Zeugen geschieht. Am Ende steht Aussage gegen Aussage. Aber zumindest darf man die Frage stellen, ob nicht erwartet werden muss, dass sich Falschbezichtigungen in unserem sich radikal verändernden Umfeld deutlich häufiger werden. Man darf also argumentieren, dass die Zahlen der Vergangenheit das Problem möglicherweise signifikant unterschätzen. Wenn die Basiszahl vor Jahren bereits bei 30% Falschbezichtigungen lag (und diese Zahl bezieht sich ausschliesslich auf Vergewaltigungsvorwürfe, nicht auf Belästigungen, wo die Beurteilung nochmal komplizierter sein dürfte), dann könnten die Zahlen heutzutage katastrophal hoch sein. Wenn die Basiszahl früher lediglich bei 5% lag, wie im Artikel angedeutet, würde bereits eine Verdopplung auf 10% viel Grund für mehr Nachdenklichkeit auf Deiner Seite geben.

            Da liegst du einem tiefgreifenden Missverständnis auf. Absichtlich das Programm so zu schreiben wäre nicht Sexismus, es wäre Diskriminierung, ein aktiver Tatbestand. Gerade dass es ein Fehler war zeigt ja die zugrundeliegenden Denkmuster auf, die das Problem sind.

            Diskriminierung (auf Geschlechterthemen bezogen) ist gelebter Sexismus. Ich kann nicht erkennen, wo Du da die grosse Grenze ziehst.

            Aber ich nenn mal ein anderes und aus meiner Sicht analoges Beispiel. Vor einigen Jahren hat man z.B. festgestellt, dass viele Afroamerikaner nicht gut auf gewisse Medikamente reagieren. Das stellte sich zunächst anekdotenhaft dar, wurde aber dann immer klarer je mehr Patienten behandelt wurden. Wirklich erklären konnten sich die Ärzte das nicht. Schliesslich waren die Medikamente in aufwendigen, teuren Studien getestet worden und bei weissen Amerikanern zeigten sie auch gute Wirkung. Schliesslich sah man sich die alten Studien nochmal an und dabei wurde klar, dass die grosse Mehrheit der Patienten, die an den Studien, auf deren Basis die Medikamente zugelassen worden waren, teilgenommen hatten, Weisse gewesen waren. Niemand hatte sich dabei etwas gedacht. Weisse waren ja die Mehrheit im Lande, also würden sie wohl auch unter den Studienteilnehmern die Mehrheit sein. Kein Mensch war auf die Idee gekommen, dass es physiologische Unterschiede zwischen schwarze und weissen Amerikanern geben könnte. Daraus hat man gelernt und heutzutage werden kritische Studien manchmal konzentriert an gewissen Ethnien durchgeführt. Als absolutes Minimum ist man sich des Effektes bewusst und schaut viel genauer hin und beobachtet, wenn ein neues Medikament zugelassen wird.

            Aber ist die obige Geschichte ein Symbol für Rassismus? Natürlich nicht. Die Gemeinde aus Wissenschaftlern und Ärzten hat einfach einen Fehler gemacht, sich eines Bias‘ in ihrem Datenset nicht bewusst zu sein. Und es war – ohne die Erkenntnis in der Retrospektive – auch kein Grund da anzunehmen, dass ein potentieller Bias medizinische Konsequenzen haben könnte. Statt ein Symbol für Rassismus zu sein, steht die Episode dafür, wie eine Gesellschaft aus ihren Fehlern lernt.

            Und das selbe gilt für Amazons Algorithmus.

            In der Vergangenheit hat die Gesellschaft zweifellos ungeheure Sünden begangen. Die deutsche Gesellschaft in den 50ern und 60ern – und davor sowieso – war zutiefst sexistisch, homophob und rassistisch. Man kann sich garnicht genug schämen. Aber es macht keinen Sinn als Buße für unsere Schuld der Vergangenheit nun laufend Probleme herbeizureden und zu erfinden, nur damit wir uns selbst beweisen können, wie sehr wir uns gebessert haben. Es gibt genug echte Probleme, die in der Realität auf Lösung drängen. Wir würden uns alle einen Gefallen tun, wenn wir uns auf die konzentrieren.

            • Stefan Sasse 18. Oktober 2018, 07:38

              Ich sehe nicht, wo automatisch der Ankläger gewinnt. In zahlreichen Fällen standen nun (siehe Kavanaugh) glaubhafte Anwürfe im Raum, die eben nicht zum „Sieg“ der Klägerin, sondern vielmehr des Beklagten führten. Die von euch an die Wand gemalte Aussetzung des Rechtsstaats sehe ich nicht.

              • Stefan Pietsch 18. Oktober 2018, 07:55

                Stefan, wo warst Du während der #MeToo-Debatte oder beim Kachelmann-Prozess? Auf dem Mond? „Glaubhafte Anwürfe“ gibt es in unserem Rechtssystem – übrigens auch dem amerikanischen – nicht. Was bitte ist „glaubhaft“?

                Das Wesen des Rechtsstaates ist, dass allein bestellte Richter Urteile treffen dürfen. Was Ralf glaubhaft ausführt, ist, dass dieses Prinzip zu Gunsten des Anklägers ausgehebelt ist.

                • derwaechter 18. Oktober 2018, 09:02

                  Kachelmann, Türk, Horst Arnold sind bekannte unf sehr krasse Fälle in Deutschland.
                  Und prominente Fälle wie Kevin Spacey, Matt Lauer, Roy Moore, Eric Schneiderman, Louis CK und viele mehr in den USA sind Beispiele wo Leute wegen Anschuldigungen nicht wegen Verurteilungen o.ä. Arbeit, Wahlen etc verloren haben. Cosby ist doch bisher der einzig Verurteilte aus der metoo-ära. Von einer rechtsstaatlichen Perspektive ist das schon ein Problem.

                  Das Kavannaugh und v.a. Trump so was „überlebt“ haben ist eher die Ausnahme.

                • Stefan Sasse 18. Oktober 2018, 09:25

                  Richter bewerten immer die Glaubwürdigkeit mit. Das gilt für Alibis, Begründungen, Motive und eben auch so was.

                  • Stefan Pietsch 18. Oktober 2018, 11:13

                    Du bist kein Richter, von daher steht Dir die Bewertung der Glaubwürdigkeit nicht zu. Anscheinend kannst Du ja auch nicht so untermauern, was die Glaubwürdigkeit ausmacht. Und selbst wenn, hätte es keine Bedeutung. Weder kannst Du den einen noch die andere befragen, Deine gesamten Informationen resultieren aus der Presse, also von Menschen, die Du mitsamt ihren Interessen auch nicht kennst.

                    Und das ist für Dich Glaubwürdigkeit.

                    • Stefan Sasse 18. Oktober 2018, 13:00

                      Ich spreche spezifisch von Richtern, die das beurteilen. Du behauptest, das spiele keine Rolle. Das ist Quatsch. Dass ich kein Richter bin weiß ich selbst, ich maße mir das auch nicht an. Ich bilde mir eine Meinung als interessierter Bürger. Das war bei euch auch ok, als ihr, obwohl ihr keine Geheimdienstchefs seid, glaubtet das Chemnitz-Video analysieren zu können, also spar mir die „holier-than-thou“-Attitüde.

                    • Stefan Pietsch 18. Oktober 2018, 13:38

                      Nein, Du hast ja eben nicht von Richtern gesprochen. Du hast geschrieben, die Vorwürfe wären „glaubhaft“. Anschließend hast Du darauf verwiesen, dass Richter die Glaubwürdigkeit ermitteln. Kann uns also egal sein, da bisher keine Jury gesprochen hat.

                      Bezüglich Chemnitz schrieb ich ja mehrmals, das nicht beurteilen zu können, was andere Hobby-Kommentatoren beurteilen konnten. Natürlich kannst Du als mündiger Bürger Dir selbst eine Meinung bilden. Was Ralf jedoch wortreich kritisiert – aus meiner Sicht „glaubhaft“ 🙂 – ist das gesellschaftliche Urteil nebst gravierenden Folgen für die Betroffenen, ohne dass sich je ein Richter über die Materie gebeugt hätte.

                      Nehmen wir den Fall Gina-Lisa Lohfink, in dem sich sogar eine Bundesministerin und damit ein Verfassungsorgan gemein gemacht hat mit einer Betrügerin vulgo falschen Anzeigeerstatterin. Diesen Fall hast Du abgekanzelt, dabei berührt er den Kern der Debatte. Eine Täterin stellt sich als Opfer hin und da es sich um ein Sexualdelikt handelt, fliegen ihr die öffentlichen Sympathien zu – ungeachtet ihres falschen Aussehens wie ihrer falschen Behauptungen. Hier hatte die Mehrheit der Öffentlichkeit anders geurteilt als Richter und das sollte Dir zu denken geben und ein bisschen Demut auferlegen.

                • popper 18. Oktober 2018, 13:29

                  Was bitte ist „glaubhaft“?

                  Sie, Herr Pietsch sind ein Paradebeispiel, Sie verkörpern nämlich glaubhaft die Rolle des prätentiösen Besserwissers!

              • Ralf 18. Oktober 2018, 16:49

                Ich sehe nicht, wo automatisch der Ankläger gewinnt. In zahlreichen Fällen standen nun (siehe Kavanaugh) glaubhafte Anwürfe im Raum, die eben nicht zum „Sieg“ der Klägerin, sondern vielmehr des Beklagten führten.

                Zahlreiche Fälle? Dann nenn mal einen außer Trump und Kavanaugh.

                Der Beklagte siegt dann, wenn er gegenüber der Klägerin in einer stärkeren Machtposition ist. Trump war als Präsidentschaftskandidat z.B. in einer optimalen Machtposition, da er die alleinige realistische Alternative zu Hillary Clinton war. In einem politisch extrem polarisierten Wählerumfeld, bedeutet das eine extrem starke Position. Und auch Kavanaugh war in einer extrem starken Position. Die Republikaner kontrollieren nunmal Präsidentschaft und Senat. Und in dem oben angesprochenen extrem polarisierten Wählerumfeld haben sie die Freiheit sich einen Dreck darum zu scheren, was die Opposition denkt. Ja, es ist politisch sogar zu ihrem Vorteil, wenn sie die Gegenseite provozieren und vor den Kopf stoßen, weil das ihre eigene Anhängerschaft mobilisiert.

                Anders sieht die Situation aus, wenn der mit Vergewaltigungsvorwürfen Konfrontierte nicht in einer starken Machtposition ist. Als einfacher Angestellter oder als Student hast Du z.B. extrem schlechte Karten. Und es gibt nunmal viel mehr Menschen die einfacher Angestellter sind, als Menschen Präsidentschaftskandidat oder Supreme Court-Kandidat der Republikaner sind.

              • R.A. 19. Oktober 2018, 09:05

                > In zahlreichen Fällen standen nun (siehe Kavanaugh)
                > glaubhafte Anwürfe im Raum, die eben nicht zum
                > „Sieg“ der Klägerin, sondern vielmehr des Beklagten
                > führten.
                Daß die Anwürfe eher unglaubhaft waren haben wir ja schon getrennt diskutiert.
                Ich sehe aber auch nicht, wo der „Sieg“ Kavanaughs sein soll.

                Denn die Berufung ins Gericht hätte er ohne Ford ja auch geschafft, das ist also keine Folge ihrer Beschuldigungen.
                Er hat den Angriff überstanden, aber mit erheblichem Schaden für seine Reputation. „Sieg“ sieht anders aus.

  • Kning4711 17. Oktober 2018, 08:56

    zu Punkt 7

    Im Grunde genommen zeichnet sich ja bereits ab, dass die Automobilindustrie vor einem ähnlichen Problem stehen wird, wie die Energiebranche es schon tut. Wenn wir die Botschaften rund um Ressourcenschonung und alternativen Antrieben ernst nehmen wollen, dann werden perspektivisch deutlich weniger Automobile gebraucht werden als bisher. Insofern steht hier für betroffene Ballungszentren: Stuttgart, München, oder Wolfsburg, erhebliche Strukturwandelherausforderungen an. In NRW ist man das Thema Kohle viel zu spät entschlossen angegangen, ich fürchte aber auch in diesem Falle wird sich Geschichte wiederholen.

  • derwaechter 18. Oktober 2018, 08:28

    Kachelmann, Türk, Horst Arnold sind bekannte unf sehr krasse Fälle in Deutschland.
    Und prominente Fälle wie Kevin Spacey, Matt Lauer, Roy Moore, Eric Schneiderman, Louis CK und viele mehr in den USA sind Beispiele wo Leute wegen Anschuldigungen nicht wegen Verurteilungen o.ä. Arbeit, Wahlen etc verloren haben. Cosby ist doch bisher der einzig Verurteilte aus der metoo-ära. Von einer rechtsstaatlichen Perspektive ist das schon ein Problem.

    Das Kavannaugh und v.a. Trump so was „überlebt“ haben ist eher die Ausnahme.

  • Blechmann 18. Oktober 2018, 15:32

    zu 3)
    Moralisch im Recht hat sich auch Hitler gefühlt. Gibt es überhaupt Leute, die sich moralisch nicht im Recht wähnen, solange sie gesellschaftlich erfolgreich sind mit dem was sie machen? Die Erkenntnis scheint mir doch recht banal. Wobei die Frage weniger ist, ob es im Interesse der CDU, sondern ob es im Interesse des Volkes ist, wenn Kohl Schmiergelder annimmt. Theoretisch ist er ja dem Volk verpflichtet. 🙂

    4)
    Brandts Koalition war nicht der Anführer des Westen, das war der Präsident der USA, insofern lässt sich daraus kaum ein Rückschluss ziehen auf die Effektivität dieser Art von Politik. Die Behauptung, das habe die „Hegemonie Moskaus“ zementiert ist natürlich Quatsch, die war da schon längst zementiert. Selbst wenn, war die Idee der Ostpolitik auch nicht, den Ostblock zu destabilisieren. Die ganze Analyse ist Blödsinn. „Die Perestroika in Moskau entsprang vielmehr der Erkenntnis der sowjetischen Eliten, dass ihr System nicht mehr konkurrenz- und überlebensfähig war“ – das ist natürlich richtig, aber es hätte auch noch eine andere Variante gegeben auf diese Erkenntnis zu reagiern, nämlich den Westen militärisch zu zerschlagen solange es noch geht, solange die militärischen Mittel dazu noch ausreichen. Die Frage ist, wenn man Perestroika macht, dadurch die eigene Machtposition schwächt, wird die NATO dann losschlagen und Russland vernichten? Oder ist friedliche Koexistenz möglich? Nur weil Gorbatschov (und seine Unterstützer) letzteres geglaubt haben, macht die Perestroika überhaupt Sinn, und wenn liegt hier der Verdienst der Ostpolitik.

    „Ich glaube, ein Gutteil dieser geänderten Sichtweise liegt daran, dass deutsche Historiker inzwischen (…) nicht mehr einen so deutschlandzentrierten Blick haben.“

    Ich vermute eher die geänderte Sichtweise liegt daran, dass Russland inzwischen erklärter Feind des Westens ist. Von der historischen Beurteilung der Schuldfrage am 1. Weltkrieg weiß ich, dass die immer so war, wie es politisch gerade opportun war.

    • Stefan Sasse 18. Oktober 2018, 16:50

      3) Die meisten Leute unterstellen ihnen zynisch-egoistische Motive und wollen eben nicht glauben, dass sie grundsätzlich gute Absichten haben. Das steht auch hier in den Kommentaren dutzendfach. Und Kohl war auch Parteivorsitzender der CDU, ohne deren elektoralen Erfolg er nicht für das deutsche Volk arbeiten konnte. Die Grenzen sind da notwendig fließend.

      4) Naja, du nimmst hier halt den Status nach Ostpolitik und schreibst den für jede Politikalternative fort. Ein harter Neocon würde dir erklären, dass entschiedener Druck den Zusammenbruch ein oder zwei Dekaden früher forciert hätte. Und die Idee der Ostpolitik war eine Stabilisierung und Normalisierung, völlig klar. Destabilisierung war die gescheiterte Strategie des frühen Kalten Kriegs.

      • Blechmann 22. Oktober 2018, 18:34

        3) Die meisten unterstellen auch Hitler zynisch-egoistische Motive. Dass Leute die böses tun gute Absichten haben ist schwer zu akzeptieren.

        4) Ein harter Christ würde mir erklären, dass mehr Beten den Zusammenbruch ein oder zwei Dekaden früher forciert hätte. Woran einer glaubt ist für mich nicht so interessant, sondern ob er das irgendwie argumentativ anhand der Fakten untermauern kann.

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